Kinderrechte - Politische Herausforderung und Handlungsbedarf - GE vpod basel lehrberufe - vpod-bildungspolitik
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Nummer 209 / November 2018 Zeitschrift für Bildung, Erziehung und Wissenschaft Kinderrechte – Politische Herausforderung und Handlungsbedarf Regionalteil beider Basel GE vpod basel lehrberufe Sektion Zürich Lehrberufe
Inhalt Zeitschrift für Bildung, Erziehung und Wissenschaft vpod bildungspolitik 209 November 2018 Ausgewählte Artikel der aktuellen Nummer der vpod bildungspolitik sind auch auf unserer Homepage zu finden. Jeweils zwei Monate nach Erscheinen sind die vollständigen Hefte als pdf abrufbar: vpod-bildungspolitik.ch Vor mehr als 20 Jahren hat die Schweiz die Aktuell Impressum UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. 19 Ein kämpferischer Gewerkschafter Redaktion / Koordinationsstelle Nach wie vor jedoch wird auch in und engagierter Erziehungsrat Birmensdorferstr. 67 unserem Land gegen die Rechte von Nachrufe auf Ruedi Jörg. Postfach 8279, 8036 Zürich Kindern verstossen. Tel: 044 266 52 17 Fax: 044 266 52 53 20 Vielfältig und verdienstvoll Kinderrechte – Die Angriffe auf das Lehrwerk «Gesellschaften im Email: redaktion@vpod-bildungspolitik.ch Homepage: www.vpod-bildungspolitik.ch Politische Wandel» werden diesem nicht gerecht. Herausgeberin: Trägerschaft im Rahmen des Herausforderung und Verbands des Personals öffentlicher Dienste VPOD Handlungsbedarf Filme und Bücher Einzelabonnement: Fr. 40.– pro Jahr (5 Nummern) Einzelheft: Fr. 8.– 04 Kinderrechte umsetzen 22 Kinder auf dem Weg Kollektivabonnement: Sektion ZH Lehrberufe; Lehrberufsgruppen AG, BL, BE (ohne Biel), LU, SG. Das UN-Berichterstattungsverfahren und die Eine Auswahl von Filmen zu Kinderrechten und Empfehlungen an die Schweiz. Kinderalltag. Satz: erfasst auf Macintosh Layout: Sarah Maria Lang, Brooklyn Titelseite Foto: suze / photocase.de 06 Missachtung der Kinderrechte 24 Marx – aktuell und historisch Druck: Ropress, Zürich Die grössten Probleme der Kinder. Neue Publikationen zum 200. Geburtstag. ISSN: 1664-5960 07 Unsere Schulen diskriminieren Erscheint fünf Mal jährlich 25 Überzeugende Argumente Verstösst das selektive Schweizer Andreas Pfister plädiert für eine «Matura für alle». Redaktionsschluss Heft 210: Volksschulsystem gegen die Kinderrechte? 21. Januar 2019 Auflage Heft 209: 3000 Exemplare 26 Bildung und Emanzipation 09 «Mein Vater darf mich schlagen!» Das Denknetz-Jahrbuch 2018 ist soeben Zahlungen: Was sollen Lehrpersonen und Schule tun, wenn erschienen. PC 80 - 69140 - 0, vpod bildungspolitik, Zürich Kinder ihre Rechte nicht kennen? Inserate: Gemäss Tarif 2011; die Redaktion kann die Aufnahme eines Inserates ablehnen. 11 «Das ist nur zu deinem Besten!» Auf welche Weise können spezifische Region Luzern Redaktion Kinderrechte ethisch gerechtfertigt und das Verantwortlich im Sinne des Presserechts Kindeswohl bestimmt werden? 27 Projektorientierter und Johannes Gruber datenbasierter Gewerkschaftskampf 14 Aufklärung zur rechten Zeit In Luzern findet Aufbauarbeit bei den Lehrberufen statt. Redaktionsgruppe Buchhinweise zur Anti-Menschenrechtsinitiative. Susanne Beck-Burg, Christine Flitner, Fabio Höhener, Anna-Lea Imbach, Markus Holenstein, Pflichtlektion Zürich Basel Lehrberufe Ute Klotz, Ruedi Lambert (Zeichnungen), Thomas Ragni, Martin Stohler, Ruedi Tobler, Peter Foto: pusteflower9024 / Fotolia.com Wanzenried 29 – 31 Regionalteil beider Basel 15 – 18 Das Mitgliedermagazin – Universitäre Spartragödie beenden! der Sektion Zürich Lehrberufe Beteiligt an Heft 209 – Verwaltungsalltag unter dem Spardiktat – Mehr Zeit für guten Unterricht! Catherine Aubert Barry, Jacqueline Büchi, Sina – KollegInnen im Portrait: Beatrice Messerli – «Ich habe von den Kindern gelernt Deiss, Daniel Gassmann, Hans Joss, Lucien Le, und sie von mir!» Katrin Meier, Beatrice Messerli, Holger Schatz, – Lasst uns unsere Bücher! Michela Seggiani, Markus Truniger, Rahel – 10ni-Pause Wartenweiler, Kerstin Wenk, Martin Wyss, Sybille Zürcher 2 vpod bildungspolitik 209
Editorial A m 20. November ist der internationale Projekt, so die NZZ in einem Bericht vom 14.9.18, Tag der Kinderrechte. An diesem Tag unter dem neu zuständigen Bundesrat Ignazio wurde 1989 das Übereinkommen über Cassis «ernsthaft hinterfragt». Auch wenn Letzterer die Rechte des Kindes, kurz «UN- auf Nachfrage versichert, dass es nicht darum Kinderrechtskonvention» (KRK) verabschiedet. Die gehe, diese «Institution an sich oder gar die KRK verankert grundlegende Rechte der Kinder Menschenrechte infrage zu stellen» (Interview NZZ wie etwa das Recht auf Schutz, Fürsorge und vom 18.9.18), so geht es ihm doch wohl zumindest freie Meinungsäus-serung. Bei allen privaten und darum, wie EDA-Informationschef Jean-Marc staatlichen Handlungen, die Kinder und Jugendliche Crevoisier erklärt, «eine bescheidenere Umsetzung betreffen – so wird in Artikel 3, Abs. 1 der KRK ‹à la Suisse›» anzustreben». festgehalten –, «ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen Wir müssen aufpassen, dass «à la Suisse» in ist». diesem Kontext nicht zu einem Synonym für die Relativierung von Menschenrechten wird. Mit Mittlerweile haben alle Mitgliedsstaaten der Uno der sogenannten «Selbstbestimmungsinitiative», die KRK ratifiziert – mit Ausnahme der USA. In der über die am 25. November abgestimmt wird, Schweiz ist diese seit 1997 in Kraft. Dass jedoch versucht die SVP die Geltung der Kinder- und auch in unserem Land nach wie vor Kinderrechte Menschenrechte in unserem Land zu relativieren, missachtet werden, ist Gegenstand unseres indem sie diese explizit unter den Vorbehalt Themenschwerpunkts «Kinderrechte – Politische von Abstimmungsresultaten stellen will. Eine Herausforderung und Handlungsbedarf». Rahel ganze Reihe von Buchpublikationen nimmt diese Wartenweiler schildert in ihrem Beitrag den Stand gefährliche Initiative zum Anlass, Hintergrundwissen des UN-Berichterstattungsverfahrens und die über das Völkerrecht und dessen Bedeutung für die Empfehlungen an die Schweiz (vgl. S. 4-5). Zudem Schweiz zu vermitteln (vgl. S. 14). beschreibt Hans Joss die grössten Probleme der Kinder, von Missbrauch über Diskriminierung und Der VPOD hat an seiner Delegiertenversammlung Armut bis hin zu ungenügender Partizipation (vgl. vom 29. September dieses Jahres die Nein-Parole S. 6). Seine Diagnose hinsichtlich des selektiven zur «Selbstbestimmungsinitiative» beschlossen. Schweizer Volksschulsystems ist zudem deutlich: Vor kurzem haben Bürgerinnen und Bürger aus «Unsere Schulen diskriminieren», und dies mit dem allen Teilen der Gesellschaft den dringenden Aufruf Einverständnis von offizieller Bildungspolitik und «Nein zur Anti-Menschenrechtsinitiative» lanciert, öffentlicher Meinung (vgl. S. 7-8). der auf der Rückseite dieser Zeitschrift abgedruckt ist und unter «dringender-aufruf.ch» unterzeichnet Die Achtung und Umsetzung der Kinderrechte wie werden kann: Verteidigen wir am 25. November die auch der Menschenrechte insgesamt ist alles andere Grundrechte aller Kinder und Erwachsenen! als selbstverständlich. Gerade in der Schweiz der Gegenwart weht diesen ein eisiger Wind entgegen. 2016 hatte der Bundesrat noch beschlossen, eine nationale Menschenrechtsinstitution (NMRI) zu schaffen, die die Durchsetzung der Menschenrechte in der Schweiz fördern soll. Obwohl inzwischen sogar bereits die Vernehmlassung zum Johannes Gruber Gesetzesentwurf abgeschlossen ist, wird dieses vpod bildungspolitik vpod bildungspolitik 209 3
