Wintergewitter in Europa - Digitale Bibliothek
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Ausgabe Dezember 2021 Magazin der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Wintergewitter in Europa Seite 6 Pflanzliche Wirkstoffforschung Seite 8 ◼ Corona und Lehre Seite 10 ◼ Meinungsmacht im Netz Seite 16 ◼ Weihnachtliche Sinnsuche Seite 18 ◼ Beilage zur Tiroler Tageszeitung www.uibk.ac.at
© BfÖ 2021, Foto: © Eva Fessler „Ich rate zur Impfung. Die in Österreich verfügbaren Impfstoffe gegen Covid-19 sind sicher und wirksam.“ Priv.-Doz. Dr. Birgit Weinberger, Immunologin Forschungsinstitut für Biomedizinische Alternsforschung der Universität Innsbruck www.uibk.ac.at
3 Inhalt Ausgabe Dezember 2021 Editorial 00 4 Wissenschaftsskepsis über Corona hinaus Eine Eurobarometer-Umfrage bescheinigt Öster- reich besonders wenig Vertrauen in die Wissen- schaft. 6 Wenn es im Winter blitzt Innsbrucker Forscherinnen sind dem außerge- wöhnlichen Wetterphänomen auf der Spur. 8 Foto: Gerhard Berger 8 Gute Fette, schlechte Fette Abgesehen vom schädlichen Bauchfett haben Fette wichtige Funktionen in den menschlichen Zellen. 10 Lehrlingsausbildung und Corona Auch in vielen Betrieben waren hohe Anstren- gungen und Flexibilität nötig, um die Lehrlings- Liebe Leserin, lieber Leser! ausbildung aufrechtzuerhalten. Ein weiteres schwieriges Jahr neigt 12 Das Texterbe des Alltags sich dem Ende zu. Auch wenn wir alles Im Rahmen des Projekts „Zeit.Shift“ widmet daran gesetzt haben, trotz der Pande- sich die Universitäts- und Landesbibliothek Tirol mie so normal wie möglich zu arbeiten, der Digitalisierung von historischen Zeitungen war dies für alle Beteiligten oft schwer. aus Nord-, Ost- und Südtirol. Ich möchte hier besonders unsere Stu- 16 dierenden hervorheben, insbesondere 14 Der unsterbliche Süßwasserpolyp Hydra jene in den ersten Semestern, für die es Eine Studie beschreibt überraschende Eigen- eine große Herausforderung darstell- schaften von Stammzellen in wirbellosen Tieren. te, zu studieren, ohne regelmäßig an die Uni kommen zu können. Aber auch 16 Meinungsmacht im Netz für unsere Mitarbeiterinnen und Mit- Wie sollen Staaten, Gerichte und soziale Netz- arbeiter war es herausfordernd, jeweils werke mit gefährlichen Inhalten umgehen? flexibel zu bleiben, sich auf die jewei- ligen Rahmenbedingungen einzustel- 18 Weihnachtliche Sinnsuche len und sowohl in der Lehre als auch Der Theologe Józef Niewiadomski setzt sich mit in der Forschung oder in den Service- den Glaubensgrundlagen nicht nur des Weih- und Dienstleistungsabteilungen im- nachtsfests auseinander. mer wieder Lösungen zu finden. Und dass uns das 2021 ganz gut gelungen 20 Fenster in die Welt ist, zeigen auch die Zahlen der posi- Internationalität in Forschung und Lehre zählt tiven Abschlüsse und der erfolgreichen 18 zu den Stärken der Universität Innsbruck. Einwerbung von Forschungsmitteln. Einen kleinen Einblick in die For- 21 Freude über Zustiftungen schungsprojekte unserer Wissen- In diesem Jahr konnte die Stiftung der Universi- schaftlerinnen und Wissenschaftler tät Innsbruck zwei neue Zustiftungen gewinnen. finden Sie auch auf den folgenden Sei- ten. Sehr aktuell zeigen sie unter an- derem auf, dass Corona durchaus auch Chancen bietet, dass die Meinungs- freiheit im Internet natürlich recht- liche Grenzen hat oder wie es sich mit IMPRESSUM der Wissenschaftsskepsis in Österreich verhält. wissenswert – Magazin der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck – 21. Dezember 2021 Ich wünsche Ihnen angenehme Feier- Herausgeber und Medieninhaber: Universität Innsbruck; Hersteller: Intergraphik GmbH. Sonderpublikationen, Leitung: Frank Tschoner; tage und uns allen ein neues Jahr, das Redaktionelle Koordination: Susanne E. Röck, Christa Hofer. uns bald wieder unser gewohntes Le- Redaktion: Melanie Bartos, Christa Hofer, Stefan Hohenwarter, Lisa Marchl, Fabian Oswald, Susanne ben ermöglicht. E. Röck, Miriam Sorko, Uwe Steger. Bleiben Sie aber vor allem gesund! Covergestaltung: Catharina Walli. Foto Titelseite: Micah Tindell on Unsplash. Fotos Seite 3: Bionorica SE/Gerhard Berger; iStock/VioletaStoimenova, Smileus Univ.-Prof. Dr. Tilmann Märk Anschrift für alle: 6020 Innsbruck, Brunecker Straße 3, Postfach 578, Tel. 0512 53 54-1000. Rektor der Universität Innsbruck
4 Wissenschaftsskepsis weit über Corona hinaus Eine aktuelle Eurobarometer-Umfrage bescheinigt Österreich besonders wenig Vertrauen in die Wissenschaft. Weshalb ist das so? Univ.-Prof. Leonhard Dobusch vom Institut für Organisation und Lernen ist Experte für digitale Öffentlichkeiten und beobachtet die gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie. Eine Spurensuche inklusive (optimistischem) Ausblick. wissenswert: Österreich hat eine niedrige der Österreicher*innen glauben etwa, dass trieländer, wo der Impfstoff auch verfügbar Impfquote, zahlreiche Menschen demons- Wissenschaftler*innen nicht ehrlich sind, ist, fallen Österreich, Deutschland und die trieren gegen Maßnahmen zur Eindämmung knapp ein Viertel ist unentschieden. Durch Schweiz auf. Dafür gibt es sicher viele ak- der Pandemie, manche sprechen daher von die Pandemie wurde besonders deutlich: Viele tuelle wie historisch gewachsene Ursachen, einer „gespaltenen Gesellschaft“. Und das, Menschen zweifeln an wissenschaftlicher die es noch genau zu erforschen gilt. In Ös- obwohl auf wissenschaftlicher Ebene in Be- Erkenntnis und an der Glaubwürdigkeit von terreich wäre es meiner Ansicht nach besser zug auf das Virus breiter Konsens zu seiner Expert*innen. Warum? gewesen, die Impfdebatte möglichst frei von Gefährlichkeit besteht. In der Eurobarometer- Leonhard Dobusch: Prinzipiell kämpfen Parteipolitik zu halten. Was die Eurobaro- Umfrage von September sticht Österreich im alle Länder damit, die Menschen zum Imp- meter-Daten aber auch zeigen: Die Wissen- EU-Vergleich besonders hervor: 29 Prozent fen zu bewegen. Beim Vergleich der Indus- schaftsskepsis geht weit über Corona hinaus. Skepsis wird in der digitalen Welt häufig noch verstärkt. Foto: Suwaree Tangbovornpichet
