Streß und Streßbewältigung - Heiner Vogel, Ulrike Worringen, Rudolph Friedrich Wagner & Heike Schäfer - Deutsche Rentenversicherung
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Heiner Vogel, Ulrike Worringen, Rudolph Friedrich Wagner & Heike Schäfer Streß und Streßbewältigung Seminareinheit
414 Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation Streß und Streßbewältigung – Sachtext 1 Einleitung .......................................................................................................................... 415 1.1 Relevanz der Streßproblematik für die medizinische Rehabilitation ............................. 415 1.2 Zielsetzung der Seminareinheit .................................................................................... 415 2 Grundlagen zum Thema Streß ......................................................................................... 416 2.1 Begriffsklärung und Zusammenhänge.......................................................................... 416 2.2 Streß als biopsychosozialer Prozeß ............................................................................. 417 2.2.1 Das transaktionale Streßmodell von R. S. Lazarus............................................................. 417 2.2.2 Streßauslöser/Stressoren.................................................................................................... 418 2.2.3 Streßreaktionen ................................................................................................................... 420 2.3 Weitere wichtige Themen der Streßforschung ............................................................. 422 2.3.1 Evolutionstheoretische Aspekte .......................................................................................... 422 2.3.2 Positiver und negativer Streß .............................................................................................. 422 2.3.3 Streß und Persönlichkeit ..................................................................................................... 422 2.3.4 Ressourcenforschung und die Salutogenese...................................................................... 423 2.3.5 Streß und Wohlbefinden...................................................................................................... 424 2.3.6 Was ist erfolgreiches Bewältigungsverhalten?.................................................................... 424 2.3.7 Streß aus wissenschaftlicher versus laientheoretischer Sicht............................................. 425 3 Grundlagen zum Thema „Streßbewältigung”................................................................. 425 3.1 Anwendungsbereiche................................................................................................... 425 3.2 Ziele von Maßnahmen zur Streßbewältigung ............................................................... 426 3.3 Methodisches Vorgehen............................................................................................... 427 3.4 Empirische Überprüfung............................................................................................... 429 4 Verzahnung der Seminareinheit mit anderen Angeboten .............................................. 430 4.1 Fortführung und Vertiefung des Themas innerhalb der Einrichtung ............................. 430 4.2 Weiterführung des Themas nach der Rehabilitation..................................................... 431 5 Literaturverzeichnis.......................................................................................................... 431 5.1 Im Text zitierte Literatur................................................................................................ 431 5.2 Weiterführende Literatur für die Referent(inn)en.......................................................... 434 5.3 Literaturempfehlungen für die Rehabilitand(inn)en....................................................... 434
Streß und Streßbewältigung – Sachtext 415 1 Einleitung gungsaufgaben dar, mit denen sie sich auseinan- dersetzen müssen. 1.1 Relevanz der Streßproblematik für Es ist daher konsequent, daß die Entwicklung die medizinische Rehabilitation geeigneter Fertigkeiten zur Bewältigung von Bela- stungen im persönlichen, sozialen und beruflichen „Streß“ ist in den letzten Jahrzehnten zu einem Umfeld im Sinne des Schutzfaktorenkonzeptes populären Schlagwort in der Alltagssprache ge- ein übergreifendes Ziel der medizinischen Reha- worden, sei es als Entschuldigung für eigene bilitation darstellt. Mit der Seminareinheit „Streß Versäumnisse oder als knappe Beschreibung der und Streßbewältigung“ soll die individuelle Bedeu- allgemeinen Lebenssituation bzw. der individuel- tung dieses Themas für die Patient(inn)en in der len Befindlichkeit. Streß meint dabei soviel wie Rehabilitation aufgezeigt sowie auf anschauliche Druck, Belastung und unangenehme Spannung. und motivierende Weise in die Grundlagen der Obgleich Streß in dieser Verwendung zunächst Streßentstehung und Streßbewältigung eingeführt mit einer negativen Bedeutung verknüpft ist, hat werden. Es wird vor allem die individuell unter- der Hinweis auf Streß auch einen Beiklang von schiedliche Reaktion von Menschen auf Streß- Anerkennung und Wichtigkeit in unserer Leis- auslöser sowie die Verankerung von Streßverhal- tungsgesellschaft. Schließlich ist – zumindest in ten im persönlichen Lebensstil herausgearbeitet. der alltagssprachlichen Verwendung – damit oft Damit wird das klassische Risikofaktorenkonzept auch die implizite Botschaft verknüpft, daß vor der Gesundheitserziehung um wichtige Prinzipien allem die Umstände oder andere Personen für die des Lebensweisenkonzepts der neueren Gesund- individuelle Belastung verantwortlich sind. Wichtig heitsförderung erweitert, das die Wechselwirkung wird Streß im Erleben vieler Menschen auch als von Streß mit anderen Gesundheitsfaktoren und Kausal-Erklärung von gesundheitlichen Ein- Lebensbereichen betont. schränkungen und Belastungen. Neuere Forschungsbefunde aus unterschiedli- 1.2 Zielsetzung der Seminareinheit chen Teilgebieten der Medizin, der Psychologie und anderen Sozialwissenschaften konnten eine Die Seminareinheit „Streß und Streßbewältigung“ Vielzahl von Stressoren identifizieren, die in der ist darauf gerichtet, die Teilnehmer(innen) zu Lebensweise und im sozialen Umfeld von Rehabi- motivieren, sich mit dem Thema Streßbewälti- litand(inn)en begründet liegen und entscheidend gung auseinanderzusetzen und eine Verhaltens- für die Entstehung und den Verlauf chronischer änderung in Angriff zu nehmen. Außerdem wer- Krankheitsprozesse sind. Gesundheitsriskantes den die Teilnehmer(innen) informiert, was sie zur Verhalten oder Risikoverhalten läßt sich dabei besseren Streßbewältigung tun können und wel- sehr oft als mißlungenes Bewältigungsverhalten che Klinikangebote sie bei der Umsetzung unter- für Streß- oder Belastungssituationen kennzeich- stützen können. Dabei sind drei Zielsetzungen nen. Hier liegt ein etwas anderes Streßkonzept vorrangig. Die Seminareinheit soll zugrunde (vgl. Abschnitt 2), das aber gleichwohl eine Verbindung mit dem alltagssprachlichen 1. die Aufmerksamkeit der Teilnehmer(innen) auf Verständnis hat und dessen Berechtigung auf- biopsychosoziale Zusammenhänge lenken, zeigt. 2. eigene Ansatzpunkte und Möglichkeiten zur Veränderung aufzeigen und Streß hat eine wichtige Bedeutung im Leben vie- ler Menschen und insbesondere bei den Pati- 3. zur Fortführung und Vertiefung der Beschäfti- ent(inn)en in der medizinischen Rehabilitation, die gung mit dem Thema entsprechend dem eige- per definitionem gesundheitlich bereits stark ein- nen Bedarf oder Bedürfnis motivieren – etwa in geschränkt sind. Diese gesundheitlichen Ein- Streßbewältigungskursen, im Entspannungs- schränkungen stellen für viele Rehabilitand(inn)en training, Selbstsicherheitstraining oder in einer wiederum zusätzliche Belastungen und Bewälti- Einzelberatung.
