Vorum vielfalt Die Welt ist nicht schwarz oder weiß.

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Zeitschrift für Raumplanung und     P.b.b. 02Z031538
Regionalentwicklung in Vorarlberg   Amt der Vlbg. LReg.
Nr. 3/2014 18. Jahrgang             Landhaus, 6901 Bregenz

                                                             vorum
                                                             vielfalt

                                                             oder weiß.
                                                             Die Welt ist
                                                             nicht schwarz
zu diesem vorum
                                       Im Gespräch: Landesstatthalter
                                       Karlheinz Rüdisser über Vielfalt
Krumm statt gerade, herzförmig
statt rund, lila statt orange – wo
Vielfalt vorkommt, ist sie oft gar
nicht erwünscht. Entsprechen
etwa Gurke, Kohl und Rübe nicht
gewissen Normen, haben sie beim
                                       in Vorarlberg
Konsumenten keine Chance.
Meinen viele. Zum Glück sehen
das einige anders und sind offen
für die Vielfalt, die aus dem Boden
sprießt. Um nicht konformes
Gemüse salonfähig beziehungs-
weise supermarkttauglich zu
machen, nennen es findige Marke-
ting-Spezialisten einer Handels-
kette vorsichtig „Wunderlinge“.
Eine Bezeichnung, die klar macht:
Die passen in keine Schublade.
Und die klingt, als ob sich jemand
fürs Anderssein entschuldigen
wollte.
      Dabei ist Andersartigkeit –
insbesondere im Sinne von
Naturvielfalt – nicht nur positiv
besetzt, sondern Voraussetzung
fürs Überleben. Verändern sich
äußere Bedingungen, werden jene              Herr Landesstatthalter, was bedeutet          tionen ändern sich heute viel rascher. Es sollte
Individuen einer Art bestehen, die           für Sie persönlich „Vielfalt“?                uns gelingen, auf diesen Wandel flexibel zu
sich anpassen, sagte schon Darwin.     Es ist ein Zeichen hoher Qualität einer Gesell-     reagieren.
Heißt das nun, Vielfalt ist generell   schaft oder Region, wenn sie von Vielfalt                Zudem sollte ein Austausch zwischen
gut? Haben Unternehmen, Gemein-        geprägt ist. Vorarlberg ist besonders mit einer     verschiedenen Aufgaben, Funktionen und
den und Länder Vorteile, wenn          landschaftlichen Vielfalt gesegnet. Vorarlberg      Lebensbereichen möglich sein. Wir stellen fest,
Mitarbeiter oder Einwohner             ist aber auch von einer kulturellen Vielfalt        dass die extreme Trennung in „Schlafgemein-
möglichst unterschiedlich sind?        gekennzeichnet und erfährt damit gegenseitige       den“ und Gemeinden, die Arbeitsstätten bieten,
Inwiefern die Theorie zutrifft         Befruchtung. Das Land hat auch in der Wirt-         nicht die optimale Form der räumlichen
beziehungsweise wie nahe Vielfalt      schaft einen enormen Transformationsprozess         Gestaltung ist. Es müssen verschiedene Funkti-
und Beliebigkeit, Nutzen und           durchgemacht, von einer stark einseitig ausge-      onen wahrgenommen werden. Dieser Anspruch
Konfliktpotenzial beieinander          richteten hin zu einer vielfältigen Wirtschafts-    endet aber nicht an der Gemeindegrenze. Wir
liegen, erklärt der Soziologe Jens     struktur. Das ist ein sehr gutes Beispiel für die   müssen den Blickwinkel weiter öffnen und
Dangschat im vorliegenden vorum.       Wirkung von Vielfalt: Wenn man auf mehreren         die Vielfalt über die Grenzen der Gemeinden
Vielfalt hat aber auch ihre Gren-      Standbeinen steht, erhöht sich die Resistenz        hinweg definieren.
zen, besonders in der räumlichen       gegenüber Krisen.
Nutzung: Die Funktion von                                                                        Das Rheintal hat eine polyzentrische
Häusern, Siedlungsräumen und                 Das Stichwort „Vielfalt“ fällt oft im               Grundstruktur. Bietet diese Region das
„Freiräumen“ ist größtenteils                Zusammenhang mit den Bestrebungen,                  Beste aus Stadt und Land?
vorgegeben. Häuser sind zum                  Siedlungen qualitätsvoll weiter zu entwi-     Polyzentrik ist ein interessantes Phänomen.
Wohnen oder Arbeiten da, Räume               ckeln. Welche Akzente setzt Landesraum-       Visuell gesehen haben wir ein Zusammen-
zum Essen, Schlafen oder für                 planung hier in den nächsten Jahren?          wachsen der Gemeinden. Wenn man auf dem
Besprechungen. Wiesen sind             Wir haben uns intensiv mit diesem Thema             Gebhardsberg steht und das Rheintal von oben
Liegewiesen, Spielwiesen, Hunde-       in der Vision Rheintal beschäftigt und „Zehn        betrachtet, sieht man eine dichte Agglomeration
wiesen oder Wiesen, die man nicht      Denkanstöße für eine enkeltaugliche Quar-           zwischen Bregenz und Dornbirn. Dieser Sied-
betreten darf. Wie weit sollen         tiersentwicklung“ festgeschrieben. Ich glaube,      lungsraum mit einem größeren Einwohner-
Widmung, Planung und Gestaltung        dass es in den Möglichkeiten der Quartiers-         potenzial als jenes von Innsbruck bietet nahezu
gehen, damit Räume oder auch           betrachtung noch viel Potential nach oben gibt.     städtische Räume. Und trotzdem sind es
ganze Städte vielfältige Nutzungen     Wir fordern diese zum Beispiel in den Richt-        unterschiedliche Gemeinden. Wo die Lebens-
zulassen? Antworten darauf und         linien der Wohnbauförderung explizit ein: Bei       qualität, die persönliche Verankerung, die
Anregungen für eigene vielfältige      bestimmten Bebauungsdichten ist eine Quar-          sozialen Kontakte über Vereine, Schulen,
Gedanken finden Sie auf den            tiersbetrachtung zwingend durchzuführen.            Kindergärten und Ausbildungseinrichtungen
folgenden Seiten.                      Dichtere Baustrukturen stoßen aber nicht            gepflegt werden und so zu einem vernünftigen
                                       immer auf offene Ohren. Daher ist es entschei-      Miteinander führen. Ich bin ein starker Anhän-
     Das vorum Redaktionsteam          dend, die Bevölkerung über geplante Vorhaben        ger polyzentrischer Strukturen, wie sie das
                                       zu informieren, sie in den Gestaltungsprozess       Raumplanungsgesetz definiert. Es schreibt vor,
                                       einzubinden und Mitgestaltung zu ermöglichen.       dass in allen Landesteilen vergleichbare Lebens-
                                             Der Gestaltung des halböffentlichen           bedingungen geschaffen werden sollen. Das
                                       Raums und der unmittelbaren Umgebung                ist eine große Herausforderung, führt aber auch
                                       kommt ebenfalls eine wesentliche Bedeutung          dazu, dass kein Gebiet in Vorarlberg entsied-
                                       zu. Sie ist entscheidend dafür, ob man ein          lungsgefährdet ist.
                                       Wohnumfeld als attraktiv bezeichnet oder eben
                                       nicht, ob Kontakte und Begegnungen ermög-                 Im Gegensatz zur dichten Struktur im
                                       licht werden.                                             Rheintal gibt es in Vorarlberg auch noch
                                                                                                 unberührte Landschaft, die erhalten
                                            Wünschen Sie sich beim Bau von                       bleiben soll.
                                            Wohnanlagen mehr Abwechslung?                  Ja, es sind nur noch sehr wenige Räume in
                                       Wir haben in Vorarlberg ein hohes Maß an            ihrer ursprünglichen Art erhalten. Deshalb
                                       Baukultur. Es ist jedoch eine ständige Gratwan-     sollten wir das Konzept der Weißzonen intensiv
                                       derung und nicht jedes Gebäude kann ein             verfolgen und sind dabei solche Zonen zu
                                       architektonisches Juwel sein. Wir müssen viele      definieren. Dieser Aspekt der Raumplanung ist
                                       Facetten berücksichtigen: Es muss leistbar,         für nachkommende Generationen von großer
                                       funktional, gut gestaltet sein. Sicher ist, dass    Bedeutung.
                                       Wohnräume in Zukunft wesentlich flexibler
                                       gestaltet werden müssen. Die Lebenssitua-                Danke für das Gespräch.

