Worte der Weisheit 2019 - MASS UND MITTE
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Worte der Weisheit 2019 Kalenderwoche: Thema: 1. Achtsamkeit 2. Ängste und Furcht 3. Beharrlichkeit 4. Freiheit 5. Gegensätze 6. Begierde 7. Besonnenheit 8. Ehrfurcht 9. Körper 10. Mitte 11. Lust 12. Meditation 13. Seelenruhe 14. Telos – Innere Bestimmung 15. Vergänglichkeit 16. Vita activa 17. Weisheit 18. Stille 19. Tat tvam asi – Das bist Du! 20. Selbstgenügsamkeit 21. Vorbild 22. Wahrheit 23. Zorn 24. Natur 25. Kairos – der rechte Augenblick 26. Gesundheit 27. Gewohnheit 28. Bücher 29. Entsagung 30. Menschlichkeit/Mitgefühl 31. Messkunst 32. Musik 33. Philosophie ©
34. Sammlung 35. Schicksal 36. Seelenteilenlehre 37. Wissen 38. Duldsamkeit 39. Leiden(schaften) 40. Besitz 41. Harmonie 42. Lebenskunst 43. Liebe 44. Selbsterkenntnis 45. Unabhängigkeit 46. Vernunft 47. Demokrit 48. Tod 49. Anonyme östliche Weisheiten 50. Anonyme östliche Weisheiten 40. Kalenderwoche: Besitz 30.09.2019 Auf Rechtschaffenheit versteht sich der Weise, auf Gewinn der Niedriggesinnte.1 Wie immer bringt es Konfuzius in einer kurzen Formel auf den Punkt. Der Weise konzentriert sich auf sein Inneres und achtet darauf, dass er das tut, denkt und begehrt, was seinen ethischen Anschauungen, Werten und Haltungen entspricht. Was dabei herauskommt, etwa der Zuwachs seines Besitzes („Gewinn“), betrifft das äußere Leben und ist weniger wichtig. Glück und Unglück liegen in der Seele, nicht in äußeren Dingen (Demokrit). Konfuzius' Fokus liegt auf der inneren Folgerichtigkeit und Stimmigkeit seines Lebens, auf der Belastbarkeit und Güte seiner Lebenswerte, auf der Konsequenz ihrer Umsetzung im täglichen Leben. Darin sieht er den wahren "Gewinn" eines Lebens. Die „Rechtschaffenheit“ ist einer dieser Werte, der von einer weisen Lebensführung nicht zu trennen ist. Mit dem "Niedriggesinnten" dürfte ein Mensch gemeint sein, der neben der Vermögensanhäufung keine weiteren Werte kennt und lebt. 1 K IV 16; im Text steht der „Edle“ für der „Weise“ ohne größeren Unterschied ©
01.10.2019 Wer sich viel um seinen Besitz kümmert, wird süchtig danach. Das ist die Auffassung des Yamamoto Tsunetomo in seinem klassischen Buch über den Moralkodex der Samurai, der auf altchinesischen Weisheitslehren beruht: „Berechnende Menschen sind verachtenswert. Der Grund ist, dass Berechnung etwas mit gewinnen und verlieren zu tun hat. Wer sich mit Gewinn oder Verlust beschäftigt, der wird danach süchtig.“2 Der Autor beschreibt ein bekanntes Phänomen, das an Aktualität nichts verloren hat, im Gegenteil. Gewinnstreben kann zu einer Sucht werden, die den ganzen Menschen ergreift und sein Wesen und Charakter in eine Rechenmaschine verwandelt. Immer mehr Besitz anhäufend wird er „besessen“ (der Ausdruck „verachtenswert“ scheint mir zu hart). In der heutigen Konsum- und Wohlstandsgesellschaft sind die Verführungen dazu groß. Nicht wenige Menschen erliegen dem Drang, immer mehr haben zu wollen. Schon die alten Griechen erkannten darin eine Sucht. Sie nannten sie Pleonexie und hielten sie für eine Seelenkrankheit. 02.10.2019 Geiz nicht mit deinem Vermögen! Von dem frühen griechischen Dichter Phokylides, der bekannt wurde durch seine Spruchweisheiten, sind folgende Verse überliefert: „Geiz nicht mit deinem Vermögen, vergiss nicht dein sterbliches Wesen; Macht und Besitz vermagst du nicht in den Hades zu schleppen.“3 Schon Aristoteles, der meinte, großer Besitz könne auch etwas Gutes sein, argumentierte, dass er uns erlaube, mehr Gutes zu tun. So auch Phokylides. Er bringt die Freigebigkeit in Verbindung mit der eigenen Vergänglichkeit. Der Wert des Besitzes kommt dann zur Geltung, wenn wir ihn nicht bloß eigennützig gebrauchen. Sind wir einmal tot, ist er für uns wertlos. „Hades“ ist die Unterwelt, wo sich nach griechischer Vorstellung die Seelen der Verstorbenen aufhalten. 03.10.2019 Besitz ist etwas Totes, das Dasein etwas Lebendiges. Das ist der Sinn folgender Verse aus einem sehr alten buddhistischen Text: 2 Yamamoto Tsunetomo, Hagakure. Das Buch des Samurai, übertragen von Kenzo Fukai, Augsburg 2001, S. 51 3 Ebener Dietrich, Griechische Lyrik, Sonderausgabe, Bayreuth 1985, S. 444 ©
„Schaut hin auf die, die 'mein' zum Dasein sagen. Sieh ihre Not, wie wenn der Fluss versiegt ist, in seichtem Wasser Fische hilflos zucken.“4 Wer das Dasein wie seinen Besitz betrachtet („mein“), etwas, das man „hat“ anstatt es zu leben, der trocknet innerlich aus, weil ihm die Gefühle versiegen. Bei all unserem Bedürfnis nach Sicherheit und Vorhersehbarkeit unserer Existenz sollten wir uns darin üben, dieses Existieren als etwas Offenes, Lebendiges, Pulsierendes und immer wieder Überraschendes anzusehen und zu erleben. Dazu gehört auch, dass wir jedes Anhaften lockern oder ganz aufgeben. Gerade bei materiellen Dingen neigen wir zum starken Anhaften. Diese verinnerlichten Einstellungen zu ändern, ist nicht einfach. Es bedarf vieler Übung in mentaler und praktischer Hinsicht. Eine Art Umerziehung. 04.10.2019 Der Weise belebt, ernährt, erzeugt, aber er besitzt nicht. Wer seiner natürlichen Bestimmung gemäß lebt und dem „rechten Weg“ folgt (Dao, Tao), weil er das Wesen des Seins verstanden hat, von dem meint Laotse: „Er belebt und ernährt, erzeugt und besitzt nicht, wirkt und gibt nichts darauf, erhält und beherrscht nicht. Das heißt tiefe Tugend.“5 Leben heißt für Laotse zu wirken, zu nähren, zu erzeugen und zu erhalten. Es heißt nicht: zu besitzen. Besitz für sich genommen ist weder gut noch schlecht. Welchen Gebrauch wir von ihm machen entscheidet darüber, ob er uns dauerhaft gut tut. Beschränken wir uns auf das Horten, Speichern und Kummulieren, so wird er uns mehr belasten, von uns wegführen und seelisches Leid zufügen als uns dabei helfen, gut zu leben. Gebrauchen wir ihn, um zu wirken und zu fördern, dann hilft er uns dabei, ein erfülltes Leben von tiefer Befriedigung zu führen. 05.10.2019 Durch Habgier kommt man zu Fall. 4 Oldenburg Hermann, Buddha. Sein Leben. Seine Lehre. Seine Gemeinde, hrsg. von Helmuth von Glasenapp, Magnus Verlag, Stuttgart (ohne Jahresangabe), S. 231 (Sutta Nipata 777) 5 TA 10 (Viktor von Strauß) ©
