Wayne Thiebaud - Artinside Ausgabe Frühjahr 2023 - Shirley Jaffe im Kunstmuseum Basel À bruit secret. Das Hören in der Kunst im Museum Tinguely

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Artinside Das Museumsmagazin
 Ausgabe Frühjahr 2023

Fondation Beyeler

Wayne
Thiebaud
Shirley Jaffe im Kunstmuseum Basel
À bruit secret. Das Hören in der Kunst im Museum Tinguely
Wayne Thiebaud - Artinside Ausgabe Frühjahr 2023 - Shirley Jaffe im Kunstmuseum Basel À bruit secret. Das Hören in der Kunst im Museum Tinguely
Inhalt

 Arti
 20 Jahr
 nsid e
 e

 30
 32 Ausstellungsansicht «Zwischen Pathos und Pastos –
 Christopher Lehmpfuhl. Sammlung Würth», 2023
 Ausstellungsansicht «Transformers», Museum
 Frieder Burda, 2023

 04
Wayne Thiebaud, Two Paint Cans, 1987

 18
 12 Andrea Büttner, Erntender, 2021

 Jurgen Bey, Tree-trunk bench, 1998 22 31 33
 Jean Tinguely bei der Materialsuche, Paris, 1960 Ulrich Rückriem, Ohne Titel, 1987 Joan Miró, Frau vor der Sonne I, 1974

04 Wayne Thiebaud 12 Garden Futures: 14 Shirley Jaffe 22 La roue = c'est tout 30 Christopher Lehmpfuhl Impressum. Artinside – Das Museumsmagazin
 Fondation Beyeler Designing with Nature Kunstmuseum Basel Neue Sammlungspräsentation Forum Würth Arlesheim Herausgeber: Matthias Geering
 Die Ausstellung präsentiert Wayne Vitra Design Museum Das Kunstmuseum Basel zeigt die bewe- Museum Tinguely Chefredaktion | Art Direction | Produktion: Sibylle Meier

 Thiebauds Werk in seinen vielen Welchen Beitrag leisten Gärten zu einer gende Malerei von Shirley Jaffe in einer Erstmals seit der Eröffnung des Museums 31 Ulrich Rückriem Lauftext Meier Geering | Oberwilerstrasse 69 | CH-4054 Basel
 Aspekten: neben Stillleben auch Porträts nachhaltigeren Zukunft, die für alle grossen Sonderausstellung. wird die Werksammlung des Künstlers Kloster Schönthal info@artinside.ch | www.artinside.ch
 Korrektorat: Lesley Paganetti, Basel
 sowie multiperspektivische Städtebilder lebenswert ist? Diesen Fragen geht die wieder in der grossen Halle gezeigt. Druck: Swissprinters AG, Zofingen
 und Landschaften. Ausstellung anhand von vielfältigen 17 Charmion von Wiegand 32 Transformers Bildbearbeitung: LAC AG Basel | Jean-Jacques Nobs,
 Nicole Hübner
 Beispielen aus Design, Alltagskultur und Die Ausstellung zeigt eine zu Unrecht in 24 À bruit secret Museum Frieder Burda
08 Doris Salcedo Landschaftsarchitektur nach. Vergessenheit geratene aussergewöhn- Das Hören in der Kunst Ausgabe Frühjahr 2023 | Erscheint zwei Mal jährlich
 Die umfangreiche Ausstellung zu Doris liche Künstlerin des 20. Jahrhunderts. Das Museum Tinguely bietet eine Vielfalt 33 Zu Gast in Artinside: Die nächste Ausgabe erscheint im September 2023
 Auflage 150 000 Exemplare
 Salcedo vereint wichtige Werke aus allen von Begegnungen mit bekannten und Joan Miró
 Schaffensphasen der international renom- 18 Andrea Büttner unbekannten Klangwelten dieser Erde. Zentrum Paul Klee, Bern Ein Teil der Auflage ist am 11. Februar der Basler Zeitung,
 mierten kolumbianischen Künstlerin. Andrea Büttners Ausstellungen sind der Schweiz am Wochenende (Ausgabe Region Basel), einer
 raumgreifende «Erzählungen», die sich 27 Roger Ballen. Call of the Void 34 Umfrage zur Nutzung Teilauflage der Badischen Zeitung sowie einer Teilauflage des
 Südkuriers beigelegt.
11 Picasso – Künstler und Modell: den Besucher:innen Schritt für Schritt von Artinside
 Letzte Bilder erschliessen. 28 Janet Cardiff & George Bures Jahresabo CH: CHF 17.–
 Miller. Dream Machines 38 Weitere Ausstellungen Jahresabo EU: € 17.–
 ISSN 1660-7287
11 Basquiat. The Modena Paintings 21 Gina Folly | Born in Ukraine

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Fondation Beyeler

 Wayne
 Thiebaud
 Bis 21.05.2023

 D
 ie Fondation Beyeler widmet dem aussergewöhnlichen, in Eu-
 ropa bisher wenig bekannten amerikanischen Maler Wayne
 Thiebaud (1920–2021) die erste Einzelausstellung im deutsch-
 sprachigen Raum. In seinen Stillleben visualisiert Thiebaud in betö-
 renden Pastelltönen die Verheissungen des «American Way of Life».
 Gleichzeitig demonstrieren seine erstaunlichen Porträts und multi-
 perspektivischen Stadtansichten und Landschaften die Vielseitig-
 keit des technisch brillanten Malers. Mit 65 Werken aus öffentlichen
 Sammlungen sowie privaten Leihgaben präsentiert die Retrospekti-
 ve die wichtigsten Werkgruppen des Künstlers und lädt dazu ein, sei-
 ne einzigartige Malweise zu entdecken. Thiebaud reizt die Möglich-
 keiten malerischen Ausdrucks bis an die Grenzen der gesehenen und
 imaginierten Welt aus und schafft so eine eigene, zwischen Ironie,
 Witz, Nostalgie und Melancholie wechselnde, Bildsprache.

 Thiebauds Kunst wirkt, zumindest auf den ersten Blick, in typisch
 amerikanischer Weise optimistisch. Verführerisch wird mit den Be-
 gehrlichkeiten des Publikums gespielt, sei es in Gestalt der Torten in
 der Auslage oder der Glücksspielautomaten – populäre Motive aus
 einer Welt des Überflusses. Thiebaud wurde deshalb oft als Pop-Art-
 Künstler bezeichnet – eine Einordnung, der er sich selbst jedoch stets
 verweigerte. In Anbetracht seiner eigenen Sichtweise auf die Ästhetik
 der Massenproduktion und seines Fokus auf die Malerei kann Thie-
 baud eher als ein Vorläufer der Pop-Art eingestuft werden. Auf den
 ersten Blick erscheinen seine Bilder geradezu plakativ und selbster-
 klärend. Bei genauerem Hinsehen jedoch löst sich jedes Motiv in ein
 weites Spektrum unzähliger Farben und Farbschattierungen auf, die
 erst in ihrer Summe ein wiedererkennbares Bild ergeben.

 Im Zentrum der von Ulf Küster kuratierten Ausstellung steht die
 Bedeutung der Farbe in Thiebauds Werken. Die Ausstellung ist nach
 Themenräumen gegliedert und präsentiert Thiebauds wichtigste
 Werkgruppen: seine Stillleben, Figurenbilder, Stadtansichten und
 Flusslandschaften, denen er sich zeit seines Schaffens gleichermas-
 sen widmete. Anhand von Öl- und Acrylmalerei und von Arbeiten
Wayne Thiebaud, Flood Waters, 2006/2013

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Fondation Beyeler Fondation Beyeler
 Wayne Thiebaud Wayne Thiebaud

 «Kleine Welten, das ist es, was Gemälde sind.
 Kleine gemalte Welten. Unbeweglich, beständig,
 kontemplativ und eine Quelle der Schönheit
 und Freude.»
 Wayne Thiebaud, 2017

 auf Papier wird deutlich, dass für Thiebaud die Grenzen
 zwischen Gegenständlichkeit und Ungegenständlich-
 keit fliessend waren. Mittels seiner ausgeklügelten Farb-
 setzungen unterzog er alle Bildelemente einem Prozess
 der Abstraktion. Nicht nur für die Stillleben, sondern
 auch für die multiperspektivischen und teilweise farb-
 lich überdreht erscheinenden Wasserlandschaften, die
 Felsformationen und Stadtschluchten – Ausflüge in ein
 Universum von stürzenden Linien und Farbabgründen.
 Und die distanziert und kühl wirkenden Figurenbilder
 strahlen eine unterschwellige, irritierende Melancholie
 aus, die an das Werk von Edward Hopper denken lässt.

