Wayne Thiebaud - Artinside Ausgabe Frühjahr 2023 - Shirley Jaffe im Kunstmuseum Basel À bruit secret. Das Hören in der Kunst im Museum Tinguely
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Artinside Das Museumsmagazin Ausgabe Frühjahr 2023 Fondation Beyeler Wayne Thiebaud Shirley Jaffe im Kunstmuseum Basel À bruit secret. Das Hören in der Kunst im Museum Tinguely
Inhalt Arti 20 Jahr nsid e e 30 32 Ausstellungsansicht «Zwischen Pathos und Pastos – Christopher Lehmpfuhl. Sammlung Würth», 2023 Ausstellungsansicht «Transformers», Museum Frieder Burda, 2023 04 Wayne Thiebaud, Two Paint Cans, 1987 18 12 Andrea Büttner, Erntender, 2021 Jurgen Bey, Tree-trunk bench, 1998 22 31 33 Jean Tinguely bei der Materialsuche, Paris, 1960 Ulrich Rückriem, Ohne Titel, 1987 Joan Miró, Frau vor der Sonne I, 1974 04 Wayne Thiebaud 12 Garden Futures: 14 Shirley Jaffe 22 La roue = c'est tout 30 Christopher Lehmpfuhl Impressum. Artinside – Das Museumsmagazin Fondation Beyeler Designing with Nature Kunstmuseum Basel Neue Sammlungspräsentation Forum Würth Arlesheim Herausgeber: Matthias Geering Die Ausstellung präsentiert Wayne Vitra Design Museum Das Kunstmuseum Basel zeigt die bewe- Museum Tinguely Chefredaktion | Art Direction | Produktion: Sibylle Meier Thiebauds Werk in seinen vielen Welchen Beitrag leisten Gärten zu einer gende Malerei von Shirley Jaffe in einer Erstmals seit der Eröffnung des Museums 31 Ulrich Rückriem Lauftext Meier Geering | Oberwilerstrasse 69 | CH-4054 Basel Aspekten: neben Stillleben auch Porträts nachhaltigeren Zukunft, die für alle grossen Sonderausstellung. wird die Werksammlung des Künstlers Kloster Schönthal info@artinside.ch | www.artinside.ch Korrektorat: Lesley Paganetti, Basel sowie multiperspektivische Städtebilder lebenswert ist? Diesen Fragen geht die wieder in der grossen Halle gezeigt. Druck: Swissprinters AG, Zofingen und Landschaften. Ausstellung anhand von vielfältigen 17 Charmion von Wiegand 32 Transformers Bildbearbeitung: LAC AG Basel | Jean-Jacques Nobs, Nicole Hübner Beispielen aus Design, Alltagskultur und Die Ausstellung zeigt eine zu Unrecht in 24 À bruit secret Museum Frieder Burda 08 Doris Salcedo Landschaftsarchitektur nach. Vergessenheit geratene aussergewöhn- Das Hören in der Kunst Ausgabe Frühjahr 2023 | Erscheint zwei Mal jährlich Die umfangreiche Ausstellung zu Doris liche Künstlerin des 20. Jahrhunderts. Das Museum Tinguely bietet eine Vielfalt 33 Zu Gast in Artinside: Die nächste Ausgabe erscheint im September 2023 Auflage 150 000 Exemplare Salcedo vereint wichtige Werke aus allen von Begegnungen mit bekannten und Joan Miró Schaffensphasen der international renom- 18 Andrea Büttner unbekannten Klangwelten dieser Erde. Zentrum Paul Klee, Bern Ein Teil der Auflage ist am 11. Februar der Basler Zeitung, mierten kolumbianischen Künstlerin. Andrea Büttners Ausstellungen sind der Schweiz am Wochenende (Ausgabe Region Basel), einer raumgreifende «Erzählungen», die sich 27 Roger Ballen. Call of the Void 34 Umfrage zur Nutzung Teilauflage der Badischen Zeitung sowie einer Teilauflage des Südkuriers beigelegt. 11 Picasso – Künstler und Modell: den Besucher:innen Schritt für Schritt von Artinside Letzte Bilder erschliessen. 28 Janet Cardiff & George Bures Jahresabo CH: CHF 17.– Miller. Dream Machines 38 Weitere Ausstellungen Jahresabo EU: € 17.– ISSN 1660-7287 11 Basquiat. The Modena Paintings 21 Gina Folly | Born in Ukraine Artinside | 2 | Frühjahr 2023 Artinside | 3 | Frühjahr 2023
Fondation Beyeler Wayne Thiebaud Bis 21.05.2023 D ie Fondation Beyeler widmet dem aussergewöhnlichen, in Eu- ropa bisher wenig bekannten amerikanischen Maler Wayne Thiebaud (1920–2021) die erste Einzelausstellung im deutsch- sprachigen Raum. In seinen Stillleben visualisiert Thiebaud in betö- renden Pastelltönen die Verheissungen des «American Way of Life». Gleichzeitig demonstrieren seine erstaunlichen Porträts und multi- perspektivischen Stadtansichten und Landschaften die Vielseitig- keit des technisch brillanten Malers. Mit 65 Werken aus öffentlichen Sammlungen sowie privaten Leihgaben präsentiert die Retrospekti- ve die wichtigsten Werkgruppen des Künstlers und lädt dazu ein, sei- ne einzigartige Malweise zu entdecken. Thiebaud reizt die Möglich- keiten malerischen Ausdrucks bis an die Grenzen der gesehenen und imaginierten Welt aus und schafft so eine eigene, zwischen Ironie, Witz, Nostalgie und Melancholie wechselnde, Bildsprache. Thiebauds Kunst wirkt, zumindest auf den ersten Blick, in typisch amerikanischer Weise optimistisch. Verführerisch wird mit den Be- gehrlichkeiten des Publikums gespielt, sei es in Gestalt der Torten in der Auslage oder der Glücksspielautomaten – populäre Motive aus einer Welt des Überflusses. Thiebaud wurde deshalb oft als Pop-Art- Künstler bezeichnet – eine Einordnung, der er sich selbst jedoch stets verweigerte. In Anbetracht seiner eigenen Sichtweise auf die Ästhetik der Massenproduktion und seines Fokus auf die Malerei kann Thie- baud eher als ein Vorläufer der Pop-Art eingestuft werden. Auf den ersten Blick erscheinen seine Bilder geradezu plakativ und selbster- klärend. Bei genauerem Hinsehen jedoch löst sich jedes Motiv in ein weites Spektrum unzähliger Farben und Farbschattierungen auf, die erst in ihrer Summe ein wiedererkennbares Bild ergeben. Im Zentrum der von Ulf Küster kuratierten Ausstellung steht die Bedeutung der Farbe in Thiebauds Werken. Die Ausstellung ist nach Themenräumen gegliedert und präsentiert Thiebauds wichtigste Werkgruppen: seine Stillleben, Figurenbilder, Stadtansichten und Flusslandschaften, denen er sich zeit seines Schaffens gleichermas- sen widmete. Anhand von Öl- und Acrylmalerei und von Arbeiten Wayne Thiebaud, Flood Waters, 2006/2013 Artinside | 4 | Frühjahr 2023 Artinside | 5 | Frühjahr 2023