Kinderrechte Kinderrechte umsetzen Das UN-Berichterstattungsverfahren und die Empfehlungen an die Schweiz. Von Rahel Wartenweiler Mehr als 20 Jahre nach Der UN-Kinderrechtsausschuss muss, um die Kinderrechtskonvention in der Ratifikation der UN- überprüft die Umsetzung der der Schweiz vollständig umzusetzen. Sie Kinderrechtskonvention durch UN-KRK sind für die Schweiz handlungsleitend. die Schweiz besteht nach wie Damit überprüft werden kann, ob die gelten- In der Verantwortung für die Umsetzung vor grosser Handlungsbedarf den Bestimmungen der UN-KRK umgesetzt steht in erster Linie der Staat. Er muss bei deren Umsetzung. Der UN- werden, ist die Schweiz verpflichtet, dem dafür sorgen, dass die zuständigen Stellen Ausschuss für die Rechte des UN-Kinderrechtsauschuss alle fünf bis sieben alle notwendigen Massnahmen ergreifen, Kindes prüft regelmässig, wie Jahre darüber zu berichten. Der Ausschuss um die Kinderrechte zu schützen und zu die Schweiz die Kinderrechte prüft, wie es um die Einhaltung der Kinder- fördern. Die Empfehlungen richten sich einhält und formuliert rechte in der Schweiz steht und wo es Verbes- also an die Politik, an Verwaltungsstellen Empfehlungen, was noch getan serungspotential gibt. Informationsquellen bei Bund und Kantonen, aber auch an Ge- werden muss. Die nächste des Ausschusses sind der offizielle Bericht richte und Behörden. Darüber hinaus ist die Überprüfung findet in den des Bundesrats und ergänzende Berichte der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention Jahren 2020-2021 statt. Bis Zivilgesellschaft. Zudem hört der Ausschuss eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Auch dahin muss die Schweiz die Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesell- zivilgesellschaftliche Einrichtungen, die mit letzten Empfehlungen aus dem schaft und des Staates direkt in Genf an und Kindern arbeiten, müssen ihren Beitrag zur Jahr 2015 umsetzen. formuliert anschliessend Empfehlungen, Umsetzung der Konvention leisten. wie die Kinderechte besser umzusetzen sind. Die Überprüfung der Schweiz fand bisher Diese Themen sind besonders zweimal statt, zuletzt von 2012 bis 2015. Die- dringlich D ie Schweiz trat der UN-Kinderrechts- konvention (UN-KRK) 1997 bei. Die Konvention formuliert erstmals verbind- ser Zyklus endete mit 108 Empfehlungen des Kinderrechtsausschusses an die Schweiz zur Verbesserung der Umsetzung der UN-KRK Ein Grossteil der über 100 Empfehlungen betreffen einzelne Themenbereiche der UN-KRK. Sie zeichnen ein Bild, wo es in liche Rechte zum Schutz, zur Förderung und des Fakultativprotokolls betreffend den der Schweiz besonders grossen Handlungs- Foto: emanoo / photocase.de und der Beteiligung von Kindern und an- Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution bedarf gibt. Gewisse Gruppen von Kindern erkennt Kinder als Träger eigener Rechte. und Kinderpornografie. sind besonders gefährdet, in ihren Rechten Mit dem Beitritt der Schweiz wurde die verletzt zu werden, weil sie aus schwierigen UN-KRK Teil der hiesigen Rechtsordnung. Über 100 Empfehlungen an die Verhältnissen stammen oder sich in schwie- Die Schweiz ist somit verpflichtet, die Schweiz rigen Situationen befinden. Besonders Kinderrechte zu respektieren und umzu- Die Empfehlungen des UN-Kinderrechts- viele Empfehlungen betreffen denn auch setzen. ausschusses zeigen auf, was getan werden die Rechte von asylsuchenden Kindern und 4 vpod bildungspolitik 209
Empfehlungen mit Bezug Kinderrechte zur Bildungspolitik Die Empfehlungen des • Familien verstärkt unterstützen und schweizweit UN-Kinderrechtsausschusses können als für ausreichende Kinderbetreuungseinrichtungen Argumentationsgrundlage für bildungspolitische von hoher Qualität sorgen (Empfehlung Nr. 45). Anliegen sowie für die Interessensvertretung • Ein inklusives, diskriminierungsfreies der Professionellen aus dem Bildungsbereich Bildungssystem sicherstellen, indem die dazu dienen. Ausgewählte Empfehlungen mit Bezug zur nötigen Ressourcen bereitgestellt und Fachkräfte Bildungspolitik sind: angemessen ausgebildet werden (Nr. 55 b). • Berufsgruppen, die mit Kindern arbeiten • Den Zugang von Kindern mit Behinderungen (darunter explizit Lehrkräfte) zu den Kinderrechten zu frühkindlicher Bildung und Betreuung und zu schulen und die Bekanntmachung der Kinderrechte Möglichkeiten der inklusiven Berufsbildung in allen bei Kindern selbst fördern (Nr. 21 b). Kantonen sicherstellen (Nr. 55 d). • Pflichtmodule zur Kinderrechtskonvention und • Asylsuchende Kinder effektiv und zu den Menschenrechten in die harmonisierten diskriminierungsfrei Zugang zu Bildung und sprachregionalen Lehrpläne aufnehmen (Nr. 67) Berufsbildung gewähren (Nr. 69 e). • Kinder in allen sie betreffenden Gerichts- und • Strategien und Programme zum Schutz vor Verwaltungsverfahren – darunter Schulverfahren – sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung von anhören (Nr. 29a). Kindern ohne geregelten Aufenthaltsstatus (sans- • Kinder sollen ihre Meinung zu allen sie papiers) entwickeln und dafür sorgen, dass betreffenden Angelegenheiten frei äussern diese Kinder ihr Recht auf Bildung in der Praxis können und ihre Meinung soll insbesondere in der wahrnehmen können (Nr. 69 g). Schule und in Bildungseinrichtungen angemessen berücksichtigt werden (Nr. 29 b). Flüchtlingskindern, beispielsweise wenn es Konvention erheben jedoch weder der Bund diesen festgelegten Themen, und nicht darum geht, Asylverfahren kindgerecht zu noch die Kantone Daten in ausreichender mehr zur gesamten Konvention, Stellung gestalten und Fachpersonen entsprechend Qualität. nehmen. Der offizielle Bericht der Schweiz auszubilden. Weitere Empfehlungen zielen • Das übergeordnete Interesse des Kindes wird schliesslich durch einen Bericht aus der auf das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe (Kindeswohl) muss bei Entscheiden, die Zivilgesellschaft (NGO-Bericht) ergänzt. Der von Kindern mit Behinderungen, auf die Kinder betreffen, stets handlungsleitend NGO-Bericht hat die Funktion, den Bericht Rechte von Kindern, die in einer Pflegefa- sein. Die Schweiz ist angehalten, diesen der Schweiz kritisch zu hinterfragen, um so milie oder in einem Heim leben, die Rechte Grundsatz in der Politik, der Verwaltung und dem UN-Ausschuss ein vollständigeres Bild von Kindern, die mit dem Rechtssystem in der Justiz konsequent umzusetzen. zu vermitteln. Berührung kommen sowie auf das Recht auf • Die Schweiz solle eine unabhängige nati- Schutz vor Gewalt und sexueller Ausbeutung. onale Menschenrechtsinstitution schaffen. Beteiligung von Kindern und Die Institution hat zur Aufgabe, die Kinder- Jugendlichen Starke Rahmenbedingungen für und Menschenrechte zu fördern und zu Der UN-Kinderrechtsausschuss ermutigt Kinderrechte schützen, indem sie Berichte ausarbeitet, auch Kinder und Jugendliche dazu, sich Um diese Empfehlungen umsetzen zu kön- Empfehlungen an Politik, Verwaltung und am Verfahren zu beteiligen. Als Teil der