                                                          02 vielfalt
Der Wert der Vielfalt
und die Gefahr der Beliebigkeit
Vielfalt wird als Voraussetzung für ökonomische
Wettbewerbsfähigkeit, soziale Integration und das
Überleben des ökologischen Systems Erde angepriesen.
Die negativen Aspekte und vor allem die Ambivalenzen
werden jedoch meist interessengeleitet unterschlagen.

Der Begriff Vielfalt wird sehr häufig dann              Die Integration von Ausländern wird           positiv auf den Markterfolg des Unternehmens
angewendet, wenn befürchtet wird, dass der        jedoch eher tabuisiert, letztlich auch, weil        auswirkt (Meuser 2013: 168). Erst unter dieser
Zusammenhalt in der Gesellschaft brüchig          Politiker nicht sicher sind, ob die eigene          Einschränkung wird „Vielfalt“ nicht mehr als
wird. Damit wird Kohäsion zum Mittel gegen        Wählerklientel es gut heißt, wenn Zugewan-          ein Problem, sondern als Human Resource ange-
die gesellschaftlichen Tendenzen des Auseinan-    derte hinsichtlich Bildung, Wohnraum und            sehen. Damit ist Vielfalt kein Problem (mehr),
derstrebens, die sich folgendermaßen auswirken    Sozialtransfers eine besondere oder auch nur        sondern sie wird zur Lösung der Herausforde-
können:                                           gleichwertige Unterstützung erfahren. Bis heute     rungen (gemacht) (Terkessidis 2011).
. Die Schere zwischen Armut und Wohlstand         wird von manchen Politikern die Zuwanderung
  nimmt wieder zu,                                als „Einwanderung in unsere Sozialsysteme“                Skepsis zuletzt
. der Altersaufbau verschiebt sich zugunsten      diskreditiert.                                            Ein letzter Gedanke: Sprachliche, religiöse
  der Älteren (greying society),                        Mit dem Wort Vielfalt wird die schwierige     und normative Unterschiede zwischen der
. der Anteil an Menschen mit Migrations-          Integrations-Debatte vermieden; die Heraus- und     „Aufnahmegesellschaft“ und den Zugewander-
  hintergrund nimmt zu,                           oftmals Überforderung der Integration fremder       ten ist nur eine der trennenden Linien inner-
. die Wertvorstellungen differenzieren sich       Kulturen, Wertemuster und Verhaltensweisen          halb einer vielfältigen Gesellschaft. Für diejeni-
  aus, was sich in unterschiedlichen sozialen     wird kulturell überformt und so „verharmlost“.      gen, die den Diskurs politisch korrekt führen,
  Milieus und Lebensstilen niederschlägt.                                                             ist diese Linie nahezu unproblematisch. Wie ist
Schließlich überträgt sich die Ausdifferenzie-         Zweitens: der unternehmerische                 es aber mit Vorstellungen über Umweltschutz,
rung durch die Wahl des Wohnstandortes                 Zugang des Diversity Management                Kindererziehung, Mobilität, parteipolitischen
beziehungsweise die Mobilität in den Raum.             Seit den 1990er Jahren hat sich innerhalb      Präferenzen und Geschlechterrollen – wollen
      Damit nimmt auch das Ausmaß der             von Branchen der neuen Dienstleistungen             wir auch dann von den „Anderen“ lernen?
Interessensunterschiede und deren Artikulation    ein anderes Verständnis von Diversity Manage-
zu, was wiederum dazu führt, dass die Gesell-     ment etabliert. In den Bereichen, die stark
schaft sozial und räumlich stärker auseinander-   auf Kreativität und daraus wachsenden Inno-              Dr. Jens S. Dangschat ist Professor für Siedlungs-
driftet beziehungsweise es zu neuen Formen        vationen setzten, war Vielfalt von Beginn an             soziologie und Demographie an der Technischen
der Vergemeinschaftung kommt (vgl. Heitmeyer      ein wichtiges Kapital. Das Credo lautet: Bringe          Universität Wien, Department für Raumentwick-
1997, Dangschat 1999). Darauf wird in zweierlei   unterschiedliche Geschlechter, Nationalitäten,           lung, Infrastruktur- und Umweltplanung; Leiter
Weise reagiert.                                   Lebensentwürfe, Wertvorstellungen, Altersgrup-           des Fachbereichs Soziologie.
                                                  pen und Lebensstile zusammen, unterstütze
     Erstens: der sozialarbeiterische             das „Aufeinanderprallen“ unterschiedlicher
     Zugang der „Sozialen Stadt“                  Sichtweisen, Interpretationen, Wertungen,
     Mit der Rolle Österreichs als Einwande-      Erfahrungen und Routinen und „ernte“ neue
rungsland ist die Integration der Zugewander-     Ideen, Verfahren, Produkte und Marketing-Bot-
ten zu einer der größten sozialpolitischen        schaften. Laut der Wirtschaftskammer Öster-
Aufgaben der Städte und Gemeinden geworden.       reich bringe das Einbeziehen von Vielfalt klare
Dabei sind die letzten Jahre zunehmend vom        Vorteile für die heimische Wirtschaft (WKÖ               Literatur:
Übergang von einer reinen Klientelpolitik zu      Wien 2013: 1).                                           Dangschat, J.S. (Hrsg.) 1999: Modernisierte Stadt –
Gunsten von Interventionen an den Orten                Im Gegensatz zum sozialintegrativen                 Gespaltene Gesellschaft. Ursachen von Armut und
geprägt, an denen „problematische“ Haushalte      Verständnis der sozialarbeiterischen Stadtpla-           sozialer Ausgrenzung. Opladen: Leske + Budrich.
wohnen (Quartiersmanagement). Zugewanderte,       nung, die mit der vorhandenen Vielfalt vor
arme und bildungsferne soziale Gruppen sind       Ort „arbeitet“, wird beim betrieblichen Diversity        Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) 1997: Was hält die
also die größte Herausforderung für eine          Management jedoch nur diejenige Vielfalt                 Gesellschaft zusammen? Frankfurt am Main:
gesellschaftliche Integration.                    wertgeschätzt, die sich als Humankapital                 Suhrkamp.

                                                                                                           Meuser, Michael 2013: Diversity Management –
                                                                                                           Anerkennung von Vielfalt?. In: L. Pries, (Hrsg.):
                                                                                                           Zusammenhalt durch Vielfalt? Bindungskräfte der
                                                                                                           Vergesellschaftung im 21. Jahrhundert, Springer VS
                                                                                                           Verlag, Wiesbaden: 167-181.

                                                                                                           Terkessidis, Mark 2011: Integration ist von gestern,
                                                                                                           „Diversity“ für morgen – Ein Vorschlag für eine
                                                                                                           gemeinsame Zukunft. In: W.-D. Bukow, G. Heck,
                                                                                                           E. Schulze & E. Yildiz (Hrsg.): Neue Vielfalt in der
                                                                                                           urbanen Stadtgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag
                                                                                                           für Sozialwissenschaften: 189-206.

                                                                                                           WKÖ-Wien (Wirtschaftskammer Österreich,
                                                                                                           Wien) (Hrsg.) 2013: Diversity Management. Ein
                                                                                                           Leitfaden für die Praxis. Wien: WKO. www.wko.
                                                                                                           at/Content.Node/Charta-der-Vielfalt/Leitfaden_
                                                                                                           Diversity-Management_2011-11-24.pdf, Zugriff
                                                                                                           am 8.8.2014.

                                                                     03 vielfalt
Wertvoll ist, was selten ist
Die Naturvielfalt zwischen Bodensee und Piz Buin
befindet sich im Wandel. Es ist höchste Zeit, die
Gefahren zu erkennen und Chancen für eine gute
Entwicklung zu nützen.