In einem ägyptischen Papyrus, der etwa viertausend Jahre alt ist und den Titel trägt „Der beredte Oasenbewohner“ heißt es: „Man kommt zu Fall durch Habgier, der Raffsüchtige hat keinen Erfolg, sein Erfolg ist Verlust.“6 Schon früh ging das Weisheitsdenken davon aus, dass wir uns durch bestimmte Verhaltensweisen vor allem selbst schädigen. So scheint großer Besitz nur auf den ersten Blick etwas Erstrebenswertes zu sein, in Wahrheit aber ist er, wenn er – wie nicht selten – durch Habgier erlangt wurde oder krampfhaft an ihm festgehalten wird, oder wenn er nicht genutzt wird, um Gutes und Sinnvolles zu tun, ein Verlust. Es ist ein Verlust an Lebendigkeit, Emotionalität, Liebe, Einfachheit, Selbstgenügsamkeit oder innerer Ruhe. Scheinbarer „Erfolg“ im Anhäufen von Besitz ist dann in Wahrheit, wie der Oasenbewohner uns lehrt, ein „Verlust“ an Menschlichkeit. Es ist eine schlechte Angewohnheit, dass wir uns oftmals untereinander eher an der Höhe unserer Bankguthaben messen als an menschlichen Qualitäten. 06.10.2019 Derjenige hat an seinem Besitz am meisten Freude, der innerlich frei von ihm bleibt. Das ist der Sinn folgender Passage bei dem hellenischen Philosophen Plutarch: „ ... daher wünscht sich der Vernünftige zwar das Bessere, macht sich aber auch auf das Gegenteil gefasst, wobei er von beidem Gebrauch macht, ohne ein Übermaß zuzulassen. Denn es gilt nicht bloß der Satz Epikurs: 'Wer ganz bedürfnislos ins Morgen hineingeht, für den wird es voll von Reizen sein', sondern darüber hinaus werden auch Reichtum, Ansehen, Einfluss und Amtsgewalt am meisten den erfreuen, der sich um ihren möglichen Verlust am wenigsten bekümmert. Denn die heftige Begierde bei alledem steigert auch die Furcht vorm Anderswerden (vor einem anderen Ausgang) auf höchste ...“7 Der erste Satz besagt, dass sich der Vernünftige (Weise) am Besitz zwar erfreut, aber auch mit seinem Fehlen umgehen kann und darauf achtet, dass er weder zu viel noch zu wenig hat. Zuviel Besitz kommt oft deshalb zustande, weil wir in einer Art „Sucht nach mehr“ ein immer größeres Vermögen anhäufen, nicht selten – so die Alten – auf unrechtem Weg. Der Preis dieser „Sucht“ können erhebliche Ängste sein. Die Griechen nannten diese „Sucht“ Pleonexie (Mehr-haben- Wollen). Sie kann sich bei allen Begierden einstellen und führt über kurz oder lang zu seelischem Leid, weil sie die Ausgewogenheit der inneren Seelenkräfte stört, indem wesentliche andere Bedürfnisse vernachlässigt werden. Plutarch wie Epikur empfehlen im Hinblick auf den Besitz 6 Bru 366 7 Plutarch, Lebensklugheit und Charakter, aus der ‚Moralia’, ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Rudolf Schottlaender, Leipzig 1979, S. 180 f De tranquillitate animi ©
mehr Selbstgenügsamkeit und Unbekümmertheit. Wer noch nicht so weit ist, sollte in einem Umlernprozess sein Besitzstreben in seinem Denken, Wollen und Handeln zügeln oder ganz aufgeben und sich dafür verstärkt anderen Werten zuwenden. 41. Kalenderwoche: Harmonie 07.10.2019 Formt eine Einheit aus eurem Leben und dem, was euch zustößt! Bei dem japanischen Zen-Lehrer Dogen Zenji (13. Jh.) lesen wir: „Was immer euch bei Tag oder Nacht begegnet, ist euer Leben; daher sollt ihr euer Leben der jeweiligen Situation, die ihr im Augenblick antrefft, anpassen. Verwendet eure Kraft dazu, aus den Umständen, die auf euch zukommen, eine Einheit mit eurem Leben zu gestalten und die Dinge an ihren rechten Platz zu stellen.“8 Auf das Allermeiste, in das wir hineingeboren oder „hineingeworfen“ werden, was uns zustößt und mit uns geschieht, haben wir keinen oder nur einen sehr geringen Einfluss. Wir nennen es Schicksal oder Geschick. Ganz anders verhält es sich mit dem, was wir in unserem Denken, Fühlen und Bewerten daraus machen. Hier sollte es nach Dogen das Ziel sein, aus uns selbst und dem Unveränderbaren in der Welt eine in sich stimmige, harmonische Einheit zu machen, modern gesprochen: zu einem kohärenten bzw. kongruenten Weltverstehen zu gelangen. Wir sollten Frieden mit der Welt schließen, so wie sie ist. Das bedeutet nicht, alles zu rechtfertigen oder gutzuheißen. Doch vor jeder Kritik und jeder Einflussnahme gilt es erst einmal: zu verstehen und das Unabänderliche anzunehmen. 08.10.2019 Schön ist das Land, in dem es keinen Streit gibt. In einem alten ägyptischen Papyrus lesen wir: „Ihm (dem „Land der Ewigkeit“, der „Totenstadt“) ist Streit ein Abscheu, und es gibt dort keinen, der sich gegen den anderen rüstet.“9 Die alten Ägypter glaubten an ein Leben nach dem Tod. Dieses Leben war ihnen wesentlich wichtiger als das irdische, denn jenes dauert ewig. Das irdische Leben war ihnen demgegenüber 8 Brüll Lydia, Japanische Weisheit, ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Lydia Brüll, Stuttgart 1999, S. 200 9 Fritz Karl August, Weisheiten der Völker, Köln 2003, S. 17 ©
unwirklich, ein Trugbild (wie im alten Indien in der Philosophie des Yoga und Vedanta: „Maja“, Trugbild, Schein, Illusion). „Die Zeit, die man auf Erden zubringt, ist (dagegen) nur ein Traumbild“. In der Vorstellung der alten Ägypter gab es in diesem Land der Toten (Totenstadt) „keine Feinde“. Wir können daraus schließen, dass schon in dieser frühen Hochkultur dem harmonischen Miteinander eine große Bedeutung für ein gelingendes Leben zukam. 09.10.2019 Nichts gewaltsam tun!10 Die sog. „Sieben Weisen“ im Griechenland des 7. und 6. Jh. v. Chr. erlangten eine bis heute andauernde Berühmtheit dadurch, dass sie Lebensweisheit in denkbar knappen Aussprüchen verdichteten. Einer dieser „Sieben Weisen“ war Kleobulos von Lindos, dem das Zitat zugeschrieben wird. Nichts erzwingen zu wollen ist nicht nur eine Aufforderung zu Flexibilität, Geschmeidigkeit und Weichheit bei all unseren Unternehmungen sowie im Umgang mit dem Schicksal und anderen Menschen. Dahinter steht das umfassende Ziel einer harmonischen Lebensführung in allen Bereichen. Das bedeutet nicht, Widersprüche und Spannungsverhältnisse zu ignorieren oder zu verdrängen, sondern sie in einem Ganzen so zu integrieren, dass ein geordnetes und zusammenstimmendes Miteinander entsteht. Gelingt uns dies, wird unser Leben zu Wohlklang (Harmonie). Wohlklang führt zu Wohlbefinden. Wohlbefinden ist Glück. 10.10.2019 Der rechte Weg des Weisen: handeln ohne Streit. Das sind die letzten Worte aus dem berühmten Tao-Te-King (Daodejing) des chinesischen Philosophen Laotse. Davor heißt es: „der weise speichert nicht für sich und da er andern dient wächst sein besitz und da er andern gibt so mehrt er sich das Dau des himmels: nutzen ohne schaden das Dau des weisen: handeln ohne streit“11 10 Wikipedia, Kleobulos von Lindos 11 Ta 81 Ü. Schwarz; die vom Üblichen abweichende Schreibweise ist eine Besonderheit dieser Übersetzung ©
