Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts Wie geht es weiter an den Hochschulen?
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Nummer 217 / Juni 2020 Zeitschrift für Bildung, Erziehung und Wissenschaft Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts Wie geht es weiter an den Hochschulen? Sektion Zürich Lehrberufe Regionalteil beider Basel GE vpod basel lehrberufe Regionalteil Bern vpod BERN lehrberufe
Inhalt Zeitschrift für Bildung, Erziehung und Wissenschaft vpod bildungspolitik 217 Juni 2020 Ausgewählte Artikel der aktuellen Nummer der vpod bildungspolitik sind auch auf unserer Homepage zu finden. Jeweils zwei Monate nach Erscheinen sind die vollständigen Hefte als pdf abrufbar: vpod-bildungspolitik.ch Impressum Redaktion / Koordinationsstelle Birmensdorferstr. 67 Postfach 8279, 8036 Zürich Tel: 044 266 52 17 Corona continued Politische Bildung Fax: 044 266 52 53 Email: redaktion@vpod-bildungspolitik.ch Die Corona-Krise scheint nahezu 19 Demokratie stärken! Homepage: www.vpod-bildungspolitik.ch überwunden. Wie geht es weiter mit Die Initiative «Demokrative». Herausgeberin: Trägerschaft im Rahmen des dem Unterricht an den (Hoch)Schulen? Verbands des Personals öffentlicher Dienste VPOD 20 Politisch handlungsfähig werden Einzelabonnement: Fr. 40.– pro Jahr (5 Nummern) 04 Gewonnene Zeit nutzen! Zur Politischen Bildung an den Gymnasien. Einzelheft: Fr. 8.– Schutzkonzepte müssen weiterentwickelt werden. Kollektivabonnement: Sektion ZH Lehrberufe; Lehrberufsgruppen AG, BL, BE (ohne Biel), LU, SG. 05 Schule durch die Krise getragen Viele Lehrpersonen unterrichten trotz Risiko- Bücher Satz: erfasst auf Macintosh Layout: Sarah Maria Lang, Brooklyn Vorerkrankung. Titelseite Foto: .marqs / photocase.de 21 Generation Z im Blick Druck: Ropress, Zürich 06 Region Basel Die Reportageserie #GymiZyte. ISSN: 1664-5960 Die ersten Wochen nach der Wiedereröffnung. 22 Antifaschist, Verleger, Theaterfreund Erscheint fünf Mal jährlich Eine Annäherung an Emil Oprecht. Redaktionsschluss Heft 218: 07 Kanton Bern 17. August 2020 Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts. 23 Haus mit Garten für den Frieden Auflage Heft 217: 2800 Exemplare 08 Schule unterwegs Ein Buch über den «Gartenhof» in Zürich. Zahlungen: Eine Lehrerin auf neuen Wegen des Unterrichtens. PC 80 - 69140 - 0, vpod bildungspolitik, Zürich Inserate: Gemäss Tarif 2011; die Redaktion kann 10 Präsenzunterricht unverzichtbar Aktuell die Aufnahme eines Inserates ablehnen. Medienmitteilung zum Unterricht an Hochschulen. 24 Für ein Lernen mit Lust und Freude Redaktion 11 Lehre an den Hochschulen Die Kolumne des Vereins für eine Schule ohne Verantwortlich im Sinne des Presserechts Erfahrungen mit digitalen Lerntechnologien. Johannes Gruber Selektion. 12 Bildungsverlust? 25 Indiziensuche Redaktionsgruppe Überlegungen zum Fernunterricht. Wie sich Schulen in einer privatkapitalistischen Susanne Beck-Burg, Christine Flitner, Fabio Welt behaupten. Höhener, Anna-Lea Imbach, Markus Holenstein, 14 Prüfungen online Ute Klotz, Ruedi Lambert (Zeichnungen), Thomas Ragni, Michela Seggiani, Béatrice Stucki, Ein erfreulicher Erfahrungsbericht. 28 Berufsbildung Ruedi Tobler, Yvonne Tremp (Präsidentin), Peter Wie sie wurde, was sie ist. Wanzenried, Kerstin Wenk Pflichtlektion Zürich 29 Steigende Anforderungen Beteiligt an Heft 217 Foto: .marqs / photocase.de Entwicklung der Lehrstellen und Sabine Jenni, Alexander Jungo, Katrin Meier, 15 – 18 Das Mitgliedermagazin Lehrabschlussprüfungen in Basel-Stadt. Angelika Pfäfflin, Valentin Schönherr, Martin der Sektion Zürich Lehrberufe Stohler, Ernst Waldemar Weber, Rebecca Welge – Ein Lob den Lehrpersonen 30 Porträt – Wir sind zurück im Kindergarten Die Physikerin und Lehrerin Angelika Pfäfflin. – Schule ohne Noten – 10ni-Pause 2 vpod bildungspolitik 217
Editorial D er Bundesrat beschloss Ende Mai, dass Der VPOD hat in einer Medienerklärung Anfang ab 6. Juni 2020 der Präsenzunterricht Juni erklärt: «Präsenzunterricht ist auch an den in Mittel-, Berufs- und Hochschulen Hochschulen unverzichtbar!» (vgl. S. 10) In unserem (Sekundarstufe II, Tertiärstufe und Nachbarland Deutschland haben soeben 2000 Weiterbildung) wieder erlaubt ist. Allerdings überlässt Wissenschaftler*innen einen offenen Brief verfasst, in er es den Kantonen oder den Bildungsinstitutionen, dem die Rückkehr zur Präsenzlehre gefordert wird: in welcher Form der Unterricht vor Ort wieder «Die Universität ist ein Ort der Begegnung. Wissen, aufgenommen wird. Anlässlich dieser Wiederzulassung Erkenntnis, Kritik, Innovation: All dies entsteht nur des Präsenzunterrichts veröffentlichte das Bundesamt dank eines gemeinsam belebten sozialen Raumes. für Gesundheit (BAG) am 8. Juni seine revidierten Für diesen gesellschaftlichen Raum können virtuelle «Grundprinzipien für den Präsenzunterricht an Formate keinen vollgültigen Ersatz bieten. Sie können obligatorischen und nachobligatorischen Schulen». womöglich bestimmte Inhalte vermitteln, aber gerade Da die Abstandsvorschriften für den Präsenzunterricht nicht den Prozess ihrer diskursiven, kritischen und in der nachobligatorischen Schule nur leicht selbständigen Aneignung in der Kommunikation der abgeschwächt wurden, sei jedoch, so die EDK Studierenden.» in ihrer Medienmitteilung, auf der Sekundarstufe und im Tertiärbereich weiterhin kein «normaler Die mit dem Fernunterricht erprobten neuen Vollzeitunterricht» möglich. Lerntechnologien sind fraglos bereits zu einem Teil von Bildung in einer digitalen Welt geworden. Dass diese Viele Bildungsinstitutionen haben tatsächlich nun in einer Notsituation ernsthaft getestet wurden, angekündigt, das Schuljahr beziehungsweise ist auch eine Bereicherung. Jetzt gilt es aber die das Semester mehr oder weniger im Modus gemachten Erfahrungen auszuwerten, zu diskutieren des Fernunterrichts zu beenden und erst nach und mit Bedacht zu entscheiden, welchen Platz der der Sommerpause wieder zum gewohnten Fernunterricht zukünftig an der Universität haben Unterrichtsbetrieb überzugehen. Hochschulen in soll. In den letzten Monaten wurde gerade durch das England und Holland haben sogar bereits erklärt, Fehlen von echter Begegnung deutlich, wie wichtig auch im Herbstsemester am Fernunterricht diese für Lehre und Studium ist. Der französische festzuhalten. Welche Vor- und Nachteile dieser Schriftsteller Michel Houellebecq wurde vor kurzem in hat, welche Möglichkeiten er eröffnet und welche den Medien mit der Aussage zitiert «Wir werden nach Schwierigkeiten dieser mit sich bringt, hatten der Eindämmung nicht in einer neuen Welt aufwachen; wir in der vorangegangenen Ausgabe 216 der es wird die gleiche sein, nur ein wenig schlimmer». vpod bildungspolitik bereits für den Bereich der Sorgen wir dafür, dass diese düstere Diagnose im obligatorischen Schule dokumentiert. In der Bildungsbereich nicht Wirklichkeit wird – und auch vorliegenden Nummer 217 gibt der Soziologie Felix nicht in anderen gesellschaftlichen Bereichen! Keller, Universität St. Gallen, auf Basis seiner eigenen Lehrerfahrungen Auskunft über die Ambivalenzen des Fernunterrichts (vgl. S. 11), während der Sozialwissenschaftler Tobias Studer, Fachhochschule Nordwestschweiz, erläutert, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf Verständnis und Praxis von Bildung Johannes Gruber hat. vpod bildungspolitik vpod bildungspolitik 217 3