           Die weltweit größte Artenvielfalt finden wir in Mitteleu-      Im Berggebiet wird so manche Fläche, die einst gemäht
           ropa. Wirklich? Haben wir nicht gelernt, dass die meisten      oder beweidet wurde, heute wieder der natürlichen
           Pflanzen und Tiere in tropischen Regenwäldern leben?           Entwicklung überlassen. Die Landschaft verändert sich
           Nun, bei großräumiger Betrachtung stimmt dies auch.            dadurch – ob positiv oder negativ, liegt im Auge des
           Zoomen wir aber auf eine Fläche von wenigen Quadrat-           Betrachters.
           metern, dann wachsen in mitteleuropäischen Magerwie-                Viele Tourismusbroschüren werben mit Fotos
           sen mehr unterschiedliche Gräser und Blumen als in             der unberührten Gebirgslandschaft. Kleinwalsertal,
           jedem anderen Lebensraum der Erde.                             Hochtannberg, Arlberg, Verwall, Silvretta, Rätikon oder
                 Wird die Wiese gedüngt, verschwindet die Blumen-         Lechquellengebirge sind Regionen, in denen diese Natur-
           vielfalt. Bauern, die ihre bunten Magerwiesen heute noch       räume manchmal in nächster Nähe zu viel besuchten
           in traditioneller Weise einmal pro Jahr mähen, erhalten        Tourismusdestinationen liegen. Darin liegt auch die
           ausgesprochen artenreiche Lebensräume – unverzichtbare         Bedeutung der weniger erschlossenen Landschaften: Sie
           Elemente einer attraktiven Kulturlandschaft.                   sind Ausgleichsräume – Rückzugsgebiete nicht nur für
                 Natürlich ist die landschaftliche Vielfalt Vorarlbergs   die Tierwelt, sondern auch für uns Menschen. Erholungs-
           auch durch die geografische Lage am Nordrand der Alpen         suchende und Gäste in den Tourismusorten schätzen
           bedingt: Auf vergleichsweise kleinem Raum erstreckt            die Ruhe dieser Gebiete.
           sich die Landesfläche über unterschiedlichste geologische
           Zonen, vom Alpenvorland mit dem Bodensee über die                   Natur gerät unter Druck
           Kalkalpen bis zu den kalkfreien Zentralalpen mit dem                Der Landschaftswandel hat natürlich längst die hoch
           über 3.000 Meter hohen Piz Buin im Montafon.                   gelegenen Regionen erfasst. Kultur- und Naturlandschaf-
                                                                          ten geraten auch im Gebirge zunehmend unter Druck. Im
                Grenzräume zwischen Natur- und Kulturlandschaft           Vergleich zu vergangenen Generationen agieren wir mit
                Der Großteil der Bevölkerung lebt und arbeitet in         moderner Technik scheinbar immer unabhängiger von
           den Talräumen. Zugleich finden wir hier die produktivs-        den naturräumlichen Rahmenbedingungen. Manchmal
           ten und am intensivsten genutzten Landwirtschaftsflä-          scheint es, als gebe es für Bebauungen oder Erschließun-
           chen. Trotz der vielfältigen, oft auch konträren Nutzungs-     gen mit Wegen und Straßen keine natürlichen Grenzen
           ansprüche sind im Rheintal und im Walgau aber noch             mehr. Auch die Freizeitindustrie forciert den Landschafts-
           erstaunlich großflächige Riedlandschaften erhalten –           wandel durch Lifte und Seilbahnen, deren Aus- und
           herausragende Lebensräume für seltene Pflanzen- und            Neubau seit einigen Jahren wieder verstärkt betrieben
           Tierarten und zugleich stark frequentierte Naherholungs-       wird und oft in bislang kaum erschlossene Naturräume
           gebiete. Konflikte zwischen Nutzung und Bewahrung              vordringt. Die Folge dieser Entwicklung ist ein Verlust an
           bleiben daher nicht aus.                                       Landschaftsvielfalt, eine Nivellierung der Landschaft und
                Riede mit ihren Streuwiesen sind extensiv genutzte        damit unweigerlich ein Verlust an Attraktivität.
           Moore – Lebensräume, für die Vorarlberg eine besondere              Wertvoll ist, was selten ist. Dies gilt für naturnah
           Verantwortung trägt. Denn hohe Niederschlagsmengen             bewirtschaftete Kulturlandschaften gleichermaßen wie
           sorgen für einen Moorreichtum, der seinesgleichen sucht.       für wenig erschlossene Naturlandschaften. Wenn wir das
           Der hintere Bregenzerwald gilt gar als der moorreichste        gesamte Spektrum der für Vorarlberg typischen Natur-
           Naturraum Österreichs.                                         raumvielfalt erhalten wollen, brauchen wir beides: nicht
                Und natürlich ist da der Bodensee mit seiner ein-         erschlossene Räume und vielfältige, also in traditioneller
           drucksvollen Uferlandschaft – ein sensibler Naturraum          Weise genutzte Landschaften, die zwischen Bodensee
           und wichtiger Erholungsraum nicht nur für die Bevölke-         und Silvretta glücklicherweise noch in unterschiedlichs-
           rung des Rheintals.                                            ter Ausprägung erhalten sind. Es existieren rechtliche,
                                                                          finanzielle und raumplanerische Instrumente zur Erhal-
                 Vielfältige Nutzung                                      tung dieser naturräumlichen Vielfalt. Jüngstes Beispiel
                 Kurze Distanzen erlauben, ohne großen Aufwand            sind die Bemühungen um die Ausweisung nicht erschlos-
           die landschaftliche Vielfalt Vorarlbergs vom Tal bis ins       sener Gebirgsräume, der sogenannten „Weißzonen“.
           Hochgebirge zu erleben. Besonders attraktiv sind die
           traditionellen Wiesen- und Weidelandschaften, entstan-              Chancen nutzen
           den durch jahrhunderte- und jahrtausendelange Nutzung.              Kaum etwas erfreut Wanderer und Erholungs-
           In den Mittelgebirgslagen finden wir diese oft eng             suchende mehr als eine bunte Blumenwiese. Die Vielfalt
           verzahnt mit Wäldern und den höher gelegenen Natur-            einer Magerwiese symbolisiert im Kleinen, wie wir die
           räumen, in denen menschliche Aktivitäten zumindest auf         Entwicklung im Großen steuern können. Die uns heute
           den ersten Blick kaum erkennbar sind. Dieses Nebenein-         zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bedeuten also
           ander unterschiedlicher Nutzungsformen, mit langen             zugleich Chancen und Gefahren. Bleibt die Hoffnung,
           Grenzlinien durch Waldränder und Ufergehölze, schafft          dass wir künftig vor allem die Chancen erkennen.
           eine äußerst ansprechende Vielfalt. Kein Wunder, dass
           traditionelle Kulturlandschaften auch aus touristischer
           Sicht unverzichtbar sind.                                           Mag. Markus Grabher ist Biologe und leitet das Umweltbüro
                 Je höher und steiler das Gelände, desto mehr gehen            Grabher (UMG) in Hard. Zu den Schwerpunkten zählen bota-
           die Kulturlandschaften in Naturlandschaften über. Dabei             nische und zoologische Bestandserhebungen, Konzepte für
           sind die Grenzen fließend. Oft haben sich die Grenzen in            Landnutzung, Planung, Beratung, Erstellen von Gutachten
           den vergangenen Jahrhunderten auch verschoben.                      und Fotografie.

                                                   04 vielfalt
05 vielfalt
Freiräume gestalten,
als wären sie immer schon da gewesen
Anregungen, Empfehlungen und gelungene Beispiele für
die vielfältige Gestaltung und Nutzung von Freiflächen,
Zwischenräumen und Übergangszonen.