„Dau“ (Tao, Dao) ist ein Zentralbegriff aus der altchinesischen Philosophie und wird meistens übersetzt mit „der rechte Weg“, sei es der Natur, des Menschen, des Seins oder allen Geschehens in der Welt. Ihn zu finden und begehen ist nach Meinung der alten Chinesen das Ziel und Ideal sowohl jedes Einzelnen als auch jeder Form gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Für Laotse gibt es auf diesem Weg keinen Streit, mit anderen Worten: es ist ein Weg der Harmonie. „So mehrt er sich“ bedeutet: so wird der Weise innerlich reicher und erfüllter. 11.10.2019 Wer da rechte Einsicht hat, in dem kommt aller Streit zur Ruh.12 Der Ausspruch wird Buddha (Siddhartha Gautama) zugeschrieben und stammt aus dem Dhammapada, einem bedeutenden Text aus der Überlieferung der Lehre Buddhas. Für Buddha ist die Schaffung innerer Harmonie ein zentrales Lebensziel. Wir erreichen es durch Einsicht und Verstehen. Zwar zählt der Buddhismus zu den Religionen. Die Betonung der „rechten Einsicht“ zeigt jedoch, dass diese Lehre - wie große Teile der altindischen Gedankenüberlieferung - im Grenzbereich von Religion und Philosophie anzusiedeln ist. Wer sein Seelenleben versteht, der ist imstande, die verschiedenen Seelenkräfte, die häufig gegenläufig sind und in starken Spannungsverhältnissen zueinander stehen, auszugleichen und zu befrieden. Er löst seine „inneren Knoten“ (Upanishaden). 12.10.2019 Im Nicht-Verhaftetsein ruht das Herz in sich und stimmt mit den Dingen überein. Bei dem japanischen Gelehrten Kamada Ryuko (18. Jh.) lesen wir: „Häuft sich beispielsweise die Arbeit und geraten wir dadurch mehr und mehr unter Druck, befällt unser Herz Unruhe. Wenn wir uns nun von dieser inneren Unruhe befreien und unser Herz zum Nicht- Verhaftetsein an den Dingen zurückführen, besteht darin gerade das Praktizieren des Weges. Denn wir läutern (reinigen) unser Herz und begehen deshalb, so beschäftigt wir auch sein mögen, keine Fehler aus unserer inneren Unruhe heraus. – Oder uns ist etwas zuwider, und wir werden missmutig. Sobald wir jedoch erkennen, dass dieser Missmut selbstsüchtig ist und wir zum Nicht-Verhaftetsein wieder zurückfinden, ruht unser Herz in sich, wird von nichts abgelenkt und Herz und Dinge stimmen voll überein. Ist das nicht ein einzigartiges Praktizieren des Weges?“13 12Dhammapada, Nyanatiloka Mahathera, 3. Aufl. Uttenbühl 1995, zitiert nach Vers 6 13Brüll Lydia, Japanische Weisheit, ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Lydia Brüll, Stuttgart 1999, S. 188 ©
Mit „Praktizieren des Weges“ ist der aus dem Chinesischen übernommene „rechte Weg“ (Dao, Tao) gemeint, also eine weise Lebensführung, die zu Glück und Erfüllung führt. Das „Nicht- Verhaftetsein“ kommt aus dem Buddhistischen, findet sich aber auch in anderen Weisheitslehren wie z.B. in der stoischen Philosophie. Es meint, dass wir nicht so stark an unseren Plänen, Hoffnungen, Vorstellungen und den äußerlichen Dingen hängen sollten (das ist auch der Grund für den „Missmut aus Selbstsucht“). Dagegen sollten wir uns auf dasjenige in uns konzentrieren, was sich von all dem unterscheidet, nennen wir es „Selbst“, „Ich“, „Mitte“, „Herz“, „Persönlichkeitskern“ oder „Bewusstseinsstrom“. Die Relativierung aller Bindungen an Äußeres und die Konzentration auf unsere Mitte führt zur inneren Ruhe. Sie bringt uns, nach Ryuko, in Einklang mit der Welt („Herz und Dinge stimmen überein“). Besonders die ersten beiden Sätze gehören in das Stammbuch aller (zu-)vielbeschäftigten Menschen von heute. 13.10.2019 Der Weise folgt in seinen Handlungen dem Gesetz der Harmonie. Der Satz findet sich in dem ältesten Weisheitsbuch der Menschheit, dem I Ging (Yijing), dessen Entstehen bis in das 3. Jts. v. Chr. zurückreicht. Zuvor heißt es: „Himmel und Erde folgen in ihren Bewegungen dem Gesetz der Harmonie: darum übertreten Sonne und Mond nicht ihre Bahn, und die Vier Jahreszeiten ändern nicht ihren Ablauf.“14 Die alten Chinesen haben stets versucht, aus der Beobachtung der Natur heraus, die sie bewunderten und die sie als ihren Ursprung und ihre Bestimmung erkannten, Rückschlüsse auf die richtige Lebensweise zu ziehen. Diese richtige Lebensweise nannten sie – ebenso wie das beobachtete Geschehen selbst – den „rechten Weg“ (Dao, Tao). Er war ihnen ein Weg des ständigen harmonischen Ausgleichens gegenläufiger Kräfte im Wandel der Zeit (Yin und Yang). In ihm wirkt das Wesen der äußeren Natur wie der inneren Natur des Menschen. Für uns bedeutet das, in unserem Denken, Wollen und Handeln nach Stimmigkeit zu streben, einheitlich leben, wie sich Zenon ausdrückte, der Begründer der Stoa. 42. Kalenderwoche: Lebenskunst 14.10.2019 Weisheit ist die Kunst des Lebens. Das war die Ansicht Senecas. Auf den vielen Seiten philosophischer Betrachtungen, die er uns hinterließ, hat er diese Kunst des Lebens facettenreich dargestellt, in einprägsamen Bildern, aber bisweilen auch mit Wiederholungen, sprachgewaltig, aber wenig systematisch, immer 14 Sch 98 ©
lebenswahr und häufig mit „ans Herz greifender“ Eindringlichkeit. Die Nachwelt hat ihn deshalb kontrovers beurteilt. Ich folge der Ansicht des Kulturhistorikers Will Durant (1885-1981), wonach Seneca bei aller berechtigten Kritik der bedeutendste römische Philosoph war. Das obige Zitat lautet vollständig: „Die Weisheit ist die vollkommene und aufs höchste und beste ausgebildete Einsicht, denn sie ist die Kunst des Lebens.“15 Kunst bedeutet in diesem Kontext, dass über das verstandesmäßige Begreifen der Grundsätze eines gelingenden Lebens auch Lebenserfahrung, Intuition und ein kreativer Umgang mit Weisheit hinzukommen muss, damit das Leben gelingt. 15.10.2019 Es war die Kunst des Lebens, die Sokrates lehrte. So jedenfalls können wir folgende Stelle bei dem griechischen Schriftsteller Xenophon verstehen. Das meiste Wissen, das wir über Sokrates haben, beruht neben Platon vor allem auf den Schriften Xenophons: „Diese (Anhänger des Sokrates) waren nicht mit ihm zusammen, um Volks- oder Prozessredner zu werden, sondern damit sie, edel und gut geworden, es verstünden, sich gut zurechtzufinden mit ihrer Hausgemeinschaft, mit ihrem Gesinde und ihrer Verwandtschaft, mit ihren Freunden, dem Staat und den Mitbürgern. Von den oben Genannten hat keiner in jüngeren oder vorgerückten Jahren irgend etwas Schlechtes getan, noch irgendeine Anschuldigung erfahren.“16 Wir können dem Zitat entnehmen, dass bei den Griechen die Lehre vom „Edlen und Guten“, die Ethik, mit Weisheit und Lebenskunst zusammenfiel. Für Aristoteles war Sokrates der Erfinder der Begriffsphilosophie, für das Altertum der Begründer der Ethik17, für die Menschheit Lehrer und Vorbild der Weisheit. 16.10.2019 Der Weise lehnt weder das Leben ab noch fürchtet er das Nichtleben. Der Ausspruch stammt von Epikur. Der erste Teil des Satzes richtet sich gegen eine pessimistische Lebensauffassung, die den Tod dem Leben vorzieht. Sie wurde vor allem im antiken Griechenland vertreten, das im Allgemeinen sinnenfroh gestimmt war. Der zweite Teil 15 S IV 295 Brief 117 16 X 18 17 Pohlenz Max, Der hellenische Mensch, Göttingen 1946, S. 353, 366 ©