416 Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation Es wird davon ausgegangen, daß entsprechende Organismus auf jede Art von Herausforderung Fortführungs- oder Vertiefungsangebote innerhalb handelt, die der Anpassung an diese Belastung der Klinik vorhanden sind (gegebenenfalls auch dient. Auf Selye geht somit auch die klassische krankheitsspezifische Gruppen zur Belastungs- Definition des Streßgeschehens zurück: bewältigung, siehe Abschnitt 4.1). Die Einheit soll keinen Gruppenkurs zur Streßbewältigung erset- zen, sie kann ihn allerdings vorbereiten bzw. zur Streß ist die unspezifische (innere) Reaktion Teilnahme motivieren. des Organismus bzw. der Person auf (äußere) Herausforderungen oder Stressoren. Zur Auffrischung bzw. Einführung in neue Theo- rien der Streß- und Streßbewältigungsforschung ist der vorliegende Sachtext erstellt worden, der unbedingt vor der ersten Durchführung des Semi- Die heutige Streßforschung ist interdisziplinär nars zu erarbeiten ist. ausgerichtet und entwickelte sich in den letzten Jahren sehr schnell. Relevante Beiträge sind unter anderem aus der Psychologie, der Biologie 2 Grundlagen zum Thema Streß (Verhaltensforschung), der Immunologie, der Neurologie und der Physiologie erfolgt. Sie lassen sich heute zu einem komplexen Forschungsfeld 2.1 Begriffsklärung und Zusammen- zusammenfügen. Als wichtige Forschungsstränge hänge haben sich hierbei herausgebildet: Der Begriff Streß stammt ursprünglich aus der • Die Psychoimmunologie, die Zusammenhänge Materialforschung und bezeichnet dort eine Kraft, zwischen psychischem (Streß-)Erleben und die auf einen Körper einwirkt und eine Verfor- Immunsystem untersucht. mung bewirkt oder Spannung verursacht. In die- ser Bedeutung wurde der Begriff auch von dem • Die Psychoendokrinologie, die Zusammenhän- amerikanischen Physiologen Cannon verwendet, ge zwischen psychischen und hormonellen der im Jahr 1914 Experimente zum Zusammen- Vorgängen untersucht. hang von Hormonsystem (endokrinologischen • Die Psychoneuroimmunologie, die als relativ Variablen) und emotionalen Zuständen veröffent- neuer Forschungszweig Zusammenhänge zwi- lichte. schen psychischen Vorgängen, Funktionen des vegetativen Nervensystems und neurohumora- Als Vater der modernen Streßforschung gilt der len Prozessen im Hinblick auf eine Beeinflus- österreichisch-kanadische Biochemiker Hans sung des Immunsystems untersucht (siehe Selye. Er untersuchte die körperlichen Auswir- Sachtext der Seminareinheit „Schutzfaktoren: kungen von Belastungen und fand, daß der Or- Was hält uns gesund?“, Kapitel 6). Als neuro- ganismus auf unterschiedliche Stressoren auf humoral werden dabei Erregungen von Nerven endokrinologischer Ebene mit einer erhöhten bezeichnet, die durch Hormone veranlaßt wer- Aktivität des Hypophysen-Nebennierenrinden- den. In die Psychoneuroimnunologie fließen Systems reagiert. Weil die verschiedenen Stres- daher Ergebnisse sowohl der Psychoimmuno- soren, die er untersuchte, immer wieder zu ähnli- logie als auch der Psychoendokrinologie ein. chen Auswirkungen führten, nannte er dies eine unspezifische Streßreaktion. Das von Selye 1936 • Die Copingforschung, die sich mit der Verarbei- entwickelte Konzept des Allgemeinen Adaptati- tung bzw. Bewältigung von Streß unter beson- onssyndroms beschreibt die Streßreaktion als derer Berücksichtiung der psychischen Ebene Abfolge der drei Phasen Alarmreaktion, Wider- beschäftigt. stand und Erschöpfung im Anschluß an die Konfrontation eines Organismus mit einer Belas- tung. Es sollte zum Ausdruck bringen, daß es sich um eine typische unspezifische Reaktion des
Streß und Streßbewältigung – Sachtext 417 2.2 Streß als biopsychosozialer Erst die Bewertung einer Anforderung als aversiv Prozeß macht diese zum Stressor bzw. zum streßauslö- senden Faktor. Primäre und sekundäre Bewer- 2.2.1 Das transaktionale Streßmodell von tung verlaufen zeitlich parallel und beeinflussen R. S. Lazarus sich wechselseitig. Das klassische Streßkonzept von Selye, wonach Kommt es schließlich zu einem Bewältigungsver- ein Stressor unmittelbar zu einer unspezifischen such, wird das daraus resultierende Ergebnis von Streßreaktion führt, wurde inzwischen erweitert der Person aufgenommen und führt zu einer bzw. modifiziert. Einen wesentlichen Beitrag dazu Neubewertung der Situation („reappraisal”) – die leistete R.S. Lazarus, der in seinem Modell der Person lernt aus ihren Erfahrungen. Sind die Be- subjektiven Bewertung einer potentiellen Streßsi- wältigungsversuche der Person erfolgreich, so ist tuation durch die Person einen zentralen Stellen- der Streß beseitigt. Kann die Person die Situation wert einräumt (Lazarus 1966; Lazarus & Folkman nicht meistern, so hält die Streßreaktion an und 1984; deutsche Darstellung: z.B. Hampel & Pe- kann zu schädlichen chronischen Folgen auf kör- termann 1997; Jerusalem 1990; Krohne 1996). perlicher und psychischer Ebene führen. Diese Folgen können nun selbst wieder zu Stressoren Im transaktionalen Streßmodell von Lazarus und werden. Der Teufelskreis des Streß ist geschlos- Mitarbeitern werden zwei Grundprozesse für die sen. Auseinandersetzung postuliert (vgl. Abbildung 1): Danach entsteht Streß dann, wenn In der heutigen Streßforschung bildet der transak- tionale Ansatz von Lazarus, der inzwischen auch 1. die Anforderungen von der Person als bedroh- in der Emotionspsychologie eine wichtige Rolle lich bzw. aversiv bewertet werden („primary spielt, das herrschende Paradigma. Dieses Mo- appraisal” nach Lazarus), und diese Person dell stellt auch die Basis für die Erläuterung von 2. die zur Verfügung stehenden Bewältigungs- Streßbewältigungsmöglichkeiten innerhalb der möglichkeiten als zu gering erachtet, um diese Seminareinheit dar. Die Entstehung von Streß Anforderungen erfüllen oder die Bedrohung wird danach auf die Interaktion von situativen bewältigen zu können („secondary appraisal”). Neu-Bewertung: Stress-Auslöser: 1. Bewertung: 2. Bewertung: Umweltbedingungen: (Ereignis- (Ressourcen- Nein - Situation einschätzung) Ja einschätzung) - Lebensereignis - Bedrohung? - Veränderungschancen? Stress - eigene Fähigkeiten? Ja Nein Personbedingungen: - Herausforderung? - Unterstützung? Erfolg? - eigene Gedanken - Erfahrungen Nein Ja Kein Stress Abbildung 1: Das transaktionale Streßmodell in Anlehnung an Lazarus