An die Wohnumgebung werden zu Recht sehr                 Das heißt, dass auf mehreren Ebenen für            Auch wilde Zonen, dichte Vegetationsbe-
hohe Ansprüche gestellt, sie ist ein wichtiger      eine solide landschaftsarchitektonische Konzep-   reiche, müssen im Siedlungsraum benützbare
Teil des alltäglichen Lebens. Das Lebensumfeld      tion gesorgt werden muss, die alle Bereiche von   Freiräume bleiben. Dazu müssen sie gut erreich-
soll angenehm praktisch, gemütlich, anregend        privat bis öffentlich abdeckt.                    bar sein. Ein Mindestmaß an Pflege ist erforder-
und gesund sein. Dass zum Wohnen mehr als                                                             lich um Gefahren hintanzuhalten. Studien,
die eigenen vier Wände gehören, ist aus drei              Wildnis oder geplanter Freiraum             etwa von der Psychologin Mirilla Bonnes haben
Gründen klar. Einerseits beeinflusst die Aus-             Die Gestaltung legt dabei fest, wie die     außerdem ergeben, dass echte Wildnis für Men-
sicht aus den Wohnfenstern das Lebensgefühl         Bereiche aussehen und ausgestattet sind. Gut      schen nach wie vor bedrohlich ist und gemie-
– Vorarlberg bietet eine wunderschöne Land-         durchdacht und fachgerecht gestaltet bedeutet     den wird. Gerade, weil solche Gebiete eine
schaft und Bergkulisse, sieht man die nicht,        nicht, dass Erscheinung und Einrichtung starr     Ergänzung des Nutzungsspektrums sein sollen,
sind jedenfalls ein oder mehrere Bäume nötig.       sind und alle Nutzungen feststehen. Der Raum      ist diese Erkenntnis zu beachten. Wenige, ein-
Andererseits will man sich auch im Freien           muss interpretierbar bleiben, er muss sich auch   fache Wege, Schneiden von morschen schweren
aufhalten. Nicht zuletzt führt der Weg zum          verändern können. Das Raumkonzept muss so         Ästen, sporadisches Ausschneiden von Teilberei-
Haus immer über den Freiraum.                       tragfähig sein, dass auch für Jahrzehnte, in      chen sind dafür ausreichende Maßnahmen.
      Vielen Vorarlbergerinnen und Vorarlber-       denen vielleicht neue Tätigkeiten trendig sind,
gern ist das Gefühl wichtig, im Grünen, wenn        eine solide Grundstruktur mit großen Bäumen            Freiraum als Erholungsgebiet
nicht sogar „am Land“ zu wohnen, auch wenn          und brauchbarer Topographie vorhanden ist, die         Im Stadterweiterungsgebiet auf dem ehe-
die Dichte und die Ausdehnung der Siedlungen        diese Nutzungen zulässt. Diese beiden Grund-      maligen Flughafen Fornebu in Oslo sind diese
– zumindest im Rheintal – ebenso wie die            faktoren sind schwer veränderbar: Das Gelände     Grundsätze vorbildlich umgesetzt. Die Land-
Angebote von Kultur und Mobilität und auch          korreliert mit der Bebauung, seine Veränderung    schaftsarchitektin Tone Lindheim konnte mit
das Konsumverhalten einen urbanen Charakter         ist sehr kostspielig und aufwändig. Bäume         ihrem Büro Bjørbekk & Lindheim einen großen
angenommen haben.                                   brauchen Jahrzehnte um ihre Wirkung zu            zentralen Park realisieren, in dem freie, offene
                                                    entfalten, sie sind nicht einfach ersetzbar.      Wiesen, gestaltete und naturbelassene Gewässer
      Behutsam mit der Landschaft umgehen           Vorhandene Bäume, Gewässer, Hügel und             sowie verschiedene Spielbereiche zur Verfügung
      Für die Lebensqualität sind Freiräume         Hänge erzählen die Geschichte des Ortes, sie      stehen. Zwischen den Gebäuden liegen ein-
unverzichtbar. Wenn dicht gebaut werden muss,       stellen eine Verbindung zwischen dem Alten        fach gestaltete Grünräume, die an die privaten
ist es besonders wichtig, mit bestehenden           und dem Neuen her.                                Gärten grenzen. Spielwiesen schließen an die
landschaftlichen Elementen behutsam umzuge-                                                           Wohnsiedlung an und der vorhandene Teich
hen, sie möglichst in die Bebauungskonzepte               Projekte mit Vorbildwirkung                 wird von seiner natürlichen Vegetation gesäumt.
zu integrieren und ihr Potenzial auszunützen.             In der Wohnsiedlung Hardegg in Bern         Der Weg führt zu einer direkt am Wasser
Landschaftsarchitektonische Konzepte sind hier      von 2008 haben die Winterthurer Landschafts-      positionierten Plattform und ins anschließende
gefragt, die sowohl die Grundform der Land-         architekten Rotzler Krebs + Partner den vorhan-   Erholungsgebiet. So werden neu geschaffene
schaft, das Gelände als auch die Vegetation,        denen Bach in den Freiraum so integriert als      und vorgefundene Freiraumqualitäten zu einem
vielleicht auch den Lebensraum für Tiere mit        wäre er immer schon durch diese Wohnsiedlung      sehr großen und vielfältigen Freiraumangebot
einbeziehen. Diese Eigenheiten unterstreichen       geflossen. Sie greifen die Großmaßstäblichkeit    vernetzt.
den Charakter einer Siedlung, eines Stadtteils.     der Umgebung auf, lassen Wiesen und Kies-
Der Freiraum muss natürlich den praktischen         flächen durch die Siedlung fließen, auf denen          Lilli Lička, Professorin und Vorstand des Institutes
Anforderungen gerecht werden: Die Wege und          sich schön blühende Magerwiesen in Abhängig-           für Landschaftsarchitektur der BOKU Wien, Büro
Abstellmöglichkeiten für ein- und zweispurige       keit der Nutzungsintensität ausbilden. Bei den         koselička Landschaftsarchitektur Wien; Forschung
Fahrzeuge sollen erkennbar und gut benutzbar        Gebäuden ist die Struktur mit Platz und Begeg-         und Realisierung: urbane Freiräume, öffentlicher
sein. Spiel, Sport, Erholung und Tätigkeiten des    nungszone städtischer und verändert ihren              Raum, historische Gärten, Wohn- und Bildungs-
Haushalts, wie zum Beispiel Wäschetrocknen,         Charakter zur Bach- und Kieslandschaft hin.            freiräume, Parks
sollen im Freien stattfinden können.
      Zwei Aspekte spielen allerdings eine oft
zu geringe Rolle: erstens die gestalterische
Konzeption des Freiraumes bis hin zur Fertig-
stellung und zweitens die Versorgung mit
gemeinsam nutzbaren Räumen bis hin zu den
öffentlichen Freiräumen. Dieser zweite Aspekt
ist grundlegend, da zunehmende Verdichtung
zu immer weniger offener Landschaft führt.
Zudem ist der landwirtschaftlich genutzte
Raum kein Ersatz für Erholungs- und Spielraum.
Hier handelt es sich in der Regel um Privatei-
gentum und es treffen sehr verschiedene
Nutzungsziele aufeinander. Der Schein trügt
also, dass die Siedlung am Rand der Felder
besser versorgt ist, als jene nahe dem Stadtpark.
Der öffentliche Raum ist als Begegnungsraum
notwendig, etwas ältere Kinder und Jugendliche
können hier selbstständig agieren. Er ist auch
größer und bietet mehr Bewegungsraum als der
private Garten oder gar der Balkon. Solche
Streifräume sind seit jeher wichtige Entwick-
lungsgebiete zum Heranwachsen, die schon
Martha Muchow in den 1930er Jahren unter-
sucht und eingefordert hat.

                                                                      06 vielfalt
Gewachsene Vielfalt oder geregelte Einheit?
Die Direktorin des Vorarlberger Architektur
Institutes (vai), Verena Konrad, im Interview
über die Baukultur in Vorarlberg.