Corona-Krise Der Pinguin Ringo ist in einem Zürcher Kindergarten zuhause. Dort nimmt er im Rahmen des Unterrichts an imaginären Reisen teil. Den Gesichtsschutz hat er sich von einer Kindergartenlehrperson ausgeliehen, denn auch er versucht, sich vor dem Corona-Virus zu schützen. Gewonnene Zeit nutzen! Die Corona-Krise ist gerade im Bildungsbereich noch nicht überwunden. Schutzkonzepte müssen weiterentwickelt und umgesetzt werden. Von Johannes Gruber I n ihrer Medienmitteilung vom 15.5. zieht die EDK eine positive Bilanz der Wiederauf- nahme des Präsenzunterrichts an den obliga- besteht über alle Unterschiede hinweg jedoch bei der Frage, dass der Gesundheits- schutz der Lehrerinnen und Lehrer eine hohe Schulleitungen können diese aufgrund von Befangenheit nicht wahrnehmen. torischen Schulen. Als geglückt bezeichnet Priorität hat, insbesondere der besonders Kriterien für sie auch die unterschiedlichen Wege der gefährdeten. allenfalls notwendige Umsetzung in den Kantonen: «Diese Unter- Die jeweiligen Konzepte von Kantonen Schulschliessungen? schiede entsprechen unserem föderalen Sys- und Schulen dürfen beim Schutz der Lehr- Ob die Rückkehr zum Präsenzunterricht tem und erweisen sich auch in der aktuellen personen keine Interpretationsspielräume tatsächlich nachhaltig die von der EDK Situation als hilfreich: Die Kantone können bieten, damit kein Druck auf diese entsteht, beschriebene Erfolgsgeschichte sein wird, den unterschiedlichen Gegebenheiten mit auf angemessenen Schutz «freiwillig» zu ver- muss sich erst noch weisen. Rückschläge unterschiedlichen Lösungen begegnen.» zichten. Ohnehin können Schutzkonzepte in wie die Ende Mai erfolgte Covid-19-Infektion Dokumentiert ist dies auch in der vorlie- der Realität wohl nicht immer konsequent zweier Schulkinder in Basel-Stadt wird es genden «vpod bildungspolitik 217»: Wäh- eingehalten werden. Und manche Fragen wohl noch länger geben. Aus Israel wird im rend Zürich wie die Westschweizer Kantone wie zum Beispiel zum Umgang mit Arbeit- Moment berichtet, dass bereits nach wenigen bis zum 8. Juni mit Halbklassenunterricht ar- nehmenden, in deren Haushalt gefährdete Wochen viele Schulen aufgrund steigender beitete, nahmen Basel-Stadt und Basel-Land Personen leben, sind weiter ungelöst. Infektionszahlen wieder geschlossen werden den regulären Präsenzunterricht bereits am Aus welchen Gründen auch immer sind im müssen. 11. Mai wieder auf, Bern wiederum startete Kanton Zürich sehr viel weniger Lehrperso- Eine solche Entwicklung ist auch bei uns mit Halbklassenunterricht und ging dann nen aus Gefährdungsgründen ausgefallen, im Bereich des Möglichen. Deswegen ist rasch wieder zum Regelbetrieb über. als von der Bildungsdirektion erwartet. Ob die EDK gefordert, klare Kriterien dafür zu dies die Folge von äusserem Druck oder entwickeln, unter welchen Bedingungen Schutz der Lehrpersonen eigenem Wunsch der Lehrpersonen war, die Schulen wieder geschlossen werden prioritär ist schwer zu sagen. Wo verläuft die genaue müssten. Die EDK muss definieren, welche Unterschiedliche Einschätzungen herrsch- Grenze zwischen beiden? Schwellenwerte bei den Ansteckungen Foto: Yvonne Tremp ten auch innerhalb der Regionen des VPOD; Damit Fragen zum Schutz geklärt werden (Kanton, Gemeinde, Schulhaus) hierfür diese hatten zur Auswirkung, dass der können, braucht es in den Kantonen zustän- gelten sollen. Dies wäre ein wichtiger Verband zu der zentralen Frage der Wie- dige Ansprechstellen für Arbeitnehmende. Beitrag, eine «zweite Welle» möglichst zu deraufnahme des Präsenzunterrichts keine Es ist wichtig, dass diese Aufgabe von einer verhindern oder zumindest wirkungsvoll nationale Position verabschiedete. Einigkeit neutralen Stelle wahrgenommen wird, denn einzuschränken. 4 vpod bildungspolitik 217
Sektion Zürich Lehrberufe Corona-Krise Die Schule durch die Krise getragen Nach acht Wochen Zwangspause startete in Zürich Präsentismus statt Absentismus wieder der Präsenzunterricht an der Volksschule. Vielleicht liegt die hohe Anwesenheit an einer gegenüber Die Befürchtung der Bildungsdirektion, dass der Expert*innenmeinung abweichenden, persönlichen bis zu 20 Prozent der Lehrpersonen nicht zum Risikoeinschätzung. Wer sich gesund fühlt, kann die Unterricht erscheinen würden, traf nicht ein. Möglichkeit einer Erkrankung mit schwerwiegendem Viele Lehrpersonen traten ungeachtet ihrer Verlauf kleiner einschätzen. Die Stimmen aus dem Vorerkrankungen wieder vor ihre Klasse. Schulfeld stützen diese These nicht. Vielmehr scheinen die Lehrkräfte in vollem Bewusstsein über mögliche Folgen bereit zu sein, ein Risiko einzugehen. Dies spricht V ermeintliche Ungewissheit über die Ansteckungs- gefahr von Kindern, mangelndes Vertrauen in Schutzkonzepte und eine vermeintlich hohe Anzahl an demnach mehr für eine besondere Form des «Präsen- tismus». Die Arbeits- und Organisationspsychologie versteht unter Präsentismus das Verhalten von Ange- Angestellten aus der Risikogruppe nährten die Befürch- stellten, trotz Krankheit am Arbeitslatz zu erscheinen. Im tung, dass viele Klassen ohne angestammte Lehrkraft Gegensatz zum Absentismus – das umgangssprachliche starten werden. Diese Befürchtungen zerschlugen sich «Krankfeiern» – ist das Phänomen erst wenig erforscht. jedoch. So etwa in Zürich, wo Bildungsdirektorin Silvia Einige in diesem Zusammenhang diskutierte Indikato- Steiner nach Rückmeldungen aus den Schulen mit 10 ren unterstützen die These. So zeigte eine schwedische bis 15 Prozent Ausfall gerechnet hatte. Effektiv meldeten Studie, dass Präsentismus zu einem höheren Grad bei sich im Kanton rund 250 Lehrerinnen und Lehrer, die Angestellten im Service Public und insbesondere bei zur definierten Risikogruppe gehören und vorläufig Lehrpersonen auftritt1. Die starke intrinsische Motivation vom Präsenzunterricht