zielt auf eine der Hauptthesen der epikureischen Philosophie, wonach die Voraussetzung für eine gelungene Lebensführung vor allem darin gesehen wurde, die Angst vor dem Tod und der Vergänglichkeit zu überwinden. Weiter heißt es im Text: „… Denn weder belästigt ihn das Leben, noch meint er, dass Nichtleben sei ein Übel. Wie er bei der Speise nicht einfach die größte Menge vorzieht, sondern das Wohlschmeckendste, so wird er auch nicht eine möglichst lange, sondern eine möglichst angenehme Zeit zu genießen trachten. Wer aber dazu mahnt, der Jüngling solle edel leben und der Greis edel sterben, der ist töricht … weil die Sorge für ein edles Leben und diejenigen für einen edlen Tod eine und dieselbe ist.“18 Für „edel“ (tugendhaft) können wir auch sagen „weise“. Die Angst vor Tod, Sterben und Vergänglichkeit zu überwinden, ist einer der Schlüssel für eine gelingende Lebensführung. 17.10.2019 Genieße das Leben und trachte nicht nach höheren Zielen! Das war die Auffassung des frühen griechischen Lyrikers Alkaios (um 600 v. Chr.): „Trinke, sei trunken mit mir, Melanippos! Glaubst du wohl – Hast du die breite Flut des wirbelnden Acheron Erst durchschritten –, du könntest der Sonne reines Licht Wiedersehen? Ach, trachte nur nicht nach hohen Zielen!“19 Mit „durchschreiten des Acheron“ ist das Sterben gemeint. Danach wird es dunkel und freudlos. Deshalb genieße den Tag, das Hier und Jetzt, sagt uns Alkaios, und lasse dir diesen Genuss nicht durch übermäßiges Streben nach fernliegenden Zielen entgehen. Keiner weiß, wie lange ihn die Erde noch als ihren Gast duldet. Diese Haltung zum Leben war im alten Griechenland sehr verbreitet. 18.10.2019 Sieh froh die Kinder an, die deine Hand erfassen! Schon im Gilgamesch-Epos aus dem 3. Jahrtausend v. Chr., einem der ältesten Dichtungen, die wir kennen, wird die Aufforderung, das Leben zu genießen, aus seiner Endlichkeit abgeleitet. Dort heißt es: 18 EG 101 f 19 GrL 104 ©
“Gilgamesch, wohin läufst du? Das Leben, das du suchst (das unsterbliche), wirst du nicht finden. Als die Götter die Menschen schufen, bestimmten sie den Tod für die Menschen, das (ewige) Leben behielten sie für sich selbst. Drum, Gilgamesch - iß und trink, fülle dir deinen Leib, Tag und Nacht freue dich nur! Mache dir jeden Tag ein Freudenfest! Freue dich Tag und Nacht bei Harfen, Flöten und Tanz! ... Sieh froh die Kinder an, die deine Hand erfassen! Freue dich in den Armen des Weibes!”20 19.10.2019 Leben zu lernen, dazu gehört das ganze Leben. Das stellte Seneca fest. Von der "Lebenskunst" sagt er: „ ... aber Leben zu lernen, dazu gehört das ganze Leben., und, was du vielleicht noch wunderbarer finden wirst, sein Leben lang muss man sterben lernen. Viele hervorragende Männer haben unter Beseitigung aller Hindernisse und unter Verzicht auf Reichtum, Amtstätigkeit und Vergnügungen bis in das höchste Alter all ihr Bemühen einzig darauf gerichtet, leben zu lernen. Doch ist die Mehrzahl derselben mit dem Geständnis aus dem Leben geschieden, noch hätten sie es nicht zu dieser Kenntnis gebracht.“21 Wie die Weisheit und die Philosophie (wörtlich: „Streben nach/Liebe zur Weisheit“) so ist auch die Lebenskunst, weil sie nichts anderes ist als Weisheit, nicht etwas, das wir haben oder nicht haben, sondern das wir ein Leben lang lernen, üben, entwickeln und praktizieren müssen, wenn unser Leben gelingen soll. Vielleicht ist es diese Stelle aus dem 7. Kapitel aus Senecas Buch „Von der Kürze des Lebens“, die häufig in Spruchsammlungen wie folgt wiedergegeben wird: „Weise Lebensführung gelingt keinem Menschen durch Zufall. Man muss, solange man lebt, lernen, wie man leben soll.“ 20.10.2019 Wie die Medizin die Kunst ist, die Gesundheit zu erhalten, so ist die Weisheit die Kunst zu leben. 22 Der Ausspruch stammt von Karneades, dem Leiter der Platonischen Akademie in Athen im zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Die Antike in West und Ost betrachtete die Weisheit als eine Lebenskunst und verglich sie mit anderen, vor allem handwerklichen Künsten wie Steuermannskunst, Zimmermannskunst und häufig auch der ärztlichen Kunst. Letztere bot sich deshalb an, weil Weisheit uns von seelischem Leid befreien soll. Sie kümmert sich um die „Gesundheit“ der Seele wie sich der Arzt um die Gesundheit des Körpers kümmert. Wie jede Kunst gehört auch zur Lebenskunst ein theoretisches Wissen und die Fähigkeit zur praktischen Umsetzung. Dieses Umsetzen erfordert viel Übung und Erfahrung. Ohne das lenkt niemand ein 20 zitiert nach Du 1,396 (zehnte Tafel) 21 S II 123 Von der Kürze des Lebens, Kap. 7 22 Ne II 281; im Text steht „Klugheit“ statt „Weisheit“ ©
Schiff, baut niemand ein Haus, heilt niemand einen Kranken, bewältigt niemand die Schwierigkeiten und Herausforderungen des Lebens. Deshalb werden wir nicht weise, indem wir allein gute Bücher lesen, sondern entsprechend handeln. 43. Kalenderwoche: Liebe 21.10.2019 Die Liebenden müssen ihre Lust durch Leid und Entsagung erkaufen.23 Das soll der griechische Philosoph Diogenes von Sinope gesagt haben, der zeitweise in einer Tonne hauste. Nach den alten Texten zu urteilen, sahen die Philosophen der westlichen Antike bei dem Thema partnerschaftliche Liebe insbesondere zwei Probleme: Erstens, dass die Liebe häufig als ein leidenschaftliches Gefühl auftritt, das schwer zu beherrschen ist und dadurch das Seelenleben aus dem Gleichgewicht bringen kann; zweitens, dass sie als Lebensgemeinschaft im Laufe der Zeit nicht selten Ermüdungserscheinungen zeigt, die einem glücklichen, erfüllten Zusammenleben abträglich sind. 22.10.2019 Auf die Frage eines Schülers, was ein weises Verhalten sei, antwortete Konfuzius: ‚Die Menschen lieben.’24 Für Konfuzius war eine weise Lebensführung vor allem geprägt von Mitmenschlichkeit oder - wie es hier heißt - von Liebe. Für „weises Verhalten“ steht in der Übersetzung dieser Stelle „sittliches Verhalten“. Aus den Texten der antiken chinesischen Philosophie, die das Wort „Li“ („Sitte“) verwenden, geht hervor, dass damit „gute Gewohnheiten“ gemeint sind. Das sind Denk- , Verhaltens- oder Wollensmuster, die von Einsicht und Menschlichkeit getragen werden und den Einzelnen und die Gemeinschaft zu einem glücklichen und erfüllten Miteinander führen. Damit nähert sich das Wort dem an, was wir unter „Weisheit“ verstehen, denn als angewandtes und gelebtes Wissen beruht seine Wirklichkeit auf Umsetzung, Aus-Übung, gewohnheitsmäßigem Tun. Einer der bedeutendsten altchinesischen Weisheitstexte ist das „Li Gi“ oder „Liji“, dessen Titel Richard Wilhelm mit „Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche“ übersetzt. Auch diese Übersetzung belegt, dass die Bedeutung des Wortes „Li“ zwar teilweise mit dem Wort „Sitte“ deckungsgleich, aber nicht identisch ist , sondern noch mehr umfasst. 23.10.2019 Bei der Liebe ist es wichtig, Ruhe zu bewahren. 23 Dio VI 67 (328) 24 K XII,22 ©