418 Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation Anforderungen und individuellen Beurteilungen 2.2.2 Streßauslöser/Stressoren der Situation sowie der vorhandenen Bewälti- gungsressourcen und -fähigkeiten zurückgeführt. 1 Als Streßauslöser oder Stressoren werden jene Dabei kommt den individuellen Einschätzungs- Kräfte bezeichnet, die für das Entstehen der prozessen eine zentrale Vermittlerrolle zu. In Ab- Streßsymptome verantwortlich gemacht werden. hängigkeit von der individuellen Einschätzung der Stressoren sind somit alle Faktoren, die mit er- eigenen Möglichkeiten, auf äußere und/oder inne- höhter Wahrscheinlichkeit Streß auslösen. Stres- re Anforderungen adäquat zu reagieren, kommt soren lassen sich für alle Bereiche des Lebens es zu unterschiedlichen Folgen. finden, was bestätigt, daß es nicht Bestimmungs- größen der Situation allein sind, die eine Auslöse- Die aktuelle Definition von Streß leitet sich aus situation zum Stressor machen, sondern die Be- dem transaktionalen Verständnis ab (in Anleh- wertung oder Interpretation der Situation durch nung an Wagner-Link 1995): eine Person eine wesentliche Rolle spielt. Die Intensität der Herausforderung einer Person kann in bestimmten Bereichen oder besonderen Streß ergibt sich aus einer Störung des Konstellationen zwischen zwei Extremen schwan- Gleichgewichts zwischen den Anforderungen ken. Mangelnde Beanspruchung (Deprivation) an die Person und den subjektiven Möglich- kann ebenso wie Überforderung als Streß erlebt keiten der Person, mit diesen Anforderungen werden, so daß man das Verhältnis zwischen umzugehen. Anforderung und Streßerleben graphisch als U- Kurve darstellen kann. Wo jedoch genau der Be- reich liegt, der vom Einzelnen als angenehm oder Ähnlich definiert Greif (1991, S. 13) Streß als zumindest nicht streßauslösend erlebt wird, hängt einen subjektiven, intensiv unangenehmen Span- neben situativen auch mit inter- und intraindivi- nungszustand, „der aus der Befürchtung entsteht, duellen Unterschieden zusammen. So kann z.B. daß eine Situation stark aversiv, subjektiv zeitlich die Vorstellung, vor einem größeren Publikum nahe (oder bereits eingetreten) ist und subjektiv eine kurze Rede halten zu müssen, für einige lang andauert, deren Vermeidung aber subjektiv Menschen eine extrem streßauslösende Situation wichtig erscheint.“ darstellen, während die gleiche Situation für ande- re eine interessante Herausforderung bedeuten Im Rahmen der Weiterentwicklung der Streßfor- kann, der sie sich gerne stellen (interindividuelle schung wurde damit der Schwerpunkt der theore- Unterschiede). Andererseits kann die gleiche tischen Betrachtung auf die Variable der kogniti- Person, die das Reden vor einer Gruppe einmal ven Bewertung verschoben. Durch die Identifika- als angenehme Herausforderung empfindet, die tion der kognitiv-emotionalen Aspekte der Streß- gleiche Situation als sehr unangenehm einschät- verarbeitung sind vielfältige Ansatzpunkte gege- zen, wenn sie beispielsweise besonders erschöpft ben, um den Vorgang der Streßbewältigung zu oder schlecht vorbereitet ist (intraindividuelle beeinflussen. Die Theorie von Lazarus bildet den Unterschiede). Grundstein von Verfahren, die im Rahmen der Verhaltenstherapie angewendet werden, um die Auch wenn die Bewertung eines bestimmten Rei- Reaktion auf Stressoren zu modifizieren (Nitsch zes als Stressor immer auch von den individuellen 1981; Wagner & Vogel 1996). Einschätzungen der Personen abhängig ist, er- scheint es sinnvoll, Reize zu untersuchen, die mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit von vielen Menschen als Stressor erlebt werden. Es können folgende Stressoren unterschieden werden: • äußere Stressoren (Überflutung durch Reize 1 Die Verwertung von Erfahrungen für weitere Bewälti- gungsaufgaben wird von Lazarus als „Transaktion” ver- wie Lärm, Licht, Vibration oder deren Entzug, standen.
Streß und Streßbewältigung – Sachtext 419 Schmerzreize, Gefahrensituationen) Exkurs: Mobbing am Arbeitsplatz • Entzug von Reizen, die zur Befriedigung primä- rer Bedürfnisse relevant sind (Nahrung, Was- Untersuchungen in den skandinavischen Ländern ser, Schlaf, Bewegung) und in Österreich (z.B. Leymann 1993; Niedl 1995) haben gezeigt, daß Mobbing am Arbeits- • Leistungsstressoren (z.B. Überforderung, Zeit- platz ein ernstzunehmendes Problem darstellt, druck, aber auch Unterforderung) von dem in der Bundesrepublik – würde man • soziale Stressoren (z.B. Isolation) und schwedische Zahlen übertragen – etwa eine Mil- • vornehmlich psychische Stressoren (z.B. Un- lion Beschäftigte betroffen wären. Nachfolgend werden daher einige ausgewählte Untersu- kontrollierbarkeit, Ungewißheit). chungsergebnisse zu diesem Thema dargestellt (für einen umfassenden Überblick siehe Zapf Besonders ausführlich wurde der Streß am Ar- 1999). Mobbing kann von einer oder mehreren beitsplatz untersucht. Beispielhaft werden ver- Personen ausgehen. Generell scheinen eher mehrere Personen an entsprechenden Handlun- schiedene Stressoren aufgeführt, die sich im Be- gen beteiligt zu sein (Zapf 1999). Der Anteil an reich des Arbeitsplatzes unterscheiden lassen männlichen Tätern beträgt nach den Untersu- (Zapf & Frese 1993; Zapf, Dormann & Frese chungsergebnissen von Einarsen und Skogstad 1996): (1996) 49%; Rayner (1997) spricht sogar von ei- nem Anteil von zwei Dritteln. In mehr als der Hälf- te der Mobbinghandlungen sind die Vorgesetzten • Stressoren, die sich aus der Arbeitsaufgabe beteiligt (Zapf et al. 1996, zitiert nach Zapf 1999). ergeben Frauen werden häufiger zu Mobbingopfern als • physikalische Stressoren aus der Arbeitsum- Männer; bei Niedl (1995) z.B. liegt der Anteil bei 82%, Knorz und Zapf (1996) berichten von 70%. gebung (Lärm, Hitze, Staub etc.) Es zeigen sich aufgrund der Mobbinghandlungen • Stressoren in der zeitlichen Dimension (z.B. langfristig gravierende gesundheitliche Ein- Schichtarbeit) schränkungen wie z.B. psychosomatische Be- • soziale Stressoren (z.B. Spannungen mit Kol- schwerden und Depressivität (Knorz & Zapf 2 1996). legen oder Vorgesetzten; „Mobbing“ als eine Als Mobbingstrategien werden diskutiert: 1. Or- extreme Form sozialer Stressoren, vgl. hierzu ganisationsbezogene Strategien (z.B. Entzug von nebenstehenden Kasten) Entscheidungskompetenzen), 2. Soziale Isolie- rung, 3. Angriffe