Streß und Streßbewältigung - Heiner Vogel, Ulrike Worringen, Rudolph Friedrich Wagner & Heike Schäfer - Deutsche Rentenversicherung

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Heiner Vogel, Ulrike Worringen,
Rudolph Friedrich Wagner & Heike Schäfer

        Streß und Streßbewältigung
                            Seminareinheit
414                                                     Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation

Streß und Streßbewältigung – Sachtext

1 Einleitung .......................................................................................................................... 415
   1.1 Relevanz der Streßproblematik für die medizinische Rehabilitation ............................. 415
   1.2 Zielsetzung der Seminareinheit .................................................................................... 415

2 Grundlagen zum Thema Streß ......................................................................................... 416
   2.1 Begriffsklärung und Zusammenhänge.......................................................................... 416
   2.2 Streß als biopsychosozialer Prozeß ............................................................................. 417
         2.2.1 Das transaktionale Streßmodell von R. S. Lazarus............................................................. 417
         2.2.2 Streßauslöser/Stressoren.................................................................................................... 418
         2.2.3 Streßreaktionen ................................................................................................................... 420
   2.3 Weitere wichtige Themen der Streßforschung ............................................................. 422
         2.3.1 Evolutionstheoretische Aspekte .......................................................................................... 422
         2.3.2 Positiver und negativer Streß .............................................................................................. 422
         2.3.3 Streß und Persönlichkeit ..................................................................................................... 422
         2.3.4 Ressourcenforschung und die Salutogenese...................................................................... 423
         2.3.5 Streß und Wohlbefinden...................................................................................................... 424
         2.3.6 Was ist erfolgreiches Bewältigungsverhalten?.................................................................... 424
         2.3.7 Streß aus wissenschaftlicher versus laientheoretischer Sicht............................................. 425

3 Grundlagen zum Thema „Streßbewältigung”................................................................. 425
   3.1 Anwendungsbereiche................................................................................................... 425
   3.2 Ziele von Maßnahmen zur Streßbewältigung ............................................................... 426
   3.3 Methodisches Vorgehen............................................................................................... 427
   3.4 Empirische Überprüfung............................................................................................... 429

4 Verzahnung der Seminareinheit mit anderen Angeboten .............................................. 430
   4.1 Fortführung und Vertiefung des Themas innerhalb der Einrichtung ............................. 430
   4.2 Weiterführung des Themas nach der Rehabilitation..................................................... 431

5 Literaturverzeichnis.......................................................................................................... 431
   5.1 Im Text zitierte Literatur................................................................................................ 431
   5.2 Weiterführende Literatur für die Referent(inn)en.......................................................... 434
   5.3 Literaturempfehlungen für die Rehabilitand(inn)en....................................................... 434
Streß und Streßbewältigung – Sachtext                                                                 415

1 Einleitung                                          gungsaufgaben dar, mit denen sie sich auseinan-
                                                      dersetzen müssen.

1.1 Relevanz der Streßproblematik für                 Es ist daher konsequent, daß die Entwicklung
    die medizinische Rehabilitation                   geeigneter Fertigkeiten zur Bewältigung von Bela-
                                                      stungen im persönlichen, sozialen und beruflichen
„Streß“ ist in den letzten Jahrzehnten zu einem
                                                      Umfeld im Sinne des Schutzfaktorenkonzeptes
populären Schlagwort in der Alltagssprache ge-
                                                      ein übergreifendes Ziel der medizinischen Reha-
worden, sei es als Entschuldigung für eigene
                                                      bilitation darstellt. Mit der Seminareinheit „Streß
Versäumnisse oder als knappe Beschreibung der
                                                      und Streßbewältigung“ soll die individuelle Bedeu-
allgemeinen Lebenssituation bzw. der individuel-
                                                      tung dieses Themas für die Patient(inn)en in der
len Befindlichkeit. Streß meint dabei soviel wie
                                                      Rehabilitation aufgezeigt sowie auf anschauliche
Druck, Belastung und unangenehme Spannung.
                                                      und motivierende Weise in die Grundlagen der
Obgleich Streß in dieser Verwendung zunächst
                                                      Streßentstehung und Streßbewältigung eingeführt
mit einer negativen Bedeutung verknüpft ist, hat
                                                      werden. Es wird vor allem die individuell unter-
der Hinweis auf Streß auch einen Beiklang von
                                                      schiedliche Reaktion von Menschen auf Streß-
Anerkennung und Wichtigkeit in unserer Leis-
                                                      auslöser sowie die Verankerung von Streßverhal-
tungsgesellschaft. Schließlich ist – zumindest in
                                                      ten im persönlichen Lebensstil herausgearbeitet.
der alltagssprachlichen Verwendung – damit oft
                                                      Damit wird das klassische Risikofaktorenkonzept
auch die implizite Botschaft verknüpft, daß vor
                                                      der Gesundheitserziehung um wichtige Prinzipien
allem die Umstände oder andere Personen für die
                                                      des Lebensweisenkonzepts der neueren Gesund-
individuelle Belastung verantwortlich sind. Wichtig
                                                      heitsförderung erweitert, das die Wechselwirkung
wird Streß im Erleben vieler Menschen auch als
                                                      von Streß mit anderen Gesundheitsfaktoren und
Kausal-Erklärung von gesundheitlichen Ein-
                                                      Lebensbereichen betont.
schränkungen und Belastungen.

Neuere Forschungsbefunde aus unterschiedli-           1.2 Zielsetzung der Seminareinheit
chen Teilgebieten der Medizin, der Psychologie
und anderen Sozialwissenschaften konnten eine         Die Seminareinheit „Streß und Streßbewältigung“
Vielzahl von Stressoren identifizieren, die in der    ist darauf gerichtet, die Teilnehmer(innen) zu
Lebensweise und im sozialen Umfeld von Rehabi-        motivieren, sich mit dem Thema Streßbewälti-
litand(inn)en begründet liegen und entscheidend       gung auseinanderzusetzen und eine Verhaltens-
für die Entstehung und den Verlauf chronischer        änderung in Angriff zu nehmen. Außerdem wer-
Krankheitsprozesse sind. Gesundheitsriskantes         den die Teilnehmer(innen) informiert, was sie zur
Verhalten oder Risikoverhalten läßt sich dabei        besseren Streßbewältigung tun können und wel-
sehr oft als mißlungenes Bewältigungsverhalten        che Klinikangebote sie bei der Umsetzung unter-
für Streß- oder Belastungssituationen kennzeich-      stützen können. Dabei sind drei Zielsetzungen
nen. Hier liegt ein etwas anderes Streßkonzept        vorrangig. Die Seminareinheit soll
zugrunde (vgl. Abschnitt 2), das aber gleichwohl
eine Verbindung mit dem alltagssprachlichen           1. die Aufmerksamkeit der Teilnehmer(innen) auf
Verständnis hat und dessen Berechtigung auf-             biopsychosoziale Zusammenhänge lenken,
zeigt.                                                2. eigene Ansatzpunkte und Möglichkeiten zur
                                                         Veränderung aufzeigen und
Streß hat eine wichtige Bedeutung im Leben vie-
ler Menschen und insbesondere bei den Pati-           3. zur Fortführung und Vertiefung der Beschäfti-
ent(inn)en in der medizinischen Rehabilitation, die      gung mit dem Thema entsprechend dem eige-
per definitionem gesundheitlich bereits stark ein-       nen Bedarf oder Bedürfnis motivieren – etwa in
geschränkt sind. Diese gesundheitlichen Ein-             Streßbewältigungskursen, im Entspannungs-
schränkungen stellen für viele Rehabilitand(inn)en       training, Selbstsicherheitstraining oder in einer
wiederum zusätzliche Belastungen und Bewälti-            Einzelberatung.
416                                     Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation

Es wird davon ausgegangen, daß entsprechende           Organismus auf jede Art von Herausforderung
Fortführungs- oder Vertiefungsangebote innerhalb       handelt, die der Anpassung an diese Belastung
der Klinik vorhanden sind (gegebenenfalls auch         dient. Auf Selye geht somit auch die klassische
krankheitsspezifische Gruppen zur Belastungs-          Definition des Streßgeschehens zurück:
bewältigung, siehe Abschnitt 4.1). Die Einheit soll
keinen Gruppenkurs zur Streßbewältigung erset-
zen, sie kann ihn allerdings vorbereiten bzw. zur         Streß ist die unspezifische (innere) Reaktion
Teilnahme motivieren.                                         des Organismus bzw. der Person auf
                                                         (äußere) Herausforderungen oder Stressoren.
Zur Auffrischung bzw. Einführung in neue Theo-
rien der Streß- und Streßbewältigungsforschung
ist der vorliegende Sachtext erstellt worden, der
unbedingt vor der ersten Durchführung des Semi-        Die heutige Streßforschung ist interdisziplinär
nars zu erarbeiten ist.                                ausgerichtet und entwickelte sich in den letzten
                                                       Jahren sehr schnell. Relevante Beiträge sind
                                                       unter anderem aus der Psychologie, der Biologie
2 Grundlagen zum Thema Streß                           (Verhaltensforschung), der Immunologie, der
                                                       Neurologie und der Physiologie erfolgt. Sie lassen
                                                       sich heute zu einem komplexen Forschungsfeld
2.1 Begriffsklärung und Zusammen-
                                                       zusammenfügen. Als wichtige Forschungsstränge
    hänge
                                                       haben sich hierbei herausgebildet:
Der Begriff Streß stammt ursprünglich aus der
                                                       • Die Psychoimmunologie, die Zusammenhänge
Materialforschung und bezeichnet dort eine Kraft,
                                                         zwischen psychischem (Streß-)Erleben und
die auf einen Körper einwirkt und eine Verfor-
                                                         Immunsystem untersucht.
mung bewirkt oder Spannung verursacht. In die-
ser Bedeutung wurde der Begriff auch von dem           • Die Psychoendokrinologie, die Zusammenhän-
amerikanischen Physiologen Cannon verwendet,             ge zwischen psychischen und hormonellen
der im Jahr 1914 Experimente zum Zusammen-               Vorgängen untersucht.
hang von Hormonsystem (endokrinologischen
                                                       • Die Psychoneuroimmunologie, die als relativ
Variablen) und emotionalen Zuständen veröffent-
                                                         neuer Forschungszweig Zusammenhänge zwi-
lichte.
                                                         schen psychischen Vorgängen, Funktionen des
                                                         vegetativen Nervensystems und neurohumora-
Als Vater der modernen Streßforschung gilt der
                                                         len Prozessen im Hinblick auf eine Beeinflus-
österreichisch-kanadische Biochemiker Hans
                                                         sung des Immunsystems untersucht (siehe
Selye. Er untersuchte die körperlichen Auswir-
                                                         Sachtext der Seminareinheit „Schutzfaktoren:
kungen von Belastungen und fand, daß der Or-
                                                         Was hält uns gesund?“, Kapitel 6). Als neuro-
ganismus auf unterschiedliche Stressoren auf
                                                         humoral werden dabei Erregungen von Nerven
endokrinologischer Ebene mit einer erhöhten
                                                         bezeichnet, die durch Hormone veranlaßt wer-
Aktivität des Hypophysen-Nebennierenrinden-
                                                         den. In die Psychoneuroimnunologie fließen
Systems reagiert. Weil die verschiedenen Stres-
                                                         daher Ergebnisse sowohl der Psychoimmuno-
soren, die er untersuchte, immer wieder zu ähnli-
                                                         logie als auch der Psychoendokrinologie ein.
chen Auswirkungen führten, nannte er dies eine
unspezifische Streßreaktion. Das von Selye 1936        • Die Copingforschung, die sich mit der Verarbei-
entwickelte Konzept des Allgemeinen Adaptati-            tung bzw. Bewältigung von Streß unter beson-
onssyndroms beschreibt die Streßreaktion als             derer Berücksichtiung der psychischen Ebene
Abfolge der drei Phasen Alarmreaktion, Wider-            beschäftigt.
stand und Erschöpfung im Anschluß an die
Konfrontation eines Organismus mit einer Belas-
tung. Es sollte zum Ausdruck bringen, daß es sich
um eine typische unspezifische Reaktion des
Streß und Streßbewältigung – Sachtext                                                                             417

2.2 Streß als biopsychosozialer                         Erst die Bewertung einer Anforderung als aversiv
    Prozeß                                              macht diese zum Stressor bzw. zum streßauslö-
                                                        senden Faktor. Primäre und sekundäre Bewer-
2.2.1 Das transaktionale Streßmodell von                tung verlaufen zeitlich parallel und beeinflussen
      R. S. Lazarus                                     sich wechselseitig.

Das klassische Streßkonzept von Selye, wonach           Kommt es schließlich zu einem Bewältigungsver-
ein Stressor unmittelbar zu einer unspezifischen        such, wird das daraus resultierende Ergebnis von
Streßreaktion führt, wurde inzwischen erweitert         der Person aufgenommen und führt zu einer
bzw. modifiziert. Einen wesentlichen Beitrag dazu       Neubewertung der Situation („reappraisal”) – die
leistete R.S. Lazarus, der in seinem Modell der         Person lernt aus ihren Erfahrungen. Sind die Be-
subjektiven Bewertung einer potentiellen Streßsi-       wältigungsversuche der Person erfolgreich, so ist
tuation durch die Person einen zentralen Stellen-       der Streß beseitigt. Kann die Person die Situation
wert einräumt (Lazarus 1966; Lazarus & Folkman          nicht meistern, so hält die Streßreaktion an und
1984; deutsche Darstellung: z.B. Hampel & Pe-           kann zu schädlichen chronischen Folgen auf kör-
termann 1997; Jerusalem 1990; Krohne 1996).             perlicher und psychischer Ebene führen. Diese
                                                        Folgen können nun selbst wieder zu Stressoren
Im transaktionalen Streßmodell von Lazarus und          werden. Der Teufelskreis des Streß ist geschlos-
Mitarbeitern werden zwei Grundprozesse für die          sen.
Auseinandersetzung postuliert (vgl. Abbildung 1):
Danach entsteht Streß dann, wenn                        In der heutigen Streßforschung bildet der transak-
                                                        tionale Ansatz von Lazarus, der inzwischen auch
1. die Anforderungen von der Person als bedroh-
                                                        in der Emotionspsychologie eine wichtige Rolle
   lich bzw. aversiv bewertet werden („primary
                                                        spielt, das herrschende Paradigma. Dieses Mo-
   appraisal” nach Lazarus), und diese Person
                                                        dell stellt auch die Basis für die Erläuterung von
2. die zur Verfügung stehenden Bewältigungs-
                                                        Streßbewältigungsmöglichkeiten innerhalb der
   möglichkeiten als zu gering erachtet, um diese
                                                        Seminareinheit dar. Die Entstehung von Streß
   Anforderungen erfüllen oder die Bedrohung
                                                        wird danach auf die Interaktion von situativen
   bewältigen zu können („secondary appraisal”).