nen, bedarf es gewisser Rahmenbedingungen. Gerichte verfasst und die Umsetzung der Zivilgesellschaft haben sie die Möglichkeit, Ein Teil der Empfehlungen spricht deshalb Menschenrechte überwacht. mit eigenen Berichten ihre Sichtweise auf grundlegende Voraussetzungen für die Um- die Umsetzung der Kinderrechte in das setzung der Kinderrechtskonvention an: Der nächste Berichtszyklus Berichtsverfahren einzubringen. • Im föderalen System der Schweiz fallen steht bevor viele Themen der KRK in den Kompetenz- Die Schweiz muss nächstes Mal im Jahr Was macht das Netzwerk bereich der Kantone. Dies führt zu Chancen- 2020 über die Umsetzung der UN-KRK be- Kinderrechte Schweiz? ungleichheiten zwischen den Kantonen. Es richten und dabei auch Rechenschaft darüber In der Schweiz haben sich 2003 zahlreiche ist abhängig vom Wohnkanton, inwieweit ablegen, inwiefern sie die Empfehlungen aus NGO zu einem Netzwerk zusammenge- die Kinder und Jugendlichen ihre Rechte dem Jahr 2015 umgesetzt hat. schlossen und 2009 den Verein «Netzwerk wahrnehmen können. Die Schweiz soll eine Die Berichterstattung verläuft neu nach Kinderrechte Schweiz» gegründet, um die nationale Kinderrechtsstrategie und -politik einem vereinfachten Verfahren, wie dies zivilgesellschaftliche Berichterstattung an erarbeiten, die einen Rahmen für kantonale auch für die Überprüfung anderer Men- den UN-Kinderrechtsausschuss gemeinsam Vorhaben bieten kann. schenrechtsabkommen eingeführt wurde. wahrzunehmen. Dem Netzwerk Kinderrechte • Eine koordinierte Umsetzung der UN-KRK Grundlage des neuen Verfahren ist eine Liste Schweiz gehören heute 50 Organisationen an, setzt gute Daten voraus. Diese sind wichtig, der dringlichsten Themen (List of Issues), die die sich für die Anerkennung und Umsetzung um Fortschritte und Herausforderungen vom UN-Kinderrechtsausschuss im Vorfeld der UN-Kinderrechtskonvention einsetzen. bei der Umsetzung der Kinderrechte zu erstellt wird. Der Ausschuss stützt sich dafür Weitere Informationen auf: überwachen und Informationen zu erhalten, auf Einschätzungen aus der Zivilgesellschaft www.netzwerk-kinderrechte.ch welche Gruppen von Kindern besonderen (NGO), welches aus Sicht der NGO die Schutz oder eine besondere Förderung ihrer wichtigsten Anliegen sind. Die Schweiz Rahel Wartenweiler ist Geschäftsführerin des Netz- Rechte benötigen. Zu vielen Themen der muss in ihrem Bericht dann nur noch zu werks Kinderrechte Schweiz. vpod bildungspolitik 209 5
Kinderrechte Missachtung der prozesses eine erschreckende Anzahl von unbegleiteten Minderjährigen jedes Jahr verschwindet, manchmal sogar vor Beginn Kinderrechte des Asylverfahrens. Sich selbst überlassen, lassen sich betroffene Jugendliche mit Dro- genhandel oder Kriminalität ein oder werden Die grössten Probleme der Kinder in der Schweiz. Opfer von sexueller Ausbeutung. Von Hans Joss In bestimmten Fällen werden junge Flüchtlinge in Verwaltungshaft genommen, A uch hierzulande gibt es Missbrauch, Diskriminierung, Selbstmorde und Armut von Kindern. Besonders gefährdet ist Schule eingeteilt werden, sind Kinder mit Lernschwierigkeiten und Kinder von Ein- wanderern weniger erfolgreich. Es hat sich oft für mehrere Monate, bevor sie zurück in ihr Herkunftsland geschickt werden. Dieses Vorgehen steht im Widerspruch zur Kin- die Gruppe der geflüchteten Kinder. gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass derrechtskonvention, nach der ein Kind nur diese Kinder in eine besondere Klasse ein- eingesperrt werden soll, wenn keine andere Missbrauch gruppiert werden und anschliessend ihren Alternative möglich ist. Das Übereinkommen über die Rechte des Bildungsweg nicht fortsetzen, viermal so Darüber hinaus sind für jene Jugend- Kindes («Kinderrechtskonvention», KRK) hoch ist als bei anderen Kindern. liche, die vorübergehend Asyl erhalten, verurteilt jede Form von Gewalt gegen Kin- die Möglichkeiten für den Erwerb einer der: In der Schweiz wurde die Bestrafung Selbstmord Berufsausbildung sehr begrenzt, da nicht von Kindern durch ihre Eltern 1978 verboten. Die Schweiz ist in der unglücklichen Positi- immer eine Arbeitserlaubnis erteilt wird. Dennoch ist die Prügelstrafe nicht aus- on, zu den Ländern mit der höchsten Selbst- Nicht gemeldete Kinder können zur Schule drücklich im Schweizer Recht verboten. Bis mordrate zu gehören. Selbstmord ist sogar gehen, ohne dass die Behörden alarmiert heute gibt es keine genauen Statistiken über die häufigste Todesursache unter den 15- bis werden, doch etwa 10 Prozent von ihnen die Häufigkeit dieser Art von Gewalt, doch 24-Jährigen. Die Statistiken zeigen, dass in erhalten keine ordentliche Schulbildung. Fachleute schätzen, dass 10-20 Prozent der der Schweiz jeder zwanzigste Jugendliche Im Allgemeinen vermeiden nicht gemeldete Schweizer Kinder im Verlauf ihrer Kindheit versucht, sich das Leben zu nehmen: Alle 3 Personen es, zum Arzt zu gehen – aus Angst, einer Art von Missbrauch ausgesetzt sind. Tage begeht ein/e Jugendliche/r Selbstmord. denunziert zu werden. Deshalb haben ihre Der Ausschuss für die Rechte des Kindes Ein relativ leichter Zugang zu einer Anzahl Kinder normalerweise keinen Zugang zu hat seine Besorgnis über diese Situation von tödlichen Mitteln und insbesondere der grundlegender Gesundheitsversorgung. ausgedrückt und hat die Schweiz ermutigt, Zugang zu Schusswaffen sind eine Haupt- Ausserdem leben die meisten von ihnen Aufklärungskampagnen zu den negativen ursache dieser Rate. unterhalb der Armutsgrenze. Die Zukunfts- Auswirkungen von Gewalt gegen Kinder zu Die Schweiz ist eines der wenigen Länder aussichten für die Flüchtlingskinder sind starten. in Westeuropa, das kein nationales Suizid- deshalb in der Schweiz besonders düster. Präventionsprogramm hat. Kürzlich wurde dem Parlament ein Antrag vorgelegt, um Recht auf Mitwirkung dieses Phänomen auf Bundesebene besser Trotz der Anstrengungen der Schweiz ist «In der Schweiz zu verstehen und zu analysieren. die Umsetzung von Artikel 12 der KRK, der garantiert, dass Kinder das Recht auf Mitwir- versucht jeder Armut kung an Entscheidungsprozessen haben, die zwanzigste Jugend- Die Schweiz hat den Ruf ein reiches Land zu sein: Doch fast 9 Prozent der Bevölkerung für sie relevant sind, unvollständig, insbe- sondere in der Justiz. Zum Beispiel haben liche sich das Leben leben unterhalb der Armutsgrenze. Nach dem Kinder in Scheidungsverfahren das Recht Eidgenössischen Statistischen Amt erhalten auf eine Anhörung durch den Richter. In der zu nehmen.» 