auf die eigene Person und ihre • organisatorisch bedingte Stressoren (z.B. feh- Privatsphäre, 4. Verbale Drohungen bzw. verbale lender Nachschub, nicht vorhandene Informati- Aggression sowie 5. Androhung oder Ausübung onen oder Unterbrechungen durch das Tele- körperlicher Gewalt. Bezüglich der Ursachen von fon) Mobbing liegen bisher kaum empirische Ergeb- nisse vor, die „methodisch strengen Kriterien ei- • Stressoren in der Berufskarriere (wie z.B. Rea- ner Ursachenanalyse standhalten würden“ (Zapf litätsschock beim Eintritt in das Berufsleben 1999, S. 12). Die bisher vorliegenden Daten oder mangelnde bzw. fehlende, arbeitsplatzbe- sprechen allerdings dafür, daß die Ursachen bei zogene Kompetenzen) und schließlich allen Beteiligten sowie in der Organisationsstruk- tur (z.B. schlechte Arbeitsorganisation, beste- • Arbeitslosigkeit und Arbeitsunsicherheit (d.h. hende Führungsprobleme etc.) zu suchen sind. die Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren oder auch die Umstellung durch Berentung). Neuanpassungen erforderlich machen, seien hier Eine andere Richtung innerhalb der Streßfor- erwähnt: Tod und Krankheit in der Familie, schung hat unter der Perspektive der Life-Event- Schwangerschaften und Geburten, berufliche Forschung (Filipp 1990) die Bedeutung kriti- Fehlschläge und Erfolge, Schwierigkeiten und scher Lebensereignisse herausgearbeitet. Als Verbesserungen der Arbeitssituation, Scheidun- Beispiele, die wegen ihrer einschneidenden Wir- gen und Eheschließungen, finanzielle Engpässe kung auf die Lebensumstände des Betroffenen oder Gewinne, negative und positive Auswirkun- gen eines Umzuges u.ä. 2 Der Begriff „Mobbing“ beschreibt feindselige Interaktionen am Arbeitsplatz, die systematisch gegen eine bestimmte Person gerichtet sind und über ein halbes Jahr oder länger Ebenso bedeutsam für die Entstehung von Streß mindestens einmal pro Woche vorkommen (Knorz & Zapf und seine Folgen dürften nach neueren Untersu- 1996; Leymann 1993).
420 Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation chungen die alltäglichen Belastungen („daily eine Person Stressoren ausgesetzt ist. In Abbil- hassles”) sein, denen wir immer wieder ausge- dung 2 sind Beispiele für alle vier Dimensionen setzt sind (Brantley et al. 1987). Die Anzahl und aufgeführt. Intensität alltäglicher Stressoren ist es, die für die meisten Menschen einen relevanten Einflußfaktor Sehr ausführlich und differenziert wurden in den auf Wohlbefinden, Krankheitsanfälligkeit und Be- letzten Jahren die psychophysiologischen Reakti- lastbarkeit darstellt. onen auf Streßsituationen untersucht. Dabei las- sen sich als endokrine Korrelate der Streßreakti- Schließlich sei darauf hingewiesen, daß auch on vor allem Änderungen in Cortisol-, Catechola- Reize, die zunächst nicht als Belastungen erlebt min- und Testosteron-Konzentrationen im Serum werden (wie z.B. Lärm), wie Stressoren verarbei- aufzeigen (Neuser 1994, S. 78; zur Darstellung tet werden und Streßreaktionen auslösen oder die der neurophysiologischen Zusammenhänge vgl. Auslösung von Streßreaktionen erleichtern kön- auch Hüther et al. 1996). nen. Das Konzept der subliminalen Wahrneh- mung, welches von Dixion (1981, zitiert nach Milt- Auf neurologischer Ebene kommt es vor allem zu 3 ner 1986) ausführlicher untersucht wurde, befaßt einer Erhöhung der Sympathikusaktivität , wo- sich mit der Wahrnehmung von Reizen unterhalb durch die Voraussetzungen für die Leistungsfä- der Bewußtseinsschwelle, d.h. mit Stimuli, die higkeit eines Individuums geschaffen werden zwar meßbare physiologische Reaktionen hervor- (z.B. Puls- und Blutdruckanstieg, Verengung der rufen, deren Wahrnehmung von der Person aber Blutgefäße, Muskelanspannung, Pupillenerweite- nicht bewußt registriert wird. Eine wesentliche rung, Hemmung der Darmtätigkeit usw.). Voraussetzung für die subliminale oder unter- schwellige Wahrnehmung besteht nach Miltner Selyes Postulat der Unspezifität der Streßreaktion (1986) darin, daß diese Stimuli eine assoziative mußte inzwischen differenziert werden, denn es Verbindung zu Inhalten des Langzeitgedächtnis- fanden sich durchaus unterscheidbare situations- ses herstellen können. In Untersuchungen konnte typische Reaktionsmuster. Die aktuelle Sichtwei- ebenfalls geklärt werden, daß die subliminalen se zur Situationsspezifität der Streßreaktion wird Wahrmehmungsprozesse wiederum Auswirkun- von Henry (1986) in seinem psychoneuroendokri- gen auf das Langzeitgedächtnis haben und somit nologischen Streßmodell geordnet, wobei not- emotionale und autonom nervöse Erregungsvor- wendigerweise Vereinfachungen vorgenommen gänge – und damit Streß – hervorrufen können wurden. Er unterscheidet drei Typen von endokri- (Miltner 1986, S. 55). nen Reaktionsmustern, denen spezifische emoti- onale Erlebnisformen und Verhaltenstendenzen zugeordnet sind: 2.2.3 Streßreaktionen • Bei ärgerauslösenden Situationen reagiert der Der Mensch reagiert auf Streß in vielfältiger Wei- Organismus vor allem mit der Freisetzung von se, wobei sowohl große interindividuelle als auch Katecholaminen, insbesondere Noradrenalin; intraindividuelle Unterschiede beobachtet werden auch der Testosteronspiegel, der mit aggres- können. Als wichtige Beschreibungsdimensionen siv-dominantem Verhalten in Zusammenhang haben sich vier Bereiche herausgebildet: Auf der steht, wird erhöht. Es kommt zu starken kardio- physiologischen Ebene werden sowohl muskuläre vaskulären Reaktionen (Blutdruck- und Herz- als auch vegetativ-hormonelle Veränderungen frequenzanstieg). Auf der behavioralen Ebene beschrieben. Auf emotionaler Ebene werden Ge- lassen sich Kampf- bzw. Anstrengungsbereit- fühle wie z.B. Ärger oder Enttäuschung analysiert, im kognitiven Bereich sind bestimmte Gedanken gemeint, die als Reaktion auf Streß auftreten und 3 z.B. durch häufige Wiederkehr die Form von au- Das vegetative oder autonome Nervensystem regelt im wesentlichen die (inneren) Organfunktionen (Verdauung, tomatischen Gedanken annehmen können. Auf Herzrate, Blutdruck u.v.a.). Dabei lassen sich zwei funktio- der Verhaltensebene geht es schließlich um kon- nelle Bereiche unterscheiden: das sympathische Nerven- system („Sympathikus“) und das antagonistisch wirkende krete Verhaltensweisen, die verdeutlichen, daß parasympathische Nervensystem („Parasympathikus“).