Das ist eine Quintessenz folgender Stelle bei Seneca. Er zitiert den griechischen Philosophen Panaitios, einen wichtigen Vertreter der mittleren Stoa. Auf die Frage, ob auch der Weise sich verlieben werde, soll dieser geantwortet haben: „Was den Weisen angeht, werden wir später sehen. Du und ich, die wir vom Weisen noch weit entfernt sind, dürfen es nicht dahin kommen lassen, dass wir in eine stürmische, unkontrollierbare, in der Verfügung eines anderen stehende und für ihn klägliche Situation geraten. Sei es nämlich, dass uns die geliebte Person eines Blickes würdigt, dann lassen wir uns vor ihrer menschlichen Wärme um unsere Ruhe bringen; sei es, dass sie uns abgewiesen hat, dann sind wir über ihren Hochmut wütend. In der Liebe ist Erfolg gleich schädlich wie Misserfolg. Durch Bereitschaft lassen wir uns einfangen, gegen Zurückweisung kämpfen wir an. Daher wollen wir, unserer Schwäche bewusst, zur Ruhe kommen.“25 Die Gefahr des Verlusts der Selbstbeherrschung, der inneren Freiheit, des Selbstseins und In-sich- Ruhens waren es, was die griechischen und römischen Philosophen an einer Liebe ablehnten, deren heftige Leidenschaft wir nicht mehr beherrschen. Nicht die Leidenschaft schlechthin wird hier verworfen, sondern eine Leidenschaft, die uns das Steuer für eine weise Lebensführung aus der Hand reißt. 24.10.2019 Erst in der Liebe zum Menschen vollendet sich die eigene Persönlichkeit. Das ist der Sinn der folgenden Stelle aus dem „Buch der Riten, Sitten und Gebräuche“ (Liji): „Die Alten hielten bei der Ausübung der Regierung die Liebe zu den Menschen für das Wichtigste. Wer die Menschen nicht lieben kann, ist nicht im Besitz seiner Persönlichkeit. Wer seine eigene Persönlichkeit nicht besitzt, der kann sich nicht an seinem Platz wohl fühlen. Wer sich nicht an seinem Platz wohl fühlen kann, der kann sich nicht des Himmels freuen; wer sich nicht des Himmels freuen kann, der kann seine Persönlichkeit nicht vollenden.“26 Erstaunliche Worte, aber ganz Konfuzius, der diesen Text redigiert haben dürfte. Für ihn war die „(Mit-)Menschlichkeit“ (chin. jen, ren) das Wichtigste. Er meinte damit ein tief empfundenes Wohlwollen gegen andere, eben Liebe. In dieser Liebe erkennt er einen wesentlichen Bestandteil einer jeden Persönlichkeit. Wer nicht in Liebe lebt, kann weder glücklich werden noch sich wohl fühlen in seiner Haut. Er kann sich nicht an den Dingen des Alltags erfreuen noch seine Persönlichkeit vollenden. Das ganze Denken seines bedeutendsten Schülers Menzius handelt von dieser Einsicht. 25 Seneca, Epistulae morales ad Lucilium Lieber XIX, Stuttgart 1999, Brief 116 Kap. 5 26 BR 260 ©
25.10.2019 Menschlichkeit wurzelt in der Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Das ist der Sinn folgender Bemerkung des stoischen Philosophen Chrysippos. Er sagt: „Es ist ein Naturgesetz, dass die Eltern ihre Kinder lieben, und wir können verfolgen, wie die ganze Gemeinschaft des Menschengeschlechtes von da ihren Ausgang nimmt. ... Daraus folgt, dass die gegenseitige Schätzung der Menschen untereinander etwas Natürliches ist, dass der Mensch dem Menschen, schon weil er Mensch ist, nicht fremd erscheint.“27 Dieser Gedanke wurde in Griechenland grundlegend für die Feststellung, dass eine weise Lebensführung nicht nur sozialverträglich ist, sondern das friedliche und gedeihliche Zusammenleben der Menschen auch maßgeblich fördert. Zum Weisesein gehört wesentlich, dass wir anderen Menschen Gutes tun. Wer für sich leben wolle, meinte Seneca, müsse für andere leben. 26.10.2019 Der Weg des Menschen ist die Liebe zu den Nächsten. Ganz im Sinne des gestrigen Zitats aus dem antiken Griechenland heißt es im chinesischen „Buch der Riten, Sitten und Gebräuche“ (Liji): „Die Liebe leitet sich von den Eltern her und stuft sich ab nach oben bis hin zum Urahn des Geschlechts. Die Pflicht leitet sich von den Urahnen her und steigert sich nach unten bis hin zum heimgegangenen Vater. So ist der Weg des Menschen die Liebe zu den Nächsten. Die Liebe zu den Nächsten führt zur Verehrung der Ahnen; die Verehrung der Ahnen führt zur Achtung vor den näheren Vorfahren; die Achtung vor den Vorfahren führt zum Zusammenhalt des Stammes; der Zusammenhalt des Stammes führt zu Heilighaltung des Ahnentempels; die Heilighaltung des Ahnentempels führt zum Wichtignehmen der Landes- und Kornaltäre; das Wichtignehmen der Landes- und Kornaltäre führt zur Liebe zum Volk. Die Liebe zum Volk führt dazu, dass die Strafen gerecht werden; sind die Strafen gerecht, so leben die Leute in Sicherheit; leben die Leute in Sicherheit, so sind genügend Güter da; sind genügend Güter da, so kann man alle seine Absichten verwirklichen; kann man seine Absichten verwirklichen, so nehmen die Riten und Sitten feste Formen an. Haben Riten und Sitten feste Formen, so folgt die Freude (Musik).“28 Die Mitmenschlichkeit (Liebe) wird hier als die Wurzel für das persönliche wie gesellschaftliche Glück beschrieben. „Freude“ und „Musik“ sind dasselbe chinesische Zeichen. 27 Ne II 69 28 BR 279 ©
27.10.2019 Deine Hand liegt auf meiner Hand. Aus dem alten Ägypten sind uns diese schönen Verse überliefert: „Deine Hand liegt auf meiner Hand. Meinem Leib ist wohlgetan. Mein Herz ist in Freude, Weil wir zusammen gehen. Deine Stimme zu hören, ist mir Süßwein. Ich lebe davon, sie zu hören. Jeder Blick, mit dem ich angesehen werde, Nützt mir mehr als Essen und Trinken.“29 Wenn wir diese Verse hören, verstehen wir, warum der Liebe im Weisheitsdenken aller Völker bis auf den heutigen Tag eine hohe Bedeutung für ein gelingendes Leben zukam. Liebe vollendet unser Leben. 28.10.2019 Zur Selbsterkenntnis bedarf es Sammlung und innerer Ruhe. Das ist der Sinn von folgendem Ausspruch des Konfuzius, den uns Zhuangzi übermittelte: „Der Mensch besieht sein Spiegelbild nicht im fließenden Wasser, sondern im stillen Wasser. Nur Stille kann alle Stille stillen.“30 Eine englische Übersetzung des schwierigen letzten Satzes lautet: „Only what is still can still the stillness of other things.“31 Selbsterkenntnis setzt Sammlung voraus, Sammlung aber hat mit Konzentration zu tun. Konzentration ist das Zur-Ruhe-Kommen innerer Bewegtheit. Wir reduzieren kontinuierlich das assoziative Hervorsprudeln der unzähligen Gedanken und aufkeimenden Seelenkräfte bis hin zur Einheit (Selbst). Diese Einheit dürfte in dem Zitat mit der „Stille“ gemeint sein. Der Weg zu ihr ist selbst Stille (ruhige Sammlung). Ruhige Sammlung nährt („stillt“) unsere innere Einheit („Stille“). Bei der Reifung und Entwicklung unserer Persönlichkeit durch unser eigenes Bemühen ist die innere Sammlung, das Besinnen auf sich selbst, das Zeitnehmen für sich selbst der erste und wichtigste Schritt. 29 Fritz Karl August, Weisheiten der Völker, Köln 2003, S. 22, aus den "Heiteren Liedern zum Brautkranz" 30 ZV1 31 Burton Watson, Chuang Tzu. Basic Writings, New York 1996, S. 65 ©