ausgenommen sind. Dies ent- und eine hohe Loyalität zu Betrieb und Kollegium fördert spricht lediglich 1,5 Prozent der kantonal angestellten die Anwesenheit. Das Phänomen tritt besonders stark Lehrpersonen. bei Berufsgruppen auf, in denen die Angestellten mit besonders vulnerablen Personen zusammenarbeiten. Besonders gefährdet, aber im Dienst Das ist schliesslich die Krux der Sache. Gelten doch die Laut einer Befragung des Schweizer Gesundheitsobser- Lehrpersonen mit Vorerkrankungen per bundesrätlicher vatoriums aus dem Jahr 2017 weisen knapp 30 Prozent Definition selbst als vulnerable Personen. der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahren mindestens Hier zeigt sich wohl auch der enorme Wert, der der eine der Risiko-Vorerkrankungen auf. Sie hätten gemäss Lehrer*in-Schüler*in-Beziehung beigemessen wird. Im «Covid-19-Verordnung 2» grundsätzlich das Recht, Fernunterricht war diese wichtiger denn je, in einzelnen vom Präsenzunterricht dispensiert zu werden. Dazu Fällen hat sie aber sicherlich auch gelitten. Die Rückkehr kommen noch die Lehrpersonen, die über das Pensio- zur (neuen) Normalität entspricht daher einem echten nierungsalter von 65 Jahren hinaus angestellt bleiben. Bedürfnis. Die Berufsgruppe der Lehrpersonen entspricht zwar in Bezug auf einzelne gesundheitsrelevante Indikatoren Grund für Stolz und Selbstbewusstsein nicht dem schweizerischen Durchschnitt, trotzdem Erstaunlich viele Angestellte nehmen ein persönliches bleibt die Diskrepanz zwischen der Anzahl der gefähr- Risiko in Kauf, um zum Wohle ihrer Schützlinge in das deten Lehrpersonen und den effektiv dispensierten Klassenzimmer zurückzukehren. Diejenigen, bei denen Lehrpersonen enorm. die Rückkehr noch nicht in Frage kommt, machen es sich Diese Tatsache lässt den Schluss zu, dass viele Lehr- mit Sicherheit nicht leicht und werden froh sein, wenn personen trotz Recht auf Freistellung in das Klassenzim- sie im Klassenzimmer wieder vor ihre Schüler*innen mer zurückgekehrt sind. Doch warum? Ein expliziter treten können. Ob eine persönliche Gefährdung geltend Druck von Seiten des Arbeitgebers kann mit Blick auf gemacht wird oder nicht, ist immer eine persönliche den Kanton Zürich nicht geltend gemacht werden. Die Entscheidung, die in Absprache mit der Ärztin oder dem Bildungsdirektion hat die Schulleitungen beauftragt, alle Arzt, aber auch mit Angehörigen getroffen werden muss. Lehrpersonen schriftlich darüber zu informieren, dass Es gibt im Einzelfall kein richtig oder falsch. sie grundsätzlich das Recht haben, vom Präsenzunter- In jedem Fall können die Lehrpersonen stolz sein, wie richt dispensiert zu werden, wenn sie zu den besonders sie die Schule durch die Krise getragen haben. Dieses gefährdeten Personen zählen. Die Covid-Verordnung des gestärkte Selbstbewusstsein gilt es in den kommenden Bundesrates sieht aber kein Arbeitsverbot vor. Besonders Konflikten auch gegenüber Behörden und Politik zu gefährdete Lehrpersonen dürfen den Präsenzunterricht zeigen. aufnehmen, wenn das von ihnen selbst gewünscht wird. Dazu müssen sie schriftlich bestätigen, dass sie in Fabio Höhener, Gewerkschaftssekretär VPOD Lehrberufe Zürich Kenntnis der gesundheitlichen Risiken und der an der Schule umgesetzten Schutzmassnahmen wie auch der 1 Aronsson, G., Gustafsson, K., & Dallner, M. (2000). Sick but yet at work. Problematik der nicht lückenlosen Einhaltung der Ab- An empirical study of sickness presenteeism. Journal of Epidemiology and Community Health', 54, 502–509 standsregeln zwischen Lehrperson und Schüler*innen die Arbeit in der Schule aufnehmen wollen. vpod bildungspolitik 217 5
Regionalteil beider Basel GE vpod basel lehrberufe Erste Erfahrungen Die ersten Wochen Schule nach der Wiedereröffnung in der Region Basel und Fragen der Chancengleichheit. D ie Kinder, die Eltern, aber auch ein grosser Teil der Lehrpersonen freuten sich auf den Präsenz- unterricht. Die Vorbereitungen dazu verliefen je nach Schulstandort und Stufe aber sehr unterschiedlich. Ganz grundsätzlich gelten die Richtlinien des Bundesamts für Gesundheit (BAG) und der vielzitierte gesunde Men- schenverstand, der aber stark variieren kann. Gemäss den Vorgaben und Empfehlungen des BAG gelten zwischen Schülerinnen und Schülern keine Ab- standsregeln. Zwischen Erwachsenen und Schülerinnen und Schülern soll der vom BAG vorgegebene Mindest- abstand von zwei Metern möglichst eingehalten werden. Unter Erwachsenen muss dieser Mindestabstand jedoch eingehalten werden. Primar- und Sekundarstufe wirklich überraschende Erkenntnis ist, dass Kinder, die Im einen Primarschulhaus konnten sich die Lehr- in der Schule mit Präsenzunterricht Mühe haben und personen an den Schutzkonzepten für das Schulhaus sich am Unterricht nicht wirklich beteiligen, dies auch beteiligen. Es gab gestaffeltes Einlaufen und gestaffelte während des Fernunterrichtes nicht taten. Diese haben Pausen. Auch blieb es den Lehrpersonen überlassen, wie in der Regel ihre Aufgaben nicht gemacht, obwohl sie den Unterricht gestalten, beziehungsweise welchen man die Kinder persönlich besucht und die Aufgaben Abstand sie zu den Kindern zulassen. Im Grossen und auf Papier abgegeben hatte. Es zeigt sich einfach, dass Ganzen waren sich alle einig, dass auf der Primarstufe bildungsferne Kinder immer benachteiligt sind, egal in der Abstand von 2 Meter kaum eingehalten werden kann, welcher Form der Unterricht durchgeführt wird. ohne einen sehr unnatürlichen, distanzierten Unterricht Daraus müssen verschiedene kurz- und langfristige abzuhalten. Die Diskussion über volle oder halbe Klassen Erkenntnisse gewonnen werden. Einerseits, wie mit den hat aber nichts mit dieser Situation zu tun. teilweise eklatanten Wissensdifferenzen umgegangen Auf der Sekundarstufe war die Umsetzung doch etwas werden soll. Es stellt sich zudem auch die Frage, wie auf heikler und schwieriger. Der Stundenplan machte auf Überforderung eingegangen werden soll. Erhalten die Grund der verschiedenen Fächer ein gestaffeltes Einlau- Lehrpersonen allenfalls Ressourcen, um zum Beispiel fen und gestaffelte Pausen eher nicht möglich. Dafür ist zusätzliche Förderstunden geben zu können? Oder wiederum aufgrund des Alters der SchülerInnen ein eher welche Unterstützung erhalten die SchülerInnen bei der distanzierter Unterricht möglich, wenn er auch nicht Suche nach einer Lehrstelle? Die diesbezügliche beruf- ideal ist. Da die Schülerinnen und Schüler bereits grösser liche Orientierung zur Vorbereitung auf den Übergang sind und selber mehr Platz beanspruchen, ist insgesamt in eine Berufslehre konnte nur begrenzt