Streß und Streßbewältigung – Sachtext 421 schaft finden. falsche Ernährung, Bewegungsmangel, sozialer • Bei furchtauslösenden Situationen kommt es Rückzug, Nikotinmißbrauch etc.; vgl. Basler & zu verstärkter Adrenalinfreisetzung sowie einer Florin 1985; Miltner 1986). leicht erhöhten Noradrenalin- und Cortisolkon- zentration. Hier steigen Herzfrequenz und Blut- Wichtig im Hinblick auf die Bewältigung von Streß druck leicht an. Das Verhalten ist durch Flucht- sind auch Ergebnisse zur Beeinflußbarkeit von und Anstrengungstendenzen gekennzeichnet. Streßreaktionen. Eine besondere Bedeutung • In Situationen, die durch Gefühle von Depres- scheint dabei – entsprechend dem Streßmodell sivität, Resignation und Hilflosigkeit gekenn- von Lazarus – der Fähigkeit der Person zur realis- zeichnet sind, zeigt sich ein Anstieg des Corti- tischen Einschätzung der Herausforderungssitua- sols sowie ein Rückgang des Testosteronspie- tion sowie zur Bewertung der eigenen Hand- gels und eine Abnahme der Herzfrequenz. lungsmöglichkeiten zuzukommen. Ob Streß ent- steht, hängt also entscheidend davon ab, ob eine Zuviel Streß macht krank: Gelegentliche Streß- Person sich dazu in der Lage sieht, einen poten- situationen, die bewältigt werden können, sind tiellen Stressor – zum Beispiel Zeitdruck am Ar- unproblematisch, gegebenenfalls eher förderlich beitsplatz oder Ärger in der Familie – zu bewälti- für die Gesundheit bzw. die Belastbarkeit des gen. Daher spielen Methoden zur Verbesserung Menschen. Zu häufige oder zu lang andauernde der Problemlösefähigkeit in Programmen zur Streßreaktionen sind jedoch gesundheitlich prob- Streßbewältigung eine zentrale Rolle. Daraus lematisch, da sie eine dauernde Überaktivierung kann allerdings nicht abgleitet werden, daß Streß- des Organismus bedeuten, die Abwehrkräfte entstehung und Streßbewältigung generell ein überfordern und das Krankheitsrisiko erhöhen. individuelles (privates) Problem darstellen (Ulich Dies läßt sich einerseits direkt über die oben ge- 1998). Strukturelle Aspekte wie z.B. die Gestal- nannten endokrinologischen und physiologischen tung von Arbeitsplätzen und -abläufen oder die Aspekte der Streßreaktion erklären, andererseits individuelle Wohnsituation können ebenfalls Streß auch indirekt über die Wirkung ungünstiger Be- auslösen; sie können vielfach jedoch von den wältigungsformen (Psychopharmaka-Einnahme, Betroffenen nicht verändert werden. Stressor ß Streßreaktionen physiologisch, z.B. emotional, z.B. kognitiv, z.B. behavioral, z.B. • Puls ↑, Blutdruck ↑ • Angst • „Immer ich” • hastig und verkrampft • Muskelspannung ↑ • Ärger • „Das schaffe ich nie” arbeiten • Atemfrequenz ↑ • Enttäuschung • „Jetzt ist alles aus” • gereizt gegenüber anderen sein • Blutgerinnung ↑ • Depressionen • „Ich weiß nicht weiter” • mangelnde Planung • Verdauung ↓ und Übersicht • Immunkompetenz ↓ • Pausenvermeidung • Sexualfunktion ↓ • mehr Rauchen • „nebenbei” essen Abbildung 2: Stressor und Streßreaktionen
422 Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation 2.3 Weitere wichtige Themen der emotionaler Beanspruchung erklären, da sie auf Streßforschung rein physiologischer Ebene in der Lage sind, eine Deaktivierung der erregten Organsysteme zu 2.3.1 Evolutionstheoretische Aspekte erreichen (vgl. Seminareinheit „Bewegung und körperliches Training”). Die Streßreaktion läßt sich unter phylogeneti- schen Gesichtspunkten als wertvolle Fähigkeit Der evolutionstheoretische Aspekt ist bei der des Organismus charakterisieren, in Herausforde- Durchführung der Seminareinheit von großer Be- rungssituationen alle Kräfte auf die Bewältigung deutung, da er für die meisten Teilnehmer(innen) der Aufgabe zu konzentrieren. Die Streßreaktio- interessant und unmittelbar evident ist und den nen führen zur Aktivierung des sympathischen „Sinn“ der Streßreaktion verdeutlicht. Somit wird und zur Hemmung des parasympathischen Ner- der Zugang zum weiteren Inhalt des Kurses er- vensystems. Dieser im wesentlichen bereits von leichtert (vgl. Umsetzung der vorliegenden Semi- Selye beschriebene Mechanismus läßt sich phy- nareinheit). siologisch nachweisen und führte dazu, daß Streß auch als Vorbereitung auf Kampf und/oder Flucht 2.3.2 Positiver und negativer Streß beschrieben wurde. Tatsächlich werden Herz und Muskeln stärker durchblutet bzw. aktiviert, wäh- Von Selye stammt die Unterscheidung von (gu- rend beispielsweise der Verdauungstrakt sowie tem) Eustreß und (schlechtem) Disstreß. Er wollte andere für Kampf und Fortbewegung unwichtige damit zum Ausdruck bringen, daß ein gewisses Organe schwächer versorgt werden. Maß an Streß eine positive Wirkung auf den Or- ganismus im Sinne von Training und Aktivierung Im Gegensatz zum Tier und unseren Vorfahren hat, während ein zuviel an Streß zu den bekann- verliert dieser Zusammenhang in der heutigen ten negativen Folgen führt. Dies ist einleuchtend, Zeit für die meisten Belastungssituationen des da Training sowohl im motorischen als auch im Menschen seinen Sinn, da es selten darauf an- kognitiven Bereich zur Verbesserung der Bewälti- kommt, zu fliehen oder zu kämpfen (Ausnahme: gungsfertigkeiten und damit der Belastbarkeit sportlicher Wettkampf, körperliche Angriffe und führt. Überfälle o.