Fondation Beyeler Fondation Beyeler Wayne Thiebaud Wayne Thiebaud «Kleine Welten, das ist es, was Gemälde sind. Kleine gemalte Welten. Unbeweglich, beständig, kontemplativ und eine Quelle der Schönheit und Freude.» Wayne Thiebaud, 2017 auf Papier wird deutlich, dass für Thiebaud die Grenzen zwischen Gegenständlichkeit und Ungegenständlich- keit fliessend waren. Mittels seiner ausgeklügelten Farb- setzungen unterzog er alle Bildelemente einem Prozess der Abstraktion. Nicht nur für die Stillleben, sondern auch für die multiperspektivischen und teilweise farb- lich überdreht erscheinenden Wasserlandschaften, die Felsformationen und Stadtschluchten – Ausflüge in ein Universum von stürzenden Linien und Farbabgründen. Und die distanziert und kühl wirkenden Figurenbilder strahlen eine unterschwellige, irritierende Melancholie aus, die an das Werk von Edward Hopper denken lässt. Wayne Thiebaud arbeitete zunächst als Schildermaler, Grafikdesigner und Cartoonist, so auch in den Walt Dis- ney Studios, wo er unter anderem lernte, Mickey Mouse zu zeichnen. Nach einem Kunststudium, das er 1953 ab- schloss, unterrichtete er zunächst am Sacramento City College, dann an der University of California in Davis Zeichnung und Malerei. Die Werke Thiebauds sind in bedeutenden ameri- kanischen Museen anzutreffen, vor allem in Kalifor- nien. Thiebaud wurde in Europa bisher nur sehr selten ausgestellt und seine Werke sind kaum in öffentlichen Sammlungen vertreten. Zu sehen waren seine Bilder bislang nur 1972 auf der Documenta 5 in Kassel, 1975 im Wayne Thiebaud, Eating Figures (Quick Snack), 1963 Wallraf-Richartz-Museum in Köln, 1976 in der Arnolfini Gallery in Bristol und 2018 im Voorlinden Museum im niederländischen Wassenaar. Für die Ausstellung ist es gelungen, Hauptwerke aus Thiebauds langjährigem Schaffen zu versammeln. ◀ Charlotte Sarrazin ist Associate Curator an der Fondation Beyeler. Wayne Thiebaud, Pie Rows, 1961 Artinside | 6 | Frühjahr 2023 Artinside | 7 | Frühjahr 2023
Fondation Beyeler Doris Salcedo 21.05.2023 – 17.09.2023 Doris Salcedo, Plegaria Muda, 2008–2010 Artinside | 8 | Frühjahr 2023 Artinside | 9 | Frühjahr 2023
Fondation Beyeler Doris Salcedo Fondation Beyeler PICASSO – Künstler und Modell: Salcedo gelingt es, «Gewalt Letzte Bilder ohne Gewalt darzustellen» 19.02.2023 – 01.05.2023 und Schmerz spürbar zu machen, ohne ihn explizit zu zeigen. I m Rahmen der internationalen Feierlichkeiten rund um das fünf- zigste Todesjahr von Pablo Picasso (1881–1973) präsentiert die Fon- dation Beyeler in einer kleineren Ausstellung eine konzentrierte Aus- wahl von zehn späten Gemälden Picassos, die sich mit dem Bild von Künstler und Modell befassen. Diese ausdrucksstarken Werke, die im letzten Jahrzehnt von Picassos Schaffen entstanden, führen die unbändige kreative Energie und Produktivität des Künstlers am Ende seines Lebens vor Augen. Picasso setzt sich darin mit dem (Selbst-)Bild des Künstlers und dem künstlerischen Schöpfungsakt ebenso auseinander wie mit dem Bild des weiblichen Körpers. Dabei eröffnen sich für Betrachterinnen und Betrachter auch Fragen in Bezug auf die Darstellung der Frau in der Kunst im Kontext der heutigen Zeit. ◀ Doris Salcedo Pablo Picasso, Le peintre et son modèle, 1963, I Fondation Beyeler m Frühling und Sommer 2023 präsentiert die auf der Biennale von Istanbul ihre Arbeitsweise beschrieb. Fondation Beyeler eine umfangreiche Ausstellung mit Werken der international renommierten ko- lumbianischen Künstlerin Doris Salcedo (*1958). Es wird Die Werke erfordern oft jahrelange Vorbereitung, Recher- chen und Ortserkundung und münden in komplexe und minutiös geplante Prozesse der Konzeptualisierung und Basquiat. The Modena Paintings ihre erste Museumsausstellung in der Schweiz sein und Ausführung – Ausdruck ihrer künstlerischen Entschie- 11.06.2023 – 27.08.2023 knüpft an ihre bereits seit Oktober 2022 in der Fondation denheit und unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Beyeler präsentierte Installation Palimpsest (2013–17) an. es ihr gelingt, «Gewalt ohne Gewalt darzustellen» und In ihren Objekten, Skulpturen und grossen ortsspezi- fischen Interventionen setzt sich die in Bogotá geborene Schmerz spürbar zu machen, ohne ihn explizit zu zeigen. Die Ausstellung in der Fondation Beyeler präsentiert I m Sommer 1982 reist der New Yorker Künstler Jean-Michel Basqui- at (1960–1988) für eine seiner ersten Einzelausstellungen in Europa ins italienische Modena. Blanke Leinwände und Farben stehen bereit, Bildhauerin mit den Erfahrungen und Auswirkungen insgesamt acht Werkreihen mit insgesamt rund 100 um neue Werke zu schaffen. Innerhalb weniger Tage entsteht eine gewaltsamer Konflikte in ihrer Heimat Kolumbien, Einzelwerken. In den verwendeten Materialien spiegelt Gruppe grossformatiger Gemälde, die sein bisheriges Schaffen nicht aber auch in den USA oder Europa auseinander. Häufig sich die Vielseitigkeit ihrer Kunst: Die Arbeiten umfas- nur hinsichtlich ihres Massstabs übertreffen. Jeweils mindestens sind ihre Werke Reflexionen über Verlust, individuellen sen so unterschiedliche Medien wie Stein und Zement, vier mal zwei Meter messend, sprechen ihre übergrossen Figuren aus Schmerz und kollektive Trauer sowie die gesellschaftliche Holzmöbel, Seide, Gras, Wasser, Blütenblätter, Nadeln, Sprayfarbe und kryptische Ölstift-Kritzeleien vor abstrakten Farb- Bewältigung dieser Herausforderungen. Obwohl ihre Kleidungsstücke oder Haare. Neben Palimpsest wer- flächen eine für die damalige Zeit völlig neue Bildsprache, die sich Arbeiten häufig konkrete Ereignisse als Entstehungs- den Werke aus den Serien Untitled (1989–93), Atrabilia- ebenso an kunsthistorischen Vorläufern wie dem zeitgenössischen hintergrund haben, gewinnen sie eine universale Gültig- rios (1992–2003), Unland (1995–98), Untitled (1989–2007), Graffiti orientiert. keit und Wirksamkeit: Im Zentrum ihrer künstlerischen Plegaria Muda (2008–10), A Flor de Piel (2011–12) und Praxis stehen kulturübergreifende Empfindungen wie Disremembered (2014-15, 2020/21) zu sehen sein. Doch die Ausstellungsidee wird vor der Eröffnung aufgegeben, Empathie, Trauer oder Entfremdung und der Umgang Jean-Michel Basquiat, The Guilt of Gold Teeth, 1982 die Gemälde nie zusammen gezeigt. Mehr als vierzig Jahre später mit dem ewigen Kreislauf von Vergessen und Erinnern. Herausragende Werke aus namhaften internationalen bringt die Fondation Beyeler die mittlerweile in US-amerikanischen, Museen werden um selten gezeigte Arbeiten aus bedeu- asiatischen und Schweizer Sammlungen befindlichen Meisterwerke Statt plakativer Darstellungen sucht Salcedo mit ihren tenden Privatsammlungen ergänzt. Die Ausstellung ent- erstmalig zusammen. ◀ Planen Sie künstlerischen Mitteln nach den gemeinsamen Nennern steht in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin und Ihren Besuch im Empfinden der Betrachtenden. «Was ich aus [meinen] ihrer Galerie White Cube in London. Arbeiten herauszuholen versuche, ist das Element, das uns allen gemeinsam ist. [...] Ich erzähle also nicht eine Dr. Fiona Hesse ist Associate Curator bestimmte Geschichte. Ich spreche nur Erfahrungen an», an der Fondation Beyeler. wie sie 2003 anlässlich der Präsentation ihrer Installation fondationbeyeler/besuch.ch Artinside | 10 | Frühjahr 2023 Artinside | 11 | Frühjahr 2023
