Zum Schwerpunkt Stille 02/2022 - LIST Gruppe
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Stille Editorial Schön laut! Ich war neulich endlich mal wieder auf einer Party. Das allein ist ja nach wer weiß wie vielen Monaten Corona schon eine Sache, die es fast wert ist, erwähnt zu werden. Eine richtige Party! Mit Freund:innen, Be- kannten und anderen echten Menschen. Jung, alt, gut drauf und, wie sich später herausstellte, kollektiv in Feierlaune. Der laue Frühsommerabend passte wunderbar zum Warm-up mit Club-Jazz in den Ohren und Sundownern in der Hand. Aber als die Sonne untergegangen war, kamen sie: zwei junge Frauen – aus Kiew, was in die- sem Zusammenhang eigentlich keine Rolle spielt, aber irgendwie doch bemerkens- wert ist – anyway. Und plötzlich brannte die Luft! Die eine mit einer tollen Soul-Stim- me – live – richtig laut und richtig gut, vom treibenden Saxofon-Solo ihrer Kollegin kongenial unterstützt und von stampfen- den Beats getragen. Da hattest du keine Wahl und wolltest auch keine – tanzen! Endlich wieder tanzen! Du verstehst dein eigenes Wort nicht mehr, egal, reden war vorhin – jetzt nur ausgelassen sein. Jede:r auf die eigene Art und doch alle gemein- sam. Lauter fröhliche, schweißglänzende Gesichter um dich herum. Rotes, gelbes, grünes Licht. Die Verstärker geben alles und die Schwingungen gehen ohne Um- wege von den Ohren direkt in die Beine, in den ganzen Körper. Noch auf dem Nach- hauseweg haben die Bässe in meinen Ohren gewummert. Manchmal brauche ich es einfach laut. Aber alles hat seine Zeit. Davon, wie reiz- voll aber auch die Stille sein kann und dass sie mehr ist als die schlichte Abwesenheit von Geräuschen, erzählen die Geschich- ten in diesem Heft. Ihr Gerhard List Foto a|w|sobott Cover jamenpercy - stock.adobe.com Liebe Leser:innen, Stille ist eines dieser Themen, zu denen es Tausende Weisheiten gibt. Je stiller du bist, desto mehr kannst du hören. In Stille reifen große Dinge. Stille ist aber auch so verdammt laut. Wir haben uns gefragt: Wie viel Floskel und wie viel Wahrheit steckt in alledem? Lassen Sie uns gemeinsam zur Ruhe kommen und unsere eigenen Antworten finden. 2|3
Stille Inhalt S. 6 Gastbeitrag S. 50 Genau hingeschaut Pssst! Wilden Tieren ganz nah. Der schalltote Raum – Von Tierfilmer Andreas Kieling. hier hört man sein Herz schlagen und seinen Magen verdauen. S. 12 Laut gedacht Viel Lärm um nichts. S. 54 Schon gewusst? Ein Essay darüber, dass es mit der Stille Lautlose Vorbilder. nicht so einfach ist. Eulen sind die Schleicher der Lüfte. S. 16 Schon gewusst? S. 56 So kanns gehen S. 56 Innehalten am Brandenburger Tor. Biologisch abbaubare Akustikpaneele – Ein „Raum der Stille“ mitten im Trubel. wenn Pilze für Ruhe sorgen. S. 18 Hinter den Kulissen S. 60 Was geht? Richtig was los hier! Er lässt es knallen, knistern und Wie beim Bochum City Tower für Ruhe knacken. gesorgt wird. Der Geräuschemacher hinterm Film. S. 24 Genau hingeschaut S. 64 Im Fokus Ruhe im Saal! Das transparente stille Örtchen. Über Pausen in der Musik. Diese Toilette lässt tief blicken. S. 28 Im Fokus S. 66 Im Gespräch Der Magier der Stille. Deaf-Space-Architektur. S. 30 S. 6 Marcel Marceau spricht mit Mimik Dr. Jan Philipp Koch über Architektur für und Gestik. gehörlose Menschen. S. 30 Hinter den Kulissen S. 70 Tacheles Die Baustellen-Sinfonie. Nachhaltigkeit braucht klare Worte. Zu Besuch beim „Paseo Carré“. Ein Plädoyer für eine neue stillschweigende Impressum Übereinkunft. S. 36 Entdeckungsreise Herausgeber Sound of Silence – S. 72 Entdeckungsreise LIST AG NINO-Allee 16 nonverbale Kommunikation in der Schlaf gut, Panda! 48529 Nordhorn Pflanzen- und Tierwelt. Nachts im Hauptstadtzoo. T +49 5921 8840-0 info@list-ag.de S. 42 Jetzt reinhören S. 78 Nachgefragt www.list-ag.de Der Bauwerk-Podcast ist da! Musste es denn gleich ein Sitz der Gesellschaft In den ersten Folgen geht es um BIM Schweigekloster sein? Nordhorn und die Digitalisierung. Markus Ruf steht uns Rede und Antwort. AG Osnabrück HRB 207548 USt.-Id.-Nr. DE160541353 S. 44 Im Gespräch Vorstand Mit offenen Ohren durch die Stadt. Dipl.-Ing. Gerhard List (Vorsitz) Klangforscher Thomas Kusitzky über den Dipl.-Kfm. Markus Figenser S. 44 Klang von Metropolen. Dipl.-Ing. Dirk Schaper Vorsitzender des Aufsichtsrats Prof. Dr. Manfred Helmus Redaktion und Layout Laura Kleene Inga Rahmsdorf Gero Keunecke Jens Bösmann Thore Vogelsang Jens Hasekamp (V. i. S. d. P.) LIST AG NINO-Allee 16 48529 Nordhorn Mehr Einblicke Abo T +49 5921 8840-893 jens.hasekamp@list-ag.de Sie finden die LIST Gruppe laura.kleene@list-ag.de S. 72 Druck auch auf: T +49 5921 8840-750 Druckerei J. F. Niemeyer GmbH & Co. KG Hohlweg 6 49179 Ostercappeln Bauwerk 02 | 2022 4|5