stattfinden. Das die Einhaltung der Distanzregel jedoch unrealistisch, sind die kurzfristigen Fragestellungen. diese scheitert aufgrund der Platzverhältnisse bereits in Langfristig gilt es festzustellen, dass frühe Förderung den Treppenhäusern und Gängen. eine zentrale Rolle spielt. Darüber wird seit längerer Zeit diskutiert und geschrieben. Die Wichtigkeit des Schutzkonzept für Erwachsene nötig Anliegens ist unbestritten, doch das Angebot ist nach Ein Problem welches leider bis jetzt gar keine Beachtung wie vor eher bescheiden. Es geht dabei nicht nur um die fand, ist die jeweilige Situation im Lehrpersonenzimmer Sprachkompetenz, sondern auch um soziale Benachteili- sowie die Situation rund um den Kopierer. Wenn man gung. Kinder wachsen teilweise isoliert auf und erhalten davon ausgeht, dass die Übertragung von Kindern durch- so zu wenig Anregung. aus gering ist, drängt sich umso mehr ein Schutzkonzept Wir wissen, dass Kinder sehr gut von anderen Kindern für die Räumlichkeiten der Erwachsenen an den Schulen lernen und profitieren. Doch wie erreichen wir, dass zum auf. Der vpod region basel wird sich diesem Thema Beispiel die Spielgruppen, welche sich dieser frühen annehmen. Förderung annehmen, auch genügend durchmischt sind? Nur so lernen bzw. profitieren die Kinder von den Chancengleichheit nach Corona anderen. All dies sind Fragen, die uns dank Corona noch Der Fernunterricht hat während der Coronakrise bei den stärker bewusst gemacht wurden. Schülerinnen und Schülern unterschiedliche Spuren hinterlassen. Eine ziemlich ernüchternde und nicht Kerstin Wenk, VPOD-Regionalsekretärin Basel (28.5.2020) 6 vpod bildungspolitik 217
Bern «wie vorher» mit der gleichen Lektionenzahl wieder- aufnehmen oder mit einem reduzierten Stundenplan beginnen wollten. Offenbar wurde dieser Spielraum wenig genutzt. Die meisten Schulen starteten mit den als Minimum be- zeichneten zwei Halbtagen, danach ging der Schulalltag, was Stunden- und Lektionenanzahl betrifft, in den Normalbetrieb über. Nur wenige Lehrpersonen kehrten noch nicht zum Präsenzunterricht zurück, der Kanton geht von circa zwei Prozent aus. Diese Lehrpersonen, oder auch Angehörige von ihnen, gehören selber zu einer Risikogruppe. Das Gleiche gilt bei den Kindern, nur rund 1 Prozent der Kinder ist weiterhin im Fernunterricht. Neue Formen des Lernens und Mehrarbeit Die Rückmeldungen, die wir bekommen haben, zeigen, dass die meisten Lehrpersonen gut wieder gestartet sind. Sie freuten sich, wieder im Klassenzimmer stehen zu können. Natürlich bedeuten die Schutzmassnahmen eine Umstellung des Unterrichts – dies betrifft nicht nur die Schulzimmer. Distanzhalten zu den Kindern ist, gerade mit kleinen Kindern auf Stufe Kindergarten oder erste Klasse, schwierig bis unrealistisch. Doch die notwendige Distanz kann auch zu Lerneffekten führen, wie folgendes Beispiel zeigt: Ein Kind wollte Farbstifte, Regionalteil Bern die Lehrerin sagte ihm, wo es diese findet. Erst nach mehrmaligem Hinweisen holte das Kind die Stifte selbst. vpod BERN lehrberufe Früher, sagte die Lehrerin, wäre sie hingegangen und hätte dem Kind die Stifte geholt. Nun weiss es, wo es die Farbstifte in Zukunft selber holen kann. Spannend ist auch diese Rückmeldung: Die Kinder fragen viel mehr Geglückte als vor der Schulschliessung nach sozialem Lernen. Also gewinnt auch gemeinsames Lernen und Gestalten an Bedeutung. Und überhaupt werde im Moment viel Wiederaufnahme des mehr spielerisch gelernt, was die Kinder lieben und sie offensichtlich sehr motiviert. Klar ist aber auch, dass der Schulunterricht für die Präsenzunterrichts Lehrpersonen im Moment Mehrarbeit bedeutet. Be- sonders kleine Kinder benötigen Hilfe beim Händewa- schen. Türgriffe, Lavabos und Armaturen etc. müssen mehrmals täglich desinfiziert werden. Mit nur einem Nach zwei Monaten «Lock-down» der Schulen, Waschbecken im Raum sei das Händewaschen für alle Berufsbildungsinstitutionen, Fachhochschulen langwierig und aufwändig, so der Tenor. und Universitäten konnte am 11. Mai zumindest die Volksschule den Präsenzunterricht Sekundarstufe II zieht nach wiederaufnehmen. Kinder, Lehrpersonen und Am 8. Juni wird der Präsenzunterricht in der Sekun- Eltern freuten sich darauf. darstufe II wieder aufgenommen. Das Mittelschul- und Berufsamt MBA hat eine umfassende Dokumentation D ie Bildungs- und Kulturdirektion BKD bereitete die Öffnung der Schule in einer Arbeitsgruppe vor und verfasste eine Broschüre «Wiederaufnahme für die Schutzkonzepte und die pädagogischen und organisatorischen Aspekte erarbeitet, an denen auch der VPOD mitwirken konnte. Der Kanton Bern ist also Präsenzunterricht» mit Empfehlungen und Hinweisen auch auf dieser Stufe bereit für den Start des Präsenz- für die Volksschule. Die Broschüre behandelt natürlich unterrichts. Themen wie Hygienemassnahmen und Organisation des Unterrichts. Sie geht darüber hinaus aber auch auf die https://www.erz.be.ch/erz/de/index/direktion/ueber- Organisation des Unterrichts oder anderer Schulanlässe die-direktion/dossiers/pandemie.html ein, den Umgang mit den Beurteilungen oder die Berufs- https://www.erz.be.ch/erz/de/index/kindergarten_ wahlvorbereitungen, und gibt didaktische Anregungen. volksschule/kindergarten_volksschule/corona/wieder- aufnahme-praesenzunterricht.html Ungenutzter Spielraum Der Kanton Bern liess den Schulen recht viel Spielraum Béatrice Stucki, VPOD-Regionalsekretärin Bern (28.5.2020) für die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts. Kon- kret konnten die Schulen entscheiden, mit wie vielen Halbtagen sie starten wollten, ob sie den Unterricht vpod bildungspolitik 216 7