 Wayne Thiebaud arbeitete zunächst als Schildermaler,
 Grafikdesigner und Cartoonist, so auch in den Walt Dis-
 ney Studios, wo er unter anderem lernte, Mickey Mouse
 zu zeichnen. Nach einem Kunststudium, das er 1953 ab-
 schloss, unterrichtete er zunächst am Sacramento City
 College, dann an der University of California in Davis
 Zeichnung und Malerei.

 Die Werke Thiebauds sind in bedeutenden ameri-
 kanischen Museen anzutreffen, vor allem in Kalifor-
 nien. Thiebaud wurde in Europa bisher nur sehr selten
 ausgestellt und seine Werke sind kaum in öffentlichen
 Sammlungen vertreten. Zu sehen waren seine Bilder
 bislang nur 1972 auf der Documenta 5 in Kassel, 1975 im
Wayne Thiebaud, Eating Figures (Quick Snack), 1963
 Wallraf-Richartz-Museum in Köln, 1976 in der Arnolfini
 Gallery in Bristol und 2018 im Voorlinden Museum im
 niederländischen Wassenaar. Für die Ausstellung ist
 es gelungen, Hauptwerke aus Thiebauds langjährigem
 Schaffen zu versammeln. ◀

 Charlotte Sarrazin ist Associate Curator
 an der Fondation Beyeler.

 Wayne Thiebaud, Pie Rows, 1961

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Fondation Beyeler

Doris
Salcedo
21.05.2023 – 17.09.2023

 Doris Salcedo, Plegaria Muda, 2008–2010

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Fondation Beyeler
 Doris Salcedo

 Fondation Beyeler

 PICASSO – Künstler und Modell:
 Salcedo gelingt es, «Gewalt Letzte Bilder
 ohne Gewalt darzustellen» 19.02.2023 – 01.05.2023

 und Schmerz spürbar zu machen,
 ohne ihn explizit zu zeigen. I m Rahmen der internationalen Feierlichkeiten rund um das fünf-
 zigste Todesjahr von Pablo Picasso (1881–1973) präsentiert die Fon-
 dation Beyeler in einer kleineren Ausstellung eine konzentrierte Aus-
 wahl von zehn späten Gemälden Picassos, die sich mit dem Bild von
 Künstler und Modell befassen.

 Diese ausdrucksstarken Werke, die im letzten Jahrzehnt von
 Picassos Schaffen entstanden, führen die unbändige kreative Energie
 und Produktivität des Künstlers am Ende seines Lebens vor Augen.
 Picasso setzt sich darin mit dem (Selbst-)Bild des Künstlers und dem
 künstlerischen Schöpfungsakt ebenso auseinander wie mit dem Bild
 des weiblichen Körpers. Dabei eröffnen sich für Betrachterinnen und
 Betrachter auch Fragen in Bezug auf die Darstellung der Frau in der
 Kunst im Kontext der heutigen Zeit. ◀
Doris Salcedo

 Pablo Picasso, Le peintre et son modèle, 1963,

I
 Fondation Beyeler
 m Frühling und Sommer 2023 präsentiert die auf der Biennale von Istanbul ihre Arbeitsweise beschrieb.
 Fondation Beyeler eine umfangreiche Ausstellung
 mit Werken der international renommierten ko-
lumbianischen Künstlerin Doris Salcedo (*1958). Es wird
 Die Werke erfordern oft jahrelange Vorbereitung, Recher-
 chen und Ortserkundung und münden in komplexe und
 minutiös geplante Prozesse der Konzeptualisierung und
 Basquiat. The Modena Paintings
ihre erste Museumsausstellung in der Schweiz sein und Ausführung – Ausdruck ihrer künstlerischen Entschie- 11.06.2023 – 27.08.2023
knüpft an ihre bereits seit Oktober 2022 in der Fondation denheit und unabdingbare Voraussetzung dafür, dass
Beyeler präsentierte Installation Palimpsest (2013–17) an. es ihr gelingt, «Gewalt ohne Gewalt darzustellen» und

 In ihren Objekten, Skulpturen und grossen ortsspezi-
fischen Interventionen setzt sich die in Bogotá geborene
 Schmerz spürbar zu machen, ohne ihn explizit zu zeigen.

 Die Ausstellung in der Fondation Beyeler präsentiert
 I m Sommer 1982 reist der New Yorker Künstler Jean-Michel Basqui-
 at (1960–1988) für eine seiner ersten Einzelausstellungen in Europa
 ins italienische Modena. Blanke Leinwände und Farben stehen bereit,
Bildhauerin mit den Erfahrungen und Auswirkungen insgesamt acht Werkreihen mit insgesamt rund 100 um neue Werke zu schaffen. Innerhalb weniger Tage entsteht eine
gewaltsamer Konflikte in ihrer Heimat Kolumbien, Einzelwerken. In den verwendeten Materialien spiegelt Gruppe grossformatiger Gemälde, die sein bisheriges Schaffen nicht
aber auch in den USA oder Europa auseinander. Häufig sich die Vielseitigkeit ihrer Kunst: Die Arbeiten umfas- nur hinsichtlich ihres Massstabs übertreffen. Jeweils mindestens
sind ihre Werke Reflexionen über Verlust, individuellen sen so unterschiedliche Medien wie Stein und Zement, vier mal zwei Meter messend, sprechen ihre übergrossen Figuren aus
Schmerz und kollektive Trauer sowie die gesellschaftliche Holzmöbel, Seide, Gras, Wasser, Blütenblätter, Nadeln, Sprayfarbe und kryptische Ölstift-Kritzeleien vor abstrakten Farb-
Bewältigung dieser Herausforderungen. Obwohl ihre Kleidungsstücke oder Haare. Neben Palimpsest wer- flächen eine für die damalige Zeit völlig neue Bildsprache, die sich
Arbeiten häufig konkrete Ereignisse als Entstehungs- den Werke aus den Serien Untitled (1989–93), Atrabilia- ebenso an kunsthistorischen Vorläufern wie dem zeitgenössischen
hintergrund haben, gewinnen sie eine universale Gültig- rios (1992–2003), Unland (1995–98), Untitled (1989–2007), Graffiti orientiert.
keit und Wirksamkeit: Im Zentrum ihrer künstlerischen Plegaria Muda (2008–10), A Flor de Piel (2011–12) und
Praxis stehen kulturübergreifende Empfindungen wie Disremembered (2014-15, 2020/21) zu sehen sein. Doch die Ausstellungsidee wird vor der Eröffnung aufgegeben,
Empathie, Trauer oder Entfremdung und der Umgang Jean-Michel Basquiat, The Guilt of Gold Teeth, 1982 die Gemälde nie zusammen gezeigt. Mehr als vierzig Jahre später
mit dem ewigen Kreislauf von Vergessen und Erinnern. Herausragende Werke aus namhaften internationalen bringt die Fondation Beyeler die mittlerweile in US-amerikanischen,
 Museen werden um selten gezeigte Arbeiten aus bedeu- asiatischen und Schweizer Sammlungen befindlichen Meisterwerke
 Statt plakativer Darstellungen sucht Salcedo mit ihren tenden Privatsammlungen ergänzt. Die Ausstellung ent- erstmalig zusammen. ◀
 Planen Sie
künstlerischen Mitteln nach den gemeinsamen Nennern steht in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin und Ihren Besuch
im Empfinden der Betrachtenden. «Was ich aus [meinen] ihrer Galerie White Cube in London.
Arbeiten herauszuholen versuche, ist das Element, das
uns allen gemeinsam ist. [...] Ich erzähle also nicht eine Dr. Fiona Hesse ist Associate Curator
bestimmte Geschichte. Ich spreche nur Erfahrungen an», an der Fondation Beyeler.
wie sie 2003 anlässlich der Präsentation ihrer Installation fondationbeyeler/besuch.ch

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Vitra Design Museum
 Garden Futures: Designing with Nature

 Auf das grosse Panorama folgt eine eingehende Betrachtung ausge-
 wählter politischer und sozialer Konzepte der Gartenkunst und des
 Gartenbaus. Selbst der privateste Garten ist mehr als ein persönlicher
 Rückzugsort; er trägt immer auch die Spuren historischer Entwick-
 lungen und kultureller Wertesysteme in sich.