     Frau Konrad, wie viel Vielfalt ist für         die Gestaltungsbeiräte in den Gemeinden. Diese
     die Vorarlberger Baukultur gut?                zu stärken und auch vermehrt neue zu gründen,
     Zunächst: Baukultur und Vielfalt wider-        ist ein Schlüssel für mehr Architekturqualität.
sprechen sich nicht. Im Gegenteil, Baukultur ist    Ein weiterer Schlüssel sind Instrumente wie die
geprägt von einem Verständnis, dass Menschen        „Quartiersbetrachtung“ und Bürgerbeteiligungs-
unterschiedliche Bedürfnisse haben, und dem         modelle.
Bestreben lebenswerte Räume für Menschen zu
schaffen. Vielfalt ist hier ein positiv besetztes        Wer trägt letztendlich die Verantwortung?
Schlüsselwort.                                           Ist es der Bauherr, ist es der Architekt
                                                         oder die Gemeinde als Baubehörde?
     Wie kann in der breiten Bevölkerung ein             Die Verantwortung für gute Baukultur
     Verständnis für Baukultur entstehen?           tragen die Bürger. Auch die Gemeindevertreter
     Wenn sich Baukultur positiv manifestiert       sind Bürger, auch die Architekten sind es. Es
passiert Folgendes: Bürger denken darüber nach,     geht um Wertschätzung und Kommunikation
wie sie leben wollen, wie sie öffentliche Räume     auf Augenhöhe. Die Bürger und privaten
gestalten wollen, wie sie selbst als einzelne       Bauherren müssen lernen, sich auf Reflexions-
Person, als Familie, als größere Gemeinschaft       prozesse bezüglich ihrer eigenen Erwartungs-
leben wollen. Aus dem heraus entsteht ein Bild      haltungen einzulassen. Die Gemeindevertretun-
darüber, wie sich diese Beziehungen in konkre-      gen müssen den Mut haben, abseits von
ten Räumen niederschlagen könnten. Das ist          Wahlperioden zu denken, die Architekten sind
sehr theoretisch, aber der Kern der Sache. Denn     als Experten mit ihrem Wissen und ihrer
aus dieser Reflexion und Haltung treffen wir        Erfahrung gefragt. Nichts davon ist einfach.
Entscheidungen. Darüber, wie hoch der Garten-
zaun wird, wieviel Selbstverwirklichungsspiel-           Stichwort „Leistbares Wohnen“:
raum wir dem Nachbarn gönnen, wie wir                    Ist Baukultur eine Frage des Geldes?
Fragen des Geschmacks erörtern. Und darüber,             Baukultur ist zunächst eine Frage der        gabe liegt darin, wie die vielen Anforderungen
welche Zonen wir als gemeinschaftliche              Haltung. Natürlich kostet die Errichtung und      zusammengeführt werden können. Gerade hier
definieren.                                         Gestaltung eines Gebäudes, von Plätzen, von       können gute Planer zusammen mit bewussten
                                                    öffentlichen Anlagen auch Geld. Dass von          Bauherren sehr viel erreichen.
      Häufig wird Baukultur als Querschnitts-       Architekten geplante Häuser automatisch die
      thema bezeichnet. Irgendwie sind alle         teureren wären, ist nicht richtig. Durch gute           Ein Plädoyer für den verdichteten
      und gleichzeitig niemand so richtig dafür     Planung, gezielten Materialeinsatz und Maß-             Wohnbau?
      zuständig: Die öffentliche Hand als           schneiderung auf die Bedürfnisse und Wünsche            Ein Plädoyer für intensives Nachdenken,
      Bauherr, die Länder als Verantwortliche       des Bauherren können im Bau gute Preis-Leis-      wann und wie Verdichtung sinnvoll ist. Andreas
      für Bau- und Raumordnungsgesetze und          tungsverhältnisse erzielt werden und es gehört    Binkert hat kürzlich bei einem Vortrag im
      die Gemeinden als Baubehörde. Wer sollte      zum Alltag von Architekten sich an vorgegebe-     vai darauf verwiesen, dass es keine optimale
      Ihrer Meinung nach sinnvollerweise die        nen Budgets zu orientieren.                       Verdichtung gibt und Verdichtung viel komple-
      Fäden ziehen?                                                                                   xer ist, als wir das im Moment denken können.
      Niemand sollte die Fäden ziehen! Das               Aber die Entscheidung zwischen dem           Wofür ich wirklich plädiere ist ein vermehrter
Ziehen von Fäden setzt eine übergeordnete                leistbaren Fertigteilhaus und dem vom        Einsatz der „Quartiersbetrachtung“ mit ihren
Instanz voraus, wir gehen aber von einem                 Architekten geplanten Einfamilienhaus        „10 Denkanstößen für eine enkeltaugliche
demokratischen Prinzip aus. Kultur und damit             ist für viele eine Frage der finanziellen    Quartiersentwicklung“. In dieser Zusammenfas-
auch Baukultur ist ein Prozess – es ist die Form,        Möglichkeiten.                               sung durch Vision Rheintal wurden bereits vor
in der wir Auseinandersetzungen führen. Wie              Wenn wir von Leistbarkeit reden, ist         zwei Jahren alle Faktoren genannt, die wir
bei jedem kulturellen Prozess verändern sich        das Einfamilienhaus kein wirklich gutes           dabei bedenken sollten: den Bestand achten,
auch hier ständig die Rollen. Es gibt Kräfte, die   Beispiel. Es wundert mich, mit welcher Selbst-    auf Alltagstauglichkeit schauen und die Men-
sich mehr durchsetzen und andere weniger. Es        verständlichkeit in Vorarlberg das Einfamilien-   schen in ihren sich wandelnden Bedürfnissen
geht eben um das Ausverhandeln von Positio-         haus oft als absolutes Ziel gilt. Ich kenne       wahrnehmen und involvieren, flexible Wohn-
nen und um Inhalte.                                 international keine vergleichbare Situation und   formen forcieren, Ressourcen schonen, Syner-
                                                    insgesamt geht es uns in Vorarlberg sehr gut.     gien fördern – um nur einige zu nennen.
      Braucht es Gesetze für eine gute              Natürlich ist es registrierbar, dass sich die
      Baukultur?                                    Kostenschere in den letzten Jahren in vielen           Danke für das Gespräch.
      Gesetze und Richtlinien bilden den            Bereichen deutlicher zeigt. Bei Großprojekten
Rahmen, in dem wir uns bewegen. Ich sehe das        wie der Errichtung des eigenen Heimes wird
Bemühen der politischen Vertreter und der           das für den einzelnen Bauherren schnell
Landesbediensteten, sich mit allen Akteuren         spürbar. Dennoch gehen viele Bauherren auch
auseinanderzusetzen und sowohl in der Legisla-      von unrealistischen Wunschvorstellungen und
tive als auch bei den Richtlinien und Förder-       unreflektierten Erwartungshaltungen aus.
maßnahmen permanent nach Verbesserungs-             Bestimmte Materialien, bestimmte Wohnfor-
möglichkeiten zu suchen. Auch das ist im            men, der Einsatz bestimmter Technologien
Übrigen ein Zeichen für gute Baukultur, die         kosten einfach mehr als andere. Mit der Hilfe
ja nicht nur über das realisierte Bauprojekt        von Architekten kann geklärt werden, was
sichtbar wird. Wir haben in diesem Zusammen-        machbar und sinnvoll ist – auf lange Zeit. Wo
hang die Bauwirtschaft noch nicht angespro-         der Kostenfaktor eine wirklich entscheidende
chen. Auch von dieser Seite gehen Impulse aus,      Rolle spielt, ist der qualitätsvolle Wohnbau.          Dokument zum Download unter:
die die Baukultur in Vorarlberg ganz wesentlich     Gerade dort brauchen wir aber auch dringend            www.vision-rheintal.at/fileadmin/VRuploads/
mitbestimmen. Wichtig sind mir besonders            wieder mehr Architekturqualität. Die Denkauf-          PDF/Das_Quartier_der_Zukunft/broschuere.pdf

                                                                      07 vielfalt
Die Stadt der Zukunft: Freiheit statt Regulierung
Moderne Städte sind oft bis auf den letzten
Quadratmeter durchgeplant. Die Funktion von Räumen
ist genau festgelegt. Der amerikanische Soziologe Richard
Sennett liefert einen Gegenentwurf zur Überregulierung
der Städteplanung: Das Open City-Modell soll Städte
wieder zu einem offenen System machen, das Raum
für Unvorhergesehenes, Veränderungen, Dialoge,
Improvisation und damit Vielfalt bietet.