Corona-Krise «Ein echter Unterricht, das wissen alle, Schule unterwegs entsteht durch die originale Die Herausforderungen der Corona-Zeit legen es nahe, neue Formen des Unterrichts zu suchen. Ein Bericht aus einer Begegnung. Primarschulklasse. Von Susanne Beck-Burg Wir Lehrkräfte entbehrten unsere D as heftige Corona-Unwetter verhagelte auch die Schulen. Plötzlich und not- standspflichtig, wurden die Türen unserer Bereicherung um reale Momente Stets klarer wurde aber von den Eltern und Kindern rückgemeldet, dass die richtige Schüler*innen.» öffentlichen Lehranstalten verrammelt. Schule fehle. Ein echter Unterricht, das Zum Schutz gegen die Corona-Hagelkör- wissen alle, entsteht durch die originale Be- ner, aus Furcht vor den Corona-Viren. gegnung. Wir Lehrkräfte entbehrten unsere Rasant schnell wurde auf digitalen Fern- Schüler*innen. Wir waren unseres Métiers unterricht umgestellt. Mediale Konzepte beraubt, wir waren entwurzelt. Um die vir- gefreut hatten, schnell ermüdeten. Nach schossen wie Pilze aus dem Boden. Aber tuelle Situation wenigstens um ein Weniges einer halben Stunde, als noch nicht einmal aus welchem Boden eigentlich? Hors-sol! in Richtung Realität zu bewegen, starteten alle ein einziges Mal zu Wort gekommen Einem Gemisch aus wässrigen Elementen meine Stellenpartnerin und ich zu Fuss waren, begann eines nach dem andern sich ohne Bodenhaftung. – Zum Glück ist und per Velo zu einem Quartierrundgang. abzumelden: «Ich bin müde, ich möchte mit meine Stellenpartnerin versiert in digitalen Wir suchten alle Wohnadressen unserer meinem Bruder spielen.» Räumen. Ihr verdankt es die erste Klasse im Schülerinnen und Schüler auf und verteilten Plänke Schulhaus Biel, dass sie in Windeseile Arbeitsmaterial in die Brief- und Milchkästen Konzeptuelle Überlegungen für Zugang zu einer virtuellen Lernplattform Aber Ohalätz! Diese Aktion wurde von ande- den Neubeginn bekam. Einem «padlet», in das sich die 7-jäh- ren Kolleginnen als grenzwertig eingestuft: Der Unwetter-Notstand fand ein Ende, die rigen Studentinnen und Studenten mithilfe «Ihr verteilt nicht nur Arbeitsdossiers, ihr Aussicht auf schönes Wetter stieg, die Schu- ihrer Eltern und einem lustigen Passwort, bringt auch Corona-Viren in Umlauf. Diese len standen vor ihrer Wiedereröffnung, unter das sie aus einem Unterrichtsritual kennen, haften an den Oberflächen eures Materials, Berücksichtigung der kantonal bestimm- einloggen konnten. das ihr verteilt. Auch bringt ihr euch selber ten Massnahmenpakete! Wir Lehrkräfte in Gefahr, wenn ihr Arbeitsblätter zur Kor- studierten die neuen Richtlinien für die Blühendes Homeschooling rektur wieder einsammelt. Tragt ihr nicht Corona-bewusste Gestaltung des Unterrichts Zu jedem Fach gab es eine Spalte mit Lern- einmal Handschuhe? Bleibt doch beim und die erwünschten und obligatorischen vorschlägen und diversen Verlinkungen zu digitalen Vermitteln. Dies ist sauber, viren- Hygiene-Vorschriften. Die Schulleitungen attraktiven Angeboten, zu coolen Lernvideos. und risikofrei!» arbeiteten auf Hochtouren und regelten, Dank kreativen und aktiven Eltern, die Aus- Nun denn, die Eltern konnten selber ent- was zu regeln war und noch mehr. Konnte schnitte aus ihrem Homeschooling filmten scheiden, ob sie unsere Post im Milchkasten ich als Lehrkraft jetzt also zuversichtlich und aufs padlet luden, sahen die Gspänli aus Vorsicht vor etwaigen Viren liegen liessen. wieder vor der Klasse stehen? Theoretisch täglich mehr in andere Familien-Lernstuben Es gab genug definitiv hygienisch einwand- vielleicht! Viele Fragen bedrängten mich aber und Kinderzimmer hinein und konnten sich freies Lernmaterial auf dem padlet. Wir zwei in den Tagen vor dem Wiedereinstieg. Wie gegenseitig anregen lassen. Lehrerinnen jedenfalls schwirrten wie Phan- bringe ich die Händewasch-Zeremonien mit Die Kinder sahen und hörten einzelne tome durch die menschenleeren Strassen 21 Kindern und nur einem Lavabo über die Mitschüler*innen am Klavier, erfuhren, wie und verteilten Osterhasen-Arbeits-Dossiers, Bühne? Wie werde ich dem zu erwartenden eine andere Familie ihren Garten in eine Springseile und Mathematik-Knöpfe in Stoff- Bewegungsdrang der seit 8 Wochen einge- Hindernislauf-Landschaft verwandelte, lies- säcklein verpackt. Hinter unserer Post-Tour sperrten Kindern gerecht? Wie erfasse und sen sich von einem afrikanischen Vater, der steckte eine Hoffnung. Diese wurde erfüllt, handhabe ich die auseinanderklaffenden mit seinem Sohn die Trommel rührte, zum als ein Kind auf dem Balkon seiner Wohnung Lernstände? Wo hole ich die Kinderschar Tanzen auffordern; wieder andere Familien im ersten Stockwerk erschien und wir ein ab? Was ist als Erstes dran? Welche Inhalte sammelten Kräuter und entzündeten Feuer paar Worte live mit ihm wechseln konnten. stimmen für welche Kinder? Wie sind alle im Wald, Rätsel wurden gelöst und kreiert, Solche Highlights wiederholten sich ein paar Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen? Ein erste chemische Experimente wurden ge- wenige Male. Wir haben aber sehen müssen, Gefühl von Fremdbestimmtsein belastete filmt und dokumentiert. Mathematische dass nicht alle Kinder in der feudalen Lage und liess sich nicht wegdrängen. Serien mit Wettbewerbscharakter wurden eines Balkons waren. So mussten wir uns also Im Austausch mit einer Kollegin, die an angepeilt, Lerntagebücher veröffentlicht. zufrieden geben, Kinderstimmen durch die einer Unterstufe in Wetzikon unterrichtet, Faszinierend und vielfältig blühte das Home- Gegensprechanlage wahrzunehmen. versuchte ich mir bewusst zu werden, wo der schooling auf. Unerschöpflich arbeiteten Bald einmal kam dann die Empfehlung Schuh am meisten drückte. Sie berichtete einige Eltern, welche Zeit und die Motivation der Schulleitung mit Wochenplänen zu mir, dass in ihrem Kanton gemäss Verord- dazu hatten. arbeiten. Kein Problem! Interessanterweise nung in Halbklassen unterrichtet würde, und Wir Lehrerinnen und Lehrer konnten bekamen wir gute Rückmeldungen von dass in ihrer Schule mithilfe von Fachlehrern vieles lernen von ihnen. Nicht selten hatten Eltern, denen inzwischen die Wahl (Auswahl die Halbklassen noch zusätzlich zu Vier- wir den Eindruck: «Da wird konzentrierter auf dem padlet) teilweise zur Qual wurde. telklassen halbiert würden. Mittwochs sei gearbeitet als es in unserem Klassenzimmer Sie waren erleichtert, als sie diskussionslos vorläufig noch unterrichtsfrei, da sich nichts möglich ist, wo auf engem Raum 21 Kinder sich auf einen vorgegebenen (Wochen)-Plan Sinnvolles organisieren liesse. – Ich fragte aufs Mal mit verschiedensten Bedürfnissen einlassen konnten. An einer Klassen-Zoom- mich, wie es komme, dass im Kanton Bern und Konstellationen gefördert werden sol- Konferenz mit den Schüler*innen kam zum nur für zwei Tage Halbklassen-Unterricht len.» Ausdruck, dass sie, obwohl sie sich darauf vorgesehen ist und nachher wieder «courant 8 vpod bildungspolitik 217