Vitra Design Museum Garden Futures: Designing with Nature Auf das grosse Panorama folgt eine eingehende Betrachtung ausge- wählter politischer und sozialer Konzepte der Gartenkunst und des Gartenbaus. Selbst der privateste Garten ist mehr als ein persönlicher Rückzugsort; er trägt immer auch die Spuren historischer Entwick- lungen und kultureller Wertesysteme in sich. Als Beispiel für eines der zahlreichen städtebaulichen Konzepte, die Stadt und Garten in Einklang bringen wollen, betrachtet die Aus- stellung das Konzept der Gartenstadt, das im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelt wurde. Hingegen verdeutlicht die 1973 von Liz Christy initiierte Green-Guerilla-Bewegung in New York, wie AktivistInnen seit vielen Jahrzehnten versuchen, den Garten als ei- nen Raum für soziale Gerechtigkeit und der öffentlichen Beteiligung neu zu definieren. Wer Anspruch auf einen Garten hat, wozu ein Garten dient und wie er in ein urbanes Umfeld integriert werden kann, sind Fragen, über die auch aktuell viel debattiert wird. Die Ausstellung stellt wegweisende zeitgenössische Gartenpro- jekte vor. Ihre MacherInnen befassen sich mit Themen, die von der botanischen Erforschung bis hin zum Garten als multisensorisches Derek Jarman, Garten des Prospect Cottage in Dungeness, Kent, Grossbritannien, seit 1986 Kunstwerk, von der Kritik an der ästhetischen Einstellung zur Natur bis hin zur Wiederverwendung stillgelegter Industriestand- orte reichen, doch haben sie alle das gleiche Ziel: die Schaffung lebensfähiger, symbiotischer Beziehungen zwischen Mensch und Natur. Im 20. Jahrhundert erlangte beispielsweise der brasilianische Landschaftsarchitekt Roberto Burle Marx für seine naturnahe Gestal- tung von Gärten internationale Anerkennung, während die Pflan- Julien de Cerval, Die Gärten von Marqueyssac, Vézac, Frankreich zenkompositionen des zeitgenössischen niederländischen Garten- architekten Piet Oudolf nicht nur zur Blüte, sondern das ganze Jahr Vitra Design Museum hindurch ansprechend wirken. Der weitläufige Liao-Garten des chinesischen Künstlers Zheng Garden Futures Guogu lehnt sich an die Ästhetik des Videospiels «Age of Empires» an und schlägt so eine Brücke zwischen virtueller und tatsächlicher Umgebung. Ein in Kuala Lumpur angelegter Gemeinschaftsgarten steht für Bottom-up-Initiativen im urbanen Kontext. Kurze Texte und Designing with Nature Gedichte der Schriftstellerin Jamaica Kincaid zeigen, wie der eigene Garten und die Gartenarbeit zu einer Quelle der Inspiration werden können. Die Ausstellung zeigt eine Vielzahl aussergewöhnlicher Gärten 25.03.2023 – 03.10.2023 und stellt LandschaftsarchitektInnen und KünstlerInnen vor, die den G Garten als einen Ort verstehen, in dem soziale und ökologische Ge- ärten sind Spiegel von Identitäten, Träumen und Visionen; bis hin zu Gärten von GestalterInnen und KünstlerInnen wie Roberto rechtigkeit ermöglicht werden kann. Das italienische Designduo For- sie haben tiefe kulturelle Wurzeln. Seit einigen Jahren sind Burle Marx, Mien Ruys oder Derek Jarman. mafantasma, bekannt für seine interdisziplinäre Herangehensweise, Gärten in aller Munde – nicht nur als romantisches Idyll, gestaltet die Ausstellung. ◀ sondern als Experimentierfelder für Fragen der sozialen Gerechtig- Der Garten war schon immer mehr als nur ein Ort, sondern auch keit, Klimawandel, Biodiversität, also für eine nachhaltige Zukunft. ein Raum, in dem die Hoffnung auf eine bessere Zukunft Gestalt an- Eine Ausstellung des Vitra Design Museums, Gärten sind zu Orten der Avantgarde geworden. Mit Garden Futures nimmt: Dies wird in Gemälden, Zeichnungen und Fotografien aus der Wüstenrot Stiftung und des Nieuwe Instituut. präsentiert das Vitra Design Museum erstmals eine grosse Ausstel- den verschiedensten historischen Epochen und globalen Kontexten lung zur Geschichte und Zukunft des modernen Gartens. Welche deutlich. Wo immer Menschen ein Stück Natur abstecken, um einen Planen Sie Ideen und Vorstellungen haben unser heutiges Gartenideal geprägt? Garten anzulegen, verraten dessen Anordnung und Gestaltung viel Ihren Besuch Welchen Beitrag leisten Gärten zu einer nachhaltigeren Zukunft, die über die Motive und Weltanschauungen der Gesellschaft. Zur Ausstellung erscheint eine für alle lebenswert ist? Diese Fragen untersucht die Ausstellung an- umfangreiche Publikation. hand von vielfältigen Beispielen aus Design, Alltagskultur und Land- Eine Medieninstallation zu Beginn der Ausstellung zeigt dazu be- 256 Seiten, ca. 180 Bilder, schaftsarchitektur – vom Liegestuhl bis zur vertikalen Stadtfarm, eindruckende Beispiele: Der Garten erscheint hier als idealisierter 55.00 € (deutscher Ladenpreis) von zeitgenössischen Community-Gärten über begrünte Gebäude Ort, der sowohl unseren Alltag als auch unsere Fantasie beflügelt. www.design-museum.de/shop design-museum.de Oudolf Garten, Vitra Campus Artinside | 12 | Frühjahr 2023 Artinside | 13 | Frühjahr 2023
M it Shirley Jaffe. Form als Experiment präsen- Steigerung des Gestischen gewannen Pinselstrich und tiert das Kunstmuseum Basel dem Schweizer Palette im Laufe der Jahre an Komplexität. Publikum die erste Retrospektive einer eigen- sinnigen Künstlerin, die dank ihres künstlerischen Mu- Im Centre culturel américain in Paris organisierte tes zum Vorbild für viele jüngere Kolleginnen wurde. In Darthea Speyer 1958 eine Ausstellung von Shirley Jaffe Paris, wo die US-Amerikanerin sich in den 1950er-Jahren zusammen mit Sam Francis und Kimber Smith. Über niederliess, fand sie über die Jahre zu einer ganz eigenen Francis lernte Jaffe den Kurator Arnold Rüdlinger ken- Formsprache. nen, der als Direktor der Kunsthalle Bern (1946–1955) und der Kunsthalle Basel (1955–1967) die Schweizer Kunst- Shirley Jaffe (1923–2016) wurde als Shirley Sternstein landschaft nachhaltig veränderte und modernisierte. in New Jersey geboren und studierte an der Cooper Uni- Rüdlinger zeigte ihre Bilder in mehreren Gruppenaus- on in New York. 1949 zog sie dank der sogenannten G.I. stellungen und erwarb zwei ihrer Werke für die legendäre Bill für US-amerikanische Kriegsveteranen zusammen Privatsammlung La Peau de l’Ours, die 1955 von sieben mit ihrem Ehemann, dem Journalisten Irving Jaffe, nach Kunstfreunden in Basel gegründet wurde. Rüdlinger fun- Paris. Die Ehe hielt nicht, doch Jaffe blieb. Bald verkehrte gierte hier als Konservator. 1964 wurden sämtliche Werke sie mit vielen US-amerikanischen Künstler:innen, die der Sammlung in der Kunsthalle Basel ausgestellt. nach dem Krieg in der französischen Hauptstadt lebten, darunter Al Held, Norman Bluhm, Kimber Smith, In den 1960er-Jahren wandte Jaffe sich von ihren An- Sam Francis, Joan Mitchell und der Kanadier Jean-Paul fängen als abstrakte Expressionistin ab. Der Wandel in Riopelle. Die abstrakt expressionistischen Bilder aus die- ihrem Schaffen begann mit einem Aufenthalt in West- ser Zeit, wie zum Beispiel Arcueil Yellow (1956), erinnern berlin 1963, wo sie dank eines Stipendiums der Ford an geologische Formationen. Einhergehend mit einer Foundation anderthalb Jahre verbrachte, bevor sie nach Shirley Jaffe, Playground, 1995 Shirley Jaffe, Arceuil Yellow, 1956 Kunstmuseum Basel | Neubau Shirley Jaffe Form als Experiment 25.03.2023 – 30.07.2023 Artinside | 14 | Frühjahr 2023 Artinside | 15 | Frühjahr 2023