In verschiedenen Bereichen der Wirtschaft und     verbunden mit der Bereitschaft der Menschen,        Integration. Im Gleichgewicht befindliche
Umwelt ist der Begriff Nachhaltigkeit längst      für ihre Siedlung oder Stadt Verantwortung zu       Systeme funktionieren frei nach dem Motto:
allgegenwärtig. Seit einiger Zeit wird zudem      übernehmen. Öffentliche Instanzen können            Was nicht ist, darf auch nicht sein. Integration
der Ruf nach sozialer Nachhaltigkeit laut. Eine   diese Verantwortung heute nicht mehr alleine        bezeichnet hier die Anpassung der Minderheiten
genaue Definition dieses Terminus gibt es         tragen. Vielmehr ist ein Zusammenspiel von          an die Masse. Statt Unterschiedlichkeit wird
bislang nicht. Nicht weil es zu wenige Ansätze    staatlichen, privaten und gesellschaftlichen        Angleichung vorgeschrieben.
gibt, sondern zu viele. Als kleinster gemein-     Akteuren notwendig. Bei einigen Leuchtturm-               Die Zeichen der langjährigen Überregulie-
samer Nenner sozialer Nachhaltigkeitskriterien    projekten gelingt dieser Dreiklang bereits.         rung sind inzwischen vielerorts sichtbar: Fast in
könnten Normen der Menschenrechtserklärung                                                            jeder Stadt stehen Gebäude, die scheinbar in
oder der Verfassung definiert werden. Sollte             Überdeterminierte, geschlossene Städte       einer vergangenen Zeit „eingefroren“ sind. Eine
es einen allgemeinen Konsens über gemeinsame             Dem amerikanischen Soziologen Richard        exakt definierte Form-Funktion macht Verände-
Werte in der Gesellschaft geben, dann wären sie   Sennett zufolge wird das Gros unserer Städte        rungen der Nutzung zu einem späteren Zeit-
wohl in der Justiz und Politik zu finden, mut-    heute von öffentlichen Institutionen überregu-      punkt kaum möglich. Statt hohe, oft unrentable
maßt die Wissenschaft.                            liert. Dies zeigt sich beispielsweise an strengen   Investitionen zu tätigen, verlassen die Bewoh-
      Auch im gehobenen Wohnungs- und             Formalien, Bürokratisierung und übervorsichti-      ner die Gebäude: Sie stehen leer und verfallen.
Siedlungsbau spielt soziale Nachhaltigkeit        gen Regelungen. Weitere Charakteristika seines      Die durchschnittliche Lebensdauer eines
bereits eine bedeutende Rolle. Sie ist eng        geschlossenen Systems sind Gleichgewicht und        öffentlichen Gebäudes in Großbritannien liegt

                                                                     08 vielfalt
derzeit bei vierzig, die eines neuen Wolkenkrat-
zers in New York bei fünfunddreißig Jahren.

      Die Stadt der Zukunft bietet Freiräume
      Damit in unsere Städte in Zukunft wieder
Vielfalt und Freiheit Einzug halten, müssen wir
sie Sennett zufolge in offene Systeme umwan-
deln. Das von ihm entwickelte Open City-
Modell soll in der Stadt wieder Raum für
Zufallsereignisse, mutierende Formen, Improvi-
sation und spontane Dialoge schaffen. Das
Modell orientiert sich an den Naturwissenschaf-
ten, besonders an der Evolution.
      Als ein wichtiges Planungselement einer
offenen Stadt nennt er „mehrdeutige Randzo-
nen“. Dadurch soll der Austausch zwischen den
Menschen gefördert werden.

      Grenzen statt Begrenzung
      Sennett trifft eine Unterscheidung zwi-
schen Grenzen und Begrenzungen. Als Begren-
zung bezeichnet er eine Randzone, in der Dinge
enden. Eine Wand, die undurchlässig ist und
Blockaden bildet. Eine Grenze hingegen nennt
er eine Randzone, in der sich verschiedene
Gruppen gegenseitig beeinflussen.
      Heute finden sich in Städten überwiegend
Begrenzungen: Durch Verkehrslegung, Straßen
und Mauern wurden Wände geschaffen, die
Zonen für Arbeit, Familie, Handel und Öffent-
lichkeit bilden. Die Zerstückelung hat zur Folge,
dass der Austausch zwischen ethnologischen
und gesellschaftlichen Schichten reduziert
wird.

     Unvollständige Form
     Als weiteres Charakteristika eines offenen
Systems nennt Sennett die „unvollständige
Form“. Damit die Architektur „mit der Zeit
atmen“ kann, darf die Nutzung des Gebäudes
nicht präzise bestimmt werden. Form und
Funktion müssen möglichst getrennt voneinan-
der sein. In der Praxis ist eine vage Form oft
eine große Herausforderung. Neue, große
Gebäude verfügen meist über eine komplexe
Infrastruktur für Beleuchtung, Heizung und
Elektrizität, die sich nur mit großem Aufwand
verändern lässt.

      Ungelöste Erzählung
      Als drittes Gestaltungselement definiert
Sennett die „ungelöste Erzählung“. Viele
konventionelle Planer versuchten bereits beim
Projektstart, die Situation nach der Fertigstel-
lung zu vergegenwärtigen. Die Situation soll
planbar und kalkulierbar sein.
      In England verlangen baurechtliche            sei die Entdeckung. Also die Freiheit, Unerwar-
Bestimmungen bei der Planung eine Spezifizie-       tetes zu erleben und zugleich Abweichungen
rung bis ins kleinste Detail. Selbst die Breite     und Vielfalt zuzulassen.
und Höhe des Gehwegs wird vorab festgelegt.
Überraschende Erkenntnisse bei der Umsetzung              „Guten TAG Innsbruck“
gelten als Störfaktor. Sennett vergleicht diese           Der Wunsch der Menschen ihre Stadt
Vorgehensweise mit einem „schlechten Roman,         mitzugestalten und zu entdecken, zeigt sich
dessen Ausgang der Geschichte schon zu Beginn       zunehmend im Alltag. „Guten TAG Innsbruck“,
fest steht.“ Die Aufgabe eines guten Autors         eine Plattform zu Förderung urbaner Interaktio-
bestehe darin, den Prozess der Erkundung der        nen, hat kürzlich den gleichnamigen Wett-
Geschichte zu gestalten. Wichtiger als Klarheit     bewerb „Guten TAG Innsbruck“ zur Förderung
                                                    urbaner Interaktion ausgerufen. Stadtinteres-
                                                    sierte wurden dazu eingeladen, brachliegende
                                                    Flächen und monofunktional genutzte Flächen         Quellennachweise:
                                                    zu entdecken, neu zu denken und ihre Poten-
                                                    ziale als Schauplätze urbaner Aktivitäten aufzu-    Richard Sennett, Open City
                                                    zeigen. Mit ihrem Projekt „toSeesaw“ trugen         Festrede anlässlich der Eröffnung des Präsen-
                                                    die drei Teilnehmerinnen Luzia Dieringer, Birgit    tationsjahres der Internationalen Bauausstellung
                                                    Hackel und Marianne Lercher zu einem bunte-         Hamburg am 23. März 2013 im Bürgerhaus
                                                    ren, vielfältigeren Stadtbild bei: An verschiede-   Wilhemsburg
                                                    nen, ungenutzten Orten hängten sie Schaukeln
                                                    auf. Das Schaukeln sollte einerseits zu uner-       Hans Peter Hongler und Markus Kunz
                                                    warteter Interaktion und Kommunikation              Inputreferat „Soziale Nachhaltigkeit zwischen
                                                    führen. Anderseits ist das Schaukeln ein klarer     Utopie und standardisierten Vorgaben – eine
                                                    Appell, einmal „zu schaukeln“, die Perspektive      Auslegeordnung zur aktuellen Fachdiskussion“,
                                                    zu wechseln und sich Raum anzueignen.               Tagung „Vom Mehrwert sozialer Nachhaltigkeit“
                                                    Wörtlich und metaphorisch.                          vom 14. März 2014 in Zürich

                                                                       09 vielfalt
Glaubensräume
Über Sakralbauten und Kultstätten, Religionen und
Minderheiten in Vorarlberg gibt es Statistiken und
historische Daten. Deren Bedeutung ist aber gering,
wenn man jene Orte besucht, an denen Menschen ihre
Religion leben. Dort hat der Glaube Raum und wird
spürbar. Über 39.000 Muslime leben heute in Vorarlberg.
Einen islamischen Friedhof gibt es jedoch erst seit 2012.
Auf dem Jüdischen Friedhof in Hohenems gibt es an
die 500 Gräber. Das Grundstück wurde der jüdischen
Gemeinde bereits im Jahr 1617 zugesprochen. Dreißig
Jahre zogen ins Land bis eine Kapelle in Andelsbuch als
Zeichen für ein Versprechen erbaut wurde. Manchmal
müssen die Gläubigen um diese Orte „kämpfen“,
manchmal sind sie Orte der Zuflucht. Immer sind sie
ein Stück Heimat und Identität.