                                                                                      Neu-Bewertung:

       Stress-Auslöser:         1. Bewertung:            2. Bewertung:
      Umweltbedingungen:        (Ereignis-               (Ressourcen-                  Nein
       - Situation               einschätzung) Ja         einschätzung)
       - Lebensereignis         - Bedrohung?
                                                        - Veränderungschancen?                           Stress
                                                        - eigene Fähigkeiten?    Ja               Nein
      Personbedingungen:        - Herausforderung?      - Unterstützung?                Erfolg?
       - eigene Gedanken
        - Erfahrungen

                                      Nein
                                                                                         Ja

                                                     Kein     Stress

Abbildung 1:    Das transaktionale Streßmodell in Anlehnung an Lazarus
418                                          Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation

Anforderungen und individuellen Beurteilungen               2.2.2 Streßauslöser/Stressoren
der Situation sowie der vorhandenen Bewälti-
gungsressourcen und -fähigkeiten zurückgeführt.
                                                 1          Als Streßauslöser oder Stressoren werden jene
Dabei kommt den individuellen Einschätzungs-                Kräfte bezeichnet, die für das Entstehen der
prozessen eine zentrale Vermittlerrolle zu. In Ab-          Streßsymptome verantwortlich gemacht werden.
hängigkeit von der individuellen Einschätzung der           Stressoren sind somit alle Faktoren, die mit er-
eigenen Möglichkeiten, auf äußere und/oder inne-            höhter Wahrscheinlichkeit Streß auslösen. Stres-
re Anforderungen adäquat zu reagieren, kommt                soren lassen sich für alle Bereiche des Lebens
es zu unterschiedlichen Folgen.                             finden, was bestätigt, daß es nicht Bestimmungs-
                                                            größen der Situation allein sind, die eine Auslöse-
Die aktuelle Definition von Streß leitet sich aus           situation zum Stressor machen, sondern die Be-
dem transaktionalen Verständnis ab (in Anleh-               wertung oder Interpretation der Situation durch
nung an Wagner-Link 1995):                                  eine Person eine wesentliche Rolle spielt.

                                                            Die Intensität der Herausforderung einer Person
                                                            kann in bestimmten Bereichen oder besonderen
       Streß ergibt sich aus einer Störung des
                                                            Konstellationen zwischen zwei Extremen schwan-
    Gleichgewichts zwischen den Anforderungen
                                                            ken. Mangelnde Beanspruchung (Deprivation)
    an die Person und den subjektiven Möglich-
                                                            kann ebenso wie Überforderung als Streß erlebt
    keiten der Person, mit diesen Anforderungen
                                                            werden, so daß man das Verhältnis zwischen
                     umzugehen.
                                                            Anforderung und Streßerleben graphisch als U-
                                                            Kurve darstellen kann. Wo jedoch genau der Be-
                                                            reich liegt, der vom Einzelnen als angenehm oder
Ähnlich definiert Greif (1991, S. 13) Streß als             zumindest nicht streßauslösend erlebt wird, hängt
einen subjektiven, intensiv unangenehmen Span-              neben situativen auch mit inter- und intraindivi-
nungszustand, „der aus der Befürchtung entsteht,            duellen Unterschieden zusammen. So kann z.B.
daß eine Situation stark aversiv, subjektiv zeitlich        die Vorstellung, vor einem größeren Publikum
nahe (oder bereits eingetreten) ist und subjektiv           eine kurze Rede halten zu müssen, für einige
lang andauert, deren Vermeidung aber subjektiv              Menschen eine extrem streßauslösende Situation
wichtig erscheint.“                                         darstellen, während die gleiche Situation für ande-
                                                            re eine interessante Herausforderung bedeuten
Im Rahmen der Weiterentwicklung der Streßfor-               kann, der sie sich gerne stellen (interindividuelle
schung wurde damit der Schwerpunkt der theore-              Unterschiede). Andererseits kann die gleiche
tischen Betrachtung auf die Variable der kogniti-           Person, die das Reden vor einer Gruppe einmal
ven Bewertung verschoben. Durch die Identifika-             als angenehme Herausforderung empfindet, die
tion der kognitiv-emotionalen Aspekte der Streß-            gleiche Situation als sehr unangenehm einschät-
verarbeitung sind vielfältige Ansatzpunkte gege-            zen, wenn sie beispielsweise besonders erschöpft
ben, um den Vorgang der Streßbewältigung zu                 oder schlecht vorbereitet ist (intraindividuelle
beeinflussen. Die Theorie von Lazarus bildet den            Unterschiede).
Grundstein von Verfahren, die im Rahmen der
Verhaltenstherapie angewendet werden, um die                Auch wenn die Bewertung eines bestimmten Rei-
Reaktion auf Stressoren zu modifizieren (Nitsch             zes als Stressor immer auch von den individuellen
1981; Wagner & Vogel 1996).                                 Einschätzungen der Personen abhängig ist, er-
                                                            scheint es sinnvoll, Reize zu untersuchen, die mit
                                                            einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit von vielen
                                                            Menschen als Stressor erlebt werden. Es können
                                                            folgende Stressoren unterschieden werden:

                                                            • äußere Stressoren (Überflutung durch Reize
1
    Die Verwertung von Erfahrungen für weitere Bewälti-
    gungsaufgaben wird von Lazarus als „Transaktion” ver-
                                                              wie Lärm, Licht, Vibration oder deren Entzug,
    standen.
Streß und Streßbewältigung – Sachtext                                                                                 419

  Schmerzreize, Gefahrensituationen)
                                                                  Exkurs: Mobbing am Arbeitsplatz
• Entzug von Reizen, die zur Befriedigung primä-
  rer Bedürfnisse relevant sind (Nahrung, Was-                    Untersuchungen in den skandinavischen Ländern
  ser, Schlaf, Bewegung)                                          und in Österreich (z.B. Leymann 1993; Niedl
                                                                  1995) haben gezeigt, daß Mobbing am Arbeits-
• Leistungsstressoren (z.B. Überforderung, Zeit-
                                                                  platz ein ernstzunehmendes Problem darstellt,
  druck, aber auch Unterforderung)                                von dem in der Bundesrepublik – würde man
• soziale Stressoren (z.B. Isolation) und                         schwedische Zahlen übertragen – etwa eine Mil-
• vornehmlich psychische Stressoren (z.B. Un-                     lion Beschäftigte betroffen wären. Nachfolgend
                                                                  werden daher einige ausgewählte Untersu-
  kontrollierbarkeit, Ungewißheit).                               chungsergebnisse zu diesem Thema dargestellt
                                                                  (für einen umfassenden Überblick siehe Zapf
Besonders ausführlich wurde der Streß am Ar-                      1999). Mobbing kann von einer oder mehreren
beitsplatz untersucht. Beispielhaft werden ver-                   Personen ausgehen. Generell scheinen eher
                                                                  mehrere Personen an entsprechenden Handlun-
schiedene Stressoren aufgeführt, die sich im Be-
                                                                  gen beteiligt zu sein (Zapf 1999). Der Anteil an
reich des Arbeitsplatzes unterscheiden lassen                     männlichen Tätern beträgt nach den Untersu-
(Zapf & Frese 1993; Zapf, Dormann & Frese                         chungsergebnissen von Einarsen und Skogstad
1996):                                                            (1996) 49%; Rayner (1997) spricht sogar von ei-
                                                                  nem Anteil von zwei Dritteln. In mehr als der Hälf-
                                                                  te der Mobbinghandlungen sind die Vorgesetzten
• Stressoren, die sich aus der Arbeitsaufgabe                     beteiligt (Zapf et al. 1996, zitiert nach Zapf 1999).
  ergeben                                                         Frauen werden häufiger zu Mobbingopfern als
• physikalische Stressoren aus der Arbeitsum-                     Männer; bei Niedl (1995) z.B. liegt der Anteil bei
                                                                  82%, Knorz und Zapf (1996) berichten von 70%.
  gebung (Lärm, Hitze, Staub etc.)
                                                                  Es zeigen sich aufgrund der Mobbinghandlungen
• Stressoren in der zeitlichen Dimension (z.B.                    langfristig gravierende gesundheitliche Ein-
  Schichtarbeit)                                                  schränkungen wie z.B. psychosomatische Be-
• soziale Stressoren (z.B. Spannungen mit Kol-                    schwerden und Depressivität (Knorz & Zapf
                                       2                          1996).
  legen oder Vorgesetzten; „Mobbing“ als eine                     Als Mobbingstrategien werden diskutiert: 1. Or-
  extreme Form sozialer Stressoren, vgl. hierzu                   ganisationsbezogene Strategien (z.B. Entzug von
  nebenstehenden Kasten)                                          Entscheidungskompetenzen), 2. Soziale Isolie-
                                                                  rung, 3. Angriffe auf die eigene Person und ihre
• organisatorisch bedingte Stressoren (z.B. feh-
                                                                  Privatsphäre, 4. Verbale Drohungen bzw. verbale
  lender Nachschub, nicht vorhandene Informati-                   Aggression sowie 5. Androhung oder Ausübung
  onen oder Unterbrechungen durch das Tele-                       körperlicher Gewalt. Bezüglich der Ursachen von
  fon)                                                            Mobbing liegen bisher kaum empirische Ergeb-
                                                                  nisse vor, die „methodisch strengen Kriterien ei-
• Stressoren in der Berufskarriere (wie z.B. Rea-
                                                                  ner Ursachenanalyse standhalten würden“ (Zapf
  litätsschock beim Eintritt in das Berufsleben                   1999, S. 12). Die bisher vorliegenden Daten
  oder mangelnde bzw. fehlende, arbeitsplatzbe-                   sprechen allerdings dafür, daß die Ursachen bei
  zogene Kompetenzen) und schließlich                             allen Beteiligten sowie in der Organisationsstruk-
                                                                  tur (z.B. schlechte Arbeitsorganisation, beste-
• Arbeitslosigkeit und Arbeitsunsicherheit (d.h.                  hende Führungsprobleme etc.) zu suchen sind.
  die Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren oder
  auch die Umstellung durch Berentung).