 Als Beispiel für eines der zahlreichen städtebaulichen Konzepte,
 die Stadt und Garten in Einklang bringen wollen, betrachtet die Aus-
 stellung das Konzept der Gartenstadt, das im späten 19. und frühen
 20. Jahrhundert entwickelt wurde. Hingegen verdeutlicht die 1973
 von Liz Christy initiierte Green-Guerilla-Bewegung in New York, wie
 AktivistInnen seit vielen Jahrzehnten versuchen, den Garten als ei-
 nen Raum für soziale Gerechtigkeit und der öffentlichen Beteiligung
 neu zu definieren.

 Wer Anspruch auf einen Garten hat, wozu ein Garten dient und
 wie er in ein urbanes Umfeld integriert werden kann, sind Fragen,
 über die auch aktuell viel debattiert wird.

 Die Ausstellung stellt wegweisende zeitgenössische Gartenpro-
 jekte vor. Ihre MacherInnen befassen sich mit Themen, die von der
 botanischen Erforschung bis hin zum Garten als multisensorisches Derek Jarman, Garten des Prospect Cottage in Dungeness, Kent, Grossbritannien, seit 1986

 Kunstwerk, von der Kritik an der ästhetischen Einstellung zur
 Natur bis hin zur Wiederverwendung stillgelegter Industriestand-
 orte reichen, doch haben sie alle das gleiche Ziel: die Schaffung
 lebensfähiger, symbiotischer Beziehungen zwischen Mensch und
 Natur. Im 20. Jahrhundert erlangte beispielsweise der brasilianische
 Landschaftsarchitekt Roberto Burle Marx für seine naturnahe Gestal-
 tung von Gärten internationale Anerkennung, während die Pflan-
 Julien de Cerval, Die Gärten von Marqueyssac, Vézac, Frankreich
 zenkompositionen des zeitgenössischen niederländischen Garten-
 architekten Piet Oudolf nicht nur zur Blüte, sondern das ganze Jahr
 Vitra Design Museum hindurch ansprechend wirken.

 Der weitläufige Liao-Garten des chinesischen Künstlers Zheng

 Garden Futures
 Guogu lehnt sich an die Ästhetik des Videospiels «Age of Empires»
 an und schlägt so eine Brücke zwischen virtueller und tatsächlicher
 Umgebung. Ein in Kuala Lumpur angelegter Gemeinschaftsgarten
 steht für Bottom-up-Initiativen im urbanen Kontext. Kurze Texte und

 Designing with Nature
 Gedichte der Schriftstellerin Jamaica Kincaid zeigen, wie der eigene
 Garten und die Gartenarbeit zu einer Quelle der Inspiration werden
 können.

 Die Ausstellung zeigt eine Vielzahl aussergewöhnlicher Gärten
 25.03.2023 – 03.10.2023 und stellt LandschaftsarchitektInnen und KünstlerInnen vor, die den

G
 Garten als einen Ort verstehen, in dem soziale und ökologische Ge-
 ärten sind Spiegel von Identitäten, Träumen und Visionen; bis hin zu Gärten von GestalterInnen und KünstlerInnen wie Roberto rechtigkeit ermöglicht werden kann. Das italienische Designduo For-
 sie haben tiefe kulturelle Wurzeln. Seit einigen Jahren sind Burle Marx, Mien Ruys oder Derek Jarman. mafantasma, bekannt für seine interdisziplinäre Herangehensweise,
 Gärten in aller Munde – nicht nur als romantisches Idyll, gestaltet die Ausstellung. ◀
sondern als Experimentierfelder für Fragen der sozialen Gerechtig- Der Garten war schon immer mehr als nur ein Ort, sondern auch
keit, Klimawandel, Biodiversität, also für eine nachhaltige Zukunft. ein Raum, in dem die Hoffnung auf eine bessere Zukunft Gestalt an-
 Eine Ausstellung des Vitra Design Museums,
Gärten sind zu Orten der Avantgarde geworden. Mit Garden Futures nimmt: Dies wird in Gemälden, Zeichnungen und Fotografien aus
 der Wüstenrot Stiftung und des Nieuwe Instituut.
präsentiert das Vitra Design Museum erstmals eine grosse Ausstel- den verschiedensten historischen Epochen und globalen Kontexten
lung zur Geschichte und Zukunft des modernen Gartens. Welche deutlich. Wo immer Menschen ein Stück Natur abstecken, um einen
 Planen Sie
Ideen und Vorstellungen haben unser heutiges Gartenideal geprägt? Garten anzulegen, verraten dessen Anordnung und Gestaltung viel Ihren Besuch
Welchen Beitrag leisten Gärten zu einer nachhaltigeren Zukunft, die über die Motive und Weltanschauungen der Gesellschaft. Zur Ausstellung erscheint eine
für alle lebenswert ist? Diese Fragen untersucht die Ausstellung an- umfangreiche Publikation.
hand von vielfältigen Beispielen aus Design, Alltagskultur und Land- Eine Medieninstallation zu Beginn der Ausstellung zeigt dazu be- 256 Seiten, ca. 180 Bilder,
schaftsarchitektur – vom Liegestuhl bis zur vertikalen Stadtfarm, eindruckende Beispiele: Der Garten erscheint hier als idealisierter 55.00 € (deutscher Ladenpreis)
von zeitgenössischen Community-Gärten über begrünte Gebäude Ort, der sowohl unseren Alltag als auch unsere Fantasie beflügelt. www.design-museum.de/shop design-museum.de
 Oudolf Garten, Vitra Campus

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Wayne Thiebaud - Artinside Ausgabe Frühjahr 2023 - Shirley Jaffe im Kunstmuseum Basel À bruit secret. Das Hören in der Kunst im Museum Tinguely
M
 it Shirley Jaffe. Form als Experiment präsen- Steigerung des Gestischen gewannen Pinselstrich und
 tiert das Kunstmuseum Basel dem Schweizer Palette im Laufe der Jahre an Komplexität.
 Publikum die erste Retrospektive einer eigen-
 sinnigen Künstlerin, die dank ihres künstlerischen Mu- Im Centre culturel américain in Paris organisierte
 tes zum Vorbild für viele jüngere Kolleginnen wurde. In Darthea Speyer 1958 eine Ausstellung von Shirley Jaffe
 Paris, wo die US-Amerikanerin sich in den 1950er-Jahren zusammen mit Sam Francis und Kimber Smith. Über
 niederliess, fand sie über die Jahre zu einer ganz eigenen Francis lernte Jaffe den Kurator Arnold Rüdlinger ken-
 Formsprache. nen, der als Direktor der Kunsthalle Bern (1946–1955) und
 der Kunsthalle Basel (1955–1967) die Schweizer Kunst-
 Shirley Jaffe (1923–2016) wurde als Shirley Sternstein landschaft nachhaltig veränderte und modernisierte.
 in New Jersey geboren und studierte an der Cooper Uni- Rüdlinger zeigte ihre Bilder in mehreren Gruppenaus-
 on in New York. 1949 zog sie dank der sogenannten G.I. stellungen und erwarb zwei ihrer Werke für die legendäre
 Bill für US-amerikanische Kriegsveteranen zusammen Privatsammlung La Peau de l’Ours, die 1955 von sieben
 mit ihrem Ehemann, dem Journalisten Irving Jaffe, nach Kunstfreunden in Basel gegründet wurde. Rüdlinger fun-
 Paris. Die Ehe hielt nicht, doch Jaffe blieb. Bald verkehrte gierte hier als Konservator. 1964 wurden sämtliche Werke
 sie mit vielen US-amerikanischen Künstler:innen, die der Sammlung in der Kunsthalle Basel ausgestellt.
 nach dem Krieg in der französischen Hauptstadt lebten,
 darunter Al Held, Norman Bluhm, Kimber Smith, In den 1960er-Jahren wandte Jaffe sich von ihren An-
 Sam Francis, Joan Mitchell und der Kanadier Jean-Paul fängen als abstrakte Expressionistin ab. Der Wandel in
 Riopelle. Die abstrakt expressionistischen Bilder aus die- ihrem Schaffen begann mit einem Aufenthalt in West-
 ser Zeit, wie zum Beispiel Arcueil Yellow (1956), erinnern berlin 1963, wo sie dank eines Stipendiums der Ford
 an geologische Formationen. Einhergehend mit einer Foundation anderthalb Jahre verbrachte, bevor sie nach