ä.). Die in einer Streßsituation frei werdenden Energien richten sich aber, wenn sie Kaum allgemeingültig zu beantworten ist die Fra- nicht genutzt werden, gegen den eigenen Körper. ge, welches Ausmaß an Streß für den einzelnen Geht die Streßsituation schnell vorüber, fängt der optimal oder noch zu verkraften ist. Das hängt Körper die Auswirkungen der Mobilmachung auf. stark von den individuellen Voraussetzungen und Bei Dauerstreß ist der Körper in ständiger Alarm- der jeweiligen Situation ab und kann nur im Ein- bereitschaft, was sich langfristig negativ auf Ge- zelfall beurteilt werden. Es kann daher beim Er- sundheit und Wohlbefinden auswirkt. lernen von Streßbewältigungsfertigkeiten kein Ziel sein, jeglichen Streß zu vermeiden. Vielmehr soll In vielen Situationen sind die physiologischen ein Ausgleich zwischen Spannung und Streß auf Streßreaktionen kontraproduktiv zur erfolgreichen der einen und Entspannung und Ruhe auf der Bewältigung. Wenn man etwa in schwierigen anderen Seite angestrebt werden. Situationen einen „kühlen Kopf” behalten muß, wird dies durch ausgeprägte Aktivierung des Or- 2.3.3 Streß und Persönlichkeit ganismus, die unter anderem regelmäßig auch zu einer kognitiven Einengung und Unruhe führt, Persönlichkeitstheoretische Beiträge weisen auf eher verhindert. Die Streßreaktionen werden so interindividuelle Unterschiede in der Reaktion auf zu neuen Stressoren, die bewältigt werden müs- Stressoren hin. Ein klassisches Beispiel hierfür ist sen. Gerade aus der evolutionsgeschichtlichen das Typ-A-Konzept nach Friedman und Rosen- Bedeutung der Streßreaktion läßt sich allerdings man (1974), welches den Typus einer „Streßper- auch der Sinn von körperlichen Abreaktionen sönlichkeit” beschreibt, die in besonderer Weise (Sport, Bewegung) bei übermäßiger kognitiv- gefährdet ist, eine koronare Herzerkrankung zu
Streß und Streßbewältigung – Sachtext 423 erleiden. Das Typ-A-Verhaltensmuster ist durch chungen als Moderatorvariable erwiesen hat, die starkes Streben nach Anerkennung, ständige das Streßerleben und die Streßverarbeitung Wettbewerbshaltung, latente Feindseligkeit, Het- beeinflußt. Dabei zeigt sich, daß streßauslösende ze und Ungeduld sowie die Mißachtung von Ent- Situationen um so besser bewältigt werden kön- spannungsbedürfnissen gekennzeichnet. nen, je stärker eigene Einflußmöglichkeiten auf das streßauslösende Ereignis bzw. den Stressor Der Zusammenhang von Typ-A-Verhalten und Er- wahrgenommen werden (Frese 1989; Rotter krankungen des Herz-Kreislaufsystems wurde als 1966; Wagner 1995). Schreiben sich Personen Ergebnis mehrerer epidemiologischer Studien dagegen nur geringe eigene Einflußmöglichkeiten postuliert. Exemplarisch erwähnt sei hier die zu, so ist es für sie in der Regel schwieriger, die „Framingham Heart Study“ von Haynes, Feinleib Streßsituation zu bewältigen. Kontrollüberzeu- und Kannel aus dem Jahre 1980. Jüngere Unter- gungen können daher als wichtige Ressource des suchungen haben jedoch Zweifel an der generel- Menschen (im Sinne eines Schutzfaktors) für die len Gültigkeit dieses Konzeptes aufkommen las- Bewältigung von Streß angesehen werden sen. So war z.B. die Überlebensrate von Typ-A- (Muthny et al. 1994; vgl. Sachtext der Seminarein- Personen nach einem Herzinfarkt höher als die heit „Schutzfaktoren: Was hält uns gesund?“, von anderen Herzinfarktpatienten (Ragland & Abschnitt 4.1.1). Brand 1988). Es wurde versucht, spezifische As- pekte des Typ-A herauszukristallisieren, die sich Eine denkbare Synthese finden diese For- besonders gesundheitsschädigend auswirken. schungsansätze in den moderneren kognitiven Von einigen Autoren wurde daraufhin die Bedeu- Ansätzen. Wie im transaktionalen Modell von tung der Komponenten „Hostility“ (Feindselig- Lazarus ausführlich vorgesehen, zeigt sich, daß keit) und Ärger als mögliche Risikofaktoren der die subjektive Wahrnehmung und Bewertung der koronaren Herzerkrankung hervorgehoben. Situation durch die Person von herausragender Bedeutung für das Streßerleben und die Streß- Im Rahmen von Metaanalysen hat Myrtek (1999) bewältigung sind. Hier spielen erlernte Reakti- 24 prospektive Studien zum Typ-A-Verhalten onstendenzen, quasi automatische Gedanken sowie acht prospektive Studien und acht Fall- und Interpretationsschemata eine zentrale Rolle. Kontroll-Studien zum Thema „Hostility“ analysiert. Eine Vielzahl kognitiv orientierter Interventionsan- Im Ergebnis zeigte sich, daß Typ-A-Verhalten und sätze knüpfen an diesem Punkt an (vgl. Meichen- „Hostility“ keine eigenständigen Risikofaktoren baum 1991; Schalp et al. 1990). der koronaren Herzerkrankung darstellen. Es zeigte sich aber, daß die im Sinne des Hostility- 2.3.4 Ressourcenforschung und die Konzeptes feindseligen Personen häufiger zu Salutogenese riskanten Verhaltensweisen und zu abweichen- dem Verhalten neigen. Damit ist ein Zusammen- Das Konzept der Salutogenese von Antonovsky hang zwischen feindseligem Verhalten und koro- (1979, 1993) hat einen speziellen Zugang zur narer Herzerkrankung nicht verwunderlich. Streßbewältigung eröffnet, indem danach gefragt wird, welche Faktoren manche Menschen „wider- Ein weiterer persönlichkeitsspezifischer Aspekt standsfähiger” gegenüber Belastungsfaktoren wird mit dem Konzept der Kontrollüberzeugun- bzw. Streß machen als andere (vgl. hierzu Sach- 4 gen beschrieben, das sich in vielen Untersu- text der Seminareinheit "Schutzfaktoren: Was hält uns gesund?", Abschnitt 3.4). In diesem Zusam- menhang wird häufig von Ressourcen (oder 4 auch Schutzfaktoren) gesprochen. Darunter Der Begriff der Kontrollüberzeugung („locus of control") wurde von Rotter (1966) im Rahmen seiner sozialen Lern- werden Kompetenzen oder Überzeugungen zu- theorie geprägt. Rotter versteht darunter generalisierte Er- wartungshaltungen eines Individuums darüber, ob es durch eigenes Verhalten wichtige Ereignisse in seinem Leben steuern und kontrollieren kann und beschreibt damit die internale Kontrollüberzeugung. Demgegenüber steht bei sung im Vordergrund, das eigene Schicksal nicht steuern der externalen Kontrollüberzeugung die subjektive Auffas- bzw. beeinflussen zu können.