5 Sie hat hierzulande eine mehr als 100-jäh- rige „Tradition“, die weit in die Gesellschaft hineinreicht. In Österreich gibt es beispiels- weise mehr bei der Wirtschaftskammer ge- meldete Energetiker*innen als niederge- lassene Ärzt*innen. Weit verbreitete esote- rische Strömungen wie die Anthroposophie sind im deutschsprachigen Raum entstan- den. Die Homöopathie ist trotz fehlender be- wiesener Wirksamkeit in Apotheken erhält- lich oder wird sogar von Ärzt*innen ver- schrieben. Hier wurde jahrzehntelang nicht gegengesteuert, sondern Geld mit Aberglau- ben verdient. Was alle eint, ist die weitge- hende Ablehnung sogenannter „Schulme- dizin“ und der Pharmaindustrie. Die jetzt so stark spürbare Skepsis kam also keineswegs aus dem Nichts und wird durch das digitale Umfeld, in dem wir uns alle bewegen, po- tenziell noch verstärkt. Social Media spielen nicht erst seit der Pan- demie eine große Rolle in der Verbreitung von (Des-)Informationen. Oft sind es falsche In- Vorbild Wikipedia: halte, die viele Menschen auf ihren Accounts Leonhard Dobusch sieht die oder Messenger-Diensten finden. Tragen Fa- Online-Enzyklopädie als das cebook, Telegram und Co. zur Wissenschafts- Medium unserer Zeit. skepsis bei? Foto: Uni Innsbruck Leonhard Dobusch: Ja. Die Verbreitung von Desinformationen beispielsweise zu Imp- fungen wurde von großen Plattformen wie Facebook über Jahre kaum bekämpft – auch schon vor Corona. Ähnliches beobachten wir Chancen und neue Probleme mit sich: Das der Corona-Pandemie oft Preprints entspre- bei der Leugnung des menschengemachten war schon bei der Erfindung des Buchdrucks chend eingeordnet und interpretiert. Na- Klimawandels. Hier wurde meiner Ansicht so. In einem ersten Schritt wäre es einmal türlich hat das auch Schattenseiten, da auf nach viel zu spät reagiert. Ich bin überzeugt, wichtig, dass mit Desinformation auf diesen diesen Servern auch unseriöse Studien lan- dass viele Menschen erst dadurch in das Plattformen nicht auch noch Werbeumsät- den, die wissenschaftsskeptische Narrative „Lager“ der Wissenschaftsskeptiker*innen ze gemacht werden können. Verbreitung von sogar noch nähren können. Und auch wenn geraten sind. Das Problem der Desinforma- Desinformation darf sich nicht auch noch Studien schnell widerlegt werden, bekommt tion im Kontext digitaler Plattformen wurde auszahlen. häufig die Widerlegung weniger Aufmerk- unterschätzt. Erst mit der Wahl von Donald Was könnte dazu beitragen, dass das Ver- samkeit als die „steile These“. Dennoch: Die Trump gerieten die negativen Dynamiken trauen wächst? Vorteile offener Wissenschaft überwiegen der sozialen Netzwerke stärker in den Fokus, Leonhard Dobusch: Eine offenere Wis- meiner Ansicht nach dennoch eindeutig, da da war alles aber bereits sehr fortgeschritten senschaft könnte dazu einen großen Bei- durch mehr Offenheit Falschbehauptungen und schwer umkehrbar. trag leisten. Ein offener Zugang zu wis- auch leichter identifiziert werden können. Hat sich der Umgang mit Desinformationen senschaftlichen Veröffentlichungen und Nicht zuletzt ist das eine gängige Praxis in in diesem Rahmen inzwischen verbessert? Datensätzen ermöglicht eine kritische Aus- der wissenschaftlichen Community. Durch Leonhard Dobusch: Das Management di- einandersetzung über Disziplinen hinweg mehr Offenheit wird eine Art öffentlicher gitaler Öffentlichkeiten ist mit großen He- Peer-Review ermöglicht, die Wissenschaft rausforderungen verbunden. Plattformen und auch wissenschaftliche Abläufe trans- »Algorithmen können wie Facebook unterliegen nicht dem klas- parenter und greifbarer macht. sischen Medienrecht, da sie ja nicht selbst wie Brandbeschleuniger Gibt es Beispiele, wo das schon gut funktio- Inhalte erstellen. Das ist ein Dilemma. Wird wirken.« niert? gegen Desinformation vorgegangen, müs- Leonhard Dobusch: Wenn man mich fra- LEONHARD DOBUSCH sen zunächst legitime Meinungsäußerungen gen würde, wo es im Moment die solidesten von solchen getrennt werden, die es nicht und aktuellsten Informationen zur Corona- sind – und das ist ein Grenzbereich, der – nicht nur für Expert*innen, sondern auch Pandemie gibt, dann würde ich sagen: in der schwer automatisierbar ist und für den es für Journalist*innen. Gerade in Krisenzeiten Wikipedia. Dort wird Wissen in einem kol- noch unzureichende Instrumente gibt. Den- sind Transparenz und schneller Zugang zu laborativen und transparenten Prozess auf noch gibt es auch eine Plattform-Verant- Forschungsergebnissen wichtig. In den letz- Basis eines gemeinsamen Wertefundaments wortlichkeit, besonders wenn es um Inhalte ten Monaten haben viele Menschen mit dem erarbeitet – und durchaus auch erstritten. geht, die über Automatismen befördert wer- Begriff „Preprint“ Bekanntschaft gemacht, Die Wikipedia ist meiner Ansicht nach das den. Was den Nutzer*innen empfohlen wird dabei handelt es sich um wissenschaftliche Wissenstransfer-Medium unserer Zeit. Ich oder nicht, basiert zum Beispiel auf inhalts- Publikationen, die über frei zugängliche denke, eine stärkere Orientierung an dieser blinden Kennzahlen wie der Wiedergabezeit Server öffentlich gemacht werden, aber noch Herangehensweise könnte viel dazu beitra- von Videos. Und dadurch kann ein Algorith- nicht den Begutachtungsprozess – das „peer gen, das Vertrauen in die Wissenschaft wie- mus zum Brandbeschleuniger werden. Neue review“ – durchlaufen haben. Alle Interes- der zu stärken. technologische Möglichkeiten für Infor- sierten haben so Zugriff und können sich Das Interview führte Melanie Bartos. mationsverarbeitung bringen immer neue ihre Meinung bilden, Expert*innen haben in melanie.bartos@uibk.ac.at ◼
6 Wenn es im Winter blitzt Schnee, Blitz und Donner: Passt das zusammen? Die Kombination mag auf den ersten Blick ungewöhnlich klingen, aber auch im Winter können Gewitter auftreten. Sie sind selten, ihre Blitze verursachen aber immer wieder starke Schäden an der Infrastruktur. Deborah Morgenstern und Isabell Stucke sind dem außergewöhnlichen Wetterphänomen auf der Spur. D er Himmel verfinstert sich, es blitzt Weise zusammenwirken müssen. „Es ist je- und donnert, plötzlich setzt starker denfalls sehr viel los in der Atmosphäre, Niederschlag ein: Wer sich diese Wet- wenn sich ein Gewitter bildet“, sagt Deborah terereignisse vor Augen führt, denkt eher Morgenstern. Das „Rezept“ für Gewitter be- nicht an die kalte Jahreszeit, sondern an inhaltet drei Zutaten: Genügend Feuchtig- heiße Sommertage. „Das ist auch berechtigt, keit, eine labil geschichtete Atmosphäre und denn die Mehrheit der Blitze – darüber wer- die so genannte Hebung. Gerade im alpinen den Gewitter in den meteorologischen Da- Bereich werden die Luftmassen oft „geho- ten hauptsächlich dokumentiert – findet im ben“, wenn sie auf Berge treffen. Dadurch Sommer statt. Prinzipiell können Gewitter kann es zu Gewitterwolken kommen, die es im Winter selten Gewitter gibt, ergänzt aber zu jeder Jahreszeit auftreten“, erklä- sich dann kräftig als Blitz und Donner ent- auch Stucke, sie seien zudem auch „unauf- ren Deborah Morgenstern und Isabell Stucke laden. In den besonders im Sommer entste- fälliger“: „Sehr wahrscheinlich hat jede und vom Institut für Statistik. Die beiden Atmo- henden großen, sich auftürmenden Wolken jeder von uns auch schon einmal ein Winter- sphärenwissenschaftlerinnen befassen sich sind die Voraussetzungen für Gewitter daher gewitter erlebt, es aber eher als Winterein- bereits seit ihrer Studienzeit mit Gewittern leichter gegeben. „Im Winter entstehen die- bruch oder Schneesturm wahrgenommen. und untersuchen im Rahmen des Projekts se aufgetürmten Wolken eher nicht und die Im Sommer ist die Abgrenzung zum schönen „Wintergewitter in Europa“ Blitze in der Atmosphäre ist stabiler geschichtet“, be- Wetter viel deutlicher, daher wird das Ge- kalten Jahreszeit. Sie sind selten, ihr An- schreibt Morgenstern die Herausforderung witter leichter auch als solches erkannt.“ Im teil beträgt im Winter nur rund drei Prozent ihrer Arbeit. Es gibt viele Gründe, warum Winter bauen sich die erforderlichen Wolken an allen gemessenen Blitzen. Dennoch: Sie richten teilweise großen Schaden an der In- frastruktur wie etwa in Windenergieanlagen an. Welche meteorologischen Mechanismen in einer für Gewitter eigentlich „ungüns- tigen“ Zeit zu ihrer Entstehung führen, ist in Europa bislang nicht gänzlich erforscht. „Hier setzen wir an: Wir arbeiten datenba- siert mit statistischen Methoden daran, die Wetterbedingungen von Wintergewittern und ihren Blitzen zu untersuchen und somit die Grundlagen von Blitzschutznormen auch für den Winter zu optimieren“, erklären die Doktorandinnen, die auch Teil der Arbeits- gruppe „Atmospheric Dynamics“ des Insti- Blitze über tuts für Atmosphären- und Kryosphären- Innsbruck: wissenschaften sind. Im Sommer häufig zu sehen, Drei Zutaten im Winter rar. Foto: Lukas Lehner Die Entstehung eines Gewitters erfordert zahlreiche Voraussetzungen, die in gewisser