29.10.2019 Wer sein tiefstes Selbst erkennt, der bleibt völlig ungebunden von den Dingen der Welt. Der indische Philosoph Shankara sagt: „Wer den Âtman (Selbst) erkannt hat, identifiziert sich nicht mehr mit seinem Körper. Er ruht in ihm wie in einem Gefährt. Wenn man ihn mit Bequemlichkeiten und Reichtümern versieht, freut er sich an ihnen und spielt mit ihnen wie ein Kind. Er trägt kein äußeres Zeichen eines Heiligen und bleibt völlig ungebunden von den Dingen der Welt.“32 Für eine bedeutende Richtung der antiken indischen Philosophie besitzt jeder Mensch einen Persönlichkeitskern, der sein „eigentliches Selbst“ ausmacht und ihn verbindet mit der Weltseele, dem Sein (Brahman). Er ist identisch mit dem Göttlichen. Erkennt er diesen Kern, wird alles Äußerliche einschließlich seines eigenen Körpers für ihn bedeutungslos. Der Weg dorthin führt über die Selbsterkenntnis. Auch wenn keiner von uns ein Heiliger wird und den von Shankara beschriebenen Erleuchtungszustand erreicht, so bringt uns jeder Zugewinn an Selbsterkenntnis einem solchen Zustand näher, oder, was dasselbe ist, dem Glück. Wir erlangen zunehmend Seelenfrieden, Unabhängigkeit von allem Äußeren und ruhen in der Geborgenheit im Innern. Wir schöpfen hier Ruhe, Kraft und Selbstvertrauen, um im Äußeren zu bestehen und erfolgreich unseren Weg in der Welt zu gehen. 30.10.2019 Die Betrachtung meines Lebens entscheidet über Fortschritt oder Rückschritt. Die Worte stammen aus dem chinesischen „Buch der Wandlungen“ (Yijing, I Ging), dem wohl ältesten Weisheitsbuch der Menschheit. Sie finden sich unter dem 20. der 64 Zeichen mit dem Namen „Guan“ (die Betrachtung, der Anblick). Der Übersetzer Richard Wilhelm kommentiert die Stelle wie folgt: „Es ist hier der Platz des Übergangs. Man blickt nicht mehr nach außen, um mehr oder weniger beschränkte oder verwirrte Bilder zu erhalten, sondern man richtet die Betrachtung auf sich selbst um die Richtung für seine Entschließungen zu bekommen. Diese Einkehr der Betrachtung ist gerade die Überwindung der naiven Selbstbezogenheit dessen, der alles nur von seinem Standpunkt aus betrachtet. Man kommt zur Reflexion und damit zur Objektivität. Die Selbsterkenntnis ist aber nicht eine Beschäftigung mit den eigenen Gedanken, sondern mit den Wirkungen, die von einem ausgehen. Nur die Lebenswirkungen geben ein Bild, das uns berechtigt, über Fortschritt oder Rückgang zu entscheiden.“33 32 Sh 133 33 IG 93; den letzten Sätzen hätte Goethe ohne Einschränkung zugestimmt; statt „Selbstbezogenheit“ steht im Text „Selbstischkeit“. ©
An der letzten Bemerkung hätte Goethe Freude gehabt, denn die bloß grüblerische Selbsterkenntnis im stillen Kämmerlein lehnte er ab. Wir müssen uns im Außen erproben, dann werden wir sehen, woran wir sind. 31.10.2019 Wer wagt es, sich selbst die Wahrheit zu sagen? Bei Seneca lesen wir: „Denn was uns selbst betrifft, das sehen wir immer mit parteiischem Auge an, und Voreingenommenheit schadet immer dem Urteil. Ich glaube, viele hätten zur Weisheit gelangen können, wenn sie nicht geglaubt hätten, sie hätten sie schon erreicht, und wenn sie sich nicht manche Fehler selbst verhehlt hätten, manche auch mit offenen Augen übersehen hätten. Denn man glaube ja nicht, es sei mehr fremde Schmeichelei als unsere eigene, die uns zugrunde richtet. Wer wagt es, sich selbst die Wahrheit zu sagen?“34 Seneca benennt hier eine verbreitete Schwierigkeit auf dem Weg, sich selbst besser kennen zu lernen. Wir machen uns häufig etwas vor, weil wir bestimmte Tatsachen nicht wahr haben wollen, sie lieber verstecken und im Dunklen lassen. Es fehlt oftmals an Mut, Selbstvertrauen und Kraft, uns mit unseren „Schatten“ auseinanderzusetzen. 01.11.2019 Es ist schwer, sich selbst zu kennen.35 Der Ausspruch stammt von Thales von Milet (7./6. Jh. v. Chr.), mit dem Aristoteles die Geschichte der Philosophie beginnen lässt. Die Aussage hat nach wie vor uneingeschränkte Gültigkeit. Einer der Hauptgründe für die Schwierigkeit, sich selbst zu kennen, besteht darin, dass viele meinen, sich bereits zu kennen. Sie fragen nicht mehr nach sich selbst, horchen nicht mehr in sich hinein, sind unachtsam und nicht mehr offen für sich selbst und für die eigenen Geheimnisse, für die Weite und Tiefe des eigenen Seelenlebens. Ferner neigen nachhaltige Prägungen und traumatische Erlebnisse, die häufig aus der frühsten Kindheit herrühren und massive Probleme und Ängste bereiten können, dazu, sich zu verbergen, zu verschleiern, im Unbewussten zu bleiben und aus diesem Versteck heraus unerkannt auf unser Denken, Fühlen, Wollen und Handeln zu wirken. 02.11.2019 34 S II 69 Von der Gemütsruhe 35 Snell Bruno, Leben und Meinungen der Sieben Weisen, 3. Aufl. München 1952, 101 ©
Fortschritt: die eigenen Fehler erkennen, eingestehen, verstehen, überwinden. Das wurde von den antiken Weisheitslehren in Ost und West als der Schlüssel zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit angesehen, die imstande ist, ein erfülltes und freudvolles Leben zu führen. Im Zentrum einer solchen Selbsterziehung steht die Selbsterkenntnis. Mutter der Selbsterkenntnis ist die Kritikfähigkeit, auf die in dem folgenden Zitat des griechischen Gelehrten und Philosophen Plutarch hingewiesen wird: „Wenn einer etwas falsch gemacht hat und sich dann den Kritikern stellt, das Leiden beim Namen nennt und die Sünde (den Fehler) enthüllt, nicht aber heilfroh ist, dass sie verborgen bleibt, auch nicht etwa mit Zufriedenheit feststellt, dass keiner etwas gemerkt hat, sondern frei bekennt und nach schonungsloser Kritik verlangt, so wäre das ein nicht zu verachtendes Zeichen moralischen Fortschritts. In diesem Sinne etwa pflegte Diogenes zu sagen: 'Der Heilsucher braucht entweder einen aufrichtigen Freund oder einen glühenden Feind, damit entweder das Aufzeigen oder das Ausbrennen ihm dazu verhilft, seine Schlechtigkeit loszuwerden.'“36 Von Konfuzius ist folgender Ausspruch überliefert: „Jemand kritisiert mich? Welch ein Glück!