424 Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation sammengefaßt, die eine Person dazu befähigen, 2.3.6 Was ist erfolgreiches Bewälti- mit einer Streßsituation erfolgreich umzugehen. gungsverhalten? Unterschieden werden interne und externe Res- sourcen bzw. Schutzfaktoren. Die Bewältigungs- bzw. Coping-Forschung ist ein weit gefächertes Gebiet innerhalb der psychoso- Zu den internen Schutzfaktoren zählen problem- zialen Gesundheitsforschung, das sich im we- bezogene Kompetenzen wie berufsbezogene sentlichen mit der Frage effektiver Bewältigungs- Qualifikationen, soziale Kompetenzen (z.B. im strategien bei gesundheitlichen Herausforderun- Umgang mit Vorgesetzten oder Arbeitskollegen) gen beschäftigt (vgl. Beutel 1988). Ziel ist es, und bestimmte problemorientierte und emotions- Streßerleben zu reduzieren oder zu vermeiden. orientierte Streßbewältigungsstrategien. Die Prob- lemorientierten Bewältigungsstrategien sind da- Als durchgängig ineffektiv haben sich dabei so- rauf gerichtet, mit dem Stressor selbst umzuge- genannte „eskapistische” Strategien in Form von hen, z.B. die Fähigkeit zur differenzierten Analyse realitätsfliehenden Wunschphantasien sowie Dro- von Problemsituationen, um bessere Lösungsan- gen- oder Alkoholkonsum erwiesen. Mit Ausnah- sätze zu finden. Emotionsorientierte Strategien me sportlicher Aktivitäten erscheinen Strategien, dagegen sind auf streßbegleitende Emotionen bei bestehenden Belastungen „Dampf abzulas- gerichtet (vor allem Angst und Anspannung), die sen” oder sich durch aggressive Handlungen „Luft möglicherweise die Streßbewältigung behindern. zu verschaffen”, als besonders ungünstig. Bei den intrapsychischen Strategien sind Selbstabwer- Als wichtige externe Schutzfaktoren haben sich in tung, Selbstbeschuldigung und Resignation wenig wissenschaftlichen Untersuchungen (tatsächliche) hilfreich. Günstig sind dagegen positive Neube- Kontrolle und soziale Unterstützung erwiesen (vgl. wertungen der Situation („Wie geht es mir jetzt im Frese & Semmer 1991, Röhrle 1994). Vergleich zum letzten Jahr?” oder „Wie geht es mir im Vergleich zu anderen?”) sowie aktives, auf 2.3.5 Streß und Wohlbefinden die Problemlösung gerichtetes Handeln. Verschiedentlich wurde das anzustrebende Häufige Stressoren liegen im zwischenmenschli- Gleichgewicht zwischen Streß (Anspannung) und chen Bereich und führen zu Ärgergefühlen. We- Ruhe (Entspannung) erwähnt, welches für das ber (1992, 1994) kommt nach umfangreichen Wohlbefinden und die Aufrechterhaltung der Be- Studien zu dem Schluß, daß in solchen Situatio- lastungsfähigkeit eine wichtige Voraussetzung nen weder das „Herauslassen von Ärger” noch darstellt. Entsprechend dem salutogenetischen das „In-sich-Hineinfressen” günstige Reaktionen Ansatz kann dieses Gleichgewicht sowohl durch darstellen. Positiv wirken sich Bewältigungsfor- die Förderung der Streßverarbeitungskapazitäten men aus, die dazu beitragen, daß der Ärger ab- als auch über die Förderung der anderen Seite gebaut wird. Dies kann durch Ablenkung, Umdeu- des anzustrebenden Gleichgewichts erreicht wer- tung, Humor sowie durch ein klärendes Gespräch den. In der neueren Entwicklung der Streßbewäl- geschehen. tigung wird daher die Fähigkeit, positive Gefühle wahrzunehmen und zu fördern (sogenanntes Erfolgreiches Bewältigungsverhalten zeichnet sich „euthymes“ Erleben und Verhalten), als wichtiger durch Flexibilität aus. Weder generalisierte Ver- Faktor angesehen und untersucht (Koppenhöfer meidungsstrategien noch ein unangemessenes 1990, 1996; Lutz 1996). Im Zusammenhang mit Kontrollbedürfnis sind der Gesundheit zuträglich. Streßbewältigung steht der Aufbau von Verhal- Auf der Basis einer realistischen Einschätzung tensweisen im Vordergrund, die eine gesundheits- eigener Einflußmöglichkeiten und eines breiten fördernde bzw. -schützende Wirkung haben und Repertoires an verfügbaren Bewältigungsformen damit langfristig für einen Belastungsausgleich zeichnen sich gesunde Personen dadurch aus, sorgen (vgl. Sachtext der Seminareinheit „Schutz- daß sie in Belastungssituationen unterschiedliche faktoren: Was hält uns gesund?“, Kapitel 5). Lösungsalternativen zur Verfügung haben und entsprechend dem jeweiligen Bedarf die günstigs-
Streß und Streßbewältigung – Sachtext 425 te Form auswählen können (vgl. hierzu z.B. Kalu- den im Rahmen verhaltenstherapeutischer Be- za 1996, S. 51f.). handlungen Anwendung (vgl. Beisenherz 1990 sowie Hampel & Petermann 1997). Mit der Aus- 2.3.7 Streß aus wissenschaftlicher ver- breitung verhaltenstherapeutischer Behandlungs- sus laientheoretischer Sicht verfahren wurden auch die Methoden zur Streß- bewältigung bekannter und häufiger angewandt. Das Streßverständnis aus Laiensicht gilt häufig Es erfolgte die Entwicklung von einzelnen Techni- als unzureichend, um Streßbewältigungstechni- ken hin zu umfassenden Behandlungsprogram- ken plausibel zu begründen. Insbesondere unter- men zur Streßbewältigung (vgl. Wagner & Vogel scheiden Laien zumeist nicht zwischen Stressor 1996). und Streßreaktion. Dennoch enthält das Alltags- verständnis von Streß durchaus einen Bezie- Im stationären und ambulanten Setting werden hungsbegriff (Überforderung gleich Mißverhältnis Verfahren der Streßbewältigung sowohl als Grup- von Anforderung und Leistungsmöglichkeiten), penverfahren als auch in der Einzeltherapie er- der dem „wissenschaftlichen” Streßverständnis folgreich angewandt. Nachfolgend wird die Grund- ähnlich ist (Weber 1987). konzeption üblicher Streßbewältigungstrainings vorgestellt, wie sie etwa in den Manualen von Ursachen für Streß liegen nach dem Alltagsver- Kaluza (1996) oder Wagner-Link (1995) ausführ- ständnis häufig in Belastungssituationen oder lich beschrieben sind. Zuständen, die nicht zu vermeiden sind. Eigene Einflußmöglichkeiten werden zumeist nicht gese- hen – sie sind oft kaum vorstellbar. Externale 3.1 Anwendungsbereiche Kontrollüberzeugungen, d.h. – verkürzt dargestellt