7 Blitze können an hoher Infrastruktur große Schäden anrichten, Windparks sind immer wieder betroffen. Foto: unsplash.com/cassieboca nicht wie ein Turm auf, sondern breiten sich jekten wie etwa an der Spitze von Masten eher wie eine große Decke aus. „Zu dieser oder Windrädern und bringen ein hohes Jahreszeit haben wir es oft mit starken Stür- Schadenspotenzial mit sich. „Aufwärts- Projekt zu men und sehr starken horizontalen Bewe- gungen zu tun. Daher gibt es die Vermutung, blitze führen etwa 10-mal länger Strom als andere Blitze und können beispielsweise Wintergewittern dass diese Faktoren bei Wintergewittern im Windturbinen regelrecht zum Schmelzen Vordergrund stehen.“ bringen“, verdeutlicht Isabell Stucke. „Wir Das Projekt „Wintergewitter in Eu- sehen einen Zusammenhang zwischen der ropa“ wird von der Österreichischen Blitze wie Baumkronen Entstehung von Wintergewittern und ho- Forschungsförderungsgesellschaft her Infrastruktur: Es gibt Regionen, in de- FFG finanziert. Projektleiter sind Ge- Besonderes Augenmerk legen die For- nen bisher im Winter kaum Blitze gemes- org Mayr vom Institut für Atmosphä- scherinnen auf Blitze – erst ab zumindest sen wurden. Erst als ein Windpark errichtet ren- und Kryosphärenwissenschaften einem Blitz handelt es sich laut Definiti- wurde, traten gehäuft Wintergewitter auf“, sowie Thorsten Simon und Achim Zei- on der Weltorganisation für Meteorologie so die Forscherinnen. Zusätzlich zu den um- leis vom Institut für Statistik. Dafür um ein Gewitter. Prinzipiell sind Blitze gut fassenden Daten aus den Blitzortungsnetz- werden Blitzmessungen am Gaisberg messbar, besser als alle anderen genannten werken verwendet das Team auch Daten von (Salzburg), Daten des österreichischen Eigenschaften. Ihr Auftreten wird europa- einer speziellen Messstation am Salzburger Blitzortungssystems ALDIS sowie des weit in Blitzortungsnetzwerken erfasst. „Es Gaisberg sowie europaweite detaillierte at- europäischen Blitzortungsnetzwerks gibt Wolke-Wolke-Blitze, die sich innerhalb mosphärische Daten. Dafür sind leistungs- EUCLID (bereitgestellt durch Siemens der Wolke entladen, Wolke-Erde-Blitze, die starke Rechner erforderlich, die Infrastruk- BLIDS) verwendet und mit meteorolo- sich zur Erde hin entladen – Abwärtsblitze – tur dafür steht über den Supercomputer gischen Daten des europäischen Erd- und Erde-Wolke-Blitze, die sich von der Er- LEO 4 der Universität Innsbruck sowie über beobachtungsprogramms COPERNI- de zur Wolke entladen – die Aufwärtsblitze. den Vienna Scientific Cluster zur Verfügung. CUS verbunden. Letztere sehen in ihrer Verästelung eher aus „Wir können hier mit modernsten Methoden Die Auseinandersetzung mit Gewit- wie Baumkronen, während Abwärtsblitze der Statistik und des Machine Learning hin- tern hat an der Universität Innsbruck an Baumwurzeln erinnern“, erklärt Isabell ter die Kulissen eines komplexen meteorolo- bereits eine lange Tradition. In den Stucke. Für die Einschätzung der Gefahren gischen Phänomens blicken und freuen uns letzten Jahren wurden interdisziplinär und die entsprechende Ausarbeitung von darauf, unsere Ergebnisse für die praktische viele Fortschritte im Verständnis von Blitzschutznormen sind Auf- und Abwärts- Umsetzung im Blitzschutz zur Verfügung komplexen Wetterphänomenen wie blitze von Relevanz. Für den Winter hat sich stellen zu können“, betonen Deborah Mor- Gewittern erzielt. gezeigt, dass vor allem Aufwärtsblitze eine genstern und Isabell Stucke. Rolle spielen. Sie entstehen an hohen Ob- melanie.bartos@uibk.ac.at ◼
8 Gute Fette, schlechte Fette „Fett macht krank“, so besagt es eine Volksweisheit. Abgesehen vom schädlichen Bauchfett haben Fette allerdings wichtige Funktionen in menschlichen Zellen. Der Innsbrucker Professor für Pflanzliche Wirkstoffforschung, Andreas Koeberle, arbeitet daran, diese besser zu verstehen. W enn wir Biowissenschaftler*innen von Lipiden - also Fetten - im Körper sprechen, meinen wir nicht allein das Bauchfett. Jede menschliche Zel- le enthält zehn- bis hunderttausend unter- schiedliche Lipide. Unter ihnen gibt es po- tenziell bioaktive Lipide, von denen vermu- tet wird oder von denen man bereits weiß, dass sie physiologische, teilweise hormon- artige Aufgaben in den Zellen haben“, er- klärt Andreas Koeberle. Der Universitätspro- fessor für Pflanzliche Wirkstoffforschung leitet das Michael-Popp-Forschungsinstitut an der Universität Innsbruck. Sogenann- te Lipidmediatoren stehen im Fokus sei- nes Forschungsinteresses. „Durch die Fort- schritte bei Analysemethoden wie der Mas- senspektrometrie ist es möglich geworden, verschiedene, auch in kleiner Konzentrati- on in Zellen vorkommende Lipidmediatoren zu identifizieren und auf Lipidomics-Ebene zu untersuchen. Das heißt, wir können ein vollständiges Profilbild der einzelnen Li- pidmediatoren erstellen“, beschreibt Koe- berle. Durch diesen Fortschritt wissen die Wissenschaftler*innen zum Beispiel in- zwischen, dass es neben entzündungsför- dernden Lipidmediatoren auch solche gibt, die gezielt Entzündungen auflösen. „Mitt- lerweile ist bekannt, dass Entzündungen nicht nur getriebene Prozesse sind, son- dern auch ganz normale, physiologische Abläufe an Reaktionen – zum Beispiel auf Infektionen –, bei denen das Immunsystem hochgefahren werden muss, die Entzün- dungsreaktion dann aber auch wieder aktiv Ein Wirkstoff des Drachenbaums heruntergefahren werden muss“, so der Bio- Dracaena cambodiana ist in der chemiker Koeberle. „Neben anderen Media- Lage, entzündungsfördernde toren sind hier entzündungsauflösende Li- Lipidmediatoren zu pidmediatoren ganz entscheidend.“ Da Ent- hemmen und gleichzeitig zündungsreaktionen bei vielen Krankheiten, entzündungsauflösende von Diabetes über Herz-Kreislauf-Erkran- Lipidmediatoren sehr stark kungen bis hin zum Krebs eine wichtige Rol- hochzuregulieren. le spielen, stellen diese Lipidmediatoren für Foto: commons.wikimedia.org/Ji-Elle die Innsbrucker Wissenschaftler*innen ein wichtiges Angriffsziel für ihre Wirkstofffor- schung dar.