                                                                 Neuanpassungen erforderlich machen, seien hier
Eine andere Richtung innerhalb der Streßfor-
                                                                 erwähnt: Tod und Krankheit in der Familie,
schung hat unter der Perspektive der Life-Event-
                                                                 Schwangerschaften und Geburten, berufliche
Forschung (Filipp 1990) die Bedeutung kriti-
                                                                 Fehlschläge und Erfolge, Schwierigkeiten und
scher Lebensereignisse herausgearbeitet. Als
                                                                 Verbesserungen der Arbeitssituation, Scheidun-
Beispiele, die wegen ihrer einschneidenden Wir-
                                                                 gen und Eheschließungen, finanzielle Engpässe
kung auf die Lebensumstände des Betroffenen
                                                                 oder Gewinne, negative und positive Auswirkun-
                                                                 gen eines Umzuges u.ä.
2
    Der Begriff „Mobbing“ beschreibt feindselige Interaktionen
    am Arbeitsplatz, die systematisch gegen eine bestimmte
    Person gerichtet sind und über ein halbes Jahr oder länger   Ebenso bedeutsam für die Entstehung von Streß
    mindestens einmal pro Woche vorkommen (Knorz & Zapf          und seine Folgen dürften nach neueren Untersu-
    1996; Leymann 1993).
420                                        Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation

chungen die alltäglichen Belastungen („daily              eine Person Stressoren ausgesetzt ist. In Abbil-
hassles”) sein, denen wir immer wieder ausge-             dung 2 sind Beispiele für alle vier Dimensionen
setzt sind (Brantley et al. 1987). Die Anzahl und         aufgeführt.
Intensität alltäglicher Stressoren ist es, die für die
meisten Menschen einen relevanten Einflußfaktor           Sehr ausführlich und differenziert wurden in den
auf Wohlbefinden, Krankheitsanfälligkeit und Be-          letzten Jahren die psychophysiologischen Reakti-
lastbarkeit darstellt.                                    onen auf Streßsituationen untersucht. Dabei las-
                                                          sen sich als endokrine Korrelate der Streßreakti-
Schließlich sei darauf hingewiesen, daß auch              on vor allem Änderungen in Cortisol-, Catechola-
Reize, die zunächst nicht als Belastungen erlebt          min- und Testosteron-Konzentrationen im Serum
werden (wie z.B. Lärm), wie Stressoren verarbei-          aufzeigen (Neuser 1994, S. 78; zur Darstellung
tet werden und Streßreaktionen auslösen oder die          der neurophysiologischen Zusammenhänge vgl.
Auslösung von Streßreaktionen erleichtern kön-            auch Hüther et al. 1996).
nen. Das Konzept der subliminalen Wahrneh-
mung, welches von Dixion (1981, zitiert nach Milt-        Auf neurologischer Ebene kommt es vor allem zu
                                                                                                   3
ner 1986) ausführlicher untersucht wurde, befaßt          einer Erhöhung der Sympathikusaktivität , wo-
sich mit der Wahrnehmung von Reizen unterhalb             durch die Voraussetzungen für die Leistungsfä-
der Bewußtseinsschwelle, d.h. mit Stimuli, die            higkeit eines Individuums geschaffen werden
zwar meßbare physiologische Reaktionen hervor-            (z.B. Puls- und Blutdruckanstieg, Verengung der
rufen, deren Wahrnehmung von der Person aber              Blutgefäße, Muskelanspannung, Pupillenerweite-
nicht bewußt registriert wird. Eine wesentliche           rung, Hemmung der Darmtätigkeit usw.).
Voraussetzung für die subliminale oder unter-
schwellige Wahrnehmung besteht nach Miltner               Selyes Postulat der Unspezifität der Streßreaktion
(1986) darin, daß diese Stimuli eine assoziative          mußte inzwischen differenziert werden, denn es
Verbindung zu Inhalten des Langzeitgedächtnis-            fanden sich durchaus unterscheidbare situations-
ses herstellen können. In Untersuchungen konnte           typische Reaktionsmuster. Die aktuelle Sichtwei-
ebenfalls geklärt werden, daß die subliminalen            se zur Situationsspezifität der Streßreaktion wird
Wahrmehmungsprozesse wiederum Auswirkun-                  von Henry (1986) in seinem psychoneuroendokri-
gen auf das Langzeitgedächtnis haben und somit            nologischen Streßmodell geordnet, wobei not-
emotionale und autonom nervöse Erregungsvor-              wendigerweise Vereinfachungen vorgenommen
gänge – und damit Streß – hervorrufen können              wurden. Er unterscheidet drei Typen von endokri-
(Miltner 1986, S. 55).                                    nen Reaktionsmustern, denen spezifische emoti-
                                                          onale Erlebnisformen und Verhaltenstendenzen
                                                          zugeordnet sind:
2.2.3 Streßreaktionen
                                                          • Bei ärgerauslösenden Situationen reagiert der
Der Mensch reagiert auf Streß in vielfältiger Wei-
                                                            Organismus vor allem mit der Freisetzung von
se, wobei sowohl große interindividuelle als auch
                                                            Katecholaminen, insbesondere Noradrenalin;
intraindividuelle Unterschiede beobachtet werden
                                                            auch der Testosteronspiegel, der mit aggres-
können. Als wichtige Beschreibungsdimensionen
                                                            siv-dominantem Verhalten in Zusammenhang
haben sich vier Bereiche herausgebildet: Auf der
                                                            steht, wird erhöht. Es kommt zu starken kardio-
physiologischen Ebene werden sowohl muskuläre
                                                            vaskulären Reaktionen (Blutdruck- und Herz-
als auch vegetativ-hormonelle Veränderungen
                                                            frequenzanstieg). Auf der behavioralen Ebene
beschrieben. Auf emotionaler Ebene werden Ge-
                                                            lassen sich Kampf- bzw. Anstrengungsbereit-
fühle wie z.B. Ärger oder Enttäuschung analysiert,
im kognitiven Bereich sind bestimmte Gedanken
gemeint, die als Reaktion auf Streß auftreten und
                                                          3
z.B. durch häufige Wiederkehr die Form von au-                Das vegetative oder autonome Nervensystem regelt im
                                                              wesentlichen die (inneren) Organfunktionen (Verdauung,
tomatischen Gedanken annehmen können. Auf                     Herzrate, Blutdruck u.v.a.). Dabei lassen sich zwei funktio-
der Verhaltensebene geht es schließlich um kon-               nelle Bereiche unterscheiden: das sympathische Nerven-
                                                              system („Sympathikus“) und das antagonistisch wirkende
krete Verhaltensweisen, die verdeutlichen, daß                parasympathische Nervensystem („Parasympathikus“).
Streß und Streßbewältigung – Sachtext                                                                      421