Corona-Krise Gang durch die Bieler Strassen. Wir nehmen dabei bis zu einer Dreiviertelstunde Fussweg zu unsren ausgewählten Plätzen für den Outdoor-Unterricht in Kauf. Die Kinder sind wetterfest und mit Rucksack ausge- rüstet. Darin wird ausser dem persönlichen Znüni, Waldheft und Etui (sowie eventuell einem Sitzkissen) noch Allgemeinmaterial mitgeschleppt, das heisst Schiefertafeln, Kreiden, Schwämme, Wasserflaschen, Wasserbecken, laminiertes Schulmaterial, Planen, trockenes Holz (je nach Wetter), Pfanne, Teigwaren zum Kochen, Tücher, Planen, Seile und Schnüre, Säge, Zecken- spray, Taschenapotheke, Lupen, Bücher und Becher, Plastikhandschuhe, Taschen für Sammler etc. Wir experimentieren und stützen uns auf Erprobtes. So schrieben etwa alle den gewohnten Math-Blitztest auf ihrem Niveau im Pavillon oberhalb Biel. Nötiges Gegengewicht Das Vorantreiben des Outdoor-Erlebnis- Unterrichts scheint mir notwendiger denn je, als dringend erforderliches Gegengewicht zur digitalen Lernkultur und dem Fernun- terricht, die im Begriff sind, sich schnell und raffiniert zur Selbstverständlichkeit zu entwickeln. Der Einstieg ins naturverbun- dene, die Persönlichkeit stärkende Outdoor- normal» herrsche. 1 Worauf basieren die einem wegen einer Baustelle (Turnhallen- Lernen ist vorerst für viele mit Vorstellungen verschiedenen Massnahmen-Beschlüsse? bau) sehr eingeschränkten Pausenhof. Das ungewohnten Aufwands verbunden. Auch Wer kann sie nachvollziehen? Wäre es nicht Modell Frontalunterricht mit räumlicher Vorurteile darüber, was schulisches Lernen angebracht, wenigstens zu erproben, ob es Abgrenzung des Lehrerpults konnte mich beinhalten soll und was nicht, müssen wirklich klappt mit einer quasi sofortigen nicht überzeugen. Welch einschränkende, weggeräumt werden. Die tiefe nachhaltige Herstellung der Vor-Corona-Verhältnisse? armselige Perspektive! Sollte ich pflicht- Zufriedenheit der Schüler*innen mit der Und mit Alternativen im Vorrat für den nega- bewusst, ergeben und resigniert vor mich Schule, das steigende Selbstvertrauen, das tiven Verlauf der Probezeit. Denn wer weiss, hinlabern: «Es ist, wie es ist! Da kannst du Stark-Werden, das gute Echo von Eltern in welchem Zustand die Kinder nach den nichts ändern.» – Ich entschloss mich zur spornt an, weiter in diese Richtung zu gehen Homeschooling-Wochen daherkommen. Flucht nach vorn. Für meine Situation sah und beim Organisieren und Durchführen ei- Nicht alle Eltern hatten die Möglichkeit, ihre diese so aus: Outdoor-Unterricht im Freien ner «Schule unterwegs» weitere Fortschritte Kinder sinnvoll zu beschäftigen: Einige sind für alle Lektionen und Fächer; zumindest zu machen. – Genaueres über den Ablauf eventuell der medialen Spielsucht verfallen. für die Lektionen, für die keine Möglichkeit einzelner Schulmorgen draussen eventuell Wer weiss, wie lange es braucht, bis eine zu einem entflechtenden Teamteaching zu in einer Fortsetzung. Klassengemeinschaft sich wieder gefunden organisieren war. Ich unterbreitete meiner Worben, 30.5.2020 hat? Wie realistisch ist die Umsetzung der Schulleitung mein Anliegen und die konzep- Hygiene- und Abstandsmassnahmen? tionellen Ideen dazu: Sich wiederfinden als Klasse durch Erlebnispädagogik, bewegten Susanne Beck-Burg führt zur Zeit, zusammen mit Lernen im Freien nachhaltigen Unterricht im Freien um dem einer Stellenpartnerin, eine 1. Klasse in Biel, wo sie Als ich von einer Kollegin (aus einem ande- Bewegungsmangel bei untersagter Turn- seit 2016 bereits als IF-Lehrkraft arbeitete. Sie war in ren Schulorganismus) aufschnappte, dass in hallenbenutzung entgegenzuwirken. Ganz- verschiedenen alternativen Schulprojekten tätig. Mit 57 ihrem Schulhaus aufs Singen verzichtet wer- heitliches, nachhaltiges, lebensnahes Lernen Jahren absolvierte sie die Pädagogische Hochschule den müsse, da durch zu starke Luftbewegung mit Sinneswahrnehmungen. Stärkung der als «Quereinsteigerin», nachdem sie mit 17 aus dem Viren unvorteilhaft verteilt würden, hätte Klassengemeinschaft, salutogenetisch. Lehrerseminar ausgestiegen war. Susanne Beck-Burg ich fluchen können. Inwieweit werden wir Da die Schulleitung einverstanden war, ist Mitglied des «Vereins für eine Schule ohne Selektion» Lehrkräfte abhängig und zu Marionetten? sind wir seit der Wiedereröffnung der Schule und der Redaktionsgruppe der «vpod bildungspolitik». Auch noch in der Nachnotstandszeit! In für circa 12-15 Lektionen pro Woche und bei unserem Schulhaus sind die Massnahmen jedem Wetter unterwegs und lehren und zwar nicht auf solche Art ins Absurde ausge- lernen im nächstgelegenen Wald, Park auf 1 Dass der Kanton Bern den Schulen Spielraum für die wachsen. Aber warum sollte ich mich unter einem Spielplatz oder auf dem Falbringer Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts gelassen haben soll, wie Béatrice Stucki auf Seite 7 schreibt, kam bei den total unberechenbaren Umständen mit 21 Bauernhof. Weil wir keinen ÖV benutzen Lehrpersonen an unserer Schule nicht an. Aus dem damali- Foto: Beat Beck gen Leitfaden der Bildungs- und Kulturdirektion wurde das Lernenden in unser zu kleines Klassenzim- dürfen und die Kinder sich die Hände nicht jedenfalls nicht deutlich, dort heisst es, «Die ersten beiden mer einpferchen lassen? Inmitten der Stadt geben sollten, halten sich immer 2 Kinder Tage des Präsenzunterrichts (11. und 12. Mai 2020) werden im Halbklassenunterricht organisiert [...] Ab Mittwoch, 13. Biel, vom Lärm oft so belästigt, dass die via Springseil in der Zweierkolonne. So Mai 2020 wird der Unterricht grundsätzlich in allen Fächern Fenster geschlossen bleiben müssen. Mit schaffen wir den erforderlichen zivilisierten aufgenommen.» vpod bildungspolitik 217 9
Hochschulen Kinderbetreuung nicht gleichzeitig stattfin- den können. Personen, die aufgrund von Schliessungen der Betreuungseinrichtun- gen oder wegen Quarantäne-Massnahmen Präsenzunterricht ist auch an ihre Kinder selbst betreuen müssen, müs- sen dafür mit Lohnfortzahlung (Corona- den Hochschulen unverzichtbar! Erwerbsersatz) freigestellt werden. Positionen des VPOD zu Fragen der Arbeitsbedingungen in der Finanzielle Mittel für Corona- und Post-Corona-Zeit. Sicherstellung von VPOD Präsenzunterricht und Konzeptarbeit M itte März hatte der Bundesrat alle Prä- senzveranstaltungen an Schulen und Hochschulen Ausbildungsstätten untersagt. Beim administrativen Personal hingegen fielen teilweise aufgrund des reduzierten Hochschulbetriebs Minusstunden an. Da Was die Organisation der Lehre betrifft, so musste im Frühjahrssemester 2020 bei der schnellen Umstellung auf Fernunterricht Während in der obligatorischen Schule der das Personal dies jedoch nicht zu verant- notwendigerweise improvisiert werden. Präsenzunterricht bereits am 11. Mai wieder worten hat, darf es ihm auch auf keinen Fall Obwohl dabei viel geleistet und erreicht einsetzte, ist dieser an den Universitäten und angelastet werden. wurde, ersetzt dies keine professionelle Fachhochschulen erst seit 8. Juni wieder • Viele Mittelbauangestellte konnten auf- Unterrichtsentwicklung für die zukünftige möglich. Im Grossteil des Frühjahrssemes- grund der zusätzlichen Anforderungen ihre Lehre an den Hochschulen: ters wurde damit ausschliesslich mithilfe notwendige