9 Vietnamesische Heilpflanze Fortschritte bei In einem groß angelegten Forschungs- Analysemethoden wie der projekt in Zusammenarbeit mit dem For- Massenspektrometrie machen schungsbereich der Pharmakognosie die genaue Untersuchung an der Universität Innsbruck haben die verschiedener Lipidmediatoren Wissenschaftler*innen um Andreas Koe- erst möglich. Im Bild werden berle eine große Anzahl an vietnamesischen Proben vorbehandelter Zellen für Heilpflanzen im Hinblick auf ihr Wirkpro- die massenspektrometrischen fil auf diese Lipidmediatoren untersucht. Lipidomics vorbereitet. „Wir haben über 100 Extrakte aus Vietnam Fotos: Bionorica SE/Gerhard Berger, Stein/B. Röpe auf eine begrenzte Anzahl von Lipidmedia- toren getestet. Die aktivsten Extrakte wur- den dann in der Pharmakognosie weiter fraktioniert und so konnten wir Schritt für Schritt besonders aktive Naturstoffe iso- lieren“, beschreibt Andreas Koeberle den Vorgang. Aus 100 Extrakten konnten die Wissenschaftler*innen schließlich einen bestimmten Wirkstoff aus einer vietname- sischen Drachenbaumart (Dracaena cambo- diana) isolieren, der das gewünschte Profil- bild zeigt. „Dieser Wirkstoff ist in der Lage, entzündungsfördernde Lipidmediatoren zu hemmen und gleichzeitig entzündungsauf- lösende Lipidmediatoren sehr stark hoch- zuregulieren“, so Koeberle über einen ersten Erfolg des Projektes, das nun weiter vertieft werden soll. ist noch nicht ganz verstanden, sie führt verdeutlicht Koeberle. Der Biochemiker be- jedoch letztendlich zum Zelltod“, erklärt tont allerdings, dass die Forschung hier noch Zelltod verstehen Koeberle. Ein Mechanismus, den man sich ganz am Anfang steht: „Die Ferroptose ist in der Tumorbehandlung zu Nutze machen ein Zelltod-Weg, der noch nicht vollstän- Ein anderes Projekt, an dem die will. „Gerade in der Krebsbehandlung will dig verstanden ist. Es gibt im Moment al- Wissenschaftler*innen rund um Andre- man erreichen, dass Tumorzellen abster- lerdings ein exponentielles Wachstum, was as Koeberle derzeit forschen, beschäftigt ben. Die Ferroptose stellt somit einen wich- das Wissen um diesen Zelltod-Weg betrifft. sich mit einem neu entdeckten Zelltod-Weg. tigen Angriffspunkt vor allem bei chemore- Das bedeutet auch, dass die Entwicklung „Zelltod klingt erst einmal schlecht, dabei sistenten oder besonders aggressiven, me- von Wirkstoffen, die in die Ferroptose ein- handelt es sich aber um einen natürlichen tastasierenden Tumoren dar. Deswegen sind greifen, noch in den Kinderschuhen steckt. Vorgang. Zellen müssen sich vermehren und wir auf der Suche nach neuen Wirkstoffen, Wir sehen allerdings großes Potenzial in sie müssen auch gezielt sterben“, verdeut- die die Ferroptose gezielt auslösen kön- diesem Angriffspunkt und wollen unsere licht der Biochemiker. Ein Zelltod-Weg, die nen“, so Koeberle. Neben der Tumorbehand- Forschungen in diesem Bereich weiter vo- Apoptose, wurde bereits über viele Jahre in- lung stellt der Zelltod-Weg Ferroptose auch rantreiben.“ tensiv erforscht. Seit einigen Jahren weiß bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder bei susanne.e.roeck@uibk.ac.at ◼ man allerdings, dass es neben der Apoptose Schlaganfällen einen vielversprechenden eine ganze Reihe weiterer Zelltod-Wege gibt, Ansatzpunkt in der Therapie dar. „Neues- Phytovalley Tirol die gezielt in Zellen ablaufen. Einer davon ist te Forschungsergebnisse deuten darauf hin, die Ferroptose, bei der auch wieder Lipide im dass bei all diesen Erkrankungen die Ferro- Mittelpunkt stehen. Bei der Ferroptose spie- ptose eine wesentliche Rolle spielt. Könnte len Membran-Lipide eine große Rolle. Diese man sie gezielt mit einem Wirkstoff hem- In den vergangenen Jahren wur- werden oxidativ geschädigt und verändern men, könnte man derartigen degenerativen den in Tirol zahlreiche Arbeitsplät- in der Folge die Membran-Architektur der Erkrankungen womöglich vorbeugen bezie- ze im Bereich der Phytowissenschaf- Zelle. Wie genau diese Veränderung abläuft, hungsweise die negativen Folgen lindern“, ten geschaffen, aktuell arbeiten rund 140 Forscherinnen und Forscher im Phytovalley Tirol. Neben dem Anfang 2020 eröffneten Michael-Popp-For- ZUR PERSON schungsinstitut, das über die Michael A. Popp nature science foundation und Andreas Koeberle (geboren 1981 in Sigmaringen/Baden-Württem- das Land Tirol finanziert wird, for- berg) studierte Biochemie an der Universität Tübingen, wo er 2009 schen an der Universität Innsbruck in Pharmazeutischer Chemie promovierte. Nach einem Postdoc- auch Wissenschaftler*innen der In- Aufenthalt an der Universität Tokio wurde er 2011 Gruppenleiter stitute für Analytische Chemie & Ra- am Lehrstuhl für Pharmazeutische/Medizinische Chemie an der diochemie, Pharmazie und Botanik an Universität Jena, wo er 2012 auch die Leitung der institutionellen Pflanzenwirkstoffen. Das ADSI, Biono- Lipidomics-Einrichtung übernahm. Der mehrfach ausgezeichnete rica Research, Tirol Kliniken, MCI und Forscher habilitierte sich 2016. Seit Oktober 2019 ist er Universi- weitere Partner ergänzen das erfolg- tätsprofessor für Pflanzliche Wirkstoffforschung am Michael-Popp-Forschungs- reiche Forschungscluster. institut der Universität Innsbruck.