Kunstmuseum Basel Shirley Jaffe. Form als Experiment Paris zurückkehrte. Sie führte einfache, deutlich erkenn- dieser Periode versucht Jaffe zudem, sich vom recht- bare Formen in ihre Gemälde ein, deren Geometrie sie eckigen Rahmen zu lösen. eine umso kräftiger anmutende Gestik entgegensetzte. Leuchtende Farben unterstreichen die Struktur der Bil- Ihr Werk ab 1983 steht ganz im Zeichen der Farbe der. Weiss, die zunächst die Formen voneinander trennt, um ihnen eine grössere Unabhängigkeit zu verleihen. Ein noch radikalerer Wechsel geschah ab 1968. Sie ver- In dieser Werkphase erkundet die Künstlerin auch, wie zichtete fortan auf jegliche Gestik und nutzte stattdessen das Weiss zur dynamischen Verteilung der Farbflächen eine klare Geometrie und matte Farbtöne. Es entstanden auf dem Gemälde beitragen kann. Die zuvor getrennten Kompositionen aus Farbflächen ohne jegliche Tiefe. Die- Formen können nunmehr in gewagten geometrischen ses Nebeneinanderstellen ging mit der Entscheidung Konstellationen zusammentreffen. Dabei ist das Weiss einher, die Beziehungen zwischen den Farben nicht etwa nicht als Hintergrundfarbe zu verstehen und ändert von durch Intensität, sondern durch die Arbeit mit Nähe und Gemälde zu Gemälde seine Schattierung – es handelt sich Entfernung zu dynamisieren. Ein Beispiel für diese Ent- nie um die gleiche Zusammensetzung der Farbe. Jaffe er- wicklung ist Boulevard Montparnasse von 1968. gänzt ihre Werke durch lange gewundene oder kantige Linien, die durch mehrere Farbfelder verlaufen und so 1969 zog Jaffe in ein kleines Atelier in der Rue Saint- den Eindruck der Überlagerung verstärken. Victor im 5. Arrondissement, in dem sie beinahe bis zu ihrem letzten Atemzug 2016 malte und lebte. Viele Künst- Schliesslich kommen seit 1995 und in besonde- ler:innen besuchten sie dort im Laufe der Jahre, darunter rem Masse seit 2001 Veränderungen in der Farb- Polly Apfelbaum, Beatriz Milhazes und Sarah Morris. Für dichte innerhalb einer Form auf. Das bislang organi- nachfolgende Generationen, die ihr Werk unter anderem siert-dynamische Chaos der Gemälde und die streng in der Galerie Nathalie Obadia in Paris entdeckten, wur- einheitlichen Farbflächen werden durch Pinsel- de sie zum Vorbild und zur Referenz, weil sie es gewagt spuren oder diffuse Farbstrukturen aufgebrochen. ◀ hatte, sich radikal vom abstrakten Expressionismus ab- zuwenden und einen neuen Weg einzuschlagen. Die Ausstellung Shirley Jaffe. Form als Experiment wird vom Kunstmuseum Basel in Zusammenarbeit mit dem Ab den 1970er-Jahren begann Jaffe, ihren persönlichen Centre Pompidou, Paris, und dem Musée Matisse, Nizza, Stil mit markanten Konturen zu entwickeln. Diese Schaf- organisiert. fensperiode ist geprägt von freien Formen, die aus der klassischen Geometrie abgeleitet sind und jeweils eigene Farbflächen bilden. Sofern sich Linien auf einer farbigen Die Ausstellung wird kuratiert von Olga Osadtschy Fläche finden, übertreten sie weder die Ränder der Farbe (Kunstmuseum Basel) und Frédéric Paul (Musée national d’art noch überschneiden sie sich untereinander. Gegen Ende moderne Centre Pompidou) Charmion von Wiegand, Triptych, 1961 Kunstmuseum Basel | Neubau Begleitprogramm Öffentliche Vernissage Charmion von Wiegand Freitag 24.03., 18.30 h 25.03.2023 – 13.08.2023 Kindervernissage: «Wir sind Dreieck, Kreis und Quadrat» D as Kunstmuseum Basel zeigt im Frühjahr 2023 eine monografische Ausstellung der amerikanischen Journalistin, Kunstkritikerin Publikationen einen Namen. Ihr künstlerischer Durchbruch gelang 1945, als sie ein Werk in der visionären Ausstellung The Women in Peg- Wiegand von der Reduktion auf Rot, Gelb, Blau und visualisierte in erweiterten Farbpaletten ihre Auseinandersetzung mit den Schriften von Für Kinder (4−12 Jahre) In Zusammenarbeit mit den Freunden und Malerin Charmion von Wiegand (1896– gy Guggenheims Galerie Art of This Century Helena Petrovna Blavatsky, der Begründerin Katalog des Kunstmuseums Basel 1983). Die Ausstellung spannt den Bogen von zeigte. der Theosophie. Insbesondere faszinierten von Die reich bebilderte Publikation zur Freitag 24.03., 18−20 h ihren Anfängen als US-Korrespondentin im Wiegand deren Ausführungen zu buddhisti- Ausstellung erscheint im Christoph postrevolutionären Moskau der 1930er-Jahre Der Einfluss Piet Mondrians schen Farbkodierungen und Formgeometrie, Merian Verlag und präsentiert eine «Manyness – Musical magnification for bis zu ihrem Spätwerk als Malerin. 1941 nahm Wiegand Kontakt mit dem allen voran dem Mandala. Collage aus Einschätzungen und Shirley Jaffe» Künstler Piet Mondrian auf. Die Begegnung Zeugnissen von Weggefährt:innen Manyness wurzelt in Shirley Jaffes Begeisterung Charmion von Wiegand erlangte Mitte des hatte weitreichende Folgen. Nicht nur führte Spiritualität und Buddhismus Shirley Jaffes, gestützt von neuester für neue Musik in den 1960er-Jahren, als sie für 20. Jahrhunderts Anerkennung als Künstlerin, sie Mondrian in die New Yorker Gesellschaft Ab den 1950er-Jahren wandte sie sich der spi- kunsthistorischer Forschung, die ein Stipendium in Berlin weilte. Manyness ist ein die die Konventionen der geometrischen Abs- ein und verfasste Texte zu seinem Werk. Die rituellen Praxis des tibetischen Buddhismus zu. musikalisches Happening im Kunstmuseum Neu- sich auf bislang nicht publizierte traktion mit Formen und Farben fernöstlicher Auseinandersetzung mit Mondrians Schaf- Als praktizierende Buddhistin entwickelte sie bau, verteilt auf verschiedene Räume und Etagen, Planen Sie Dokumente aus dem Nachlass der Ihren Besuch Bildsymbolik zusammenbrachte. 1915 zog sie fen festigte auch von Wiegands Überzeugung, ein künstlerisches Vokabular, in dem Form und innen und aussen. Gespielt werden Stücke unter Künstlerin stützt. Sie beinhaltet Bei- anderem von Iannis Xenakis und Karlheinz Stock- nach New York und lernte die dortige Szene dass geometrische Abstraktion nicht formal Farbe zum Ausdrucksträger von Spiritualität träge von Svetlana Alpers, Claudine hausen. kennen. Als aktives Mitglied der literarischen sein muss, sondern dass sich damit Inhalt wie- wurden. Von Wiegand entwickelte so die Bild- Grammont, Shirley Jaffe, Robert Freitag 14.04., 12.05. | Samstag, 15.04., 13.05., 13−18 h Zirkel der 1920er-Jahre und als Reporterin im dergeben lässt. Weitere wichtige künstlerische sprache für einen «modernen transkulturellen Kushner, Olga Osadtschy, Frédéric sowjetischen Moskau der 1930er-Jahre machte Referenzen waren in dieser Zeit Wassily Kan- Buddhismus», wie Autorin Haema Sivanesan Paul und Molly Warnock. Mehr: www.kunstmuseumbasel.ch/kalender kunstmuseumbasel.ch/besuch sie sich zunächst als Kritikerin für verschiedene dinsky und Hans Arp. Bald schon löste sich von im Ausstellungskatalog schreibt. ◀ Artinside | 16 | Frühjahr 2023 Artinside | 17 | Frühjahr 2023