“ 03.11.2019 Wer sein Herz erkennt, den kennt das Glück.37 Der Ausspruch stammt aus einem ägyptischen Papyrus, dem sog. „Papyrus Insinger“. Er bringt auf eine denkbar knappe und treffende Formel, worum es bei der Selbsterkenntnis letztlich geht: dass wir „glücklich“ werden, indem wir mit uns selbst ins Reine kommen. Wer sich gut kennt, weiß mit sich umzugehen. Er kennt seine Schwächen und Stärken. Die einen mindert er, soweit er kann, die anderen nährt er und lässt sie wachsen. Wer sich kennt, der versteht sich. Wer versteht, verzeiht. Auch uns selbst gegenüber sind wir bei allem Wunsch nach Selbsterziehung und Weiterentwicklung Milde schuldig. Der erzieht gut, der seine Schüler liebt. Das „Herz“ war im alten Ägypten in erster Linie Sitz der Vernunft, der Überlegungen, auch der Einwirkung der Gottheit, und erst in zweiter Linie Sitz der Emotionen.38 „Selbst“ oder „Seele“ können wir in diesem Zusammenhang gleichsetzen. 45. Kalenderwoche: Unabhängigkeit 04.11.2019 Wer Zuneigungen hat, ist noch nicht wahrhaft gütig. 36Plutarch, Lebensklugheit und Charakter, aus der ‚Moralia’, ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Rudolf Schottlaender, Leipzig 1979, S. 199 De profectibus in virtute (Fortschritte in der Tugend) 37 AEGY 94 38 Bru 461 ©
Eine ungewöhnliche Formulierung innerer Unabhängigkeit als ein wichtiger Bestandteil weiser Lebensführung finden wir bei dem chinesischen Philosophen Zhuangzi: „... wer Zuneigungen hat, ist noch nicht wahrhaft gütig; wer in seinem Wirken an die Zeit gebunden ist, der besitzt noch nicht die wahre Größe; wer nicht erhaben ist über Glück und Unglück, der hat noch nicht den wahren Adel; wer, um sich einen Namen zu machen, sein Selbst verliert, der ist noch nicht ein wahrer Ritter.“39 Zhuangzi zählt verschiedene Qualitäten eines guten Lebens bzw. einer weisen Lebensführung auf wie Güte, Gelassenheit, Authentizität. Stets hat ihr Erreichen etwas damit zu tun, dass wir bestimmte Formen des inneren oder äußeren Anhaftens überwinden, anders ausgedrückt: dass wir unabhängig werden. Wir werden „wahrhaft“ gütig, wenn wir ohne Zu- oder Abneigungen schenken. Wir schaffen Gutes, wenn wir unabhängig von der Gelegenheit dazu Gutes tun. Wir werden gelassen, wenn glückliche oder unglückliche Umstände keinen Einfluss auf unsere Gemütslage haben. Wir bleiben uns treu, wenn uns die Meinung anderer gleichgültig ist. „Wahre Güte, wahre Größe, wahrer Adel, wahrer Ritter“ sind nur verschiedene Umschreibungen für Zhuangzis Vorstellung einer idealen Lebenshaltung. 05.11.2019 Hat er auch prächtige Gebäude, gelassen bewohnt er sie, gelassen verlässt er sie. Bei dem chinesischen Philosophen Laotse, der in seinen Versen mit dem Namen Daodejing (Tao- Te-King) häufig paradoxe und gegensätzliche Formulierungen verwendete, lesen wir: „Das Schwere ist des Leichten Wurzel. Das Ruhige ist des Unruhigen Herr. Daher: Der heilige Menschen wandelt den ganzen Tag, ohne von ruhigem Ernst zu weichen. Hat er auch prächtige Gebäude, gelassen bewohnt er sie und verlässt sie ebenso.“40 Die Rede ist von einem wahrhaft weisen Menschen41, dem das Leben leicht geworden ist, weil er das Wesentliche („Schwere“) ernst genommen hat, den nichts beunruhigt, weil er in sich zur festen Ruhe gelangt ist, der gelassen und frei durch die Welt geht, weil er an keinen Dingen anhaftet. Die „Leichtigkeit des Seins“ erlangt, wer sich von der Schwere des Anhaftens zu befreien vermag. 39 ZVI 1 40 Ta 26, Ü. von Strauß 41 So die Erläuterung von v. Strauß, ebd. S. 261 ©
06.11.2019 Freudig lebt, wer frei von Hang ist. In der altindischen Bhagavadgita, dem „Gesang des Erhabenen“, sagt der Gott Krishna dem Helden Arjuna viele Weisheiten, darunter folgende: „Der Täter, den nicht Prahlsucht treibt, Der frei von Hang, doch voller Kraft In Glück und Unglück gleich sich bleibt, Ein solcher, der ist 'wesenhaft'.“42 Das Wort „Täter“ ist dem Versmaß geschuldet und bedeutet der „Handelnde“. „Wesenhaft“ meint die Eigenschaft des Lichten, Gütigen, Freudigen, Harmonischen, auch der Vernunft und der Weisheit. Sie ist die oberste von drei verschiedenen „Gunas“, aus der nach indischer Lehre die Urmaterie der Welt zusammengesetzt ist und sich in spannungsvoller Dynamik hält. Immer wieder wird in der Bhagavadgita darauf hingewiesen, dass wir aus unserer Mitte heraus handeln, unser Selbst realisieren und authentisch bleiben sollen; dass wir aber nicht Knecht unserer Begierden werden und nicht auf das Resultat unseres Handelns schielen sollen („frei von Hang“). So wahren wir unsere Stimmigkeit, schöpfen Kraft aus unserem Innern und bewahren eine gelassene Grundstimmung („bleibt sich gleich“), die widerstandsfähig ist und sich nicht erschüttern lässt („Resilienz“). 07.11.2019 Das Gerede der Leute kümmere uns nicht. Bei Seneca lesen wir: „Geben wir denn unserer Seele den Frieden, den ihr die beständige innere Beschäftigung mit heilsamen Lehren, redliches Handeln und eine stets nur auf Pflicht und Ehre bedachte Sinnesart verschaffen kann! Das Gewissen sei unser Leitstern, das Gerede der Leute kümmere uns nicht bei unserem Tun: mag uns auch ein übler Ruf folgen, wenn wir uns nur wahrhaftig verdient machen.“43 Für die Weisen des Altertums war es im Hinblick auf die innere Unabhängigkeit von besonderer Bedeutung, sich von der Meinung der anderen frei zu machen und nur dem zu folgen, was die innere Stimme und die eigene, geprüfte Einsicht sagt. Häufig bemerken wir gar nicht, wie sehr wir uns nach der Meinung anderer richten oder wie diese uns beeinflusst. Zu sich selbst kommen 42 Bh 18,26 43 S I 198 (III 41) Vom Zorn ©
und sich selbst leben, d.h. authentisch sein, bedeutet vor allem, sich vom „Gerede der Leute“ frei zu machen. 08.11.2019 Der Weise wird nicht von den Dingen bestimmt und ist in seinem Handeln frei. Eine beeindruckende Charakteristik eines Weisen mit dem Schwerpunkt auf innere Unabhängigkeit, Standhaftigkeit, Authentizität, Prinzipientreue und Unerschütterlichkeit gibt der japanische Schriftstellter Shissai Chozan (18. Jh.) in dem folgenden Text: „Der Weise erkennt das 'Himmlische Prinzip' seines Herzens und bringt dessen Klarheit zur Entfaltung. Während er den 'Himmlischen Gesetzen' folgt, bedient er sich nicht mehr der Täuschungen eines oberflächlichen Wissens, lässt die Dinge Dinge sein und lässt sich nicht mehr von ihnen bestimmen. Er nimmt die Ereignisse, wie sie kommen, er ist ohne Begehren und ohne Hass. Auch wenn er sich den ganzen Tag dem Denken widmet, bringt er sein Herz nicht in Bedrängnis, weil er nicht in seinem Ich verhaftet ist. Auch wenn er sich den ganzen Tag über großen Anstrengungen aussetzt, quält er dennoch nicht seinen Geist. Er hat Vertrauen in sein Schicksal, und über das, was Recht ist, tauchen bei ihm weder Zweifel auf, noch zeigt er Unentschlossenheit … Im Leben gibt er sich dem Leben hin und erfüllt seinen Weg, und im Tod gibt er sich dem Tod hin und sorgt sich nicht um das, was kommen wird. Mögen Himmel und Erde sich wandeln, sein Herz bleibt standhaft; mögen alle Dinge dieser Welt zum Stillstand kommen, sein Herz gerät dadurch nicht in Verwirrung. Beim Denken steht er sich nicht selbst im Weg, und in seinem Handeln ist er frei.