10 Corona: Chance für die Lehrlingsausbildung? Nicht nur Schulen und Universitäten standen während der Lockdowns vor der Herausforderung, Lehre und Bildung auf Distanz zu ermöglichen. Auch in vielen Betrieben waren hohe Anstrengungen und Flexibilität nötig, um die Lehrlingsausbildung aufrechtzuerhalten. Wie sich die betriebliche Ausbildung in dieser Zeit verändert hat, untersucht Bernd Gössling, Professor für Wirtschaftspädagogik mit dem Schwerpunkt Berufsbildungsforschung, im Projekt „Corona als Chance“. Auch das Ausbildungspersonal in der Berufsbildung steht während der Pandemie vor der Herausforderung, Bildung auf Distanz zu ermöglichen. Fotos: iStock/damircudic; Gössling
11 H omeoffice, Homeschooling und Dis- die Berufsbildung?“, die auch zu einer weite- tisches Konzept nicht ‚automatisch‘ zu einer tance Learning – Begriffe und Um- ren Professionalisierung der Lehrlingsaus- lernförderlichen Ausbildungsdokumenta- stände, an die viele sich in den ver- bildung beitragen soll. Dazu befragt Göss- tion. Das Potenzial der Digitalisierung von gangenen zwei Jahren gewöhnt haben, ja ling Ausbildungspersonal in der Berufsbil- Lernprozessen lässt sich nur ausschöpfen, gewöhnen mussten. Die Digitalisierung dung über alle Branchen hinweg mit einem wenn der didaktische Ansatz auch auf In- macht es möglich. Wie digitale Mittel im Online-Fragebogen. Erste Zwischenergeb- dividualität, Selbstständigkeit und koope- Schulunterricht oder in der Lehre an Hoch- nisse zeigen, dass digitale Tools vor der Kri- ratives Lernen setzt. Wo die Ausbildung da- schulen während der Lockdowns eingesetzt se nur in wenigen Lehrbetrieben aktiv von rauf beruht, dass überwacht und vorgegeben werden, dazu gibt es bereits einige Studien. den Ausbildner*innen eingesetzt wurden. wird, kann die Digitalisierung zwar einen Demnach sind es beispielsweise Lernplatt- Lockdown abfedern, die Leistungen der be- formen, Konferenztools oder Chatsysteme, trieblichen Ausbildung werden so jedoch die das Lernen auf Distanz ermöglichen. Al- »Es liegt am Bildungspersonal, nicht wesentlich verbessert“, sagt Gössling. les Technik, die es bereits lange vor Covid-19 die digitale Technik sinnvoll Einen Mehrwert sieht der Wirtschaftspä- gegeben hat, die ihren flächendeckenden dagoge trotzdem in den Erfahrungen der Einzug in den Schul- und Universitätsalltag einzusetzen, um Unterricht vergangenen zwei Jahre: „Die digitale Aus- jedoch erst mit der Krise geschafft hat. Die und Lehre auch während bildungskompetenz der Teilnehmer*innen Behauptung, dass Corona ein Digitalisie- eines Lockdowns am Laufen der Studie ist gestiegen. Die Lockdowns rungstreiber ist, sieht Bernd Gössling, Pro- zu halten. Tatsächlich ist das haben die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass fessor für Wirtschaftspädagogik mit dem Ausbilder*innen sich mit dem lernförder- Schwerpunkt Berufsbildungsforschung am Lehr- und Ausbildungspersonal lichen Einsatz digitaler Tools beschäftigen. Institut für Organisation und Lernen, den- der Digitalisierungstreiber und Die dazu erforderlichen Veränderungen der noch kritisch: „Für den Bildungsbereich nicht die Covid-19-Pandemie Ausbildungskonzepte gelingen dort beson- kann ich das nicht bestätigen. Denn es liegt ders gut, wo Lehrlingsausbilder*innen zu- an sich.« am Bildungspersonal, die digitale Technik sammenarbeiten. Die Befragung zeigt, dass sinnvoll einzusetzen, um Unterricht und BERND GÖSSLING diese professionelle Kollaboration inzwi- Lehre auch während eines Lockdowns am schen viel häufiger auch digital stattfindet Laufen zu halten. Tatsächlich ist das Lehr- und zwar auch nach Ende der Lockdowns. und Ausbildungspersonal der Digitalisie- Das hat sich während der Lockdowns jedoch Insofern zeigen sich hier deutlich positive rungstreiber und nicht die Covid-19-Pande- geändert: Auch Lehrlingsausbilder*innen Effekte der Krise“, meint Gössling. mie an sich.“ haben Messengerdienste, Videokonferenzen, Tools zum kooperativen Lernen oder zur di- Studie läuft noch bis Digitalisierung in der gitalen Prüfungsvorbereitung eingesetzt. zum Frühjahr 2022 Lehrlingsausbildung Digitale Ausbildungskompetenz Aktuell versuchen Gössling und seine Doch wie sieht es eigentlich in der Lehr- Kolleg*innen, auch Ausbilder*innen system- ist gestiegen lingsausbildung aus? Das untersucht Bernd relevanter Berufsgruppen direkt vor Ort zu Gössling aktuell in einer laufenden Studie Vorläufige Befragungsergebnisse zeigen, erreichen, die überwiegend analog arbeiten. – einer der ersten in Österreich überhaupt, dass die Verwendung dieser digitalen Werk- Die Studie, die aus der Stiftungsprofessur für die sich mit dem Thema Digitalisierung zeuge nach Ende der Lockdowns jedoch wie- Berufsbildungsforschung und vom Bundes- in der betrieblichen Ausbildung während der stark zurückgegangen ist. Die Annahme ministerium für Digitalisierung und Wirt- der Covid-19-Pandemie beschäftigt. „Die einer dauerhaften Umstellung auf digitale schaftsstandort finanziert wird, läuft noch schulische und die universitäre Ausbildung Lernprozesse kann vorläufig also nicht be- bis März 2022. Lehrlingsausbilder*innen ha- während der Lockdowns wurde bereits un- stätigt werden. Erste Erklärungen dafür ben also nach wie vor die Möglichkeit, daran tersucht. Wir wollen nun erheben, wie die liefern Forschungsarbeiten aus der Zeit vor teilzunehmen. ◼ betriebliche Berufsausbildung in diesen Corona: „Eine Ausbildungssituation wird für Phasen weitergelaufen ist und inwiefern den Lehrling nicht allein dadurch besser, Weitere Infos: hier digitale Tools eingesetzt wurden. Bis- dass sie digital organisiert wird. Und auch https://bit.ly/berufsbildung- her ist das ein weißer Fleck auf der Land- der Ersatz eines bisher weitestgehend un- nach-corona karte“, beschreibt Gössling den Ausgangs- genutzten physischen Berichtshefts durch punkt seiner Studie „Corona als Chance für ein Online-Tool führt ohne ein neues didak- lisa.marchl@uibk.ac.at ◼ ZUR PERSON Bernd Gössling ist geboren im Rheinland und aufgewachsen in Westfalen. Er studierte Wirtschaftswissenschaf- ten, unter anderem an der Universität Paderborn. Nach Abschlüssen als Diplom-Kaufmann und Diplom-Handels- lehrer folgten Tätigkeiten im Personalwesen und in der Geschäftsentwicklung. 2013 promovierte er im Fach Wirtschaftspädagogik. Der Forschungsschwerpunkt von Bernd Gössling liegt auf der Berufsbildung und ihrer Verflechtung mit Wirtschaft, Gesellschaft und Bildung. Vor dem Hintergrund eines didaktischen Erkenntnis- interesses betrachtet er Lehr- und Lernprozesse, insbesondere in der Lehrlingsausbildung und der betrieblichen Weiterbildung. Dabei spielen auch die organisationalen und personalen Bedingungen sowie die erweiterten sozi- alen, institutionellen und politischen Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle. Als Leiter und Mitwirkender war er an zahlreichen nationalen und internationalen Forschungsprojekten zu verschiedenen Facetten der Berufsbildungsforschung aktiv und betreibt seine Arbeiten eingebunden in internationale Forschungsnetzwerke. Seit August 2019 ist Bernd Gössling Profes- sor für Wirtschaftspädagogik mit dem Schwerpunkt Berufsbildungsforschung am Institut für Organisation und Lernen der Leopold- Franzens-Universität Innsbruck.