Kunstmuseum Basel Andrea Büttner Mit Der Kern der Verhältnisse zeigt das Kunstmuseum Basel eine breit angelegte Ausstellung der deutschen Künstlerin Andrea Büttner (*1972). Knapp 90 Werke aus den letzten fünfzehn Jahren geben Einblick in ihr Schaffen. Es handelt sich um die bisher grösste Schau dieser international ausgezeichneten Künstlerin, deren Werk durch sinnliche Reduktion komplexer Inhalte besticht. 22.04.2023 – 01.10.2023 What is so terrible about craft? / Die Produkte der menschlichen Hand, 2019 Karen N. Gerig: Frau Büttner, Ihre Arbeiten beschäftigen gungen, in denen Armut ein erstrebenswerter Zustand sich mit grossen gesellschaftlichen Themen wie Armut, ist – freiwillige Armut. So bin ich auf das Nachdenken Arbeit, Scham oder Gemeinschaft. Wie ist Ihre Herange- und Arbeiten über Armut gekommen. Auch weil Kunst hensweise? generell so viel mit Repräsentation zu tun hat. Andrea Büttner: Ganz grundsätzlich denke ich, dass Es sind auch Fragen bzw. Themen, die über die Zeiten alle Kunst sich mit grossen Fragen verbindet und zu- hinweg bleiben – auch wenn sie sich in ihrer Prägung gleich mit spezifischen Fragen. Mit Scham beschäftige verändern. ich mich seit den späten 90er-Jahren. Scham ist ein The- Es gibt in meinem Schaffen auch Arbeiten, die dezi- ma, welches mit Kunst zu tun hat, weil es um Urteilen diert kunsthistorisch sind; beispielsweise Diashows, die und um Sehen geht. Es gibt in der Ethnografie eine Un- mit der kunsthistorischen Methode des Bildvergleichs terscheidung von Schuldkulturen und Schamkulturen. arbeiten und die in die Tiefe der Bildgeschichte gehen Dort werden die westlichen protestantischen Kulturen wie die Kunstgeschichte des Bückens (2021) oder Hirten und als Schuldkulturen beschrieben, aber je wichtiger Bil- Könige (2017). Letztere begreift die Darstellungen der Hir- der in unserer Kultur werden, desto wichtiger wird das ten an der Krippe als Kunstgeschichte der Armutsdar- Schamgefühl. Das sieht man z.B. in der Bedeutung der stellung. sozialen Medien. Auch die künstlerische Praxis ist mit Scham verbunden – es gibt eine Art naive Vorstellung da- In der Basler Ausstellung gibt es verschiedene Werke aus Ihren letzten 15 Schaffensjahren. Es sind Werkkom- plexe, die alle zusammenhängen. Sind diese Werkkom- Scham ist ein Thema, plexe je abgeschlossen oder entwickeln sie sich weiter? welches mit Kunst zu tun hat, Ja, genau, es ist ein Netz von Themen, mit denen ich seit 20 Jahren beschäftigt bin. Ein neueres Thema im weil es um Urteilen und Kontext meiner Beschäftigung mit Scham zum Beispiel sind die Schamstrafen (2022–2023, in situ Wandarbeit um Sehen geht. im Kunstmuseum Basel | Gegenwart). Schamstrafen oder Schandstrafen bedeutet Strafe durch Zur-Schau- Stellung. Diese Schandstrafen sind ja eigentlich grau- von, dass Kunst mit Freiheit zu tun hat. Das Nachdenken same Ausstellungstechniken. Die Kreuzigung gehört bei- über Scham hilft, dieses Bild zu verkomplizieren und zu spielsweise dazu – das heisst, dass ein Schlüsselbild der sagen: Wir bewegen uns immer im Horizont der Kultur, westlichen Kunstgeschichte eine Scham- oder Schand- es ist ein Horizont der Konventionen und ein Horizont, strafe darstellt. An diesen Schamstrafen sieht man, dass der mit Betrachtetwerden und mit Anerkennung zu tun Sichtbarmachung bzw. Sichtbarkeit als Strafe verwendet hat. Das Nachdenken über Scham hat mich dann zum wird. Das bricht mit der Vorstellung, dass Sichtbarkeit Thema Armut geführt: Armut ist ein Zustand, der in un- unbedingt etwas Positives ist, etwas Erstrebenswertes. serer Kultur mit Schamgefühlen bestraft wird. In ande- Ich denke, es geht darum, unsere Normativität von Sicht- ren Kulturen und zu anderen Zeiten gibt es ganz andere barkeit zu befragen und zu zeigen, dass das Opake, das affektive Reaktionen auf Armut, z.B. Empörung im 19. Verborgene, das Verschleierte, eventuell etwas Wider- Jahrhundert. Oder denken Sie an die spirituellen Bewe- ständiges oder Wertvolles sein könnte. Porträt der Künstlerin Andrea Büttner in ihrem Atelier in Berlin. Artinside | 18 | Frühjahr 2023 Artinside | 19 | Frühjahr 2023
Kunstmuseum Basel Andrea Büttner. Der Kern der Verhältnisse Kunstmuseum Basel | Hauptbau Born in Ukraine Das Kunstmuseum Basel hat drei Häuser und eine Bei den alten Meister könnte man mit den Broten auch Sammlung, die sieben Jahrhunderte abdeckt und damit die Verbindung zur christlichen Ikonografie machen. solche Vergleiche zwischen den Zeiten zulässt. Ihre Wäre das für Sie ein Problem, wenn diese Verbindung Ausstellung wird sich auch auf Neubau und Hauptbau hergestellt wird? ausweiten. Was wird uns da erwarten? Nein. Die Brote sind eine Primärform, sie sind wie Kie- Die Kyjiwer Gemäldegalerie zu Gast Im Hauptbau werden zwischen den alten Meistern in sel oder Münzen. Sie sind auch nur Kunst und bleiben der Sammlung Arbeiten von mir platziert, die alle aus Bilder. Der Kontext bei den alten Meistern ist interessant. einer Werkserie kommen. Es handelt sich dabei um Hin- Die Brote haben ja auch mit dem Bettlerthema zu tun, das Bis 02.07.2023 terglas-Bilder, die mit gefundenen und ausgeschnittenen mich in anderen Arbeiten beschäftigt. Eine davon wird in Prospektbildern arbeiten. Und zwar sind das alles ausge- schnittene Bilder von Broten. der Passage zum Neubau gezeigt. Gibt es einen Werkkomplex, den Sie als zentral für Ihr D as Kunstmuseum Basel präsentiert in der Ausstellung Born in Ukraine Werke von 31 ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern aus der Kyjiwer Gemäldegalerie, dem nationalen ukrainischen Kunst- Aus einem bestimmten Grund diese Werkserie? Schaffen oder die Ausstellung im Kunstmuseum Basel museum. Die 49 Gemälde aus dem 18. bis 20. Jahrhundert erhalten so Das ist eine kuratorische Entscheidung, aber für mich bezeichnen würden? Oder ist alles zusammen als ein zusammen mit anderen Werken aus Kyjiw ein temporäres Zuhause macht es Sinn und ich bin gespannt, es zu sehen. Ich grosses Werk zu sehen? in der Schweiz. Eine weitere Ausstellung findet zeitgleich im Musée habe die Serie in den Nullerjahren angefangen. Plötz- Zentral ist sicher What’s so terrible about craft?