eigene Qualifikation (Doktorar- • Nach Abschluss des Frühjahrssemesters von digitalen Lerntechnologien gelehrt. beit, Forschungsprojekt) nicht fortführen. braucht es eine seriöse Nachbereitung In Windeseile galt es mitten im Semes- Der VPOD fordert daher, dass befristete und Entwicklung der Instrumente sowie ter, die aktuellen Lehrveranstaltungen auf Mittelbauverträge um ein Semester verlän- Ausbildung aller AnwenderInnen (Fragen Fernunterricht umzustellen. Es war eine gert werden. der Pädagogik, Technologie, Datenschutz, Herkulesarbeit, die Dozierende und Studie- Für diese Massnahmen braucht es zusätz- Urheberrechtsschutz etc.). rende gemeinsam verrichteten, unterstützt liche finanzielle Mittel. Unter keinen Um- • Präsenzunterricht ist auch im Tertiär- von den technischen Mitarbeitenden der ständen dürfen die anfallenden zusätzlichen bereich aus pädagogischen Gründen un- Hochschulen. Kosten aufs Personal abgewälzt oder durch verzichtbar und nicht grundsätzlich durch Abbauprogramme in den Einrichtungen Fernunterricht ersetzbar, Forschung und Anerkennung bei Löhnen und finanziert werden. Ausbildung brauchen direkten Austausch Arbeitsverträgen und Diskussion. Es ist daher wichtig, dass Wie der VPOD in seiner «Medienmitteilung Homeoffice: Regelungen und auch die Hochschulen, wo immer dies zur Teilöffnung der Hochschulen am 8. Unterstützung nötig möglich ist, wieder vollständig geöffnet Juni 2020»1 erklärte, stellen sich aus ge- Das Arbeiten im Homeoffice bringt viele werden. Das Recht auf Bildung darf nicht werkschaftlicher Sicht viele Fragen, die die Herausforderungen, für die es Regelungen darunter leiden, dass die Verantwortung für Arbeitsbedingungen der letzten drei Monate und spezifische Unterstützung braucht: die Eindämmung der Pandemie den Schulen betreffen wie auch die zukünftige Arbeits- • Obwohl gerade an den Hochschulen schon und Hochschulen zugeschoben wird. weise. Was die Löhne und Arbeitsverträge früher häufig von zuhause gearbeitet wurde, • Damit der Bildungsbereich die nötigen betrifft, so müssen die besonderen Leistun- gibt es an vielen Orten keine klaren Regelun- Massnahmen zum Schutz der Studierenden gen und Belastungen der Mitarbeitenden gen dazu. Das muss zügig in Zusammen- und des Personals treffen kann (Anpassung Foto: YY apartment / stock.adobe.com honoriert werden: arbeit mit den Arbeitnehmervertretungen und Zumietung von Räumen u.a.), braucht • Die schnelle und unvorhergesehene Um- nachgeholt werden. Der Arbeitgeber ist auch es Investitionen – und die für diese notwen- stellung auf den Fernunterricht führte für bei Arbeit im Homeoffice für Arbeitsmate- digen zusätzlichen finanziellen Mittel! viele Dozierende zu einem grossen zusätz- rial, Spesen und Gesundheitsschutz verant- lichen Vorbereitungsaufwand, der durch die wortlich, und die Schutzbestimmungen des normalen Unterrichtspauschalen in keiner Arbeitsgesetzes sind auch im Homeoffice 1 Abrufbar unter: https://vpod.ch/news/2020/6/disco-ja- bildung-nein-praesenzunterricht-ist-in-den-hochschulen- Weise abgedeckt ist. Der VPOD fordert, gültig. unverzichtbar/ dass dieser Zusatzaufwand durch Zeitgut- • In diesem Zusammenhang muss auch klar schriften oder Lohnzuschlag entgolten wird. festgehalten werden, dass Homeoffice und 10 vpod bildungspolitik 217
Hochschulen Kontrolltechnologie «Man zensuriert sich selber, da oder Mittel zur die Aufzeichnung weitergegeben Emanzipation? werden kann. Ich Erfahrungen mit Fernunterricht an der Universität im befürchte, meine Corona-Semester. Von Johannes Gruber Veranstaltungen V iele Jahre habe ich an Schweizer Univer- sitäten unterrichtet, auch nebenbei zu rasch und unkompliziert verlaufen, so Felix, die Studierenden passten sich schnell und wurden dadurch meinem Haupterwerb, zuletzt im Herbst- geschickt an, die Universität habe sofort mit langweiliger.» semester 2019 an der Universität St. Gallen. Zoom und anderer Software technische Lö- Ehrlich gesagt bin ich froh darüber, dass ich sungen bereitgestellt, die funktionierten. Der im aktuellen Frühjahrssemester gerade kei- Charakter seiner Lehrveranstaltung habe sich Studierenden war beinahe material fassbar. nen Lehrauftrag hatte und der Corona-Krug allerdings zum Negativen verändert. Da er Denn nicht alle Familien können sich für an mir vorüberging. Der Aufwand für die nicht verlangen wollte, dass die Studierenden alle ‹A Room of One’s Own› leisten». Hier Unterrichtsvorbereitung sowie die Durch- die Kamera einschalten, gab es keinen Sicht- brauche es Lösungen, falls es wieder zu führung der Seminarsitzungen und Prüfun- kontakt. So blickte er auf schwarze Namens- ähnlichen Probemlagen, wie z.B. im Rahmen gen steht ohnehin in keinem Verhältnis zu schilder, in einen künstlichen, seltsam leeren einer etwaigen «zweiten Welle», käme. dem pauschalen Honorar, das die Lehrbe- Raum von digital präsenten Menschen. Seine auftragten erhalten. Und nun wäre plötzlich Veranstaltungen habe er aufgezeichnet und Kontrolle der Augenbewegungen sogar der doppelte Aufwand angefallen. Die das ganze Semester über den Studierenden Nun stehen die Prüfungen zu Semesterende Unterrichtseinheiten, die ich jeweils bereits auf «onedrive» verfügbar gemacht. an. Felix erachtet es als verpasste Chance, vor Semesterbeginn für die Seminarthemen dass das alte Modell der Prüfungen beibehal- konzipiere, hätte ich von heute auf morgen Gegenteilige Effekte ten werden soll, in dem die Studierenden wie für die Formen des Fernunterrichts neu ent- Es ist in der Sozialforschung bekannt, dass in einer Isolierkammer auswendig Gelerntes werfen müssen. Und das neben meiner Stelle das Aufstellen einer Kamera und eines reproduzieren. Diese individuelle Isolierung als Gewerkschaftssekretär und trotz all der Mikrofons einen disziplinierenden und nor- solle nun statt im universitären Prüfungs- Widrigkeiten, Unsicherheiten, Belastungen malisierenden Effekt hat: «Man zensuriert raum im Wohnzimmer der Studierenden und Ängste, die die letzten Monate so mit sich selber, da die Aufzeichnung ungefragt umgesetzt werden: der Raum soll von den sich gebracht haben. weitergegeben werden kann, das Internet Dozierenden visuell kontrolliert werden, der Andererseits hätte es mich tatsächlich vergisst bekanntlich nicht. Das betraf mich Schreibtisch muss aufgeräumt sein, selbst gereizt, neue Lerntechnologien auszupro- und auch die Studierenden. Ich befürchte, die Augenbewegungen des Prüflings werden bieren. Gerade weil sie in diesem Kontext meine Veranstaltungen wurden dadurch kontrolliert. Eine zeitgemässe Prüfungsform erst einmal nicht Gefahr laufen, zum schlicht