 Shirley Jaffe, Playground, 1995

 Shirley Jaffe, Arceuil Yellow, 1956

 Kunstmuseum Basel | Neubau

 Shirley Jaffe
Form als Experiment
 25.03.2023 – 30.07.2023

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Kunstmuseum Basel
 Shirley Jaffe. Form als Experiment

Paris zurückkehrte. Sie führte einfache, deutlich erkenn- dieser Periode versucht Jaffe zudem, sich vom recht-
bare Formen in ihre Gemälde ein, deren Geometrie sie eckigen Rahmen zu lösen.
eine umso kräftiger anmutende Gestik entgegensetzte.
Leuchtende Farben unterstreichen die Struktur der Bil- Ihr Werk ab 1983 steht ganz im Zeichen der Farbe
der. Weiss, die zunächst die Formen voneinander trennt,
 um ihnen eine grössere Unabhängigkeit zu verleihen.
 Ein noch radikalerer Wechsel geschah ab 1968. Sie ver- In dieser Werkphase erkundet die Künstlerin auch, wie
zichtete fortan auf jegliche Gestik und nutzte stattdessen das Weiss zur dynamischen Verteilung der Farbflächen
eine klare Geometrie und matte Farbtöne. Es entstanden auf dem Gemälde beitragen kann. Die zuvor getrennten
Kompositionen aus Farbflächen ohne jegliche Tiefe. Die- Formen können nunmehr in gewagten geometrischen
ses Nebeneinanderstellen ging mit der Entscheidung Konstellationen zusammentreffen. Dabei ist das Weiss
einher, die Beziehungen zwischen den Farben nicht etwa nicht als Hintergrundfarbe zu verstehen und ändert von
durch Intensität, sondern durch die Arbeit mit Nähe und Gemälde zu Gemälde seine Schattierung – es handelt sich
Entfernung zu dynamisieren. Ein Beispiel für diese Ent- nie um die gleiche Zusammensetzung der Farbe. Jaffe er-
wicklung ist Boulevard Montparnasse von 1968. gänzt ihre Werke durch lange gewundene oder kantige
 Linien, die durch mehrere Farbfelder verlaufen und so
 1969 zog Jaffe in ein kleines Atelier in der Rue Saint- den Eindruck der Überlagerung verstärken.
Victor im 5. Arrondissement, in dem sie beinahe bis zu
ihrem letzten Atemzug 2016 malte und lebte. Viele Künst- Schliesslich kommen seit 1995 und in besonde-
ler:innen besuchten sie dort im Laufe der Jahre, darunter rem Masse seit 2001 Veränderungen in der Farb-
Polly Apfelbaum, Beatriz Milhazes und Sarah Morris. Für dichte innerhalb einer Form auf. Das bislang organi-
nachfolgende Generationen, die ihr Werk unter anderem siert-dynamische Chaos der Gemälde und die streng
in der Galerie Nathalie Obadia in Paris entdeckten, wur- einheitlichen Farbflächen werden durch Pinsel-
de sie zum Vorbild und zur Referenz, weil sie es gewagt spuren oder diffuse Farbstrukturen aufgebrochen. ◀
hatte, sich radikal vom abstrakten Expressionismus ab-
zuwenden und einen neuen Weg einzuschlagen. Die Ausstellung Shirley Jaffe. Form als Experiment wird
 vom Kunstmuseum Basel in Zusammenarbeit mit dem
 Ab den 1970er-Jahren begann Jaffe, ihren persönlichen Centre Pompidou, Paris, und dem Musée Matisse, Nizza,
Stil mit markanten Konturen zu entwickeln. Diese Schaf- organisiert.
fensperiode ist geprägt von freien Formen, die aus der
klassischen Geometrie abgeleitet sind und jeweils eigene
Farbflächen bilden. Sofern sich Linien auf einer farbigen Die Ausstellung wird kuratiert von Olga Osadtschy
Fläche finden, übertreten sie weder die Ränder der Farbe (Kunstmuseum Basel) und Frédéric Paul (Musée national d’art
noch überschneiden sie sich untereinander. Gegen Ende moderne Centre Pompidou) Charmion von Wiegand, Triptych, 1961

 Kunstmuseum Basel | Neubau

 Begleitprogramm

 Öffentliche Vernissage
 Charmion von Wiegand
 Freitag 24.03., 18.30 h 25.03.2023 – 13.08.2023

 Kindervernissage:
 «Wir sind Dreieck, Kreis und Quadrat»
 D as Kunstmuseum Basel zeigt im Frühjahr
 2023 eine monografische Ausstellung der
 amerikanischen Journalistin, Kunstkritikerin
 Publikationen einen Namen. Ihr künstlerischer
 Durchbruch gelang 1945, als sie ein Werk in
 der visionären Ausstellung The Women in Peg-
 Wiegand von der Reduktion auf Rot, Gelb, Blau
 und visualisierte in erweiterten Farbpaletten
 ihre Auseinandersetzung mit den Schriften von
 Für Kinder (4−12 Jahre)
 In Zusammenarbeit mit den Freunden und Malerin Charmion von Wiegand (1896– gy Guggenheims Galerie Art of This Century Helena Petrovna Blavatsky, der Begründerin
 Katalog des Kunstmuseums Basel 1983). Die Ausstellung spannt den Bogen von zeigte. der Theosophie. Insbesondere faszinierten von
 Die reich bebilderte Publikation zur Freitag 24.03., 18−20 h ihren Anfängen als US-Korrespondentin im Wiegand deren Ausführungen zu buddhisti-
 Ausstellung erscheint im Christoph postrevolutionären Moskau der 1930er-Jahre Der Einfluss Piet Mondrians schen Farbkodierungen und Formgeometrie,
 Merian Verlag und präsentiert eine «Manyness – Musical magnification for bis zu ihrem Spätwerk als Malerin. 1941 nahm Wiegand Kontakt mit dem allen voran dem Mandala.
 Collage aus Einschätzungen und Shirley Jaffe» Künstler Piet Mondrian auf. Die Begegnung
 Zeugnissen von Weggefährt:innen Manyness wurzelt in Shirley Jaffes Begeisterung Charmion von Wiegand erlangte Mitte des hatte weitreichende Folgen. Nicht nur führte Spiritualität und Buddhismus
 Shirley Jaffes, gestützt von neuester für neue Musik in den 1960er-Jahren, als sie für 20. Jahrhunderts Anerkennung als Künstlerin, sie Mondrian in die New Yorker Gesellschaft Ab den 1950er-Jahren wandte sie sich der spi-
 kunsthistorischer Forschung, die ein Stipendium in Berlin weilte. Manyness ist ein die die Konventionen der geometrischen Abs- ein und verfasste Texte zu seinem Werk. Die rituellen Praxis des tibetischen Buddhismus zu.
 musikalisches Happening im Kunstmuseum Neu-
 sich auf bislang nicht publizierte traktion mit Formen und Farben fernöstlicher Auseinandersetzung mit Mondrians Schaf- Als praktizierende Buddhistin entwickelte sie
 bau, verteilt auf verschiedene Räume und Etagen, Planen Sie
 Dokumente aus dem Nachlass der Ihren Besuch Bildsymbolik zusammenbrachte. 1915 zog sie fen festigte auch von Wiegands Überzeugung, ein künstlerisches Vokabular, in dem Form und
 innen und aussen. Gespielt werden Stücke unter
 Künstlerin stützt. Sie beinhaltet Bei- anderem von Iannis Xenakis und Karlheinz Stock- nach New York und lernte die dortige Szene dass geometrische Abstraktion nicht formal Farbe zum Ausdrucksträger von Spiritualität
 träge von Svetlana Alpers, Claudine hausen. kennen. Als aktives Mitglied der literarischen sein muss, sondern dass sich damit Inhalt wie- wurden. Von Wiegand entwickelte so die Bild-
 Grammont, Shirley Jaffe, Robert Freitag 14.04., 12.05. | Samstag, 15.04., 13.05., 13−18 h Zirkel der 1920er-Jahre und als Reporterin im dergeben lässt. Weitere wichtige künstlerische sprache für einen «modernen transkulturellen
 Kushner, Olga Osadtschy, Frédéric sowjetischen Moskau der 1930er-Jahre machte Referenzen waren in dieser Zeit Wassily Kan- Buddhismus», wie Autorin Haema Sivanesan
 Paul und Molly Warnock. Mehr: www.kunstmuseumbasel.ch/kalender kunstmuseumbasel.ch/besuch sie sich zunächst als Kritikerin für verschiedene dinsky und Hans Arp. Bald schon löste sich von im Ausstellungskatalog schreibt. ◀