/ Die Pro- Rath in Genf statt. lich wurde über Brote gesprochen – über Sauerteigbrot dukte der menschlichen Hand. Es handelt sich dabei um eine usw. Es ist dieser Diskurs, der mich interessiert, der eine Videoinstallation, in der die handwerkliche Produktion Im Frühling 2022 hatten sich Vertreter:innen der Kyjiwer Gemäl- Art visueller und geschmacklicher «Jargon der Eigent- im Zentrum steht und die sich mit Tendenzen der Gegen- degalerie an das Kunstmuseum Basel gewandt. Da sie vor Ort nicht lichkeit» ist. Auch andere Arbeiten wie What’s so terri- moderne in der zeitgenössischen Kunst kritisch auseinan- über hinreichende Schutzräume für ihre Sammlungswerke verfügen, ble about craft?/ Die Produkte der menschlichen Hand (2019) dersetzt. Die also mit der Vorstellung bricht, dass, wenn waren sie auf der Suche nach Museen im Ausland, die Teile der hoch- oder die Auseinandersetzungen mit der Spargelernte in man webt, gärtnert, töpfert, das in sich politisch wertvoll karätigen Sammlung für eine befristete Zeit aufnehmen würden. Da- Quasi Tutto I (José beim Entsorgen einer Garage), 2023 Deutschland sind mit diesen Werken verbunden. In die- ist. Zentral sind auch meine Holzschnitte, die mich auf bei war der Wunsch, die Werke nicht einfach nur ausser Landes und sen Arbeiten geht es mir darum, die Fetischisierung von diese Fragen stossen. Es wird auch eine Arbeit zu Kants in Sicherheit zu bringen, sondern diese auch auszustellen. Handarbeit zu befragen. So bin ich auch zu den Broten Kritik der Urteilskraft zu sehen sein, die die Urteilskraft Kunstmuseum Basel | Gegenwart Gina Folly. Autofokus gekommen. Es ist zudem eine Auseinandersetzung und bebildert. Ich denke dieser Zusammenhang von Bild und Mit der gemeinsam mit dem Kunstmuseum Basel konzipierten Kritik der Antimoderne – dass man denkt, in vielen Din- Philosophie, von Bild und Kritik, ist zentral. Grundsätz- Ausstellung Born in Ukraine im Hauptbau wird Kunst aus der Ukraine gen in der Kunst wie im Weben oder Brotbacken sei etwas lich ist die Ausstellung aber ein Geflecht von Arbeiten, nun einem breiteren Publikum bekannt gemacht: Sie eröffnet den Be- Kritisches drin. Eigentlich ist dies nicht der Fall, sondern die Konstellationen erzeugen. Das Element dieser Kon- Manor Kunstpreis 2023 es gibt im Gegenteil etwas Reaktionäres daran, was ich stellationen und der Zusammenhänge ist mir wichtig. ◀ herausstellen möchte. Das Interview führte Karen N. Gerig, 06.05.2023 – 01.10.2023 Leiterin Kommunikation, Kunstmuseum Basel G ina Folly (*1983) hat den Manor Kunstpreis Basel 2023 gewonnen. Die Künstlerin, die in Basel und Paris lebt, beschäftigt sich in ihrem Werk mit Fotografie, wobei sie das Medium durch ihre Wahl neuer Formate, Materialien und Präsentationsformen erweitert. Der fotografische Blick dient ihr als Ausgangspunkt, mittels dessen sie Umfelder und Erlebnisse analysiert und reflektiert. Ihre vielschich- tigen Bilder, Skulpturen und Installationen thematisieren Emoti- onen und Beziehungen von Menschen in ihrem Alltag. Dabei handeln ihre Arbeiten von Situationen, Orten und Objekten, anhand derer die Künstlerin unsere alltäglichen Vorstellungen von Durchlässigkeit und Abgrenzung, Natürlichkeit und Künstlichkeit oder von privatem und öffentlichem Raum befragt. Meist rücken das Unbedachte und Unscheinbare in den Fokus der Aufmerksamkeit. Ausstellungsansicht «Born in Ukraine», 2022, Lev Lagorio, Seelandschaft, 1886 Für ihre Ausstellung Autofokus im Kunstmuseum Basel | Gegenwart erarbeitet Folly zwei neue fotografische Werkserien zu den Themen sucher:innen einen Blick auf das Erbe einer europäischen Kultur, von «Gebrauchtwerden» und «in Gebrauch sein». Die Arbeiten verhan- der wir bislang wenig Kenntnis haben. Die Ausstellung ist zugleich deln soziale und ökonomische Beziehungssysteme sowie Möglich- eine Einladung an die zahlreichen ukrainischen Geflüchteten in der keiten eines intergenerativen Transfers von Taten und Wissen. Folly Schweiz. arbeitet dafür mit den Mitgliedern des Vereins Quasi Tutto zusam- men, einem nach eigener Aussage «kleinen Dienstleistungsbetrieb Das Projekt Born in Ukraine trägt der besonderen Geschichte der von vorwiegend pensionierten Frauen und Männern», die auf ihrer Kyjiwer Gemäldegalerie Rechnung, die – als die Ukraine Teil der So- Plattform Dienstleistungen aller Art anbieten – von Gartenpflege, wjetunion war – als Kyjiwer Museum für Russische Kunst bekannt Entsorgungen, Installationen von TV und Internet bis zu Reparaturen war. Seit 2014 engagiert sich das Museum für eine kritische Lektüre alter Geräte. Sie porträtiert die Vereinsmitglieder und gibt damit ei- und Erforschung der eigenen Sammlung, die den Topos einer ver- ner Randgruppe unseres Sozialsystems eine Bühne und beleuchtet meintlich homogenen russischen Kunst infrage stellt. In diesem Jahr die Frage nach dem Verhältnis von individuellem Nutzen und gesell- hat der russische Krieg gegen die Ukraine dem Vorhaben neue und schaftlicher Nützlichkeit. ◀ existenzielle Aktualität verliehen. ◀ Andrea Büttner, Vogelpredigt (sermon to the birds), 2010 Artinside | 20 | Frühjahr 2023 Artinside | 21 | Frühjahr 2023
Museum Tinguely La roue = c'est tout Neue Sammlungspräsentation 08.02.2023 – Frühjahr 2025 D ie unter dem Titel La roue = c’est tout inspirierten Werke und die Fasnacht werden neu eingerichtete Sammlungs- in einem stimmungsvollen Raum inszeniert präsentation erstreckt sich erstmals und ergänzen den Mengele-Totentanz, der seit seit über 20 Jahren wieder über die gesamte einigen Jahren einen neu eingebauten, ka- Fläche der grossen Halle im Erdgeschoss. pellenartigen Raum einnimmt. Eine 1000 m2 Auf 1500 m2 ist ein abwechslungsreicher grosse Halle mit Grossskulpturen und Parcours durch das gesamte Schaffen von Musikmaschinen schliesst die neue Samm- Jean Tinguely eingerichtet. lungspräsentation ab. Hier finden ab jetzt die Veranstaltungen des Museums inmitten der Seine Karriere beginnt Mitte der 1950er- grossen Tinguely-Räderwerke statt. Jahre mit einem eigentlichen Schaffens- rausch, in dem er radikal, spielerisch und Besondere Erwähnung verdient der Neu- mit Humor die Kunst seiner Zeit neu erfin- ankauf von Éloge de la folie von 1966. Es ist det. Dieses filigrane und explosive Frühwerk eines der Hauptwerke Tinguelys der 1960er- ist in einer klassischen Raumsituation prä- Jahre. Entstanden ist es für das gleichnamige sentiert. Eine Ausstellung in der Ausstellung Ballettstück von Roland Petit: Ein flaches ist weiterhin den herausragenden Projekten Räderwerk mit dem Charakter eines scheren- gewidmet, in denen er mit anderen Künstle- schnittartigen Vorhangs im Hintergrund der rinnen und Künstlern zusammenarbeitet. Sie Bühne. Es ist eine grossartige Erweiterung haben oft Gattungsgrenzen gesprengt und unserer stetig wachsenden Sammlung und fanden auf der Strasse, auf der Bühne oder setzt einen wichtigen Akzent in der Neu- sogar in der Wüste statt. Das düstere und präsentation unserer Sammlung. ◀ oft sakrale Spätwerk, seine vom Automobil Jean Tinguely: Fatamorgana, Méta-Harmonie IV (Detail), 1985 Jean Tinguely, Éloge de la Folie, 1966 Artinside | 22 | Frühjahr 2023 Artinside | 23 | Frühjahr 2023