12 Das Texterbe des Alltags Im Rahmen des Projekts „Zeit.Shift“ widmet sich Johanna Walcher. Das Projekt ist in drei Be- standteile gegliedert: bewahren, erschlie- die Universitäts- und Landesbibliothek Tirol der ßen und vermitteln. Zu Ersterem gehört die Digitalisierung der historischen Zeitungen Digitalisierung von historischen Zeitungen aus an sich. Bei der Erschließung kommen com- puterlinguistische Methoden zum Einsatz. Nord-, Ost- und Südtirol. Für diese ist vor allem EURAC Research zu- ständig. In maschinellen und automatisier- ten Verfahren sollen wichtige Begriffe wie W issen Sie, wo es einen Lüftenegger 20. Jahrhunderts und stehen in den digitalen Personen, Namen und Orte erkannt und auf Stock zu kaufen gibt? Oder in wel- Bibliotheken der ULB und der Landesbiblio- digitalen Karten geographisch lokalisiert cher Situation Sie vielleicht einen thek Dr. Friedrich Teßmann der Allgemein- werden. Diese Informationen werden aber Diabolo-Separator benötigen könnten? Falls heit zur Verfügung. Eine gemeinsame On- auch händisch erschlossen. Dafür werden diese Begriffe Ihnen nichts sagen, müssten line-Plattform befindet sich in Arbeit. Bibliotheken, Archive und Museen in meh- Sie bei Gelegenheit einen Blick in den Ti- reren Workshops geschult. „Da kommt dann roler Grenzboten werfen. Oder in die Tiro- Bewahren, erschließen, vermitteln auch der große Aspekt der Vermittlung ins ler-Vorarlberger Bienen-Zeitung. Diese Zei- Spiel“, erklärt Horwath. tungen werden nicht mehr gedruckt, auch An der Universitäts- und Landesbiblio- wenn der Tiroler Grenzbote noch bis in die thek Tirol wird abteilungsübergreifend an Neue Inhalte entdecken 2000er-Jahre hinein erschien. Dass sie trotz- vielfältigen Aufgaben zusammengearbei- dem nicht aus dem kollektiven Gedächtnis tet. Intensiv in das Projekt eingebunden Die Frage, die bei der Vermittlung des verschwinden, ist Ziel des interregionalen sind dabei vor allem Silvia Gstrein als Pro- Projekts im Vordergrund steht, lautet: Was Projektes „Zeit.Shift“. Die Universitäts- und jektleiterin von Zeit.Shift an der ULB Tirol ist mit diesen Quellen anzufangen, wenn sie Landesbibliothek Tirol (ULB) an der Univer- sowie Barbara Laner, Johanna Walcher und einmal digitalisiert sind? Das Projekt will sität Innsbruck, die Dr. Friedrich Teßmann Maritta Horwath aus der Abteilung für Di- ein Bewusstsein dafür schaffen, was in hi- – Landesbibliothek in Südtirol und das pri- gitale Services. „Historische Zeitungen als storischen Zeitungen alles entdeckt wer- vate Forschungszentrum EURAC Research in zeitgenössische Quellen sind in der öffentli- den kann – nicht nur für die Forschung, Bozen arbeiten gemeinsam an der Digitali- chen Wahrnehmung nicht sehr präsent und sondern auch für die breite Öffentlichkeit. sierung von historischen Zeitungsbestän- akut vom Zerfall bedroht. Auch sind die Zei- Deswegen arbeitet das Zeit.Shift-Team ne- den aus Nord-, Ost- und Südtirol. Die digi- tungsbestände regional stark verteilt, was ben der Organisation von Workshops vor talisierten Zeitungsartikel stammen haupt- die länderübergreifende Kooperation in die- allem an einer Citizen-Science-Initiative, sächlich aus den ersten Jahrzehnten des sem Projekt umso wichtiger macht“, erklärt die einen wesentlichen Bestandteil des Pro- Eine Illustration aus der Bienen-Zeitung. Foto: Uni Innsbruck
13 jektes darstellt und eine aktive Teilnah- me der Öffentlichkeit ermöglicht. „Mit der Citizen-Science-Initiative wollen wir mit unseren Inhalten rausgehen und die Leu- te dazu einladen, mit uns neue Inhalte zu entdecken und an ihnen zu arbeiten“, sagt Walcher. Dafür werden Werbeanzeigen aus den digitalisierten Zeitungsbeständen auf die Plattform „Historypin“ geladen. Jede*r mit einem Internetzugang kann auf diese zugreifen und sie auf eigene Faust durchsu- chen. Nutzer*innen können durch zwei ein- fache Aufgaben dabei helfen, das kulturelle Erbe Tirols zu bewahren und aufzuarbeiten: lokalisieren und taggen. Dazu muss nur ei- ne Zeitungskollektion ausgewählt werden, wie zum Beispiel die Tiroler-Vorarlberger Bienen-Zeitung oder der Tiroler Grenzbote. Wenn die Werbeanzeige auf einen bestimm- ten Ort verweist, kann dieser auf einer Kar- te lokalisiert und markiert werden. Weiters können Tags hinzugefügt werden, also kur- ze Beschreibungen, die dabei helfen, Anzei- gen in bestimmte Kategorien einzuordnen – dazu gehören Eigennamen, bestimmte Produkte oder eine Veranstaltung, um die es in der Anzeige geht. Wer an einer Anzei- ge besonders interessiert ist, kann auch on- line weiter dazu recherchieren und weitere Entdeckungen als Link hinzufügen - zum Beispiel über den „Lüftenegger Stock“, zur Zeit der Bienen-Zeitung ein sehr beliebtes Eine Anzeige für Feigenkaffee. Bienenstock-Modell. Oder über den Diabolo- Foto: Uni Innsbruck Separator, einer Milchzentrifuge zur Verar- beitung von Frischmilch, die im Grenzboten über zahlreiche und geografisch weit ver- breitete Anzeigen beworben wurde. Einblick in den Alltag „Über eine Auswertung dieser Werbean- zeigen gewinnt man einen sehr guten Ein- blick in das Alltagsleben bestimmter Regi- onen, weil es eine schriftliche Quelle ist, die direkt aus der Bevölkerung kommt“, erklärt Horwath. Bei den Anzeigen handelt es sich schließlich nicht nur um Werbung für Pro- dukte. Neben Inseraten für Haarfärbemittel Artikel aus historischen und weiße Zähne finden sich medizinische Zeitungsbeständen Empfehlungen, Stellenausschreibungen, Nord-, Ost- und Südtirols. Traueranzeigen und Veranstaltungen. „Es Foto: Uni Innsbruck tauchen auch immer wieder außergewöhn- liche Fundstücke auf“, fügt Walcher hinzu. „Erst vor kurzem bin ich auf eine Klarstel- lung zu Feigenkaffee gestoßen. Das war da- angelegter Onlinekurs. Die Schüler*innen mals ein beliebtes Getränk, das auch Kaffee beigemischt wurde – nur haben die Leute sollen darin lernen, die Zeitungsartikel für eigene wissenschaftliche Hausarbeiten aus- Link-Tipp ihn wohl oft viel zu hoch dosiert, sodass die zuwerten. „Der große Grundgedanke dieses Wer selbst in den Zeitungsartikeln Hersteller die richtige Verwendung in einem MOOCs ist, mithilfe von historischen Zei- stöbern und bei der Lokalisierung hel- Kommentar klarstellen mussten.“ tungen zu einem bestimmten Thema zu re- fen möchte, kann cherchieren – also wie die Portale genutzt über diesen QR-Code Eine Wissensquelle für alle werden oder was bei der Erarbeitung einer die Plattform Histo- Forschungsfrage beachtet werden muss“, rypin aufrufen, oder Ein weiterer Ansatz, mit dem das Pro- sagt Walcher. Wie auch bei der Citizen-Sci- dem Link https:// jekt unter dem Aspekt „Vermittlung“ ex- ence-Initiative dreht sich hier alles darum, www.historypin.org/ perimentiert, ist die Nutzung der digitalen ein vollständigeres Bild des Tiroler Alltags- en/zeit-shift/ folgen. Zeitungsarchive durch Schüler*innen. Dazu lebens vor 100 Jahren zu erarbeiten. wird gerade ein MOOC erarbeitet, ein groß fabian.oswald@uibk.ac.at ◼