langweiliger und uninteressanter.» wäre dagegen, so Felix, das soziologisch Selbstzweck zu werden, sondern eine funk- Doch es habe auch positive Entwicklungen falsche Modell des isolierten Individuums tionale Notwendigkeit darstellen. Jenseits gegeben, Studierende können sich im Chat aufzugeben und stattdessen als Prüfungssi- von didaktischen Glaubenskriegen sind untereinander besser austauschen, das tuation eine realistische Praxis des Arbeitens diese zudem längst zu einem Teil von könne die Herausbildung eines kritischen in der digitalen Gesellschaft zu eröffnen, in Bildung in einer digitalen Welt geworden. Bewusstseins fördern. Bewährt habe sich ins- der die Studierenden zeigen, wie produktiv Eine Umfrage an der Universität Freiburg / besondere, die persönlichen Besprechungen sie mit den vorhandenen Technologien und Breisgau hat ergeben, dass sich die dortigen online durchzuführen. Man finde schneller dem vorhandenen Wissen umgehen können. Studierenden «zu 80 Prozent mehr multi- Termine und könne über das Teilen des mediale Lehrinhalte, unter anderem mehr Screens präziser an den Texten der Studie- Bitte kein Wechsel im Semester! Vorlesungsaufzeichnungen, mehr Videos, renden arbeiten. Vor allem aber seien diese Darauf angesprochen, dass erste Unis in mehr Testmöglichkeiten zur Überprüfung weniger scheu und spontaner, als wenn England und Holland bereits angekündigt des eigenen Lernfortschritts [wünschen]. Sie sie dem Dozenten in seinem Büro an der haben, den Fernunterricht im Herbstsemes- sprechen sich aber auch mit deutlicher Mehr- Universität gegenübersitzen. ter fortzuführen, äussert Felix Verständnis. heit gegen einen Ersatz der Präsenzlehre Die Dozierenden sollten unbedingt vor durch digitale Lehre aus; sie sehen Probleme Soziale Unterschiede Semesterbeginn wissen, in welchem Modus bezüglich ausreichender Motivation, fehlen- In seinem Unterricht hat Felix schon länger der Kurs durchgeführt wird. Auch wenn der Lerndisziplin sowie die verstärkte Gefahr mit neuen Techniken experimentiert, auch er persönlich bisher negative Erfahrungen der Prokrastination»1. um die Hemmschwellen für eine aktive mit Online-Unterricht machte, wäre es für Beteiligung gerade von scheuen Studie- ihn das Schlimmste, wenn ein Wechsel des Nachgefragt renden zu senken. Dem war allerdings Lehrregimes mitten im Semester stattfinden Nicht ohne Neugier habe ich bei dem Kol- lediglich gemischter Erfolg beschieden. Der würde. legen Felix Keller, Dozent für Soziologie an vollständige Verzicht auf Präsentzunerricht der Universität St. Gallen, nachgefragt, wie dürfte jedoch, so vermutet er aufgrund seiner 1 Juliane Besters-Dilger (2020): «Das Ende der Universität als der Fernunterricht mit digitalen Kommu- Erfahrungen der letzten drei Monate, Effekte Ort der Lehre?». In: Marko Demantowsy et. al. Was macht die nikationstechnologien denn in den Corona- der sozialen Ungleichheit weiter verstärkt Digitalisierung mit den Hochschulen. Einwürfe und Provokati- onen. De Gruyter, Oldenburg. S. 133-138. Monaten geklappt hat. Der Umstieg sei haben: «Der unterschiedliche Stress der Open access. DOI https://doi.org/10.1515/9783110673265 vpod bildungspolitik 217 11
Hochschulen Bildungsverlust infolge akuter Digitalisierung? Überlegungen zum Fernunterricht in der Hochschullehre. Von Tobias Studer M it dem Lockdown aufgrund der Covid- 19-Pandemie sahen sich die Hoch- schulen mit der Erwartung konfrontiert, die unabhängig mit den vorbereiteten Inhalten zu beschäftigen. Unter Letzterem ist zu verstehen, dass die in vielen Fällen bereits ten, ihren Unterricht aufzuzeichnen und online zugänglich zu machen, wurde rund um digitales Lehren an den Hochschulen gesamte Lehre auf Fernunterricht umzu- angefertigten Präsentationen mit einer nicht angemessen diskutiert. Insofern macht stellen.1 Aus Sicht der Hochschulen scheint Video- und Tonspur versehen werden. Zu es den Anschein, als könnten die Hochschu- die akute Digitalisierung des Unterrichts diesen scheinbar problemlosen digitalen len dank der Pandemie die Diskussion der unkompliziert gelungen zu sein, was all- Formen kontrastiert der wohltuend und doch Probleme der Digitalisierung für die Bil- gemein positiv hervorgehoben wird. Die fast antiquiert erscheinende Hinweis an der dung umgehen und gleichsam suggerieren, Entwicklung wirft allerdings auch ein etwas Hochschule, ein Studium könne ja gut auch Bildung dank der Digitalisierung befördert unangenehm anmutendes Licht auf die mit der Lektüre von Texten bestritten werden. zu haben. So aber laufen sie Gefahr, einem Hochschullehre, ging man doch eigentlich Die Aufforderung, die Studierenden könnten systematisch erzeugten Bildungsmissver- davon aus, dass Bildung mit unmittelbaren in dieser Zeit des Fernunterrichts ja einfach ständnis aufzusitzen. Interaktionen sowie direkt diskursiv geführ- etwas lesen, steht freilich quer zum Ent- ten Auseinandersetzungen verbunden sein scheid, infolge der Pandemie den Unterricht Was genau bedeutet Bildung? müsse, da es ansonsten zu einem Bildungs- umfassend zu digitalisieren. Gemessen an Bildung unter Zwang ist gleichbedeutend verlust komme. Auf diese Widersprüche einem kritischen Bildungsverständnis wäre mit Erziehung und Anpassung. Bildung wird allerdings kaum aufmerksam gemacht. zumindest zu diskutieren, was es zu bedeu- in einem kritischen Sinne ist mit Musse Im hochschuldidaktischen Duktus akuter ten hat, wenn Hochschulen ihre Lehrformen verbunden, mit verfügbarer Zeit und mit der Digitalisierung hat sich eine Unterschei- innert weniger Wochen komplett auf einen weitgehend selbstgesteuerten Auseinander- dung zwischen synchroner (direkter) und online stattfindenden Unterricht umstellen setzung mit Inhalten. Wo es um das kritische Bild: view7 / photocase.de asynchroner (indirekter) Kommunikation können und dies auch bereitwillig tun. Nachvollziehen von Argumenten geht, stellt durchgesetzt: Die Studierenden haben die Interessanterweise existierten die aktuell das körperlich vorhandene Gegenüber eine Möglichkeit, sich entweder direkt – also akut umgesetzten digitalen Lehr- und Lern- entscheidende Projektionsfläche im Prozess vermittelt über etwelche Video-Tools – mit formen bereits vor Corona. Sie wurden aber des Lernens dar. Bildung ist nicht nur Dozierenden oder KommilitonInnen ausei- nur wenig eingesetzt. Dass Dozierende ein Auseinandersetzung mit Wissen, sondern nanderzusetzen oder sich von Ort und Zeit zwiespältiges Interesse daran haben könn- auch ein persönlicher Prozess im Austausch 12 vpod bildungspolitik 217
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