Museum Tinguely À bruit secret Das Hören in der Kunst 22.02.2023 – 14.05.2023 D ie vierte von fünf Themenausstellungen, die sich auf ex- perimentelle Art und Weise in die Welt der mensch- lichen Sinne begibt, rückt unseren Hörsinn ins Zen- trum. Die Schau bietet eine Vielfalt von kunsthistorischen, immersiven sowie interaktiven Begegnungen mit uns bekannten und unbekannten Klangwelten dieser Erde. Sowohl historische als auch speziell für dieses Projekt realisierte Werke von rund 25 internationalen Kunstschaffenden animieren das Publikum zum genauen Hinhören und eröffnen mitunter akustische Bereiche, die für das menschliche Ohr normalerweise verborgen bleiben. Wie hört sich die Klanglandschaft des Rheins in Basel an, oder wie klingt es unter der Wasseroberfläche des Ozeans? Lassen sich Stadt- lärm oder tierische und menschliche Stimmen als bildnerisch-skulp- turales Material verwenden? Wie verändern sich die Geräusche des Urwalds durch die Einflüsse des Menschen und den Klimawandel? Können Schallwellen auch anders als über die Ohren wahrgenommen werden und wie lassen sich akustische Phänomene visuell darstellen? Gezeigt werden Kunstwerke in verschiedenen Medien von der Zeit des Barocks bis zur Gegenwart. Die akustische Welt besteht aus einer Vielfalt an Klängen, die den Menschen wie eine universale «Kompo- sition» umgibt. Hörerlebnisse rufen subjektiv und sozio-kulturell stark unterschiedlich geprägte Emotionen, Erinnerungen und Asso- ziationen hervor, die geschichtlichen Wandlungen unterliegen. Spä- testens seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird die von Maschine und Technik bestimmte akustische Landschaft immer vorherrschender und dringt fast überall auf dieser Welt in den ursprünglichen Sound der Natur ein. Der Klangforscher Raymond Murray Schafer forderte eine Sensibilisierung unseres Hörsinns und legte wichtige Grundla- gen für die sogenannte Ökoakustik, das Festhalten und Erforschen Jorinde Voigt, Red Rhythm (7), 2022 Ursula Biemann, Acoustic Ocean, 2018 Artinside | 24 | Frühjahr 2023 Artinside | 25 | Frühjahr 2023
Museum Tinguely À bruit secret. Das Hören in der Kunst Marcus Maeder. Für uns normalerweise nicht hörbare Phänomene Museum Tinguely Roger Ballen. Call of the Void im Amazonasregenwald macht er mit Spezialmikrofonen akustisch erfahrbar. Ursula Biemanns Video Acoustic Ocean (2018) verweist auf vielschichtige thematische Ebenen rund um die Klangkulisse des Meeres, seine geheimnisvollen Sounds und die von ihm abhängigen Lebewesen. (Danse macabre No. VII) In Rolf Julius’ partizipativer Arbeit Musik für die Augen (1982/Aus- stellungskopie von 2023) wird klar, dass man nicht nur mit den Ohren hören, sondern auch mit den Augen Vibrationen der unsichtbaren 19.04.2023 – 29.10.2023 Schallwellen erspüren kann. Abstrakte Kompositionen aus Formen und Farben haben die Kraft, akustische und sogar synästhetische Bildwelten alleine durch die Imagination heraufzubeschwören. Beispiel dafür sind die farbgewaltigen Papierreliefs aus der neuen Rhythm-Serie von Jorinde Voigt. Mit der Materialisierung der vibrie- renden Sounds des Mikro- und Makrokosmos, die oft ausserhalb der menschlichen Hörfähigkeit liegen, beschäftigt sich Dominique Koch. M eine Ausstellung, der ich bewusst den Titel Call of the Void (Ruf der Leere) gegeben habe, ist ein Versuch, sich mit den meiner Meinung nach zentralen Fragen der menschlichen Existenz ausein- der Erde, und Ratten werden zu Unrecht mit Schmutz, Krankheit und Dunkelheit in Verbindung gebracht. Jede Tierart bringt ihre eigene Mythologie mit sich, und wenn man diese in eine Fotografie einflies- Im Rahmen eines experimentellen Prozesses des Gemeinschaftspro- anderzusetzen: Woher kommen wir? Weshalb sind wir hier? Und wo- sen lässt, bietet sie unbegrenzte Möglichkeiten, tiefere Bedeutungen jekts mit dem Musiker Tobias Koch www.terratones.fm entstanden hin gehen wir, wenn wir sterben? Ich habe zwar keineswegs den An- zu schaffen, die für die menschliche Existenz von Bedeutung sind. ihre Sound Fossils (2022), in denen sie den durch Schallwellen er- spruch, mit Antworten oder auch nur Fragen auf diese tiefgreifenden zeugten Luftdruck beim Abspielen von Tonaufnahmen kanalisierte und schwierigen Themen dienen zu können. Ich hoffe aber, dass mei- Das Zentrum der Ausstellung wird von einer Konstruktion mit ei- und zum Blasen der Glasobjekte einsetzte. Die Künstlerin versteht sie ne Ausstellung die Wahrnehmung des Betrachtenden herausfordern ner geheimnisvollen Tür beherrscht. Wenn man diesen Raum betritt, James Webb, There’s No Place Called Home, 2023 als «Mutationen des Klangs, die als erstarrtes Glas die Zeit überdau- und somit einen Prozess der Selbsterkundung in Gang setzen wird, werden die zweidimensionalen Fotografien zu einer dreidimensio- ern». ◀ der mit einer Hinterfragung des Selbstverständnisses verbunden ist. nalen Welt erweitert. Die abgenutzten, brüchigen und rohen Wände der sonoren Veränderungen unserer Ökosysteme durch Umwelt- des Innenraums offenbaren ein Theater des «Ballenesken», in dem einflüsse und menschliche Eingriffe. À bruit secret inspiriert sich an Annja Müller-Alsbach ist Kuratorin der Wenn man sich dem Unterstand in der Mitte des Ausstellungs- die menschlichen Figuren Absurdität, Komödie und Tragödie dar- diesem Aufruf, die Vielfalt an Geräuschen differenzierter wahrzu- Ausstellung «À bruit secret. Das Hören in der Kunst» raums nähert, ist man von Schwarz-Weiss-Fotografien umgeben, die stellen. Ist man erst einmal eingetreten, wird man mit äusserst ein- nehmen. Anhand von Kunstwerken taucht das Publikum in verschie- ich meinen Foto-Serien Asylum of the Birds (Asyl der Vögel) und Roger's drucksvollen Abbildungen, Klängen und Objekten konfrontiert, die dene Klanglandschaften ein. Dabei trifft es auf Arbeiten, in denen das Rats (Rogers Ratten) entnommen habe. Einfach ausgedrückt, haben den Betrachtenden zwingen, sich seiner eigenen Leere zu stellen. ◀ Element Wasser, die von Pflanzen und Tieren belebte Natur, Sprache Ratten und Vögel im Laufe der Menschheitsgeschichte Gut und Böse, als Grundlage von Kommunikation sowie der dissonante Lärm von Dunkelheit und Licht