  schaft finden.                                         falsche Ernährung, Bewegungsmangel, sozialer
• Bei furchtauslösenden Situationen kommt es             Rückzug, Nikotinmißbrauch etc.; vgl. Basler &
  zu verstärkter Adrenalinfreisetzung sowie einer        Florin 1985; Miltner 1986).
  leicht erhöhten Noradrenalin- und Cortisolkon-
  zentration. Hier steigen Herzfrequenz und Blut-        Wichtig im Hinblick auf die Bewältigung von Streß
  druck leicht an. Das Verhalten ist durch Flucht-       sind auch Ergebnisse zur Beeinflußbarkeit von
  und Anstrengungstendenzen gekennzeichnet.              Streßreaktionen. Eine besondere Bedeutung
• In Situationen, die durch Gefühle von Depres-          scheint dabei – entsprechend dem Streßmodell
  sivität, Resignation und Hilflosigkeit gekenn-         von Lazarus – der Fähigkeit der Person zur realis-
  zeichnet sind, zeigt sich ein Anstieg des Corti-       tischen Einschätzung der Herausforderungssitua-
  sols sowie ein Rückgang des Testosteronspie-           tion sowie zur Bewertung der eigenen Hand-
  gels und eine Abnahme der Herzfrequenz.                lungsmöglichkeiten zuzukommen. Ob Streß ent-
                                                         steht, hängt also entscheidend davon ab, ob eine
Zuviel Streß macht krank: Gelegentliche Streß-           Person sich dazu in der Lage sieht, einen poten-
situationen, die bewältigt werden können, sind           tiellen Stressor – zum Beispiel Zeitdruck am Ar-
unproblematisch, gegebenenfalls eher förderlich          beitsplatz oder Ärger in der Familie – zu bewälti-
für die Gesundheit bzw. die Belastbarkeit des            gen. Daher spielen Methoden zur Verbesserung
Menschen. Zu häufige oder zu lang andauernde             der Problemlösefähigkeit in Programmen zur
Streßreaktionen sind jedoch gesundheitlich prob-         Streßbewältigung eine zentrale Rolle. Daraus
lematisch, da sie eine dauernde Überaktivierung          kann allerdings nicht abgleitet werden, daß Streß-
des Organismus bedeuten, die Abwehrkräfte                entstehung und Streßbewältigung generell ein
überfordern und das Krankheitsrisiko erhöhen.            individuelles (privates) Problem darstellen (Ulich
Dies läßt sich einerseits direkt über die oben ge-       1998). Strukturelle Aspekte wie z.B. die Gestal-
nannten endokrinologischen und physiologischen           tung von Arbeitsplätzen und -abläufen oder die
Aspekte der Streßreaktion erklären, andererseits         individuelle Wohnsituation können ebenfalls Streß
auch indirekt über die Wirkung ungünstiger Be-           auslösen; sie können vielfach jedoch von den
wältigungsformen (Psychopharmaka-Einnahme,               Betroffenen nicht verändert werden.

                                              Stressor

                                                     ß
                                        Streßreaktionen
    physiologisch, z.B.     emotional, z.B.          kognitiv, z.B.              behavioral, z.B.

    • Puls ↑, Blutdruck ↑   • Angst                  • „Immer ich”               • hastig und verkrampft
    • Muskelspannung ↑      • Ärger                  • „Das schaffe ich nie”       arbeiten

    • Atemfrequenz ↑        • Enttäuschung           • „Jetzt ist alles aus”     • gereizt gegenüber
                                                                                   anderen sein
    • Blutgerinnung ↑       • Depressionen           • „Ich weiß nicht weiter”
                                                                                 • mangelnde Planung
    • Verdauung ↓                                                                  und Übersicht
    • Immunkompetenz ↓                                                           • Pausenvermeidung
    • Sexualfunktion ↓                                                           • mehr Rauchen
                                                                                 • „nebenbei” essen

    Abbildung 2:     Stressor und Streßreaktionen
422                                    Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation

2.3 Weitere wichtige Themen der                       emotionaler Beanspruchung erklären, da sie auf
    Streßforschung                                    rein physiologischer Ebene in der Lage sind, eine
                                                      Deaktivierung der erregten Organsysteme zu
2.3.1 Evolutionstheoretische Aspekte                  erreichen (vgl. Seminareinheit „Bewegung und
                                                      körperliches Training”).
Die Streßreaktion läßt sich unter phylogeneti-
schen Gesichtspunkten als wertvolle Fähigkeit         Der evolutionstheoretische Aspekt ist bei der
des Organismus charakterisieren, in Herausforde-      Durchführung der Seminareinheit von großer Be-
rungssituationen alle Kräfte auf die Bewältigung      deutung, da er für die meisten Teilnehmer(innen)
der Aufgabe zu konzentrieren. Die Streßreaktio-       interessant und unmittelbar evident ist und den
nen führen zur Aktivierung des sympathischen          „Sinn“ der Streßreaktion verdeutlicht. Somit wird
und zur Hemmung des parasympathischen Ner-            der Zugang zum weiteren Inhalt des Kurses er-
vensystems. Dieser im wesentlichen bereits von        leichtert (vgl. Umsetzung der vorliegenden Semi-
Selye beschriebene Mechanismus läßt sich phy-         nareinheit).
siologisch nachweisen und führte dazu, daß Streß
auch als Vorbereitung auf Kampf und/oder Flucht       2.3.2 Positiver und negativer Streß
beschrieben wurde. Tatsächlich werden Herz und
Muskeln stärker durchblutet bzw. aktiviert, wäh-      Von Selye stammt die Unterscheidung von (gu-
rend beispielsweise der Verdauungstrakt sowie         tem) Eustreß und (schlechtem) Disstreß. Er wollte
andere für Kampf und Fortbewegung unwichtige          damit zum Ausdruck bringen, daß ein gewisses
Organe schwächer versorgt werden.                     Maß an Streß eine positive Wirkung auf den Or-
                                                      ganismus im Sinne von Training und Aktivierung
Im Gegensatz zum Tier und unseren Vorfahren           hat, während ein zuviel an Streß zu den bekann-
verliert dieser Zusammenhang in der heutigen          ten negativen Folgen führt. Dies ist einleuchtend,
Zeit für die meisten Belastungssituationen des        da Training sowohl im motorischen als auch im
Menschen seinen Sinn, da es selten darauf an-         kognitiven Bereich zur Verbesserung der Bewälti-
kommt, zu fliehen oder zu kämpfen (Ausnahme:          gungsfertigkeiten und damit der Belastbarkeit
sportlicher Wettkampf, körperliche Angriffe und       führt.
Überfälle o.ä.). Die in einer Streßsituation frei
werdenden Energien richten sich aber, wenn sie        Kaum allgemeingültig zu beantworten ist die Fra-
nicht genutzt werden, gegen den eigenen Körper.       ge, welches Ausmaß an Streß für den einzelnen
Geht die Streßsituation schnell vorüber, fängt der    optimal oder noch zu verkraften ist. Das hängt
Körper die Auswirkungen der Mobilmachung auf.         stark von den individuellen Voraussetzungen und
Bei Dauerstreß ist der Körper in ständiger Alarm-     der jeweiligen Situation ab und kann nur im Ein-
bereitschaft, was sich langfristig negativ auf Ge-    zelfall beurteilt werden. Es kann daher beim Er-
sundheit und Wohlbefinden auswirkt.                   lernen von Streßbewältigungsfertigkeiten kein Ziel
                                                      sein, jeglichen Streß zu vermeiden. Vielmehr soll
In vielen Situationen sind die physiologischen        ein Ausgleich zwischen Spannung und Streß auf
Streßreaktionen kontraproduktiv zur erfolgreichen     der einen und Entspannung und Ruhe auf der
Bewältigung. Wenn man etwa in schwierigen             anderen Seite angestrebt werden.
Situationen einen „kühlen Kopf” behalten muß,
wird dies durch ausgeprägte Aktivierung des Or-       2.3.3 Streß und Persönlichkeit
ganismus, die unter anderem regelmäßig auch zu
einer kognitiven Einengung und Unruhe führt,          Persönlichkeitstheoretische Beiträge weisen auf
eher verhindert. Die Streßreaktionen werden so        interindividuelle Unterschiede in der Reaktion auf
zu neuen Stressoren, die bewältigt werden müs-        Stressoren hin. Ein klassisches Beispiel hierfür ist
sen. Gerade aus der evolutionsgeschichtlichen         das Typ-A-Konzept nach Friedman und Rosen-
Bedeutung der Streßreaktion läßt sich allerdings      man (1974), welches den Typus einer „Streßper-
auch der Sinn von körperlichen Abreaktionen           sönlichkeit” beschreibt, die in besonderer Weise
(Sport, Bewegung) bei übermäßiger kognitiv-           gefährdet ist, eine koronare Herzerkrankung zu
Streß und Streßbewältigung – Sachtext                                                                                  423

erleiden. Das Typ-A-Verhaltensmuster ist durch                     chungen als Moderatorvariable erwiesen hat, die
starkes Streben nach Anerkennung, ständige                         das Streßerleben und die Streßverarbeitung
Wettbewerbshaltung, latente Feindseligkeit, Het-                   beeinflußt. Dabei zeigt sich, daß streßauslösende
ze und Ungeduld sowie die Mißachtung von Ent-                      Situationen um so besser bewältigt werden kön-
spannungsbedürfnissen gekennzeichnet.                              nen, je stärker eigene Einflußmöglichkeiten auf
                                                                   das streßauslösende Ereignis bzw. den Stressor
Der Zusammenhang von Typ-A-Verhalten und Er-                       wahrgenommen werden (Frese 1989; Rotter
krankungen des Herz-Kreislaufsystems wurde als                     1966; Wagner 1995). Schreiben sich Personen
Ergebnis mehrerer epidemiologischer Studien                        dagegen nur geringe eigene Einflußmöglichkeiten
postuliert. Exemplarisch erwähnt sei hier die                      zu, so ist es für sie in der Regel schwieriger, die
„Framingham Heart Study“ von Haynes, Feinleib                      Streßsituation zu bewältigen. Kontrollüberzeu-
und Kannel aus dem Jahre 1980. Jüngere Unter-                      gungen können daher als wichtige Ressource des
suchungen haben jedoch Zweifel an der generel-                     Menschen (im Sinne eines Schutzfaktors) für die
len Gültigkeit dieses Konzeptes aufkommen las-                     Bewältigung von Streß angesehen werden
sen. So war z.B. die Überlebensrate von Typ-A-                     (Muthny et al. 1994; vgl. Sachtext der Seminarein-
Personen nach einem Herzinfarkt höher als die                      heit „Schutzfaktoren: Was hält uns gesund?“,
von anderen Herzinfarktpatienten (Ragland &                        Abschnitt 4.1.1).
Brand 1988). Es wurde versucht, spezifische As-
pekte des Typ-A herauszukristallisieren, die sich                  Eine denkbare Synthese finden diese For-
besonders gesundheitsschädigend auswirken.                         schungsansätze in den moderneren kognitiven
Von einigen Autoren wurde daraufhin die Bedeu-                     Ansätzen. Wie im transaktionalen Modell von
tung der Komponenten „Hostility“ (Feindselig-                      Lazarus ausführlich vorgesehen, zeigt sich, daß
keit) und Ärger als mögliche Risikofaktoren der                    die subjektive Wahrnehmung und Bewertung der
koronaren Herzerkrankung hervorgehoben.                            Situation durch die Person von herausragender
                                                                   Bedeutung für das Streßerleben und die Streß-
Im Rahmen von Metaanalysen hat Myrtek (1999)                       bewältigung sind. Hier spielen erlernte Reakti-
24 prospektive Studien zum Typ-A-Verhalten                         onstendenzen, quasi automatische Gedanken
sowie acht prospektive Studien und acht Fall-                      und Interpretationsschemata eine zentrale Rolle.
Kontroll-Studien zum Thema „Hostility“ analysiert.                 Eine Vielzahl kognitiv orientierter Interventionsan-
Im Ergebnis zeigte sich, daß Typ-A-Verhalten und                   sätze knüpfen an diesem Punkt an (vgl. Meichen-
„Hostility“ keine eigenständigen Risikofaktoren                    baum 1991; Schalp et al. 1990).
der koronaren Herzerkrankung darstellen. Es
zeigte sich aber, daß die im Sinne des Hostility-                  2.3.4 Ressourcenforschung und die
Konzeptes feindseligen Personen häufiger zu                              Salutogenese
riskanten Verhaltensweisen und zu abweichen-
dem Verhalten neigen. Damit ist ein Zusammen-                      Das Konzept der Salutogenese von Antonovsky
hang zwischen feindseligem Verhalten und koro-                     (1979, 1993) hat einen speziellen Zugang zur
narer Herzerkrankung nicht verwunderlich.                          Streßbewältigung eröffnet, indem danach gefragt
                                                                   wird, welche Faktoren manche Menschen „wider-
Ein weiterer persönlichkeitsspezifischer Aspekt                    standsfähiger” gegenüber Belastungsfaktoren
wird mit dem Konzept der Kontrollüberzeugun-                       bzw. Streß machen als andere (vgl. hierzu Sach-
    4
gen beschrieben, das sich in vielen Untersu-                       text der Seminareinheit "Schutzfaktoren: Was hält
                                                                   uns gesund?", Abschnitt 3.4). In diesem Zusam-
                                                                   menhang wird häufig von Ressourcen (oder
4
                                                                   auch Schutzfaktoren) gesprochen. Darunter
    Der Begriff der Kontrollüberzeugung („locus of control")
    wurde von Rotter (1966) im Rahmen seiner sozialen Lern-        werden Kompetenzen oder Überzeugungen zu-
    theorie geprägt. Rotter versteht darunter generalisierte Er-
    wartungshaltungen eines Individuums darüber, ob es durch
    eigenes Verhalten wichtige Ereignisse in seinem Leben
    steuern und kontrollieren kann und beschreibt damit die
    internale Kontrollüberzeugung. Demgegenüber steht bei            sung im Vordergrund, das eigene Schicksal nicht steuern
    der externalen Kontrollüberzeugung die subjektive Auffas-        bzw. beeinflussen zu können.
424                                     Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation

sammengefaßt, die eine Person dazu befähigen,          2.3.6 Was ist erfolgreiches Bewälti-
mit einer Streßsituation erfolgreich umzugehen.              gungsverhalten?
Unterschieden werden interne und externe Res-
sourcen bzw. Schutzfaktoren.                           Die Bewältigungs- bzw. Coping-Forschung ist ein
                                                       weit gefächertes Gebiet innerhalb der psychoso-
Zu den internen Schutzfaktoren zählen problem-         zialen Gesundheitsforschung, das sich im we-
bezogene Kompetenzen wie berufsbezogene                sentlichen mit der Frage effektiver Bewältigungs-
Qualifikationen, soziale Kompetenzen (z.B. im          strategien bei gesundheitlichen Herausforderun-
Umgang mit Vorgesetzten oder Arbeitskollegen)          gen beschäftigt (vgl. Beutel 1988). Ziel ist es,
und bestimmte problemorientierte und emotions-         Streßerleben zu reduzieren oder zu vermeiden.
orientierte Streßbewältigungsstrategien. Die Prob-
lemorientierten Bewältigungsstrategien sind da-        Als durchgängig ineffektiv haben sich dabei so-
rauf gerichtet, mit dem Stressor selbst umzuge-        genannte „eskapistische” Strategien in Form von
hen, z.B. die Fähigkeit zur differenzierten Analyse    realitätsfliehenden Wunschphantasien sowie Dro-
von Problemsituationen, um bessere Lösungsan-          gen- oder Alkoholkonsum erwiesen. Mit Ausnah-
sätze zu finden. Emotionsorientierte Strategien        me sportlicher Aktivitäten erscheinen Strategien,
dagegen sind auf streßbegleitende Emotionen            bei bestehenden Belastungen „Dampf abzulas-
gerichtet (vor allem Angst und Anspannung), die        sen” oder sich durch aggressive Handlungen „Luft
möglicherweise die Streßbewältigung behindern.         zu verschaffen”, als besonders ungünstig. Bei den
                                                       intrapsychischen Strategien sind Selbstabwer-
Als wichtige externe Schutzfaktoren haben sich in      tung, Selbstbeschuldigung und Resignation wenig
wissenschaftlichen Untersuchungen (tatsächliche)       hilfreich. Günstig sind dagegen positive Neube-
Kontrolle und soziale Unterstützung erwiesen (vgl.     wertungen der Situation („Wie geht es mir jetzt im
Frese & Semmer 1991, Röhrle 1994).                     Vergleich zum letzten Jahr?” oder „Wie geht es
                                                       mir im Vergleich zu anderen?”) sowie aktives, auf
2.3.5 Streß und Wohlbefinden                           die Problemlösung gerichtetes Handeln.

Verschiedentlich wurde das anzustrebende               Häufige Stressoren liegen im zwischenmenschli-
Gleichgewicht zwischen Streß (Anspannung) und          chen Bereich und führen zu Ärgergefühlen. We-
Ruhe (Entspannung) erwähnt, welches für das            ber (1992, 1994) kommt nach umfangreichen
Wohlbefinden und die Aufrechterhaltung der Be-         Studien zu dem Schluß, daß in solchen Situatio-
lastungsfähigkeit eine wichtige Voraussetzung          nen weder das „Herauslassen von Ärger” noch
darstellt. Entsprechend dem salutogenetischen          das „In-sich-Hineinfressen” günstige Reaktionen
Ansatz kann dieses Gleichgewicht sowohl durch          darstellen. Positiv wirken sich Bewältigungsfor-
die Förderung der Streßverarbeitungskapazitäten        men aus, die dazu beitragen, daß der Ärger ab-
als auch über die Förderung der anderen Seite          gebaut wird. Dies kann durch Ablenkung, Umdeu-
des anzustrebenden Gleichgewichts erreicht wer-        tung, Humor sowie durch ein klärendes Gespräch
den. In der neueren Entwicklung der Streßbewäl-        geschehen.
tigung wird daher die Fähigkeit, positive Gefühle
wahrzunehmen und zu fördern (sogenanntes               Erfolgreiches Bewältigungsverhalten zeichnet sich
„euthymes“ Erleben und Verhalten), als wichtiger       durch Flexibilität aus. Weder generalisierte Ver-
Faktor angesehen und untersucht (Koppenhöfer           meidungsstrategien noch ein unangemessenes
1990, 1996; Lutz 1996). Im Zusammenhang mit            Kontrollbedürfnis sind der Gesundheit zuträglich.
Streßbewältigung steht der Aufbau von Verhal-          Auf der Basis einer realistischen Einschätzung
tensweisen im Vordergrund, die eine gesundheits-       eigener Einflußmöglichkeiten und eines breiten
fördernde bzw. -schützende Wirkung haben und           Repertoires an verfügbaren Bewältigungsformen
damit langfristig für einen Belastungsausgleich        zeichnen sich gesunde Personen dadurch aus,
sorgen (vgl. Sachtext der Seminareinheit „Schutz-      daß sie in Belastungssituationen unterschiedliche
faktoren: Was hält uns gesund?“, Kapitel 5).           Lösungsalternativen zur Verfügung haben und
                                                       entsprechend dem jeweiligen Bedarf die günstigs-
Streß und Streßbewältigung – Sachtext                                                             425