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Kunstmuseum Basel

 Andrea Büttner
 Mit Der Kern der Verhältnisse zeigt das Kunstmuseum Basel eine breit
angelegte Ausstellung der deutschen Künstlerin Andrea Büttner (*1972).
 Knapp 90 Werke aus den letzten fünfzehn Jahren geben Einblick in ihr
Schaffen. Es handelt sich um die bisher grösste Schau dieser international
 ausgezeichneten Künstlerin, deren Werk durch sinnliche Reduktion
 komplexer Inhalte besticht.

 22.04.2023 – 01.10.2023
 What is so terrible about craft? / Die Produkte der menschlichen Hand, 2019

 Karen N. Gerig: Frau Büttner, Ihre Arbeiten beschäftigen gungen, in denen Armut ein erstrebenswerter Zustand
 sich mit grossen gesellschaftlichen Themen wie Armut, ist – freiwillige Armut. So bin ich auf das Nachdenken
 Arbeit, Scham oder Gemeinschaft. Wie ist Ihre Herange- und Arbeiten über Armut gekommen. Auch weil Kunst
 hensweise? generell so viel mit Repräsentation zu tun hat.

 Andrea Büttner: Ganz grundsätzlich denke ich, dass Es sind auch Fragen bzw. Themen, die über die Zeiten
 alle Kunst sich mit grossen Fragen verbindet und zu- hinweg bleiben – auch wenn sie sich in ihrer Prägung
 gleich mit spezifischen Fragen. Mit Scham beschäftige verändern.
 ich mich seit den späten 90er-Jahren. Scham ist ein The- Es gibt in meinem Schaffen auch Arbeiten, die dezi-
 ma, welches mit Kunst zu tun hat, weil es um Urteilen diert kunsthistorisch sind; beispielsweise Diashows, die
 und um Sehen geht. Es gibt in der Ethnografie eine Un- mit der kunsthistorischen Methode des Bildvergleichs
 terscheidung von Schuldkulturen und Schamkulturen. arbeiten und die in die Tiefe der Bildgeschichte gehen
 Dort werden die westlichen protestantischen Kulturen wie die Kunstgeschichte des Bückens (2021) oder Hirten und
 als Schuldkulturen beschrieben, aber je wichtiger Bil- Könige (2017). Letztere begreift die Darstellungen der Hir-
 der in unserer Kultur werden, desto wichtiger wird das ten an der Krippe als Kunstgeschichte der Armutsdar-
 Schamgefühl. Das sieht man z.B. in der Bedeutung der stellung.
 sozialen Medien. Auch die künstlerische Praxis ist mit
 Scham verbunden – es gibt eine Art naive Vorstellung da- In der Basler Ausstellung gibt es verschiedene Werke
 aus Ihren letzten 15 Schaffensjahren. Es sind Werkkom-
 plexe, die alle zusammenhängen. Sind diese Werkkom-
 Scham ist ein Thema, plexe je abgeschlossen oder entwickeln sie sich weiter?

 welches mit Kunst zu tun hat, Ja, genau, es ist ein Netz von Themen, mit denen ich
 seit 20 Jahren beschäftigt bin. Ein neueres Thema im
 weil es um Urteilen und Kontext meiner Beschäftigung mit Scham zum Beispiel
 sind die Schamstrafen (2022–2023, in situ Wandarbeit
 um Sehen geht. im Kunstmuseum Basel | Gegenwart). Schamstrafen
 oder Schandstrafen bedeutet Strafe durch Zur-Schau-
 Stellung. Diese Schandstrafen sind ja eigentlich grau-
 von, dass Kunst mit Freiheit zu tun hat. Das Nachdenken same Ausstellungstechniken. Die Kreuzigung gehört bei-
 über Scham hilft, dieses Bild zu verkomplizieren und zu spielsweise dazu – das heisst, dass ein Schlüsselbild der
 sagen: Wir bewegen uns immer im Horizont der Kultur, westlichen Kunstgeschichte eine Scham- oder Schand-
 es ist ein Horizont der Konventionen und ein Horizont, strafe darstellt. An diesen Schamstrafen sieht man, dass
 der mit Betrachtetwerden und mit Anerkennung zu tun Sichtbarmachung bzw. Sichtbarkeit als Strafe verwendet
 hat. Das Nachdenken über Scham hat mich dann zum wird. Das bricht mit der Vorstellung, dass Sichtbarkeit
 Thema Armut geführt: Armut ist ein Zustand, der in un- unbedingt etwas Positives ist, etwas Erstrebenswertes.
 serer Kultur mit Schamgefühlen bestraft wird. In ande- Ich denke, es geht darum, unsere Normativität von Sicht-
 ren Kulturen und zu anderen Zeiten gibt es ganz andere barkeit zu befragen und zu zeigen, dass das Opake, das
 affektive Reaktionen auf Armut, z.B. Empörung im 19. Verborgene, das Verschleierte, eventuell etwas Wider-
 Jahrhundert. Oder denken Sie an die spirituellen Bewe- ständiges oder Wertvolles sein könnte.
 Porträt der Künstlerin Andrea Büttner in ihrem Atelier in Berlin.

 Artinside | 18 | Frühjahr 2023 Artinside | 19 | Frühjahr 2023
Kunstmuseum Basel
 Andrea Büttner. Der Kern der Verhältnisse

 Kunstmuseum Basel | Hauptbau

 Born in Ukraine
Das Kunstmuseum Basel hat drei Häuser und eine Bei den alten Meister könnte man mit den Broten auch
Sammlung, die sieben Jahrhunderte abdeckt und damit die Verbindung zur christlichen Ikonografie machen.
solche Vergleiche zwischen den Zeiten zulässt. Ihre Wäre das für Sie ein Problem, wenn diese Verbindung
Ausstellung wird sich auch auf Neubau und Hauptbau hergestellt wird?
ausweiten. Was wird uns da erwarten? Nein. Die Brote sind eine Primärform, sie sind wie Kie- Die Kyjiwer Gemäldegalerie zu Gast
 Im Hauptbau werden zwischen den alten Meistern in sel oder Münzen. Sie sind auch nur Kunst und bleiben
der Sammlung Arbeiten von mir platziert, die alle aus Bilder. Der Kontext bei den alten Meistern ist interessant.
einer Werkserie kommen. Es handelt sich dabei um Hin- Die Brote haben ja auch mit dem Bettlerthema zu tun, das Bis 02.07.2023
terglas-Bilder, die mit gefundenen und ausgeschnittenen mich in anderen Arbeiten beschäftigt. Eine davon wird in
Prospektbildern arbeiten. Und zwar sind das alles ausge-
schnittene Bilder von Broten.
 der Passage zum Neubau gezeigt.