4,4 Prozent der Kinder zwischen 0 und 17 Jah- Praxis wird nur eine Minderheit von ihnen ren Sozialhilfe. Dies ist auch die Altersgruppe, angehört. Die Repräsentation von Kindern die am meisten von Armut betroffen ist. Rund wird nur selten gefordert und Gerichte haben 45 Prozent der Menschen, die auf Sozialhilfe kein Bewusstsein über die Wichtigkeit der Diskriminierung angewiesen sind, sind Kinder. Die Familien, Mitwirkung von Kindern. Im Jahr 2008 ergab ein nationales For- die in der Schweiz von Armut betroffen sind, Der Bundesgerichtshof tendiert dazu, schungsprogramm, dass Kinder in der sind im Allgemeinen gross oder es sind sämtliche Mitwirkungsrechte von Kindern Schweiz unter ungleichen Bedingungen Familien mit nur einem Elternteil. zu beschneiden: Er glaubt, dass nur Kinder aufwachsen. Es gibt eine Gruppe von Kin- Darüber hinaus gibt es beträchtliche Un- im Alter von 12 Jahren und älter zu Fragen, dern, die nicht in vollem Umfang die ihnen terschiede zwischen den Kantonen in Bezug die sie betreffen bei Gericht gehört werden garantierten Rechte der Kinderrechtskon- auf die gewährte finanzielle Unterstützung für sollten, dass ein/e Minderjährige/r in einem vention geniessen. Lehrmethoden und die Familien in einer prekären Situation: Dies gibt Verfahren über Aufenthaltsrecht oder zur Arbeitsbedingungen der Eltern sowie die Anlass zu einer inakzeptablen Ungleichheit Beschulung nicht gehört werden muss, da soziale und kulturelle Herkunft führen zu bei der Behandlung der betroffenen Kinder. die Darstellung der Eltern als ausreichend erheblichen Diskrepanzen beim Schulbe- angesehen wird. Deshalb sind viele Kinder such der Kinder und ihrem Erfolg. Flüchtlingskinder nicht in der Lage, sich zu äussern, insbe- Ausserdem führen Unterschiede in den Die «Ausländerpolitik» ist in der Schweiz sondere nicht diejenigen, die am meisten Systemen zwischen den verschiedenen besonders streng. Es wird geschätzt, dass gefährdet sind, wie zum Beispiel junge schweizerischen Kantonen zu Ungleich- rund 10.000 nicht gemeldete Kinder in der Menschen mit Behinderungen. behandlung von Kindern: Zum Beispiel in Schweiz leben. Eine Studie von Terre des den Kantonen, in denen Kinder sehr schnell Hommes aus dem Jahr 2010 ergab, dass Text entnommen von humanium.org/de/schweiz/, in separierte Klassen in weiterführenden aufgrund der Komplexität des Asylantrags- Autorenangaben siehe Seite 8. 6 vpod bildungspolitik 209
Kinderrechte Unsere Schulen Mit dieser knappen Schilderung bringt die 11-jährige Schülerin die bestehende Ungerechtigkeit im Unterricht der Schule diskriminieren X auf den Punkt. Eigenständig beobachtet, differenziert reflektiert, authentisch. Die Mutter staunte sehr ob dieser Erkenntnis ihrer Tochter: «Diese ist eine sehr gute und Das Schweizer Volksschulsystem verstösst gegen Bundesver- fleissige Schülerin (wie das die Lehrer ja fassung und UN-Kinderrechtskonvention – ungestraft und im mögen und wie das viele Mädchen sind), sie Einverständnis mit offizieller Bildungspolitik und öffentlicher müsste sich leistungs- und tempomässig also Meinung. Von Hans Joss keine Gedanken machen diesbezüglich und Die Mutter, die in einer Kleinstadt im doch stellt gerade sie so viele Ungerechtigkei- Kanton Bern lebt, erzählte, dass ihre Tochter ten fest! Dieses Thema beschäftigt sie enorm, Bundesverfassung: kürzlich gesagt habe, sie wisse jetzt, warum es insbesondere nach den Tests. Und mich als Krieg gibt – weil man in der Schule so asozial Mutter beschäftigt, dass 11-jährige Kinder Art. 8. Abs. 2 werde. (Eine alarmierende Aussage, mit der so etwas nicht ändern können und auch wir «Niemand darf diskriminiert man die betreffende Schule konfrontieren für diese Kinder kaum etwas ändern können werden, namentlich nicht wegen müsste, H.J.). Als die Mutter sie fragte, wie im Moment.» der Herkunft [AusländerInnen, sie denn nur darauf komme, antwortete die H.J.], der Rasse, des Tochter, dass die Lehrerinnen immer beton- Machtlos gegenüber Geschlechts, des Alters, der ten, dass soziales Verhalten wichtig sei, dabei Diskriminierung Sprache, der sozialen Stellung lerne man in der Schule ja das Gegenteil: Das Gespräch zeigt schonungslos und ehr- [der sozialen Herkunft, H.J.], Man werde dauernd verglichen. Wer schlecht lich, in welchem Dilemma die Volksschule der Lebensform, der religiösen, in der Schule sei, gelte bei den anderen als seit den Anfängen im 19. Jahrhundert steckt. weltanschaulichen oder Verlierer. Die langsam arbeitenden Schüler Einerseits verlangt die Bundesverfassung, politischen Überzeugung oder würden in den Tests bestraft, wenn sie keinen dass Kinder und Jugendliche in ihrer Ent- wegen einer körperlichen, Nachteilsausgleich hätten, weil sie das Blatt wicklung zu selbstständigen und sozial geistigen oder psychischen nicht fertig machen dürften und die leeren verantwortlichen Personen gefördert und in Behinderung.» Aufgaben Punkteabzug gäben. Dabei seien ihrer sozialen, kulturellen und politischen diese Schüler doch nicht dumm, sondern Integration unterstützt werden. Im Sinne einfach nur langsam und dadurch vielleicht von: Einer für alle, alle für einen. Gleichzeitig Foto: mashiki / photocase.de genauer, ob das denn nichts wert sei. Und übernimmt die Volksschule – illegal, im E ine Mutter berichtete mir vor kurzem von einem eindrücklichen Gespräch mit ihrer 11-jährigen Tochter. An dessen Inhalt warum man eigentlich zwingend nach einer gewissen Zeit das Blatt abgeben müsse und nicht einfach so lange arbeiten könne, wie Widerspruch zum gesetzlichen Auftrag – die diskriminierende Aufgabe, Jugendliche nach dem sechsten Schuljahr in bis zu vier unter- lässt sich gut zeigen, dass sich die Volksschu- man Zeit brauche. Es sei ja logisch, dass schiedliche Leistungsgruppen einzuteilen. le nicht an das Diskriminierungsverbot der man so nicht lerne, Rücksicht zu nehmen Gemäss dem asozialen Grundsatz: Einer für Bundesverfassung hält. auf Schwächere und Langsamere! alle, jeder für sich. vpod bildungspolitik 209 7
thema FÜR KINDER ERKLÄRT Kinderrechtskonvention, Artikel 29: Eine solche Schule diskriminiert1. Betrof- die Bundesverfassung ausnahmslos verbie- fen sind in der Schweiz vor allem fremd- tet. Die Lehrpersonen sind gezwungen, sich Was Kinder in der Schule sprachige Kinder und Kinder aus sozial entsprechend den Rahmenbedingungen des lernen sollen schwachen Schichten. Schulsystems zu bewegen. Sie müssen die In der Schule soll nicht nur gelesen, Der zweite, dritte und vierte Bericht der höchst umstrittene Zuweisung der Lernen- geschrieben und gerechnet werden. Kinder schweizerischen Regierung zur Umsetzung den in Leistungsklassen nach dem sechsten sollen auch ihre besonderen Begabungen des Übereinkommens über die Rechte des Schuljahr vornehmen. Wenn sie dazu nicht kennen lernen und diese vertiefen. Sie Kindes («Kinderrechtskonvention») stellt bereit sind, müssen sie die Stufe wechseln sollen lernen, ihre eigene Meinung zu fest: «Der Anteil der Kinder, welche die oder den Schuldienst verlassen. haben, diese zu sagen und die Meinung der Sekundarstufe I, Grundansprüche (z.B. Gegen diesen Verfassungsbruch und die anderen anzuhören und anzunehmen. Sie Realschule) besuchen, ist bei der auslän- Missachtung der Kinderrechte, Lernende sollen lernen, eine gemeinsame Lösung bei dischen Bevölkerung mit 41 Prozent fast ab der siebten Klasse in Gewinnende und unterschiedlichen Meinungen zu suchen. Sie doppelt so hoch wie bei der schweizerischen Verlierende aufzuteilen, kann selbst der sollen lernen, sich zu informieren und ihre Bevölkerung mit 23 Prozent. Nach der obliga- Lehrplan 21 nichts ausrichten. Er kann eigenen Ideen auszuprobieren. torischen Schulzeit haben insbesondere Ju- nur darauf hinweisen, dass jeder Kanton Es ist wichtig, dass Kinder die Sitten und gendliche ausländischer Herkunft mit einem den Umfang der Ungerechtigkeiten (No- Bräuche ihres Landes kennen und sich wohl Realschulabschluss überdurchschnittlich tengebung und Selektion) nach eigenem fühlen und auch stolz sind, wenn sie