                                                            Ein Stück Heimat
                                                     Islamischer Friedhof, Altach

Rostrote Mauern fassen Gräberfelder, die nach       dauerhafte Infrastruktur für ihre Religion ein.   von der konfessionellen Ausrichtung – als
Mekka ausgerichtet sind. Ein für die Verabschie-    Der Ruf nach einem Islamischen Friedhof war       der erste Garten. „Als eigentlicher Urgarten
dung der Verstorbenen überdachter Raum öffnet       also nur eine Frage der Zeit. 2003 gründeten      zeichnet er sich durch die Kultivierung seiner
sich zum Innenhof. Das Sternornament aus            schließlich islamische Gemeinschaften und         Erde und durch seine klar definierte Fläche
Holzstabwerk begleitet den Weg zum Andachts-        Vereine eine Initiative. In einem langen und      aus. Beim Anlegen eines Gartens wird erstmals
raum. Dort zeigt die Installation von Azra          sorgfältigen Prozess wurde eine für Vorarlberg    ein Stück Land eingegrenzt und gegen die
Akšamija die Gebetsrichtung nach Mekka an.          geeignete Lösung gefunden.                        Wildnis deutlich abgegrenzt“, beschreibt Bader.
Der Islamische Friedhof in Altach ist ein Stück          Der mit der Planung und Umsetzung                  So fasst auch in Altach ein Geflecht
Heimatgefühl für Muslime in Vorarlberg.             beauftragte Architekt Bernardo Bader hat den      aus Mauerscheiben die Gräberbereiche und
      Ein Jahr nach seiner Eröffnung erhielt        Ansprüchen der islamischen Religion sensibel      den baulichen Anlagenteil ein. Die Gräberfel-
der Islamische Friedhof den renommierten Aga        Raum gegeben. Unterstützt wurde er von            der sind fingerförmig angelegt und ermögli-
Khan Award 2013. Dieser internationale Archi-       einer Arbeitsgruppe und Imamen islamischer        chen eine etappenweise Belegung. Sie betten
tekturpreis zeichnet nicht allein Meisterwerke      Gemeinschaften. Bader fand für seinen Ent-        den Friedhof in den unberührten auenartigen
der Architektur aus, sondern insbesondere           wurf Inspiration in Gartenanlagen, denn der       Landschaftsraum ein, schlicht und ohne
Bauten, die zur Verbesserung der allgemeinen        Friedhof gilt kulturgeschichtlich – unabhängig    große Symbolik.
Lebensqualität beitragen. In der offiziellen
Mitteilung der Jury hieß es: „Während der
Friedhof den spirituellen Pluralismus betont,
ist er zugleich letzte Ruhestätte einer Minorität
in einer dominanten Gesellschaft.“
      Zwei Dinge sind für eine islamische
Bestattung von religiöser Bedeutung: Die
Ausrichtung des Grabes nach Mekka sowie das
Ruhen der Toten in der Gemeinschaft von
Muslimen. Bis zum Jahr 2012 überführten in
Vorarlberg die meisten muslimischen Familien
ihre Verstorbenen in ihr Herkunftsland. Denn
es existierte kein muslimisches Gräberfeld auf
einem kommunalen Friedhof.
      Heute leben rund 39.000 Muslime in
Vorarlberg, das entspricht gut zehn Prozent der
Gesamtbevölkerung. Viele der Gastarbeiterinnen
und Gastarbeiter, die in den sechziger Jahren
nach Vorarlberg kamen, sind jetzt im Pensions-
alter. Ihre Kinder und Enkelkinder sind meist
in Österreich geboren und setzen sich für eine

                                                                      10 vielfalt
Raum für ein altes Versprechen
                                            Kapelle Alpe Vordere Niedere, Andelsbuch

Am äußersten Rand eines sanften Berghügels                 Die dem heiligen Theodul gewidmete          über dem Altar besteht aus fünf Lochbohrun-
– dort, wo sich die Paragleiter in die Tiefe         Bergkapelle ist Zeichen für ein gehaltenes Ver-   gen, die mit blauem Glas gefüllt sind.
stürzen – steht die Kapelle Alpe Vordere Niedere     sprechen seitens der Bauherren – der Familie            Das Fichtenholz für die Stiftungskapelle
in Andelsbuch. An der Grenze vom kultivierten        Feuerstein aus Andelsbuch. Diese hatten           schlug der Bauherr im eigenen Wald. Die
Alpland zum natürlichen Gelände ruht sie auf         persönliche Schicksale überwunden und             Steine für das Fundament sammelte die
ihrem Fundament aus Stein.                           schließlich im Jahr 2008 aus Dankbarkeit die      Familie auf der Alpfläche. Insgesamt stecken
      In seiner Form ist der gestrickte Holzbau      Kapelle errichten lassen.                         viel Eigenleistung und Hilfe von Freunden und
einfach, fast so als hätte ein Kind ein Haus               Boden, Wände und Dachflächen der            Familie in der Kapelle. Alles wurde händisch
gezeichnet: ein spitzes Dach, vier Wände, keine      Kapelle bestehen aus vertikal gestricktem         und ohne Kran errichtet. Diesen ideellen
Fenster. Und dennoch strahlt diese „heilige          Fichtenholz. Alles ist außen und innen sicht-     Zugang teilte auch Architekt Andreas Cukro-
Scheune“ einen spürbaren Stolz aus. Sprichwört-      bar, es gibt keine Verkleidung. Als einzige       wicz. Für seinen Entwurf erhielt er „nur“ drei
lich thront sie vor der Bergkulisse mit Blick bis    Lichtquelle dient ein Glasschlitz. Entlang der    Laib Käse von der Sennerei des Bauherren
zum Bodensee und erzählt gleichzeitig eine           stirnseitigen Altarwand ersetzt er zwei verti-    und verzichtete auf ein Honorar.
Geschichte von Dankbarkeit und Demut.                kale Holzelemente. Das griechische Kreuz

                                                               Haus des Lebens
                                                      Jüdischer Friedhof, Hohenems

„Beit haChaim“, Haus des Lebens, ist die             einem Ausstellungskatalog des Jüdischen           heute ein Symbol für die Integration der
hebräische Bezeichnung für einen Friedhof.           Museums Hohenems veröffentlicht wurde.            jüdischen Gemeinde in die bürgerliche Gesell-
Der jüdische Friedhof in Hohenems ist Zeugnis              Die ältesten Grabsteine aus dem 18.         schaft und der Rezeption derer Werte, Inhalte
davon, wie vielfältig das Leben ist. Er ist der      Jahrhundert am jüdischen Friedhof in Hohe-        und Symbole.
letzte Ort im heutigen Vorarlberg, an dem noch       nems unterscheiden sich in der Gestaltung               1938 wurde der Friedhof von der national-
jüdisches Ritual gelebt wird und er spiegelt         kaum voneinander. Bis in die Neuzeit war eine     sozialistischen Gemeindeverwaltung beschlag-
die Geschichte der jüdischen Gemeinde ein-           soziale Schichtung der jüdischen Gemeinde         nahmt und in der Folge „arisiert“. Im Herbst
drucksvoll wieder.                                   quasi nicht vorhanden. Erst mit Beginn des        desselben Jahres kam es zu Friedhofsschändun-
      Der jüdische Friedhof in Hohenems ist so       19. Jahrhunderts dienten die Steine immer mehr    gen. Nach dem Krieg wurde der Friedhof an
alt wie die erste Ansiedlung von Juden im Jahr       der Repräsentation der Verstorbenen als Indivi-   die Kulturgemeinde in Innsbruck rückgestellt.
1617. Graf Caspar von Hohenems wies den              duum und ihrer sozialen Stellung. Die verwen-     Seit 1967 ist er denkmalgeschützt. Heute ist der
jüdischen Familien für die Anlage eines Fried-       deten Materialien, die Typen und Formen           Friedhof im Besitz eines Schweizer Vereins,
hofes ein Stück Land im „Schwebel“ zu. Dieser        wurden vielfältiger. Damit sind die Grabsteine    der sich um die Erhaltung kümmert.
Abhang südlich des alten Dorfkerns ist nach
den dort vorkommenden Schwefelquellen
benannt.
      Insgesamt liegen rund 500 Gräber auf
      dem Friedhof. Viele der alten Grabsteine
sind im steilen und feuchten Waldboden
versunken. Nur 370 sind erhalten, die ältesten
Steine sind aus dem 18. Jahrhundert. Nach der
jüdischen Tradition geht das Stück Erdreich,
in dem ein Verstorbener begraben wird, in sein
Eigentum über. Frei gewordene Grabplätze
werden daher nicht mehr neu belegt. Diese
Unauflösbarkeit macht jüdische Friedhöfe zu
bedeutenden kulturhistorischen Zeugnissen.
      „Friedhöfe sind nicht nur Ruhestätten für
die Toten und Orte des Gedenkens, sie können
auch als komplexe Zeichensysteme, die nach
bestimmten Regeln angelegt und kodiert sind,
gelesen werden. In ihrer Anlage, in den Grab-
steinformen und Symbolen spiegeln sich
religiöse, soziale und politische Entwicklungen
einer Gemeinde wider“, heißt es in einem
Beitrag von Fotograf Arno Gisinger, der 1992 in

                                                                        11 vielfalt
Was ist Vielfalt?
Der Naturforscher Charles Darwin setzte Vielfalt mit
Biodiversität gleich und bezeichnete damit die Strategie
einer Tier- oder Pflanzenart auf Dauer bestehen zu
können. Wofür steht Vielfalt noch? Verschiedene
Sichtweisen von Menschen von heute.