 Gibt es einen Werkkomplex, den Sie als zentral für Ihr
 D as Kunstmuseum Basel präsentiert in der Ausstellung Born in
 Ukraine Werke von 31 ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern
 aus der Kyjiwer Gemäldegalerie, dem nationalen ukrainischen Kunst-
Aus einem bestimmten Grund diese Werkserie? Schaffen oder die Ausstellung im Kunstmuseum Basel museum. Die 49 Gemälde aus dem 18. bis 20. Jahrhundert erhalten so
 Das ist eine kuratorische Entscheidung, aber für mich bezeichnen würden? Oder ist alles zusammen als ein zusammen mit anderen Werken aus Kyjiw ein temporäres Zuhause
macht es Sinn und ich bin gespannt, es zu sehen. Ich grosses Werk zu sehen? in der Schweiz. Eine weitere Ausstellung findet zeitgleich im Musée
habe die Serie in den Nullerjahren angefangen. Plötz- Zentral ist sicher What’s so terrible about craft?/ Die Pro- Rath in Genf statt.
lich wurde über Brote gesprochen – über Sauerteigbrot dukte der menschlichen Hand. Es handelt sich dabei um eine
usw. Es ist dieser Diskurs, der mich interessiert, der eine Videoinstallation, in der die handwerkliche Produktion Im Frühling 2022 hatten sich Vertreter:innen der Kyjiwer Gemäl-
Art visueller und geschmacklicher «Jargon der Eigent- im Zentrum steht und die sich mit Tendenzen der Gegen- degalerie an das Kunstmuseum Basel gewandt. Da sie vor Ort nicht
lichkeit» ist. Auch andere Arbeiten wie What’s so terri- moderne in der zeitgenössischen Kunst kritisch auseinan- über hinreichende Schutzräume für ihre Sammlungswerke verfügen,
ble about craft?/ Die Produkte der menschlichen Hand (2019) dersetzt. Die also mit der Vorstellung bricht, dass, wenn waren sie auf der Suche nach Museen im Ausland, die Teile der hoch-
oder die Auseinandersetzungen mit der Spargelernte in man webt, gärtnert, töpfert, das in sich politisch wertvoll karätigen Sammlung für eine befristete Zeit aufnehmen würden. Da-
 Quasi Tutto I (José beim Entsorgen einer Garage), 2023
Deutschland sind mit diesen Werken verbunden. In die- ist. Zentral sind auch meine Holzschnitte, die mich auf bei war der Wunsch, die Werke nicht einfach nur ausser Landes und
sen Arbeiten geht es mir darum, die Fetischisierung von diese Fragen stossen. Es wird auch eine Arbeit zu Kants in Sicherheit zu bringen, sondern diese auch auszustellen.
Handarbeit zu befragen. So bin ich auch zu den Broten Kritik der Urteilskraft zu sehen sein, die die Urteilskraft Kunstmuseum Basel | Gegenwart

 Gina Folly. Autofokus
gekommen. Es ist zudem eine Auseinandersetzung und bebildert. Ich denke dieser Zusammenhang von Bild und Mit der gemeinsam mit dem Kunstmuseum Basel konzipierten
Kritik der Antimoderne – dass man denkt, in vielen Din- Philosophie, von Bild und Kritik, ist zentral. Grundsätz- Ausstellung Born in Ukraine im Hauptbau wird Kunst aus der Ukraine
gen in der Kunst wie im Weben oder Brotbacken sei etwas lich ist die Ausstellung aber ein Geflecht von Arbeiten, nun einem breiteren Publikum bekannt gemacht: Sie eröffnet den Be-
Kritisches drin. Eigentlich ist dies nicht der Fall, sondern die Konstellationen erzeugen. Das Element dieser Kon- Manor Kunstpreis 2023
es gibt im Gegenteil etwas Reaktionäres daran, was ich stellationen und der Zusammenhänge ist mir wichtig. ◀
herausstellen möchte.
 Das Interview führte Karen N. Gerig, 06.05.2023 – 01.10.2023
 Leiterin Kommunikation, Kunstmuseum Basel

 G ina Folly (*1983) hat den Manor Kunstpreis Basel 2023 gewonnen.
 Die Künstlerin, die in Basel und Paris lebt, beschäftigt sich in
 ihrem Werk mit Fotografie, wobei sie das Medium durch ihre Wahl
 neuer Formate, Materialien und Präsentationsformen erweitert. Der
 fotografische Blick dient ihr als Ausgangspunkt, mittels dessen sie
 Umfelder und Erlebnisse analysiert und reflektiert. Ihre vielschich-
 tigen Bilder, Skulpturen und Installationen thematisieren Emoti-
 onen und Beziehungen von Menschen in ihrem Alltag. Dabei handeln
 ihre Arbeiten von Situationen, Orten und Objekten, anhand derer die
 Künstlerin unsere alltäglichen Vorstellungen von Durchlässigkeit
 und Abgrenzung, Natürlichkeit und Künstlichkeit oder von privatem
 und öffentlichem Raum befragt. Meist rücken das Unbedachte und
 Unscheinbare in den Fokus der Aufmerksamkeit.
 Ausstellungsansicht «Born in Ukraine», 2022, Lev Lagorio, Seelandschaft, 1886

 Für ihre Ausstellung Autofokus im Kunstmuseum Basel | Gegenwart
 erarbeitet Folly zwei neue fotografische Werkserien zu den Themen sucher:innen einen Blick auf das Erbe einer europäischen Kultur, von
 «Gebrauchtwerden» und «in Gebrauch sein». Die Arbeiten verhan- der wir bislang wenig Kenntnis haben. Die Ausstellung ist zugleich
 deln soziale und ökonomische Beziehungssysteme sowie Möglich- eine Einladung an die zahlreichen ukrainischen Geflüchteten in der
 keiten eines intergenerativen Transfers von Taten und Wissen. Folly Schweiz.
 arbeitet dafür mit den Mitgliedern des Vereins Quasi Tutto zusam-
 men, einem nach eigener Aussage «kleinen Dienstleistungsbetrieb Das Projekt Born in Ukraine trägt der besonderen Geschichte der
 von vorwiegend pensionierten Frauen und Männern», die auf ihrer Kyjiwer Gemäldegalerie Rechnung, die – als die Ukraine Teil der So-
 Plattform Dienstleistungen aller Art anbieten – von Gartenpflege, wjetunion war – als Kyjiwer Museum für Russische Kunst bekannt
 Entsorgungen, Installationen von TV und Internet bis zu Reparaturen war. Seit 2014 engagiert sich das Museum für eine kritische Lektüre
 alter Geräte. Sie porträtiert die Vereinsmitglieder und gibt damit ei- und Erforschung der eigenen Sammlung, die den Topos einer ver-
 ner Randgruppe unseres Sozialsystems eine Bühne und beleuchtet meintlich homogenen russischen Kunst infrage stellt. In diesem Jahr
 die Frage nach dem Verhältnis von individuellem Nutzen und gesell- hat der russische Krieg gegen die Ukraine dem Vorhaben neue und
 schaftlicher Nützlichkeit. ◀ existenzielle Aktualität verliehen. ◀
 Andrea Büttner, Vogelpredigt (sermon to the birds), 2010

 Artinside | 20 | Frühjahr 2023 Artinside | 21 | Frühjahr 2023
Museum Tinguely

 La roue = c'est tout
 Neue Sammlungspräsentation
 08.02.2023 – Frühjahr 2025

 D
 ie unter dem Titel La roue = c’est tout inspirierten Werke und die Fasnacht werden
 neu eingerichtete Sammlungs- in einem stimmungsvollen Raum inszeniert
 präsentation erstreckt sich erstmals und ergänzen den Mengele-Totentanz, der seit
 seit über 20 Jahren wieder über die gesamte einigen Jahren einen neu eingebauten, ka-
 Fläche der grossen Halle im Erdgeschoss. pellenartigen Raum einnimmt. Eine 1000 m2
 Auf 1500 m2 ist ein abwechslungsreicher grosse Halle mit Grossskulpturen und
 Parcours durch das gesamte Schaffen von Musikmaschinen schliesst die neue Samm-
 Jean Tinguely eingerichtet. lungspräsentation ab. Hier finden ab jetzt die
 Veranstaltungen des Museums inmitten der
 Seine Karriere beginnt Mitte der 1950er- grossen Tinguely-Räderwerke statt.
 Jahre mit einem eigentlichen Schaffens-
 rausch, in dem er radikal, spielerisch und Besondere Erwähnung verdient der Neu-
 mit Humor die Kunst seiner Zeit neu erfin- ankauf von Éloge de la folie von 1966. Es ist
 det. Dieses filigrane und explosive Frühwerk eines der Hauptwerke Tinguelys der 1960er-
 ist in einer klassischen Raumsituation prä- Jahre. Entstanden ist es für das gleichnamige
 sentiert. Eine Ausstellung in der Ausstellung Ballettstück von Roland Petit: Ein flaches
 ist weiterhin den herausragenden Projekten Räderwerk mit dem Charakter eines scheren-
 gewidmet, in denen er mit anderen Künstle- schnittartigen Vorhangs im Hintergrund der
 rinnen und Künstlern zusammenarbeitet. Sie Bühne. Es ist eine grossartige Erweiterung
 haben oft Gattungsgrenzen gesprengt und unserer stetig wachsenden Sammlung und
 fanden auf der Strasse, auf der Bühne oder setzt einen wichtigen Akzent in der Neu-
 sogar in der Wüste statt. Das düstere und präsentation unserer Sammlung. ◀
 oft sakrale Spätwerk, seine vom Automobil