symbolisiert. Vögel verbinden den Himmel mit Roger Ballen grossen Metropolen eine Rolle spielen. Neben dem titelgebenden Readymade À bruit secret (With Hidden Der 1950 in den USA geborene, in Johannesburg Noise, 1916/1964) von Marcel Duchamp werden auch weitere histo- (Südafrika) lebende Roger Ballen ist einer der wich- rische Werke der frühen Avantgarden des 20. Jahrhunderts sowie tigsten Fotografen seiner Generation. Er hat internatio- Positionen der 1950er bis 1970er-Jahre gezeigt. In jener Zeit erklären nal über 25 Bücher veröffentlicht, seine Fotografien sind Kunstschaffende sämtliche Geräusche unseres Alltags, den Lärm von in den Sammlungen der bedeutendsten Museen der Maschinen, aber auch die Stille zum künstlerischen Material. Zum er- Welt vertreten. Sein künstlerisches Schaffen, das sich sten Mal in der Schweiz überhaupt wird Robert Rauschenbergs Oracle über fünf Jahrzehnte erstreckt, begann im Bereich der (1962–1965) im Museum Tinguely präsentiert: Eine 5-teilige Assem- Dokumentarfotografie, entwickelte sich jedoch zu einer blage aus diversen Fundobjekten, aus denen kakofonische Radioge- unverwechselbaren fiktionalen Welt, die auch die Me- räusche erklingen und in der sogar Wasser fliesst. dien Film, Installation, Theater, Skulptur, Malerei und Zeichnung umfasst. Ballen beschreibt seine Werke als Schon zu Beginn der Schau nimmt uns die neue Arbeit Il reno (2023) «existenzielle Psychodramen», die das Unterbewusst- von Christina Kubisch mit in eine faszinierende Geräuschwelt: Hun- sein ansprechen und die Schattenseiten der mensch- derte Meter von blauem Kupferkabel bilden in der Passerelle la Barca lichen Existenz aufzeigen. Sie zielen darauf ab, die ver- minimalistische Klangfenster mit Blick auf den Rhein und die Stadt drängten Gedanken und Gefühle an die Oberfläche zu Basel. Über spezielle von Kubisch entwickelte Induktionskopfhörer bringen, indem sie den Betrachtenden mit Themen wie erklingt beim Entlanggehen und Lauschen an den Elektrokabeln Chaos und Ordnung, Wahnsinn oder unkontrollierte Zu- eine Komposition der Unterwassergeräusche des Rheins. Vor dem stände des Seins, die Beziehung des Menschen zur Tier- Museum trifft man auf die künstlerische Intervention There’s No Place welt, Leben und Tod, universelle Archetypen der Psyche Called Home (Solitude Park, 2023) von James Webb. Der südafrikanische und Erfahrungen des Andersseins konfrontieren. Mit Künstler überträgt dafür Tonaufnahmen ortsfremder Vogelstimmen seiner einzigartigen, komplexen Bildsprache und seinen aus Lautsprechern, die in Bäumen des Parks versteckt sind. Webb universellen und tiefgründigen Themen hat der Künst- schleicht sich so mit den exotischen Rufen eines Paars von nicht hei- ler einen nachhaltigen Beitrag zur Kunst geschaffen. mischen Vögeln in eine bestehende Klanglandschaft ein. Einige der gezeigten zeitgenössischen Positionen basieren auf Die Ausstellung im Museum Tinguely wird von wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen, wie etwa die Andres Pardey kuratiert, in enger Zusammenarbeit mit begehbare Arbeit Espírito da floresta/Forest spirit (2017–2020) von dem Künstler und seiner Assistentin Marguerite Rossouw. Dominique Koch (In Zusammenarbeit mit Tobias Koch), Sound Fossils, 2022 Roger Ballen, Mouth to Mouth, 2013 Artinside | 26 | Frühjahr 2023 Artinside | 27 | Frühjahr 2023
Raum bewegen, sich nahe eines Lautsprechers auf eine Janet Cardiff und George Bures Miller betonen ihre einzelne Stimme konzentrieren oder die Komposition als Faszination für die Selbsttätigkeit der Maschine in Tin- Ganzes rezipieren. guelys Werk und bezeichnen ihn als einen ihrer wich- tigsten Einflüsse. Mit einem roten Knopf setzt man To touch (1993), The Cabinet of Curiousness (2010) oder The Killing Machine (2007) in Bewegung und aktiviert ein Experiment in F# Minor (2013) spielen mit dem technischen düstereres Spektakel. Inspiriert von der Kurzgeschichte Ansatz, Sound durch Bewegung zu aktivieren. Die Werke In der Strafkolonie (1919) von Franz Kafka beginnen zwei sind stumm, bis die Betrachtenden mit ihnen interagie- Roboterarme ihren Totentanz und scheinen ein imagi- ren. Die Berührung oder der Schattenwurf ihres Körpers näres Opfer auf einem Zahnarztstuhl mit spitzen Nadeln erwecken die Arbeiten zum Leben und setzen Alltagsge- zu malträtieren. räusche, Melodien, Musikkompositionen oder flüsternde Stimmen frei. Mit raumgreifenden Installationen wie Opera for a Small Room (2005) oder Escape Room (2021) können die Besu- The Instrument of Troubled Dreams (2018) ermöglicht cher:innen schliesslich gänzlich in von Cardiff & Miller das Komponieren eines eigenen Film-Soundtracks. Die kreierte Welten eintreten und der Realität entfliehen. 72 Tasten des ursprünglichen Mellotrons, eine analoge Sound- und Lichteffekte erwecken den Raum zum Leben, Urform des Samplers, wurden von Cardiff und Miller mit regen die Fantasie an und erinnern an längst vergessene verschiedenen digitalen Klängen belegt: Vom Regenpras- Träume. ◀ seln über Gesang und Orgelspiel bis hin zum Hundege- Planen Sie bell oder Schusswechsel. Kombiniert oder aufeinander- Ihren Besuch folgend kann damit eine imaginäre Handlung erzählt werden. tinguely.ch Janet Cardiff & George Bures Miller, Escape Room, 2021 Museum Tinguely Janet Cardiff & George Bures Miller Dream Machines 07.06.2023 – 24.09.2023 D as kanadische Künstler:innenpaar Janet Cardiff Cardiff und Miller verwenden verschiedene technische & George Bures Miller schafft alle Sinne aktivie- Ansätze, um unterschiedliche Klangerlebnisse zu kreie- rende Installationen. Sie entführen in traum- ren. Besonders eindrücklich gelingt dies in ihrer ersten artige, poetische Welten, die von der Lust des Erzählens grossen musikalischen Installation The Forty Part Motet und Entdeckens angetrieben sind. Es sind Hommagen (2001). Ausgangspunkt für die Soundinstallation ist eine an traditionsreiche kulturelle Praktiken wie das Kino, geistliche Vokalkomposition: die Motette Spem in Alium das Theater, das Hörstück oder das Musizieren. Die Aus- (1570) für acht Chöre zu je fünf Stimmen von Thomas stellung im Museum Tinguely bietet einen umfassenden Tallis. Vierzig Lautsprecher, in einem Oval angeordnet, Überblick über ihr Schaffen, von ersten interaktiven stehen für die Chormitglieder und machen den Klang im Klangarbeiten bis zu neusten, dystopisch-immersiven Raum skulptural erfahrbar. Die Besucher:innen können Rauminstallationen. ihr Hörerlebnis selbst beeinflussen, indem sie sich im Janet Cardiff & George Bures Miller, Experiment in F# Minor, 2013 Artinside | 28 | Frühjahr 2023 Artinside | 29 | Frühjahr 2023
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