                                                                                           „Vielfalt ist mehr als eine theoretische Wort-
                                                                                         spielerei für mich. Vielfalt ist der zentrale Kern
                                                                                             einer erfolgreichen Landwirtschaft. Wir
                                                                                          setzen beispielsweise bei der Aussaat auf eine
                                                                                           Vielfalt der Sorten, um das Risiko von Ernte-
                                                                                             ausfällen zu verteilen. Als Gegenteil von
                                                                                          Einfalt ist Vielfalt ohnehin ein Naturprinzip.“

                                                                                                                        Simon Vetter
 „Vielfalt ist dort möglich, wo es eine Gleich-                                                                           Vetterhof
  wertigkeit und Chancengleichheit auf Basis
   des Respekts gegenüber Differenzen gibt.                                                                                                                                          „Vielfalt ist ein wesentliches Merkmal des
Das betrifft Geschlechter- und Migrationsfragen                                                                                                                                     Lebens. Ich genieße die Unterschiedlichkeit
                 gleichermaßen.“                                                                                                                                                     der Menschen, die mich umgeben. Vielfalt
                                                                                                                                                                                   ist inspirierend, herausfordernd und gibt dem
               Stefanie Pitscheider-Soraperra                                                                                                                                                   Leben erst seine Weite.“
          Geschäftsführerin Frauenmuseum Hittisau
                                                                                                                                                                                                             Andreas Bartl,
                                                                                                                                                                                                          Lebenshilfe Vorarlberg

                                                                                                                                                                                   „Vielfalt zeigt sich für mich vor allem in der
                                                                                        „Vielfalt ist eine der größten Herausforderungen                                          Natur. In der Unterschiedlichkeit der Tiere und
                                                                                          und eine der größten Chancen unserer Zeit.                                                der Pflanzen. Die Vielfalt macht das Leben
                                                                                         Vielfalt birgt die unterschiedlichsten Meinun-                                           bunter, spannender – und die Welt insgesamt
                                                                                         gen, Einstellungen und Wahrnehmungen. Sie                                                               überlebensfähiger.“
                                                                                            bedingt ein hohes Maß an Komplexität.
                                                                                          Wenn wir einen aktiven und konstruktiven                                                                  Andrea Mitterer
                                                                                         Umgang damit finden, dann kann Vielfalt das                                                Hundeführerin der Österreichischen Rettungshunde
                                                                                         Fundament für die Nachhaltigkeit und Krisen-                                                  und Hundetrainerin bei Hunde Ein mal Eins
  „Vielfalt – das sind für mich die vielen unter-                                            festigkeit unseres Lebensraumes sein.“
 schiedlichen Menschen in unserer Gemeinde,
mit denen ich täglich zu tun habe. Meinungen,                                                                Christoph Kirchengast
   Lebenswelten, Sprachen, Altersgruppen und                                                           Regio-Manager Vorderland-Feldkirch
    Themen, die Menschen beschäftigen. Ich
  mag es, von dieser Vielfalt herausgefordert zu
    werden, meinen Standpunkt zu vertreten,
 ihn auch zu verlassen, Neues kennenzulernen
und gemeinsam für uns eine Lösung zu finden.
Für mich ist diese Vielfalt Voraussetzung für ein
 großes Ganzes – wie ein Garten, der erst durch
  seine Buntheit zu einem echten Garten wird
  – und was noch wichtiger ist: funktionieren
               und überleben kann.“                                                                                                                                               „Ich gehe gerne in die Natur. Deshalb erweckt
                                                                                                                                                                                  das Wort Vielfalt in mir vor allem ein Staunen
                  Angelika Moosbrugger                                                                                                                                            und Demut gegenüber der Schöpfung. Vielfalt
        Vizebürgermeisterin Marktgemeinde Wolfurt                                         „Vielfalt ist meiner Meinung nach wesentlich,                                             macht das Leben bunt und spannend, auch
                                                                                             damit Gemeinschaften gelingen können.                                                        in Bezug auf uns Menschen.“
                                                                                         Das gilt für Pflanzengemeinschaften, etwa eine
                                                                                         vielfältige Wiese, ebenso wie für Gemeinschaf-                                                               Angelika Hagspiel
 „In erster Linie bedeutet Vielfalt Bereicherung.                                        ten von Menschen. Unterschiedliche Ansichten,                                                    Geschäftsführerin Vorarlberger Tagesmütter
    Vielfalt ist aber auch Herausforderung, die                                           Wertvorstellungen, Fähigkeiten und Herange-
   Zusammenarbeit und Auseinandersetzung                                                    hensweisen einzelner Menschen sind eine
     verlangt und dadurch zur gegenseitigen                                              Bereicherung, deren Potenzial in Gemeinschaft
   Befruchtung führen kann. Somit ist Vielfalt                                            erfahrbar wird und das sich in der Begegnung                                            „Vielfalt ist Toleranz, Reichtum, Abwechslung.
             Leben und Leben Vielfalt.“                                                         und im Austausch entfalten kann.                                                  Vielfalt ist individuell und trotzdem kollektiv.“

                         Christina Porod                                                                        Ruth Moser                                                                               Stefan Mayer
                    Redakteurin Kulturzeitschrift                                                Managerin Biosphärenpark Großes Walsertal                                                    Geschäftsführer Steinwerk Andelsbuch

Fotonachweis Titel: UMG / S 01: UMG / S 02: Land Vorarlberg / S 03: Dietmar Mathis / S 05: UMG / S 06: Lilli Lička / S 07: Darko Todorovic / S 08-09: Luzia Dieringer / S 10: Marc Lins / S 11 oben links: Andreas Cukrowicz, oben rechts: Hanspeter Schiess / unten:
Arno Gisinger / S 11 unten: Dietmar Walser Medieninhaber und Herausgeber Amt der Vorarlberger Landesregierung, Abt. Raumplanung und Baurecht, 6900 Bregenz, www.vorarlberg.at/gemeindeentwicklung Erscheinungsweise viermal jährlich Auflage
7.100 Stück Für den Inhalt verantwortlich Dr. Raimund Fend Projektleitung Heiko Moosbrugger; heiko.moosbrugger@vorarlberg.at Redaktionsleitung Daniela Kaulfus, Pzwei. Pressearbeit. Sofern nicht anders angegeben, wurde alle Texte von Pzwei.
Pressearbeit verfasst. Redaktionsteam Dr. Raimund Fend, Dr. Sabine Miessgang, Mag. Stefan Obkircher Gestaltung Richard Steiner, Gerhard Wolf, Hard Lektorat Pzwei. Pressearbeit Druck Thurnher, Rankweil. Offenlegung gemäß § 52 Mediengesetz ist auf
www.vorarlberg.at/gemeindeentwicklung veröffentlicht. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben ausschließlich die Meinung des Autors wieder, die sich nicht mit der des Herausgebers oder der Redaktion decken muss. Zugunsten der Lesbarkeit wird, wenn
von den Autorinnen und Autoren nicht anders vorgesehen, von geschlechtsspezifischen Endungen abgesehen. Ein kostenloses Abonnement der Zeitschrift vorum kann angefordert werden bei: E-Mail: raumplanung@vorarlberg.at; T +43 (0) 5574/511-27105
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