Jean Tinguely: Fatamorgana, Méta-Harmonie IV (Detail), 1985 Jean Tinguely, Éloge de la Folie, 1966

 Artinside | 22 | Frühjahr 2023 Artinside | 23 | Frühjahr 2023
Museum Tinguely

 À bruit secret
 Das Hören in der Kunst
 22.02.2023 – 14.05.2023

 D
 ie vierte von fünf Themenausstellungen, die sich auf ex-
 perimentelle Art und Weise in die Welt der mensch-
 lichen Sinne begibt, rückt unseren Hörsinn ins Zen-
 trum. Die Schau bietet eine Vielfalt von kunsthistorischen,
 immersiven sowie interaktiven Begegnungen mit uns bekannten
 und unbekannten Klangwelten dieser Erde. Sowohl historische
 als auch speziell für dieses Projekt realisierte Werke von rund 25
 internationalen Kunstschaffenden animieren das Publikum zum
 genauen Hinhören und eröffnen mitunter akustische Bereiche,
 die für das menschliche Ohr normalerweise verborgen bleiben.
 Wie hört sich die Klanglandschaft des Rheins in Basel an, oder wie
 klingt es unter der Wasseroberfläche des Ozeans? Lassen sich Stadt-
 lärm oder tierische und menschliche Stimmen als bildnerisch-skulp-
 turales Material verwenden? Wie verändern sich die Geräusche des
 Urwalds durch die Einflüsse des Menschen und den Klimawandel?
 Können Schallwellen auch anders als über die Ohren wahrgenommen
 werden und wie lassen sich akustische Phänomene visuell darstellen?

 Gezeigt werden Kunstwerke in verschiedenen Medien von der Zeit
 des Barocks bis zur Gegenwart. Die akustische Welt besteht aus einer
 Vielfalt an Klängen, die den Menschen wie eine universale «Kompo-
 sition» umgibt. Hörerlebnisse rufen subjektiv und sozio-kulturell
 stark unterschiedlich geprägte Emotionen, Erinnerungen und Asso-
 ziationen hervor, die geschichtlichen Wandlungen unterliegen. Spä-
 testens seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird die von Maschine und
 Technik bestimmte akustische Landschaft immer vorherrschender
 und dringt fast überall auf dieser Welt in den ursprünglichen Sound
 der Natur ein. Der Klangforscher Raymond Murray Schafer forderte
 eine Sensibilisierung unseres Hörsinns und legte wichtige Grundla-
 gen für die sogenannte Ökoakustik, das Festhalten und Erforschen
 Jorinde Voigt, Red Rhythm (7), 2022
Ursula Biemann, Acoustic Ocean, 2018

 Artinside | 24 | Frühjahr 2023 Artinside | 25 | Frühjahr 2023
Museum Tinguely
 À bruit secret. Das Hören in der Kunst

 Marcus Maeder. Für uns normalerweise nicht hörbare Phänomene Museum Tinguely

 Roger Ballen. Call of the Void
 im Amazonasregenwald macht er mit Spezialmikrofonen akustisch
 erfahrbar. Ursula Biemanns Video Acoustic Ocean (2018) verweist auf
 vielschichtige thematische Ebenen rund um die Klangkulisse des
 Meeres, seine geheimnisvollen Sounds und die von ihm abhängigen
 Lebewesen. (Danse macabre No. VII)

 In Rolf Julius’ partizipativer Arbeit Musik für die Augen (1982/Aus-
 stellungskopie von 2023) wird klar, dass man nicht nur mit den Ohren
 hören, sondern auch mit den Augen Vibrationen der unsichtbaren 19.04.2023 – 29.10.2023
 Schallwellen erspüren kann. Abstrakte Kompositionen aus Formen
 und Farben haben die Kraft, akustische und sogar synästhetische
 Bildwelten alleine durch die Imagination heraufzubeschwören.
 Beispiel dafür sind die farbgewaltigen Papierreliefs aus der neuen
 Rhythm-Serie von Jorinde Voigt. Mit der Materialisierung der vibrie-
 renden Sounds des Mikro- und Makrokosmos, die oft ausserhalb der
 menschlichen Hörfähigkeit liegen, beschäftigt sich Dominique Koch.
 M eine Ausstellung, der ich bewusst den Titel Call of the Void (Ruf
 der Leere) gegeben habe, ist ein Versuch, sich mit den meiner
 Meinung nach zentralen Fragen der menschlichen Existenz ausein-
 der Erde, und Ratten werden zu Unrecht mit Schmutz, Krankheit und
 Dunkelheit in Verbindung gebracht. Jede Tierart bringt ihre eigene
 Mythologie mit sich, und wenn man diese in eine Fotografie einflies-
 Im Rahmen eines experimentellen Prozesses des Gemeinschaftspro- anderzusetzen: Woher kommen wir? Weshalb sind wir hier? Und wo- sen lässt, bietet sie unbegrenzte Möglichkeiten, tiefere Bedeutungen
 jekts mit dem Musiker Tobias Koch www.terratones.fm entstanden hin gehen wir, wenn wir sterben? Ich habe zwar keineswegs den An- zu schaffen, die für die menschliche Existenz von Bedeutung sind.
 ihre Sound Fossils (2022), in denen sie den durch Schallwellen er- spruch, mit Antworten oder auch nur Fragen auf diese tiefgreifenden
 zeugten Luftdruck beim Abspielen von Tonaufnahmen kanalisierte und schwierigen Themen dienen zu können. Ich hoffe aber, dass mei- Das Zentrum der Ausstellung wird von einer Konstruktion mit ei-
 und zum Blasen der Glasobjekte einsetzte. Die Künstlerin versteht sie ne Ausstellung die Wahrnehmung des Betrachtenden herausfordern ner geheimnisvollen Tür beherrscht. Wenn man diesen Raum betritt,
James Webb, There’s No Place Called Home, 2023
 als «Mutationen des Klangs, die als erstarrtes Glas die Zeit überdau- und somit einen Prozess der Selbsterkundung in Gang setzen wird, werden die zweidimensionalen Fotografien zu einer dreidimensio-
 ern». ◀ der mit einer Hinterfragung des Selbstverständnisses verbunden ist. nalen Welt erweitert. Die abgenutzten, brüchigen und rohen Wände
der sonoren Veränderungen unserer Ökosysteme durch Umwelt- des Innenraums offenbaren ein Theater des «Ballenesken», in dem
einflüsse und menschliche Eingriffe. À bruit secret inspiriert sich an Annja Müller-Alsbach ist Kuratorin der Wenn man sich dem Unterstand in der Mitte des Ausstellungs- die menschlichen Figuren Absurdität, Komödie und Tragödie dar-
diesem Aufruf, die Vielfalt an Geräuschen differenzierter wahrzu- Ausstellung «À bruit secret. Das Hören in der Kunst» raums nähert, ist man von Schwarz-Weiss-Fotografien umgeben, die stellen. Ist man erst einmal eingetreten, wird man mit äusserst ein-
nehmen. Anhand von Kunstwerken taucht das Publikum in verschie- ich meinen Foto-Serien Asylum of the Birds (Asyl der Vögel) und Roger's drucksvollen Abbildungen, Klängen und Objekten konfrontiert, die
dene Klanglandschaften ein. Dabei trifft es auf Arbeiten, in denen das Rats (Rogers Ratten) entnommen habe. Einfach ausgedrückt, haben den Betrachtenden zwingen, sich seiner eigenen Leere zu stellen. ◀
Element Wasser, die von Pflanzen und Tieren belebte Natur, Sprache Ratten und Vögel im Laufe der Menschheitsgeschichte Gut und Böse,
als Grundlage von Kommunikation sowie der dissonante Lärm von Dunkelheit und Licht symbolisiert. Vögel verbinden den Himmel mit Roger Ballen
grossen Metropolen eine Rolle spielen.