tanzen, Mühe, eine Lehrstelle zu finden.» In diesen Ermessen beeinflussen kann. singen und leben, wie sie es in ihrer Heimat Worten wird die Ohnmacht der verantwort- Das geteilte Schulsystem erfüllt damit die tun würden. lichen schweizerischen Regierung deutlich, Erwartungen grosser Teile der Gesellschaft Kinder sollen ihre Muttersprache kennen die anscheinend ein solch hochgradig unge- an die Schule. Eine ungeteilte Volksschule und sprechen. Mädchen und Jungen rechtes Volksschulsystem nicht zu ändern ohne Selektion, dafür mit innerer Diffe- haben die gleichen Rechte und Pflichten. vermag. Hier sind Akteure und Gruppen renzierung – von der Bundesverfassung Ausländerkinder haben die gleichen Rechte am Werk, welche die staatlichen Vorgaben kompromisslos gefordert – hat zum jetzigen wie die einheimischen Kinder. All dies zu unterlaufen. Zeitpunkt nicht den Hauch einer Chance, respektieren soll jedes Kind lernen. umgesetzt und mehrheitsfähig zu werden. Verfassungsbruch Einen Lichtblick bilden «Modell-4-Schulen» Zu lernen, dass Frieden besser ist als Krieg, Die aktuelle, diskriminierende Volksschule im Kanton Bern, welche ungerechte Be- der Schutz der Umwelt wichtiger ist als die wird auch als «gegliedertes Bildungssys- handlungen von Jugendlichen möglichst Zerstörung, macht dich mitverantwortlich tem» bezeichnet. Das heisst, nach dem minimieren. für unsere Erde. Dies zu lernen bedeutet 6. Schuljahr findet ein Übertritt von der Die Öffentlichkeit erkennt leider immer danach zu leben. Und doch ist es manchmal Primarstufe in die Sekundarstufe 1 statt, in noch nicht, dass die 11 Jahre dauernde schwierig eine gemeinsame und gerechte der die Lernenden in bis zu 4 verschiedene Volksschule bei rund einem Fünftel der Ler- Lösung zu finden, wenn du z.B. mit Leistungsgruppen aufgeteilt werden. Diese nenden bewirkt, dass dieses die Volksschule jemandem Streit hast. Versuchen soll man willkürliche, ungerechte Aufteilung (gemes- psychisch angeschlagen und mit negativen es aber auf jeden Fall. sen an wissenschaftlichen Standards) enthält Selbstzuschreibungen verlässt. Im Sinne negative und positive Diskriminierungen/ von: «Ich bin dumm, ich schaffe es nie.» Zuschreibungen, wie sie die Bundesverfas- Dieses Unrecht ist beschämend für eines Kinderrechtskonvention, Artikel 39: sung klar verbietet. Positiv diskriminiert der reichsten Länder der Welt. werden leistungsstarke Lernende, negativ Was bedeutet diskriminiert werden leistungsschwache Etwas tun Wiedergutmachung? Schüler, häufig aus sozial schwächeren Wer sich für eine verfassungskonforme, Es gibt Kinder, die trotz der Gesetze Schichten. Wie bereits gesagt verbietet chancengerechte Schule aktiv und poli- gequält, gefoltert, misshandelt oder unsere Bundesverfassung, an der sich auch tisch zielführend einsetzen will, kann dem ausgebeutet werden. (Oder die in der die Bildungsgesetzgebung orientieren sollte, «Verein für eine Schule ohne Selektion» Schule ungerecht behandelt und willkürlich kategorisch jegliche Form von Diskrimi- beitreten. stigmatisiert wurden: «Ich bin dumm, nierung und ungerechter Behandlung von langsam, schaffe es nie.», H.J.) Schülerinnen und Schülern. Sie verlangt www.vsos.ch optimale individuelle Förderung während www.hansjoss.ch Es gibt Kinder, die an Kriegen teilnehmen neun Jahren, ohne nachweisbare Unge- www.boggsen.ch mussten. Sie alle haben grosses Leid rechtigkeiten und Benachteiligungen von erfahren. Diese Kinder haben das Recht auf Lernenden. Wiedergutmachung. Es bedeutet, dass die Die eingangs erwähnte 11-jährige Schü- 1 Diskriminierung bezeichnet eine Benachteiligung oder Kinder ärztliche Hilfe, Zeit für Gespräche, Herabwürdigung von Gruppen oder einzelnen Personen lerin stört sich an der für unser Bildungs- nach Massgabe bestimmter Wertvorstellungen oder Zeit sich in Ruhe zu erholen erhalten. system konstitutiven Doppelmoral, welche aufgrund unreflektierter, zum Teil auch unbewusster Einstellungen, Vorurteile oder emotionaler Assoziationen. auch das Verhalten der Lehrpersonen prägt: Rücksichtnahme auf schwächere und lang- Aus: Konvention über die Rechte des samere Schülerinnen und Schüler, bei Hans Joss ist promovierter Kindes. Für Kinder erklärt. Abrufbar unter: gleichzeitiger Förderung von asozialem, Psychologe FSP. Er war Dozent https://www.unicef.ch/sites/default/files/ rücksichtslosem Verhalten in Prüfungs- am Institut für Weiterbildung attachements/unicef_kinderrechte_fuer_ situationen. Mit nirgends vorgegebenen (PH Bern) und ist derzeit als kinder_erklaert_2007.pdf Leistungsvergleichen definiert jede Schule freier Psychologe, Supervisor willkürlich Gewinnende und Verlierende, und Coach tätig. macht unzulässige, unverantwortliche Zu- schreibungen/Diskriminierungen, wie sie 8 vpod bildungspolitik 209
Kinderrechte Selim. «Warum schlägt dich dein Vater?», wurde er gefragt. «Er schlägt mich, wenn ich einen Auftrag der Mutter nicht gut ausführe». Ich staunte über Selims differenzierte Ausdrucksfähigkeit. Dieser Junge konnte sich scheinbar klar abgrenzen von der Meinung der Lehrkraft. Dass er aber ein Unrecht verteidigte, das ihm geschah, zeigte, dass er nicht reif ist, um zu erfahren und zu verstehen, welche Rechte er hat. Sein Kindeswohl ist gefährdet. Selim ist fremdbe- stimmt durch den Vater, der seinerseits auch fremdbestimmt ist – kulturell.1 Vielleicht will sich Selim auch davor schützen zu erfahren, dass sein Vater sich irrt und Fehlhandlungen begeht. Tatsächlich kann es eine bittere Er- fahrung sein für Kinder, wenn sie entdecken, dass Erwachsene versagen oder gar lügen. Wie finden Kinder selbst zum «Kindeswohl»? Kinder sollten nicht gezwungen werden, «Mein Vater darf mich eine eigene Meinung zu haben, bevor sie sie aufgrund von Erfahrungsgrundlagen auch tatsächlich selbst bilden können. Oft wird schlagen!» diese Regel nicht beachtet und die Kinder werden ständig vor Entscheidungen gestellt, die sie überfordern. Eine klare Abgrenzung von der Umgebung erfordert intellektuelle Was sollen Lehrpersonen und Schule tun, wenn Kinder ihre Rechte Selbständigkeit. Kinder kommen nicht mit nicht kennen und in Anspruch nehmen wollen? einer eigenen Meinung auf die Welt. Die Von Susanne Beck-Burg Kompetenz, autonom zu denken, bildet sich nach und nach, für diese müssen erst die I n einer meiner ersten Klassen, die ich un- terrichtete, war ein Kind, das durch seinen besonders lebendigen Charakter auffiel. Alle Den Eltern ausgeliefert Die Welt durch die Augen seiner Mitmen- schen zu entdecken, entspricht einem kind- Grundlagen durch eine Stärkung der Persön- lichkeit geschaffen werden. Dies kann zum Beispiel der Kontakt mit Kunst ermöglichen. Kinder liebten Phillip. Als ich gegen Ende des lichen Ur-Bedürfnis. Dass Kinder vorerst Nach Artikel 29 der Kinderrechtskonvention Schuljahres fragte, welche Geschichte ihnen das Gleiche als richtig empfinden möchten KRK haben die Kinder das Recht, ihre geis- bis dahin am besten gefallen hätte, antwortete wie die Eltern, zeigt die folgende Unter- tigen Fähigkeiten zu entfalten: Dazu gehört, ein Schüler: «Mir gefällt die Geschichte am richtsszene: künstlerische Ausdrucksmittel zu finden, die besten, die Phillip am besten gefällt.» Dieser In der letzten Deutschstunde vor den ihnen und ihren Bedürfnissen