Eine Vielzahl psychosomatischer und chronischer – die Einschätzung, selbst nichts wesentliches zur somatischer Störungen sind unter anderem durch Veränderung einer Problemsituation beitragen zu die verminderte Fähigkeit zum Umgang mit Her- können, bilden somit ein Hindernis für eine adä- ausforderungen gekennzeichnet. Gerade Pati- quate Veränderungsmotivation (Muthny et al. ent(inn)en, die bereits durch psychische oder 1994, vgl. auch Abschnitt 2.3.3). körperliche Störungen belastet sind, können da- von profitieren, mit Belastungen – seien es „nor- Auch das häufig anzutreffende Alltagsverständnis male” oder krankheitsbedingte Herausforderun- von nicht näher differenziertem psychosozialem gen – besser umzugehen. Neben psychischen Streß als wesentlicher Krankheitsursache ist ge- Störungen und Symptomen (z.B. Ängste, Depres- rade in der Rehabilitation nicht unproblematisch, sionen, Selbstwertprobleme, Burnout-Syndrom) worauf Myrtek (1985a, b; vgl. auch Halhuber und somatoformen bzw. psychisch mitbedingten 1985) nachdrücklich hinweist. Bietet es doch die Erkrankungen (z.B. Bluthochdruck, Spannungs- Gelegenheit, unveränderbare oder nur bedingt kopfschmerz, verschiedene gastrointestinale Er- beeinflußbare Stressoren zur Kausalerklärung der krankungen) sind auch somatische Erkrankungen Erkrankung heranzuziehen und den Änderungs- (z.B. Krankheitsbewältigung bei chronischen Er- bedarf hinsichtlich der ohne Zweifel relevanten krankungen, Verarbeitung von schweren operati- somatischen Risikofaktoren wie Ernährung, ven Eingriffen) zu nennen. Da die medizinische Rauchverhalten und Bewegungsmangel zu ver- Rehabilitation sich vorwiegend auf Patient(inn)en nachlässigen („Streß als Ausrede”). mit chronischen Erkrankungen bezieht, liegt hier ein besonders geeignetes Anwendungsgebiet für 3 Grundlagen zum Thema „Streß- Methoden zur Verbesserung der Streßbewälti- bewältigung” gungsfähigkeiten. Verfahren zur Bewältigung von Streß wurden Streßbewältigungsverfahren sind nicht nur indi- ursprünglich auf dem Hintergrund psychophysio- ziert, wenn die Stressoren durch subjektive Be- logischer Theorien zum Streß entwickelt und fan- wertung entstehen: Auch im Falle kritischer Le-
426 Gesundheitsbildungsprogramm für die medizinische Rehabilitation bensereignisse (Verlust des Ehepartners, Mittei- gibt es für die meisten Rehabilitand(inn)en mar- lung einer schweren somatischen Diagnose) sind kante Beispiele dafür, daß es bei vielen Stresso- diese Verfahren oder Teile daraus indiziert, da sie ren individuell nur bedingt oder gar nicht möglich die kognitiv-emotionale Auseinandersetzung der ist, Veränderungen in den Rahmenbedingungen Patientin bzw. des Patienten mit der Situation ver- zu erreichen (z.B. bei Lärmbelästigung am Ar- bessern können und so langfristig negative Ent- beitsplatz). wicklungen vermeiden helfen. Die Ziele eines Streßbewältigungkurses lassen Das Training in Streßbewältigung ist somit ein sich somit wie folgt systematisch in fünf Bereiche klassisch „psychosomatisches” Vorgehen, da es aufgliedern: sich speziell auf die ohnehin fließende Grenze zwischen psychischen und somatischen Aspekten 1. Der Erwerb eines Verständnisses der Zusam- des Krankseins bezieht und den Patient(inn)en menhänge zwischen äußeren (und gegebe- ein greifbares Modell für den Umgang mit ent- nenfalls inneren) Auslösern, innerer Verarbei- sprechenden psychophysischen Herausforde- tung der Auslöser, (automatischer, gegebe- rungssituationen vermittelt. nenfalls unangemessener) Bewältigungsreak- tionen und dem Ergebnis auf der emotionalen, Schließlich muß die Vermittlung von Streßmana- kognitiven und physiologischen Ebene. gement-Fertigkeiten auch als wichtige präventive 2. Die Förderung der Bereitschaft und Fähigkeit Maßnahme verstanden werden, da es neben der zur Analyse von Belastungssituationen: Identi- Bewältigung bestehender Stressoren gleichzeitig fikation von (äußeren) Stressoren und proble- darum geht, den Patient(inn)en den Umgang mit matischen (und veränderbaren!) Bewälti- zukünftigen Herausforderungen zu erleichtern. gungsformen. Insofern hat die Streßbewältigung einen zentralen Platz in allen umfassenderen Konzepten zur Ge- 3. Die Förderung der Akzeptanz von Belastungen sundheitsförderung (Vogel 1993). als Teil des eigenen Lebensplans: Hier geht es darum, das Ziel „Streß vermeiden” zu relativie- ren und die Unvermeidbarkeit von Belastun- 3.2 Ziele von Maßnahmen zur Streß- gen im alltäglichen Leben (bis zu einem ge- bewältigung wissen Ausmaß) zu thematisieren. Die übergreifenden Ziele von Maßnahmen zur 4. Kennenlernen verschiedener Fähigkeiten und Streßbewältigung werden anschaulich in dem Einübung insbesondere von Erleichterungs- folgenden Merkspruch zusammengefaßt: techniken zur kurzfristigen Streßverminderung. 5. Erarbeitung und Training von Fähigkeiten zur längerfristigen Streßverminderung oder –ver- Ändere Dinge, die Du ändern kannst. meidung (vor allem Situations- oder Verhal- Akzeptiere Dinge, die Du nicht ändern kannst. tensänderungen). Hierzu gehört auch die Fä- Und lerne, zwischen beiden higkeit zu genießen, körperliche Aktivität, ge- 5 zu unterscheiden. sunde Ernährung und ein gesundheitsförderli- cher Denk- und Lebensstil. Damit ist bereits auf die Illusion hingewiesen, man Einzelne Techniken, die auf verschiedenen Ebe- könne alle Belastungssituationen vermeiden oder nen bedeutsam werden und deshalb in einem ändern. Gerade (aber nicht nur) in der Arbeitswelt umfassenden Streßbewältigungstraining zumeist auch Berücksichtigung finden, sind: 5 Original: „Gott gebe mir den Mut, die Dinge zu verändern, • Problemlösefertigkeiten die ich ändern kann, die Gelassenheit, die Dinge zu akzep- • Entspannungstechniken tieren, die ich nicht ändern kann, und die Weisheit, das ei- ne von dem anderen zu unterscheiden” (Friedrich Christoph • Aufbau/Stärkung sozialer Kompetenzen Oetinger, 1702-1782).
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