 Neben dem titelgebenden Readymade À bruit secret (With Hidden Der 1950 in den USA geborene, in Johannesburg
Noise, 1916/1964) von Marcel Duchamp werden auch weitere histo- (Südafrika) lebende Roger Ballen ist einer der wich-
rische Werke der frühen Avantgarden des 20. Jahrhunderts sowie tigsten Fotografen seiner Generation. Er hat internatio-
Positionen der 1950er bis 1970er-Jahre gezeigt. In jener Zeit erklären nal über 25 Bücher veröffentlicht, seine Fotografien sind
Kunstschaffende sämtliche Geräusche unseres Alltags, den Lärm von in den Sammlungen der bedeutendsten Museen der
Maschinen, aber auch die Stille zum künstlerischen Material. Zum er- Welt vertreten. Sein künstlerisches Schaffen, das sich
sten Mal in der Schweiz überhaupt wird Robert Rauschenbergs Oracle über fünf Jahrzehnte erstreckt, begann im Bereich der
(1962–1965) im Museum Tinguely präsentiert: Eine 5-teilige Assem- Dokumentarfotografie, entwickelte sich jedoch zu einer
blage aus diversen Fundobjekten, aus denen kakofonische Radioge- unverwechselbaren fiktionalen Welt, die auch die Me-
räusche erklingen und in der sogar Wasser fliesst. dien Film, Installation, Theater, Skulptur, Malerei und
 Zeichnung umfasst. Ballen beschreibt seine Werke als
 Schon zu Beginn der Schau nimmt uns die neue Arbeit Il reno (2023) «existenzielle Psychodramen», die das Unterbewusst-
von Christina Kubisch mit in eine faszinierende Geräuschwelt: Hun- sein ansprechen und die Schattenseiten der mensch-
derte Meter von blauem Kupferkabel bilden in der Passerelle la Barca lichen Existenz aufzeigen. Sie zielen darauf ab, die ver-
minimalistische Klangfenster mit Blick auf den Rhein und die Stadt drängten Gedanken und Gefühle an die Oberfläche zu
Basel. Über spezielle von Kubisch entwickelte Induktionskopfhörer bringen, indem sie den Betrachtenden mit Themen wie
erklingt beim Entlanggehen und Lauschen an den Elektrokabeln Chaos und Ordnung, Wahnsinn oder unkontrollierte Zu-
eine Komposition der Unterwassergeräusche des Rheins. Vor dem stände des Seins, die Beziehung des Menschen zur Tier-
Museum trifft man auf die künstlerische Intervention There’s No Place welt, Leben und Tod, universelle Archetypen der Psyche
Called Home (Solitude Park, 2023) von James Webb. Der südafrikanische und Erfahrungen des Andersseins konfrontieren. Mit
Künstler überträgt dafür Tonaufnahmen ortsfremder Vogelstimmen seiner einzigartigen, komplexen Bildsprache und seinen
aus Lautsprechern, die in Bäumen des Parks versteckt sind. Webb universellen und tiefgründigen Themen hat der Künst-
schleicht sich so mit den exotischen Rufen eines Paars von nicht hei- ler einen nachhaltigen Beitrag zur Kunst geschaffen.
mischen Vögeln in eine bestehende Klanglandschaft ein.

 Einige der gezeigten zeitgenössischen Positionen basieren auf Die Ausstellung im Museum Tinguely wird von
wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen, wie etwa die Andres Pardey kuratiert, in enger Zusammenarbeit mit
begehbare Arbeit Espírito da floresta/Forest spirit (2017–2020) von dem Künstler und seiner Assistentin Marguerite Rossouw.
 Dominique Koch (In Zusammenarbeit mit Tobias Koch), Sound Fossils, 2022 Roger Ballen, Mouth to Mouth, 2013

 Artinside | 26 | Frühjahr 2023 Artinside | 27 | Frühjahr 2023
Raum bewegen, sich nahe eines Lautsprechers auf eine Janet Cardiff und George Bures Miller betonen ihre
 einzelne Stimme konzentrieren oder die Komposition als Faszination für die Selbsttätigkeit der Maschine in Tin-
 Ganzes rezipieren. guelys Werk und bezeichnen ihn als einen ihrer wich-
 tigsten Einflüsse. Mit einem roten Knopf setzt man
 To touch (1993), The Cabinet of Curiousness (2010) oder The Killing Machine (2007) in Bewegung und aktiviert ein
 Experiment in F# Minor (2013) spielen mit dem technischen düstereres Spektakel. Inspiriert von der Kurzgeschichte
 Ansatz, Sound durch Bewegung zu aktivieren. Die Werke In der Strafkolonie (1919) von Franz Kafka beginnen zwei
 sind stumm, bis die Betrachtenden mit ihnen interagie- Roboterarme ihren Totentanz und scheinen ein imagi-
 ren. Die Berührung oder der Schattenwurf ihres Körpers näres Opfer auf einem Zahnarztstuhl mit spitzen Nadeln
 erwecken die Arbeiten zum Leben und setzen Alltagsge- zu malträtieren.
 räusche, Melodien, Musikkompositionen oder flüsternde
 Stimmen frei. Mit raumgreifenden Installationen wie Opera for a Small
 Room (2005) oder Escape Room (2021) können die Besu-
 The Instrument of Troubled Dreams (2018) ermöglicht cher:innen schliesslich gänzlich in von Cardiff & Miller
 das Komponieren eines eigenen Film-Soundtracks. Die kreierte Welten eintreten und der Realität entfliehen.
 72 Tasten des ursprünglichen Mellotrons, eine analoge Sound- und Lichteffekte erwecken den Raum zum Leben,
 Urform des Samplers, wurden von Cardiff und Miller mit regen die Fantasie an und erinnern an längst vergessene
 verschiedenen digitalen Klängen belegt: Vom Regenpras- Träume. ◀
 seln über Gesang und Orgelspiel bis hin zum Hundege-
 Planen Sie
 bell oder Schusswechsel. Kombiniert oder aufeinander- Ihren Besuch
 folgend kann damit eine imaginäre Handlung erzählt
 werden.

 tinguely.ch

 Janet Cardiff & George Bures Miller, Escape Room, 2021

 Museum Tinguely

 Janet Cardiff & George Bures Miller
 Dream Machines
 07.06.2023 – 24.09.2023

D
 as kanadische Künstler:innenpaar Janet Cardiff Cardiff und Miller verwenden verschiedene technische
 & George Bures Miller schafft alle Sinne aktivie- Ansätze, um unterschiedliche Klangerlebnisse zu kreie-
 rende Installationen. Sie entführen in traum- ren. Besonders eindrücklich gelingt dies in ihrer ersten
artige, poetische Welten, die von der Lust des Erzählens grossen musikalischen Installation The Forty Part Motet
und Entdeckens angetrieben sind. Es sind Hommagen (2001). Ausgangspunkt für die Soundinstallation ist eine
an traditionsreiche kulturelle Praktiken wie das Kino, geistliche Vokalkomposition: die Motette Spem in Alium
das Theater, das Hörstück oder das Musizieren. Die Aus- (1570) für acht Chöre zu je fünf Stimmen von Thomas
stellung im Museum Tinguely bietet einen umfassenden Tallis. Vierzig Lautsprecher, in einem Oval angeordnet,
Überblick über ihr Schaffen, von ersten interaktiven stehen für die Chormitglieder und machen den Klang im
Klangarbeiten bis zu neusten, dystopisch-immersiven Raum skulptural erfahrbar. Die Besucher:innen können
Rauminstallationen. ihr Hörerlebnis selbst beeinflussen, indem sie sich im
 Janet Cardiff & George Bures Miller, Experiment in F# Minor, 2013

 Artinside | 28 | Frühjahr 2023 Artinside | 29 | Frühjahr 2023
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