“44 Das „Himmlische Prinzip“ seines Herzens erkennen und den „Himmlischen Gesetzen“ folgen entspricht im Wesentlichen zwei zentralen Forderungen der antiken abendländischen Philosophie: „sich selbst erkennen“ und „naturgemäß leben“. Zentraler Gedanke des Zitats aber ist das Nichtanhaften am Ich und allen weltlichen Bezügen, die dieses Ich charakterisiert und es vom Selbst unterscheidet. 09.11.2019 Gründe dein Glück auf Fundamente, die nicht einstürzen können. Das war eine der wesentlichen Maximen der Stoa, einer Schule, die über rd. 1000 Jahre die maßgebende praktische Philosophie der abendländischen Antike war. Sie steht noch heute in hohem Kurs. Viele ihre Grundsätze haben sich als praktikable Lebenshilfen für viele Probleme des modernen Alltags bewährt. Es folgt ein Zitat Ciceros, dem das Verdienst zukam, diese Philosophie aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt zu haben. Er hat sie nach Rom gebracht und damit zum unvergänglichen Weisheitswissen des Abendlands erhoben: 44 Brüll Lydia, Japanische Weisheit, ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Lydia Brüll, Stuttgart 1999, S. 249 ©
„Ist es nicht klar, dass man das glückselige Leben nicht aus solchen Dingen zusammensetzen darf, die verloren gehen können? Nichts darf austrocknen, auslöschen oder zusammenstürzen von dem, was das glückselige Leben ausmacht. Denn wer fürchtet, er könne etwas von dem verlieren, wird nicht glückselig sein können.“45 Das Glück soll ausschließlich auf inneren Werten aufgebaut werden, vor allem auf einen guten Willen, ferner auf innere Ausgeglichenheit, heitere Gelassenheit, Duldsamkeit, Besonnenheit, Mäßigkeit etc. Wer auf diese Weise äußeren Werten wenig oder gar keine Bedeutung für sein Wohlbefinden zuerkennt, gelassen nimmt, was kommt, gelassen loslässt, was geht, der wird innerlich unabhängig. Sein Glück ist weder dem Zufall noch dem Handeln anderer Menschen unterworfen. 10.11.2019 Niemand und nichts kann mich ins Unglück stürzen. In den Reden des ehemaligen Sklaven und späteren philosophischen Lehrers Epiktet findet sich ein Kapitel über die „Achtsamkeit auf sich selbst“. Dort heißt es: „Worauf muss ich achtgeben? Vor allem auf die allgemeinen Grundsätze (des sittlichen Lebens, Weisheit), sie stets gegenwärtig haben und ohne sie weder schlafen noch aufstehen, weder essen noch trinken noch mit den Menschen verkehren: dass über die Seele eines anderen niemand Herr ist und dass allein in der Seele Gut und Böse beschlossen liegen. Niemand hat daher die Macht, mir ein wirkliches Gut zu verschaffen oder mich in Unglück zu stürzen, sondern ich allein habe in dieser Hinsicht die Macht über mich. Wenn also dies Reich für mich vor jeder Gefahr sicher ist, was brauche ich mich da um das äußere Geschehen zu bekümmern?“46 Wer die Erkenntnis verinnerlicht hat, dass letztlich alles Gute und Schlechte aus seinem eigenen Seelenleben herrührt, aus seinen Vorstellungen, Ansichten, Werten, Begierden und Zielen, bei dem haben andere und das Schicksal es schwer, ihn aus der Geborgenheit in der eigenen Mitte, aus der Grundstimmung heiterer Gelassenheit zu bringen. Sie werden ihn weder betrüben noch Sorgen bereiten. Er hat gelernt, dass es darauf ankommt, das Glück in innerer Ausgeglichenheit und einem gesunden Seelenleben zu finden, das äußere Geschehen zu nehmen, wie es kommt, und stets das Beste aus allem zu machen. 46. Kalenderwoche: Vernunft 45 Cicero, Tusc. V 40 46 Epiktet, Teles und Musonius. Wege zum glückseligen Leben, übertragen und eingeleitet von Wilhelm Capelle, Zürich 1948, in Klammern Angabe der Diatribe, S. 114 ©
11.11.2019 Wer der Stimme der Vernunft folgt, der hat dauernden Frieden.47 Im ganzen antiken Weisheitsdenken wurde die Vernunft als der Wegweiser zum Seelenfrieden angesehen. Bei aller Bedeutung, die der Intuition zukommt, war es für die praktische Philosophie das vernünftige Denken, das uns dazu befähigt, unser Leben bewusst, eigenverantwortlich und zielführend auf das hin zu lenken, was die Vernunft in philosophischer Reflexion als ein glückliches und zufriedenes Leben erkannt hatte. Das Zitat findet sich in einer Trostschrift Senecas an seine Mutter Helvia, die über seine Verbannung auf die Insel Korsika verzweifelt war. Korsika war seinerzeit keineswegs diese herrliche Landschaft von heute, sondern ein abgelegener, unwirtlicher, bedrückender Ort. Wahrscheinlich war es die Erfahrung dieser siebenjährigen Verbannung, die Seneca, einer der reichsten Bürger Roms, später zu dem hohen Grad an Weisheit reifen ließ, die er uns vor allem in seinen „Briefen an Lucilius“ überliefert hat. „Durch Leiden lernen“, sagt Aischylos. 12.11.2019 Redlichkeit ist die Kraft, spontan in Übereinstimmung mit der Vernunft zu handeln. In dem „Bushido“ des Inazo Nitobe, einem berühmten Buch über den Ehrenkodex der Samurai, deren Ethik stark von antiken chinesischen Anschauungen geprägt ist, lesen wir: „Ein bekannter Bushi (Vorläufer der Samurai) definierte die Idee der Redlichkeit als Kraft der Entschlossenheit: ‚Redlichkeit ist die Kraft, sich in Übereinstimmung mit der Vernunft ohne zu zögern für einen bestimmten Weg zu entscheiden; zu sterben, wenn es an der Zeit ist zu sterben; anzugreifen, wenn Angriff der richtige Weg ist.’"48 Lassen wir die martialischen Beispiele weg, die dem Beruf des Bushis (Krieger) und den Zeitumständen geschuldet sind, so ergibt sich Folgendes: Hier ist die vernünftige Einsicht, Weisheit, so verinnerlicht und in täglicher Praxis eingeübt, dass der Mensch in jedem Augenblick ohne zu überlegen weise handelt, d.h. das, was der Augenblick, die Situation und die eigene Natur fordert, auch tut. Denken, Fühlen und Handeln sind eins geworden. Dazu bedarf es vieler Übung und einer Eingewöhnung von weisem Denken und Verhalten. Das Ergebnis ist die Übereinstimmung mit sich selbst, Authentizität, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, im Text: „Redlichkeit“. 13.11.2019 47 S II 220 48 Inazo Nitobe, Bushido. Der Ehrenkodex der Samurai, aus dem Amerikanischem übersetzt von Kim Landgraf, Köln 2006, S. 33 ©
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