entsprechen. Schüler hatte keine Ahnung, welches die Herbstferien blickte ich mit der 2. Klasse Die KRK formuliert die Rechte der Kinder, Lieblingsgeschichte von Phillip war. Darauf auf die Geschichte «Eisenhans» (Grimm) die zu ihrem Wohl führen sollen. Was der fragte ich die anderen Kinder, und alle ausser zurück. Darin flüchtet ein Junge aus sei- Begriff «Kindeswohl» bedeutet, wird durch einem, Urs, gaben die gleiche Antwort, dass nem Elternhaus aus Angst, er werde von die Erkundung der kindlichen Bedürfnisse ihnen das gefalle, was Phillip gut finde. – Es seinen Eltern geschlagen. Hatte er doch eine konkret. Der Fall Selim zeigt allerdings, dass waren nicht labile Kinder. Handlung vollzogen, die gegen den Willen es nicht leicht ist, ein kindliches Bedürfnis Kleine Kinder orientieren sich vorerst an seiner Eltern war. Im Gespräch mit den wahrzunehmen. Selims Bedürfnis seinen den Empfindungen und der Sicht anderer. Kindern liess ich die Bemerkung fallen: «Die Vater zu lieben, scheint grösser zu sein als Sie nehmen mit ihren Sinnen ungefiltert Eltern dürfen ihre Kinder nicht schlagen.» dasjenige, über sein Recht aufgeklärt zu und vorurteilslos auf, was in ihrer Umgebung Darauf entgegnete Selim, ein türkischer werden. Wer weiss, ob Selim, wenn er sein vorgeht. Glücklich sind diejenigen, die «sinn- Knabe: «Mein Vater darf mich schlagen!». Recht verteidigen würde, erst recht das Opfer volle» Verhältnisse vorfinden. Kinder wollen Überrascht über dieses Votum wiederholte von Gewalt würde? Vielleicht würde ihn sein tätig sein. Ihrem Wesen gemäss «kopieren» ich, dass die Eltern kein Recht haben dazu. Vater einschüchtern, damit er der Lehrerin sie, was an sie herankommt. Das nachahmen- Ebenso zementierte Selim seine Ansicht. Die nicht mehr erzählt, wenn er geschlagen wird. de Klangliche z.B. führt zum Spracherwerb. Klasse geriet in Bewegung. Ein paar Jungs Ein anderes Kind, dessen Vater auch Ge- In den Emotionen und Willensimpulsen unterstützten Selim, indem sie sich ihm walt ausübte, wurde zum Schulpsychologen Foto: estherm / photocase.de ihrer Bezugspersonen erleben sie ihre zur Seite stellten. Andere Kinder schüttelten geschickt auf die Erziehungsberatung. Als es Gedankenart und Lebenshaltung, bevor den Kopf und näherten sich dem Lehrerpult zurückkam, sagte mir der Knabe, (auch ein sie eigene Gedanken formulieren können. an. Ein Mädchen kuschelte sich an mich. Zweitklässler): «Es ist mir gelungen, nicht Kinder fühlen sich angezogen von allem, was Spürte es meine Ratlosigkeit? Mir fehlte jede alles zu erzählen.» Dieses Beispiel zeigt sie innerlich und äusserlich zu Bewegung pädagogische Intuition. Die Pausen- und mir, wie ich als Lehrperson Verantwortung animiert, von allem, was lebendig ist. Dies Ferienglocke läutete. Die meisten Kinder trage, wenn Kinder sich öffnen. Durch das können auch Geschichten und Märchen sein. drängten davon. Einige blieben stehen mit Weiterleiten an Fachstellen ist die Lösung vpod bildungspolitik 209 9
Kinderrechte nicht garantiert. Kinder brauchen Vertrau- Konflikt? Selim ist aufgeweckt und kann in der Angst, er bringe eine mittelmässige enspersonen. Ein Schulsozialarbeiter mit seine Gedanken auffallend prägnant formu- anstatt eine gute Leistung nach Hause, und seiner Schweigepflicht kann vielleicht mehr lieren. Empfindet er einen Zwiespalt? Bricht werde deshalb als Strafe nicht in die Som- bewirken als die Lehrkraft. Allerdings geht für ihn etwa eine Welt zusammen? Erkennt merfamilienferien in die Türkei mitreisen die Schweigepflicht schnell in die Melde- er, dass sein Vater im Unrecht ist? Er möchte dürfen. Diese Panik gründete auf vorange- pflicht bei Gewalt-Verdacht über. so gerne das gut finden, was sein Vater tut. gangenen Ferien, in denen er tatsächlich zu Eine Lehrerin der Oberstufe sagte mir, sie Dass er sich direkt mit dem Vater austauscht, Hause bleiben musste. hätte bezüglich Körperstrafen in der 7. Klasse ist jedoch eher unwahrscheinlich. Vielleicht Viele Fragen bestürmen mich, bis zu das Gleiche erlebt. Ein Schüler hätte behaup- dauert es bis zur Pubertät, bis der Konflikt Schuldgefühlen, die sich melden: «Was tet, dass die Eltern ihre Kinder zu Recht ausbricht. Im Moment überwiegt bei Selim habe ich bis jetzt unternommen, um solche schlagen. Er verstärkte seine Meinung noch wohl die Harmoniebedürftigkeit, er will sich Väter aufzuklären?» Ich werde mit der durch die Bemerkung, er werde seine Kinder zu Hause fühlen und nicht, wie im Märchen Schulleitung sprechen und in den Akten später auch schlagen. Die Lehrerin wies auf «Eisenhans», flüchten müssen. nachschauen. Der Austausch im Lehrer- die Menschenrechte hin und es entstand ein Ich empfinde Groll aufsteigen gegenüber zimmer erleichtert mich ein wenig, eröffnet Gespräch in der Klasse. Am folgenden Tag dem Vater von Selim. Ist er also der Sün- aber neue Baustellen. Wieweit kann die sei der Junge gekommen und hätte gesagt, er denbock für mich und schuld, wenn Selim Erziehung solcher Väter an öffentlichen habe es sich überlegt und herausgefunden, Unfug treibt im Unterricht und mich so Elternabenden stattfinden? Ist es nicht eine dass die Lehrerin recht habe. Mit seiner zwingen will, auch Druck auszuüben? Ich Zumutung für eine Lehrerin, solche Kinder Behauptung, Schlagen sei ok, suchte er die wende konsequent gewaltfreie Erziehungs- zu erziehen? Sollte dies nicht Männern Auseinandersetzung. Ist es Zufall, dass der methoden an, aber diese sind bei Kindern, die übergeben werden, die dann auch die Väter Siebtklässler den Dialog über Gewalt in der Gewalt gewöhnt sind, sehr herausfordernd besser unterweisen könnten? Würde aber Erziehung mit seiner Kunstlehrerin führte? für die Lehrkräfte. Spüren solche Kinder nicht gerade dies Patriarchen in ihrer Rolle Ich denke nicht, künstlerische Betätigung mehr Freiheiten, als sie es üblicherweise unterstützen? Ich werde mich weiterbilden, fördert auf jeder Entwicklungsstufe Kom- kennen, überborden sie zuerst. Es braucht weiterhin Anregungen und den kollegialen petenzen der Selbstfindung. Vielleicht wäre Geduld, bis sie ihre Mitte finden. Austausch zum Thema «Vermittlung von dies auch für Selim ein Weg. Kinderrechten für und an 8-9-Jährige» Aufklärung der Eltern suchen, vielleicht finde ich Hilfe und Un- In der Schweiz ist ein Netzwerk von 50 terstützung. Organisationen bemüht für die Umsetzung Die Meinungen, wie Lehrpersonen han- der Kinderrechtskonvention. Pro Juventute deln sollen, wenn Eltern ihre Kinder schla- und Unicef haben vieles in Gang gesetzt. Es gen, gehen auseinander: «Telefoniere sofort «Klar ist, dass sind Lehrmittel entstanden mit praktischen den Eltern!», «Mache gar nichts selber!», Lektions-Beispielen zur Umsetzung der Kin- «Wende dich an die Schulsozialarbeit zur ein inklusives, derrechte. Darin finden sich viele gute Ideen Abklärung, ob eine Gefährdungsmeldung diskriminierungsfreies und pädagogische Konzepte. Wie man jedoch auf der Unterstufe kindergerecht klar macht, angebracht ist!». Körperliche Gewalt sei nicht schlimmer als psychische, sagen einige. Dies Bildungssystem hilft, dass Körperstrafen erniedrigend und verbo- ten sind, ist mir bis jetzt nirgends begegnet. stimmt gewiss. Doch nichtsdestotrotz müs- sen dringend Massnahmen gegenüber