14 Der Süßwasserpolyp Hydra, an dem die Arbeitsgruppe von Bert Hobmayer forscht. Foto: Wolfgang Dibiasi Stammzellen auf der unmöglichen Treppe Eine neue Studie beschreibt überraschende Eigenschaften von Stammzellen in wirbellosen Tieren. Der unsterbliche Süßwasserpolyp Hydra spielt dabei eine wichtige Rolle. E ine Kugel rollt einen Hügel hinab. desto eingeschränkter ist die Bandbreite an großen internationalen Kooperation haben Auf ihrem Weg trifft sie auf Erhö- Zelltypen, zu denen sie sich noch ausdiffe- Wissenschaftler*innen bisher wenig beach- hungen oder Mulden und muss ihre renzieren kann - so wie die Kugel auch nicht tete Eigenschaften von adulten Stammzel- Bahn anpassen, rollt mal nach rechts, mal mehr bergauf rollen kann. Die Fähigkeit zur len an wirbellosen Tieren erforscht und das nach links. Am Ende ihres Weges erreicht Differenzierung in verschiedene Zelltypen Bild des „Waddington Landscape“ um meh- sie ebenen Boden. Das Bild des „Wadding- nennt sich Plastizität. rere Dimensionen erweitert. Die Arbeit wur- ton Landscape“ wurde im Jahr 1957 entwi- Diese Vorstellung von Stammzellen be- de im wissenschaftlichen Journal „Biologi- ckelt und ist ein klassisches Modell, das den ruht allerdings hauptsächlich auf dem, was cal Reviews“ veröffentlicht. Bert Hobmayer Differenzierungsweg von Stammzellen be- von Wirbeltieren bekannt ist. Diese wer- vom Institut für Zoologie der Universität schreibt: Stammzellen teilen sich. Daraus den in der Stammzellenforschung bereits Innsbruck war maßgeblich an der Studie be- entstehen zunehmend spezialisierte Zell- seit Jahrzehnten untersucht, allen voran teiligt und erklärt, welche Rolle der Süßwas- typen, bis sie eine bestimmte Körperzel- der Mensch, da medizinische Anwendbar- serpolyp Hydra gespielt hat, an dem seine le gebildet haben. Je spezifischer die Zelle, keit stark im Vordergrund steht. In einer Arbeitsgruppe forscht.
15 Bei Wirbeltieren entscheiden sich Stamm- und letztendlich zum Tod führen, sind hier len zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten zellen bereits sehr früh, im Embryonal- außer Kraft gesetzt. „Im Waddington Land- ihres Lebens gewählt werden, um einen be- stadium, zwischen einem von zwei Wegen: scape wird nicht die Plastizität beschrieben, stimmten Entwicklungsweg einzuschlagen, Entweder sie schlagen die Keimbahn ein, die wir in einigen von diesen basalen Tie- je nachdem, was der Organismus des Tieres entwickeln sich zu Spermien- oder Eizellen ren finden“, sagt Hobmayer. „Wir haben hier gerade benötigt. In manchen wirbellosen und geben damit die Erbinformation weiter Stammzellen, die über sehr lange Lebens- Tieren können Körperzellen sich auch wie- – oder sie entwickeln sich zu somatischen spannen in diesem Stammzellzustand ge- der zurückdifferenzieren und wieder zu ei- Stammzellen, die sich zu allen anderen halten werden und verschiedene Entwick- ner Stammzelle werden, dargestellt durch Körperzellen ausdifferenzieren. Diese Ent- lungswege einschlagen können.“ Das Ziel die Leitern im Schema. Damit steht ihnen scheidung ist endgültig – keine Keimzelle der kooperierenden Forscher*innen war es die Möglichkeit offen, sich auch später wie- kann sich später noch zu einer somatischen deswegen, die Biologie adulter Stammzellen der zu Keimzellen zu entwickeln. Zelle entwickeln, oder umgekehrt. Stamm- viel breiter zu beobachten und zu charakte- Das neue Modell verspricht, ein guter zellen, die sich nach der Embryonalentwick- risieren, um ihre Eigenschaften besser fas- Grundstein für zukünftige Forschung zu lung im Gewebe und den Organen von Tie- sen zu können. Dafür entwickelten sie eine sein. Hobmayers Forschungsgruppe ver- ren finden, nennen sich adulte Stammzellen. graphische Darstellung – den „Wobbling sucht aktuell, die Entscheidungsfindung von „Prinzipiell ist es so, dass adulte Stammzel- Penrose Landscape“ (siehe unten). interstitiellen Stammzellen der Hydra ein- len in allen Tieren vorkommen. Sie sind da- gehender zu studieren und die Plastizität für verantwortlich, das Gewebe jung zu hal- Die Kugel rollt auch bergauf dieser Stammzellen auf einer molekularen, ten, absterbende Zellen zu erneuern und Re- genetischen Ebene besser zu verstehen. Da- generationsprozesse umzusetzen“, erklärt Im Gegensatz zum „Waddington Land- zu sind auch interdisziplinäre Projekte in Hobmayer. „Unsere Organsysteme greifen scape“ – auf dem Bild oben rechts in Schwarz- einem von der Europäischen Union geför- zurück auf einen Pool von adulten Stamm- Weiß zu sehen – bewegen sich die Stammzel- derten Doktoratsprogramm an der Univer- zellen, damit unsere Gewebe und Organe len im „Wobbling Penrose Landscape“ nicht sität Innsbruck (EU-CoFUND „DP ARDRE“) über unsere Lebenszeit hinweg leistungs- in eine einzige Richtung. Vielmehr befinden geplant, vor allem Kooperationsprojekte mit fähig bleiben können.“ Adulte Stammzel- sie sich in einem stetigen Auf und Ab. Diese dem Institut für Alternsforschung und dem len in Wirbeltieren haben eine begrenzte Stammzellen können fortwährend und über Institut für Molekularbiologie der Universi- Teilungsfähigkeit, danach sterben sie. Bei sehr lange Lebensspannen eine hohe Plasti- tät Innsbruck. Die adulten Stammzellen der wirbellosen Tieren hingegen sieht die Sache zität aufweisen und in einem andauernden Hydra und ihre unbegrenzte Regenerations- ganz anders aus, wie sich am Beispiel der dynamischen Zustand gehalten werden, fähigkeit haben noch viel über Fragen der Hydra zeigt. dargestellt durch die Penrose-Treppe, auch Regeneration, des Alterns und der Arznei- bekannt als unmögliche Treppe. Die zahl- mittelforschung zu verraten. Dem Tod entgehen reichen Ausgänge können von Stammzel- fabian.oswald@uibk.ac.at ◼ „Um das in einen Bezug zu setzen: Die Wirbeltiere sind einer von 35 Tierstämmen. Die restlichen 34 Tierstämme gehören zu den Wirbellosen. Wir haben da