te Form auswählen können (vgl. hierzu z.B. Kalu-     den im Rahmen verhaltenstherapeutischer Be-
za 1996, S. 51f.).                                   handlungen Anwendung (vgl. Beisenherz 1990
                                                     sowie Hampel & Petermann 1997). Mit der Aus-
2.3.7 Streß aus wissenschaftlicher ver-              breitung verhaltenstherapeutischer Behandlungs-
      sus laientheoretischer Sicht                   verfahren wurden auch die Methoden zur Streß-
                                                     bewältigung bekannter und häufiger angewandt.
Das Streßverständnis aus Laiensicht gilt häufig      Es erfolgte die Entwicklung von einzelnen Techni-
als unzureichend, um Streßbewältigungstechni-        ken hin zu umfassenden Behandlungsprogram-
ken plausibel zu begründen. Insbesondere unter-      men zur Streßbewältigung (vgl. Wagner & Vogel
scheiden Laien zumeist nicht zwischen Stressor       1996).
und Streßreaktion. Dennoch enthält das Alltags-
verständnis von Streß durchaus einen Bezie-          Im stationären und ambulanten Setting werden
hungsbegriff (Überforderung gleich Mißverhältnis     Verfahren der Streßbewältigung sowohl als Grup-
von Anforderung und Leistungsmöglichkeiten),         penverfahren als auch in der Einzeltherapie er-
der dem „wissenschaftlichen” Streßverständnis        folgreich angewandt. Nachfolgend wird die Grund-
ähnlich ist (Weber 1987).                            konzeption üblicher Streßbewältigungstrainings
                                                     vorgestellt, wie sie etwa in den Manualen von
Ursachen für Streß liegen nach dem Alltagsver-       Kaluza (1996) oder Wagner-Link (1995) ausführ-
ständnis häufig in Belastungssituationen oder        lich beschrieben sind.
Zuständen, die nicht zu vermeiden sind. Eigene
Einflußmöglichkeiten werden zumeist nicht gese-
hen – sie sind oft kaum vorstellbar. Externale
                                                     3.1 Anwendungsbereiche
Kontrollüberzeugungen, d.h. – verkürzt dargestellt
                                                     Eine Vielzahl psychosomatischer und chronischer
– die Einschätzung, selbst nichts wesentliches zur
                                                     somatischer Störungen sind unter anderem durch
Veränderung einer Problemsituation beitragen zu
                                                     die verminderte Fähigkeit zum Umgang mit Her-
können, bilden somit ein Hindernis für eine adä-
                                                     ausforderungen gekennzeichnet. Gerade Pati-
quate Veränderungsmotivation (Muthny et al.
                                                     ent(inn)en, die bereits durch psychische oder
1994, vgl. auch Abschnitt 2.3.3).
                                                     körperliche Störungen belastet sind, können da-
                                                     von profitieren, mit Belastungen – seien es „nor-
Auch das häufig anzutreffende Alltagsverständnis
                                                     male” oder krankheitsbedingte Herausforderun-
von nicht näher differenziertem psychosozialem
                                                     gen – besser umzugehen. Neben psychischen
Streß als wesentlicher Krankheitsursache ist ge-
                                                     Störungen und Symptomen (z.B. Ängste, Depres-
rade in der Rehabilitation nicht unproblematisch,
                                                     sionen, Selbstwertprobleme, Burnout-Syndrom)
worauf Myrtek (1985a, b; vgl. auch Halhuber
                                                     und somatoformen bzw. psychisch mitbedingten
1985) nachdrücklich hinweist. Bietet es doch die
                                                     Erkrankungen (z.B. Bluthochdruck, Spannungs-
Gelegenheit, unveränderbare oder nur bedingt
                                                     kopfschmerz, verschiedene gastrointestinale Er-
beeinflußbare Stressoren zur Kausalerklärung der
                                                     krankungen) sind auch somatische Erkrankungen
Erkrankung heranzuziehen und den Änderungs-
                                                     (z.B. Krankheitsbewältigung bei chronischen Er-
bedarf hinsichtlich der ohne Zweifel relevanten
                                                     krankungen, Verarbeitung von schweren operati-
somatischen Risikofaktoren wie Ernährung,
                                                     ven Eingriffen) zu nennen. Da die medizinische
Rauchverhalten und Bewegungsmangel zu ver-
                                                     Rehabilitation sich vorwiegend auf Patient(inn)en
nachlässigen („Streß als Ausrede”).
                                                     mit chronischen Erkrankungen bezieht, liegt hier
                                                     ein besonders geeignetes Anwendungsgebiet für
3 Grundlagen zum Thema „Streß-                       Methoden zur Verbesserung der Streßbewälti-
  bewältigung”                                       gungsfähigkeiten.

Verfahren zur Bewältigung von Streß wurden           Streßbewältigungsverfahren sind nicht nur indi-
ursprünglich auf dem Hintergrund psychophysio-       ziert, wenn die Stressoren durch subjektive Be-
logischer Theorien zum Streß entwickelt und fan-     wertung entstehen: Auch im Falle kritischer Le-
426                                                Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation

bensereignisse (Verlust des Ehepartners, Mittei-                   gibt es für die meisten Rehabilitand(inn)en mar-
lung einer schweren somatischen Diagnose) sind                     kante Beispiele dafür, daß es bei vielen Stresso-
diese Verfahren oder Teile daraus indiziert, da sie                ren individuell nur bedingt oder gar nicht möglich
die kognitiv-emotionale Auseinandersetzung der                     ist, Veränderungen in den Rahmenbedingungen
Patientin bzw. des Patienten mit der Situation ver-                zu erreichen (z.B. bei Lärmbelästigung am Ar-
bessern können und so langfristig negative Ent-                    beitsplatz).
wicklungen vermeiden helfen.
                                                                   Die Ziele eines Streßbewältigungkurses lassen
Das Training in Streßbewältigung ist somit ein                     sich somit wie folgt systematisch in fünf Bereiche
klassisch „psychosomatisches” Vorgehen, da es                      aufgliedern:
sich speziell auf die ohnehin fließende Grenze
zwischen psychischen und somatischen Aspekten                      1. Der Erwerb eines Verständnisses der Zusam-
des Krankseins bezieht und den Patient(inn)en                         menhänge zwischen äußeren (und gegebe-
ein greifbares Modell für den Umgang mit ent-                         nenfalls inneren) Auslösern, innerer Verarbei-
sprechenden psychophysischen Herausforde-                             tung der Auslöser, (automatischer, gegebe-
rungssituationen vermittelt.                                          nenfalls unangemessener) Bewältigungsreak-
                                                                      tionen und dem Ergebnis auf der emotionalen,
Schließlich muß die Vermittlung von Streßmana-                        kognitiven und physiologischen Ebene.
gement-Fertigkeiten auch als wichtige präventive
                                                                   2. Die Förderung der Bereitschaft und Fähigkeit
Maßnahme verstanden werden, da es neben der
                                                                      zur Analyse von Belastungssituationen: Identi-
Bewältigung bestehender Stressoren gleichzeitig
                                                                      fikation von (äußeren) Stressoren und proble-
darum geht, den Patient(inn)en den Umgang mit
                                                                      matischen (und veränderbaren!) Bewälti-
zukünftigen Herausforderungen zu erleichtern.
                                                                      gungsformen.
Insofern hat die Streßbewältigung einen zentralen
Platz in allen umfassenderen Konzepten zur Ge-                     3. Die Förderung der Akzeptanz von Belastungen
sundheitsförderung (Vogel 1993).                                      als Teil des eigenen Lebensplans: Hier geht es
                                                                      darum, das Ziel „Streß vermeiden” zu relativie-
                                                                      ren und die Unvermeidbarkeit von Belastun-
3.2 Ziele von Maßnahmen zur Streß-                                    gen im alltäglichen Leben (bis zu einem ge-
    bewältigung                                                       wissen Ausmaß) zu thematisieren.

Die übergreifenden Ziele von Maßnahmen zur                         4. Kennenlernen verschiedener Fähigkeiten und
Streßbewältigung werden anschaulich in dem                            Einübung insbesondere von Erleichterungs-
folgenden Merkspruch zusammengefaßt:                                  techniken zur kurzfristigen Streßverminderung.

                                                                   5. Erarbeitung und Training von Fähigkeiten zur
                                                                      längerfristigen Streßverminderung oder –ver-
       Ändere Dinge, die Du ändern kannst.                            meidung (vor allem Situations- oder Verhal-
    Akzeptiere Dinge, die Du nicht ändern kannst.                     tensänderungen). Hierzu gehört auch die Fä-
             Und lerne, zwischen beiden                               higkeit zu genießen, körperliche Aktivität, ge-
                                   5
                 zu unterscheiden.
                                                                      sunde Ernährung und ein gesundheitsförderli-
                                                                      cher Denk- und Lebensstil.

Damit ist bereits auf die Illusion hingewiesen, man                Einzelne Techniken, die auf verschiedenen Ebe-
könne alle Belastungssituationen vermeiden oder                    nen bedeutsam werden und deshalb in einem
ändern. Gerade (aber nicht nur) in der Arbeitswelt                 umfassenden Streßbewältigungstraining zumeist
                                                                   auch Berücksichtigung finden, sind:

5
    Original: „Gott gebe mir den Mut, die Dinge zu verändern,      • Problemlösefertigkeiten
    die ich ändern kann, die Gelassenheit, die Dinge zu akzep-     • Entspannungstechniken
    tieren, die ich nicht ändern kann, und die Weisheit, das ei-
    ne von dem anderen zu unterscheiden” (Friedrich Christoph      • Aufbau/Stärkung sozialer Kompetenzen
    Oetinger, 1702-1782).
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