kör- Gewalt gegen Kinder Wie Selim zeigt, ist dies vermutlich für die perlicher Gewalt ergriffen werden, ebenso Unterstufe kein geeignetes Thema. Mir ist wie gegenüber den weniger offensichtlichen, zu verhindern und klargeworden, dass die Bekanntmachung psychischen Formen von Gewalt. dieser zu begegnen.» von Kinderrechten für dieses Alter noch keine Lösung ist. Je kleiner die Kinder sind, Klar ist, dass ein inklusives, diskriminie- rungsfreies Bildungssystem hilft, Gewalt desto mehr Schutz brauchen sie. Sie sind gegen Kinder zu verhindern und dieser zu drauf angewiesen, dass die Grossen für ihre begegnen. Und vor allem braucht es die Rechte sorgen. Hier müsste dringend und nötigen Ressourcen, um mit diesem grossen nachhaltig bei der Aufklärung der Eltern Problem umzugehen – insbesondere ange- angesetzt werden. Es ist die Aufgabe der messen ausgebildete Fachkräfte. Wie geht es Selim? Erwachsenen, das Wesen der Kinder zu Selim, der 8-jährige türkische Schüler, erkunden, um ihnen gerecht zu werden. erlebt, wie am Schulfest seine Lehrerin auf Gerade in dem Zeitraum, in dem Kinder Susanne Beck-Burg arbeitet seit zwei Jahren als seinen Vater zugeht und ihm die Hand zur ihre Rechte noch nicht verstehen können. IF-Lehrperson in Biel. Zuvor war sie in verschiedenen Begrüssung geben will. Dieser zieht die seine Das Recht auf gewaltfreie Erziehung ist alternativen Schulprojekten tätig. Mit 57 Jahren explizit zurück. Was geht dabei in Selim eine Grundlage für die Entwicklung ihrer absolvierte sie die Pädagogische Hochschule als vor? Entsteht ein Konflikt in ihm: Wer hat Persönlichkeit, ihres Urteilsvermögens und «Quereinsteigerin», nachdem sie mit 17 aus dem recht? Beschäftigt ihn, was seine Lehrerin Rechtsbewusstseins. Lehrerseminar ausgestiegen war. Susanne Beck-Burg und einige Gspänli zum Verhalten seines Ich erinnere mich an Selims Zustand vor ist Mitglied des «Vereins für eine Schule ohne Selektion» Vaters sagen? Wie geht er um mit diesem den Sommerferien. Er lebte wochenlang und der Redaktionsgruppe der «vpod bildungspolitik». 1 In unserem Kulturkreis wollen nur Ma- nen Gremien immer wieder diskutiert, wie- nung hinsichtlich Körperstrafen Grauzonen Österreich bereits seit 1989. Vorreiter war sochisten geschlagen werden. Aber ist es weit Körperstrafen noch zu tolerieren seien. aufweist. Tatsächlich gehört die Schweiz bis nochmals zehn Jahre früher Schweden. wirklich so einfach? Ja, UN-Kinderrechts- Obschon Artikel 11 der Bundesverfassung heute leider nicht zu den 29 Ländern, die Dass in besagten Ländern deshalb oft Eltern konvention, Zivilgesetzbuch und Organisa- die Unversehrtheit von Kindern und Jugend- jede Körperstrafe im Erziehungsverhältnis wegen des Schlagens ihrer Kinder verfolgt tionen wie der «Kinderschutz» bringen klar lichen unter Schutz stellt und im ZGB Art. rechtlich verbieten. Dagegen ist seit dem würden, heisst dies natürlich noch nicht. zum Ausdruck, dass Körperstrafen verboten 302, Abs. 1 Tätlichkeiten, Ohrfeigen, Faust- Jahr 2000 die BR Deutschland («Kinder Doch die rechtlichen Grundlagen dazu sind. Trotzdem wird auch in der Schweiz auf schläge, Fusstritte explizit verboten sind, haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung») wären gegeben. verschiedenen Ebenen und in verschiede- muss man sagen, dass unsere Rechtsord- einer dieser fortschrittlichen Staaten – 10 vpod bildungspolitik 209
Kinderrechte «Das ist alles nur zu zu einer universell gelebten Wirklichkeit werden können. deinem Besten!» Wer spricht und handelt für die Kinder? Drittens schliesslich ist spezifisch für Kin- derrechte, dass ihre argumentative mora- Braucht es eine besondere Ethik allein für Kinder zur lische Begründung von Erwachsenen zu Rechtfertigung von Kinderrechten und zur näheren Bestimmung der leisten, sie von Erwachsenen in konkrete Bedeutung des «Kindeswohls»? Und trägt sie auch bei zur realen Gesetzesregeln zu fassen (zu «legiferieren») Verbesserung der Lage der Kinder, insbesondere in den Armuts- und sie von Erwachsenen interpretierend und Elendsregionen der Welt? Von Thomas Ragni adäquat anzuwenden (zu «exekutieren») sind. Doch die gesellschaftlich notwendige D ie moralisch begründeten «Kinderrech- te» haben sich 1989 in der UN-Kinder- rechtskonvention– in strikter Analogie zur Staaten nicht vor einem unabhängigen Gericht einklagbar und dann – von welcher überstaatlichen (?) Machtinstanz – auch Legitimation für die Rechtsbegründung, die Rechtssetzung und die Rechtsanwen- dung eines beliebigen Gesetzes, das nicht UN-Menschenrechtskonvention – kristal- wirklich durchsetzbar sind. Kann daran die ausschliesslich technische, sondern (auch) lisiert.1 Ihr Geltungsanspruch ist damit als Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonven- normative Regeln in Kraft setzt, kann allein ein universeller (kulturunabhängiger) aner- tion durch fast alle Staaten der UN – mit der gesamtgesellschaftliche Konsens aus kannt. Die Schweiz hat sie 1997 ratifiziert. Ausnahme der USA! – irgendetwas ändern? einem moralischen Diskurses liefern. Dieser Im Zusammenhang mit der Kinderrechts- Und selbst wenn diese Bedingung formell Konsens ist aber nicht realisierbar, weil konvention sehe ich drei Dilemmas: Die in erfüllt wäre, würde zweitens die konkrete moralische Diskurse alle potentiell Beteilig- den ersten Artikeln genannten «Pflichten» Umsetzung und die effektive Wahrnehmung ten und Betroffenen mit gleicher Stimme des Staates, zum Beispiel ganz elementar der Rechtsansprüche am «abstrakten libera- einbeziehen müssen, die betroffenen Kinder Foto: motorradcbr / Fotolia.com «das angeborene Recht auf Leben und die len Verständnis des Legalismus» leiden, der wegen ihrer «Unmündigkeit» jedoch nicht Pflicht des Staates, das Überleben und die davon absieht, die konkreten materiellen einbeziehen können. Die Kinder bleiben Entwicklung des Kindes sicherzustellen», und sozialen Bedingungen zu identifizieren unvermeidlich Objekte des moralischen sind erstens dem Dilemma des «leeren und im Anschluss daran auch wirklich zu Diskurses, was aber den Prinzipien des Sollens» (Georg Wilhelm Friedrich He- erfüllen – damit all die schön klingenden moralischen Diskurses fundamental wi- gel)2 ausgesetzt, solange diese Rechte der moralischen und dann in Gesetzesform derspricht. Dieses Dilemma wird durch die Kinder und die Pflichtvergessenheit der gegossenen Prinzipien auch zu tatsächlich advokatorische Ethik3 thematisiert. vpod bildungspolitik 209 11