eine gigan- tische Vielfalt von Formen und Entwick- lungsstrategien“, sagt Hobmayer. Unter den Wirbellosen sind sehr ursprüngliche, ein- fach gebaute Tiere vertreten, die aber sehr leistungsfähige Stammzellen besitzen und die über ausgeprägte Reparationsleistungen verfügen. Manche dieser Tiere können gan- ze Körperteile komplett ersetzten, oder aus Einzelzellen einen ganzen Organismus neu bilden - so auch die Hydra, weshalb sie auch diesen Namen trägt. „Diese Tiere scheinen in ihrem Lebenszyklus nahezu unbegrenzt zu wachsen. Sie vermehren sich asexuell, das heißt, sie bilden neue Klone aus ihren Kör- pern und erneuern permanent ihr Gewebe“, so Hobmayer. „Damit bleiben sie jung und irgendwie – auf zellulärer Ebene verste- hen wir das noch nicht – entgehen sie dem Tod. Wir arbeiten mit Laborstämmen, die in den 60er-Jahren etabliert wurden und seit- her über klonales Wachstum vermehrt wer- den. Sie haben also schon Tausende Zelltei- lungen hinter sich gebracht und es gibt kein Signal, dass die in irgendeiner Form gealtert wären.“ Süßwasserpolypen bestehen zu einem Der „Wobbling Penrose Landscape“ sehr hohen Anteil aus adulten Stammzellen ist eine neue bildliche Darstellung – etwa ein Drittel der Gesamtzellen, die ei- der Dynamik von Stammzellen. ne Hydra ausmachen –, die sich auch ständig Foto: Oshrat Ben-Hamo teilen. Die Alterungsprozesse, die normaler- weise mit häufiger Zellteilung einhergehen
16 Meinungsmacht im Netz Im digitalen Raum treffen unterschiedliche Ansichten aufeinander. Das Recht auf freie Meinungsäußerung gehört zum Fundament einer funktionierenden Demokratie. Doch wie sollen Staaten, Gerichte und soziale Netzwerke mit gefährlichen Inhalten umgehen? I mmer mehr Menschen nutzen das In- Netz. Daraus konnte der Jurist interessante sehr schlecht darin sind, Informationen ternet. Voraussetzung für die Ausübung Rückschlüsse ziehen. „Hinsichtlich be- objektiv zu bewerten und Gefahren zu er- der Menschenrechte im digitalen Raum stimmter Meinungen und Themen sieht man kennen. „In vielen Fällen vertrauen wir In- ist die Teilhabe. Rund 44 Prozent der Welt- Tendenzen zu extremistischeren und poin- formationen, die wir von einer Person er- bevölkerung haben noch keinen Zugang, tierteren Ausdrucksweisen. Dies hat sich halten, zu der wir eine emotionale Bindung auch wenn die UNO Zugang für alle bis 2030 sehr stark im Bereich der Desinformation haben.“ anstrebt. Für die restlichen 4,4 Milliarden in Zusammenhang mit der Coronakrise ge- spielt das Internet schon jetzt als Kommu- zeigt.“ Kettemann stellt sich dabei die Frage, Verhalten analysieren nikationsraum eine wichtige Rolle. Trotz- wie Informationen im Netz aufgenommen dem wissen wir noch wenig darüber, wie werden. „Nicht jede Altersgruppe hat das In den sozialen Netzwerken sind Hass- Internetplattformen im Detail funktionie- natürliche Gefühl, dass Online-Informatio- kommentare und Falschmeldungen weit ren. An der Universität Innsbruck wirkt seit nen potenziell gefährlich sein können. Dazu verbreitet. Daher werden vermehrt For- September Matthias C. Kettemann, der als zählen etwa Personen im Alter zwischen 40 derungen nach engmaschigeren Gesetzen Erster im deutschen Sprachraum eine Lehr- und 70 Jahren, die in der Gesellschaft ein- vorgebracht. „Wenn wir immer nach neuen befugnis für Internetrecht erhielt. Der Netz- flussreiche Positionen innehaben.“ Während Regulierungen rufen, vergessen wir innezu- experte untersucht, wie man mehr Men- die traditionellen Medien sich in der Hand halten, um nachzuschauen, ob das bestehen- schen ans Netz holt, Hassreden bekämpft von professionellen Redakteur*innen be- de Recht ausreicht. Die Online-Kommunika- und Cyberkriege verhindert. Darüber hinaus finden, werden die Inhalte im Netz von ei- tion hat das Rechtssystem nicht verändert. befasst er sich mit den Auswirkungen von ner Vielzahl von Faktoren beeinflusst. „In Die Meinungsäußerungsfreiheit ist rechtlich Falschinformationen. Aus seiner Sicht wird der Onlinewelt fehlt diese Filterfunktion, betrachtet bereits sehr gut geschützt.“ Aus das Internet als Informationsquelle sowohl die Algorithmen bestimmen, welche Beiträ- Sicht des Internetexperten haben Staaten unterschätzt als auch überschätzt. „Em- ge wir zu sehen bekommen. Es bleibt somit nur wenige Möglichkeiten, gegen Falsch- pirische Studien haben gezeigt, dass sich in der Hand der User, Inhalte kritisch zu be- meldungen vorzugehen. „Wenn man Staa- Menschen auf vielfältige Weise informieren. leuchten.“ Das Problem hierbei ist, dass viele ten auffordern würde, Desinformationen zu Die sozialen Medien sind dabei nicht in der Internetnutzer*innen dies nicht tun. Da- verbieten, hätte dies negative Auswirkungen Lage, Ansichten komplett zu ändern“, betont durch kommt es zur raschen Verbreitung von auf unsere Freiheit. Vielmehr sollten die Kettemann. Angesichts der wichtigen Rolle, Falschmeldungen. Der Rechtswissenschaft- Plattformen aufhören, ihre ökonomischen die das Internet einnimmt, stellt sich die ler konnte dabei feststellen, dass Menschen Beweggründe in den Vordergrund zu stel- Frage, wie die Meinungsbildung beeinflusst wird. „Die sozialen Medien sind stärker als traditionelle Medien in der Lage, Meinun- ZUR PERSON gen zu verstärken und Aufmerksamkeit durch Algorithmen zu lenken. Dieser Um- Matthias C. Kettemann (*1983) ist Universitätsprofessor für Inno- stand kann gegeben sein, wenn Menschen vation, Theorie und Philosophie des Rechts am Institut für Theorie ihre eigenen Befürchtungen auf Plattformen und Zukunft des Rechts. Daneben leitet er Forschungsgruppen am bestätigt sehen. Problematisch wird es vor Leibniz-Institut für Medienforschung und dem Humboldt-Institut allem dann, wenn bestimmte Ansichten ge- für Internet und Gesellschaft. Der Internetexperte studierte in sellschaftlich zu negativen Folgen führen.“ Graz und Genf und promovierte an der Harvard School. Seine For- schungsschwerpunkte liegen auf dem Internetrecht, künstlicher Emotionale Bindung Intelligenz und der staatlichen Regulierung privater Räume. Er hat in der Zentrale von Facebook untersucht, wie das Unternehmen Regeln für bald drei In der gegenwärtigen Situation erleben Milliarden Nutzer*innen setzt. Darüber hinaus berät Kettemann die EU im Kampf ge- viele Menschen eine Phase voller Verunsi- gen Desinformation. cherung und verbringen sehr viel Zeit im
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