Kinderrechte In spezifisch pädagogischen Kontexten für die wenigsten jungen Menschen, die die und (3) je höher der Anteil ist, der jenseits der findet sich die (nicht weiter begründbare) formale Berechtigung zum Studium erwor- minimalen Schulpflicht für die Schulkarriere Prämisse, dass «Kinder» als «unmündig» ben haben, einen entsprechenden Ausbil- «privat» zu finanzieren ist. bestimmt werden, das heisst, dass davon dungsplatz bereitstellen können. Und selbst ausgegangen wird, dass Kinder selber nicht in den materiell genügend wohlhabenden Entwicklungsbedingungen für ein fähig und / oder nicht willens sind, von selbst Staaten ist keineswegs sichergestellt, dass sie selbstbestimmtes Leben aus ihre Existenz zu reflektieren und danach auch wirklich genügend Ausbildungsplätze Eine teleologische Ethik muss die «Ziele» eigenständig ihre wichtigsten Lebensziele zu bereitstellen. der Erziehung und Sorge der zunächst bestimmen. Eine advokatorische Ethik will Ein Problem in diesen ist, dass Bildungs- elterlichen Bemühungen bestimmen und aufklären, unter welchen strikt universali- karrierechancen sozial ungleich verteilt sind. moralisch begründen. Die Beachtung des sierbaren Bedingungen (im kantianischen Die via «signifikanten» Habitus-Differenzen «Kindeswohls» erscheint hier als stets Sinn) als mündig erachtete Personen nicht (Pierre Bourdieu) sich reproduzierende zu erfüllende Rahmenbedingung der je nur die moralische Berechtigung, sondern versteckte institutionelle Diskriminierung vorzugebenden Zielerreichung. Ein immer die Pflicht haben, bei fehlender Willensäu- und Diskrimination 4 ist vermutlich nur bekannter gewordener moderner Ansatz in sserung und im Grenzfall gegen den geäu- der kleinere Teil des Problems der sozialen der Nachfolge der aristotelischen Ethik der sserten Willen von hilflosen und unmündig Diskriminierung / Diskrimination. Nebst Ermöglichung eines «guten (würdevollen, erachteten Personen in deren aufgeklärtem der innerhalb der Institutionen des Bildungs- sinnerfüllten, geachteten…) Lebens» ist der Interesse und zu deren «eigenem Besten» wesens sich (versteckt) manifestierenden «Capability-Ansatz» von Amartya Sen, der (im aristotelischen Sinn) auf eine Weise (un-)willentlichen Bevorzugungen und aufklären möchte, welche alternativ hinrei- zu handeln, dass deren «unverlierbare Benachteiligungen existieren bereits ausser- chenden Bedingungen erfüllt sein müssen, Menschenwürde» nicht bloss nicht verletzt, halb der Institutionen des Bildungswesens damit ein heranwachsender Mensch alle sondern überhaupt erst gewahrt bleibt. wirkmächtige Selektionsmechanismen, die notwendigen Fähigkeiten entwickeln kann, Die Pflege und Sorge hilfloser Menschen darüber «blind» oder «selbstläufig» bestim- die er für ein selbstverwirklichtes Leben (Neugeborener, Schwerinvalider, Hochbe- men, welche Sprösslinge überhaupt den benötigt.5 tagter, geistig Schwerbehinderter) ist ein Ehrgeiz und das Interesse entwickeln, eine Doch zuvor stellt sich das grundsätzlichere moralisch eindeutiger Fall. Schwieriger «Schulkarriere» anzustreben. Die angeblich («fundamentalere») moralische Dilemma wird es aber bereits bei der «Erziehung» von «rein subjektive» Motivation, sich in der des «Paternalismus»: Ist es nicht per se eine Kindern und Jugendlichen: Wer bestimmt Schule mit unter Umständen viel Mühe Anmassung, für das Kind zu bestimmen, und beurteilt, welche (im Rechtssinn: natür- und Überwindung anzustrengen, dann auch was für es am besten ist und willkürlich zu lichen) Personen «mündig» sind und welche Anerkennung aus Lernerfolgen zu gewinnen behaupten, dass die so (pseudo-)legitimierten Personen in welchem Mass «unmündig» und schliesslich «intrinsische» Freude an pädagogisch motivierten Massnahmen an- sind (im Rechtssinn: in welchem Mass Bildungsprozessen zu entwickeln, hängt geblich stets sein «Wohl» bewahren – obwohl sie beschränkt handlungsunfähig sind)? nachweislich nicht von den (vorschulischen) das Kind fallweise lauthals seinen Protest und Prinzipiell müssten an einem solchen Ent- kognitiven Fähigkeiten der Zöglinge ab, son- Unwillen kundtut? Argumentationen auf scheid alle potentiell Betroffenen beteiligt dern massgeblich von zwei Erfolgsfaktoren, Basis eines «hellen liberalen Menschenbilds» werden, nicht nur die, wie auch immer, als welche die SchülerInnen je für sich ganz plädieren deshalb dafür, dass bevormun- mündig und erziehungsfähig beurteilten, realistisch zu beurteilen in der Lage sind, dende Zwänge wie etwa eine allgemeine sondern auch alle als unmündig beurteilten durchaus nicht verzerrt vom angeblich «bil- Schulpflicht abzulehnen ist. Kinder, so die Personen. dungsfernen» sozialen Milieu. Es sind zwei These, würden sich auch ohne pädagogische Bedingungen, die als Erfolgsfaktoren die Lenkung entwickeln, das einzelne Kind Formen der Diskriminierung Chancen für eine erfolgreiche Bildungskarri- soll – nicht trotz, sondern gemäss seinem Was bedeutet die Anwendung einer spe- ere ganz massgeblich beeinflussen: (a) Ist die je ganz eigenen Entwicklungsstand der ziellen advokatorischen Ethik für Kinder? Finanzierung für eine beliebige (auch teure) Unmündigkeit (!) – selber entscheiden, ob es Insofern sie einen strikt universalisierbaren Bildungskarriere gewährleistet, ohne den El- überhaupt eine Schule besuchen möchte, und Geltungsanspruch erhebt, muss sie von der tern zu grosse Opfer abverlangen zu müssen? wenn ja, welchen Regeln welcher Schule es abstrakten Egalität des «Rechts auf Bildung» (b) Wenn der angestrebte Schulerfolg reali- sich freiwillig unterwerfen möchte – bis auf ausgehen: Gemäss dem moralischen Prinzip siert ist, lassen sich daraus die Chancen für seinen jederzeit möglichen Widerruf. Damit des Diskriminierungsverbots hat jede/r die spätere Berufskarriere wirklich spürbar erübrigt sich auch eine advokatorische Ethik. Jugendliche weltweit dasselbe Recht, nach verbessern (und nicht bloss die meritorisch Das dunkle liberale Menschenbild unter- Absolvierung der obligatorischen Schule begründete Hoffnung einer «Leistungs»- stellt dieselben Prämissen und teilt auch eine akademische Bildung anzustreben, belohnung)? Letzteres verhindert die habi- dieselben Intuitionen wie das helle liberale sofern sie/er die benötige Zugangsberechti- tuelle Diskriminierung / Diskrimination der Menschenbild – mit einer einzigen, aber gung («Maturität») zu einer «höheren» Bil- Bourdieu’schen «feinen Unterschiede», die wichtigen Ausnahme: In einem natura- dungskarriere erlangt hat. Der institutionell nicht nur im Bildungswesen, sondern auch listischen Fehlschluss wird die vorsozia- intern konditionierte freie (unbeschränkte) wieder im Bewerbungsprozess beim Einstieg le menschliche Natur als «tierisch-böse» Zugang zu den entsprechenden Instituti- ins Berufsleben und danach in der ganzen angenommen. Die Angst vor dem Chaos onen gilt universell. Der so konditionierte Berufskarriere wirken. des Kampfes «jeder gegen jeden» und die Zugang ist meritorisch nur zu rechtfertigen, – Somit: Die herkunftsbestimmte Selekti- dadurch motivierte elitäre wohlwollende wenn jede/r die institutionell extern (sozial, vität ausserhalb des Bildungswesens, die den Sorge um eine steuerbare Herrschaftsord- kulturell, geschlechtlich…) unkonditionierte individuellen Erfolg in der Gesellschaft beein- nung führt unter anderem zur Überzeu- gleiche Chance erhält, die Zugangsberechti- flusst, wirkt umso stärker determinierend, (1) gung der Notwendigkeit eines autoritativen gung zu erwerben. je stärker die «refeudalisierenden» habituellen Erziehungs- und Bildungswesens. Gemäss An der konkreten Umsetzung des intern Diskriminierungen / Diskriminationen im einer solchen Argumentation muss der konditioniert freien Zugangs scheitern al- Erwerbsleben wirken, (2) je grösser die Reich- Bildungsprozess zu einem integrierten Teil lerdings bereits alle armen Staaten, die nur tumsunterschiede in der Gesellschaft sind eines umfassenden autoritären Erziehungs- 12 vpod bildungspolitik 209
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