Stille Gastbeitrag PSSST! Wilden Tieren ganz nah. Gastautor Andreas Kieling Fotos Erik Kieling Bauwerk 02 | 2022 6|7
Stille Gastbeitrag I Ganz langsam lasse ch erinnere mich an diese Begegnung mit einem Gorilla in Ruanda. Er und die anderen Gorillas hatten definitiv ich die Videokamera gemerkt, dass ich da war, aber da ich den Sicherheits- abstand von drei Metern einhielt, ließen sie sich in keiner sinken, wage es kaum Weise stören. Ich habe auf meinen Expeditionen viele solcher Begegnungen mit Tieren erlebt. Viele Menschen den- zu atmen und schaue in ken, dass Tierfilmer:innen immer stundenlang in völliger Stille in Verstecken ausharren. Aber das stimmt nicht. die Augen des Gorillas. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, Tiere zu filmen: Entwe- Sie sind nicht sehr der aus einem Versteck heraus oder man begegnet den Tieren. Ich bleibe nicht still im Versteck, sondern versuche eher, eine Be- groß, bernsteingelb ziehung zu ihnen aufzubauen – was allerdings auch nicht immer gelingt. Ich investiere viel Zeit darin, die Tiere an meine Person bis dunkelbraun. zu gewöhnen. Oft muss ich wochen- oder monatelang auf diese Anbahnungsversuche hinarbeiten. Ich muss mich den Tieren nä- Es sind unglaublich hern und schauen, wie sie auf mich reagieren. Ich frage mich, was würde ich an ihrer Stelle tun. Wo würde ich mich aufhalten? Als wache, intelligente, was sehen der Elefant, das Wildschwein oder der Bär mich? Nur bei Vögeln ist das anders. Wenn ich Vögel filmen will, dann muss forschende, gutmütige ich auf Distanz gehen und mich verstecken. Augen. Ich sehe in ihnen Der stillste Ort der Erde. nichts Böses, nichts Als Tierfilmer werde ich immer wieder gefragt, wo eigentlich der stillste Ort der Erde sei. Wo es so still ist, dass man wirklich abso- Bedrohliches. Der Blick lut nichts hört. Als Erstes fallen mir dann immer die Tundra Alaskas und die Namib-Wüste in Afrika ein. Ich habe jahrelang in diesen rührt mich wie kaum beiden sehr unterschiedlichen Regionen gelebt und Tierfilme ge- dreht. Viele Hunderte von Kilometern kann man dort zurücklegen, je zuvor. ohne einen Menschen zu treffen. In der Tundra Alaskas gibt es den Sommer über Milliarden Moskitos, die man immer summen hört. Aber bevor die Moskitoplage beginnt, ist es, wenn kein Wind weht, absolut still. Es gibt dort keine Bauwerke, kein Autobahn- rauschen und keine von Menschen erzeugten Geräusche. Wenn sich zum Beispiel ein Stein von einer Felswand löst, hört man das kilometerweit. Diese absolute Stille ist so intensiv, dass ich dort mein eigenes, ganz leichtes Rauschen auf den Ohren gehört habe. So eine Art Grundrauschen, aber nicht zu verwech- seln mit einem Tinnitus. Für mich ist diese absolute Stille wun- derschön und faszinierend, ich genieße sie immer sehr. Wenn ich nach einer solchen Expedition nach Deutschland zurückgekehrt bin, habe ich mich nach wenigen Tagen oft schon nach dieser Ruhe zurückgesehnt. Fern jeglicher Zivilisation. Hier in Deutschland wird es nie richtig still. Immer hört man irgendetwas, eine Autobahn in der Ferne, einen Trecker oder Menschen. Und selbst im Wald oder am Strand ist es nicht richtig still, man hört die Vögel, das Rascheln der Bäume oder das Rau- schen des Wassers. Viele Menschen wünschen sich mehr Ruhe, aber eine absolute Stille sind wir nicht gewohnt und vielen macht sie auch Angst. Es fällt ihnen schwer, sie zu ertragen. Ich habe einmal einen jungen Mann, der unbedingt Alaska erleben wollte, mit auf eine Expedition genommen. Ihm war diese absolute Stille suspekt, sie erzeugte bei ihm Unbehagen und schließlich Pa- nik. Das Fehlen sämtlicher Geräusche hat ihm immer wieder vor Augen geführt, wie weit entfernt wir von jeglicher Zivilisation waren. Er hat die Stille nicht mehr ausgehalten und musste früh- zeitig abbrechen. ‣ Bauwerk 02 | 2022 8|9
Stille Gastbeitrag In der Tundra sind sogar die Grizzlybären nicht zu hören. Ande- re Tiere dagegen, wie die Karibus, nähern sich mit Geräuschen. Denn Karibus kommen im Rudel und sie haben spezielle Sehnen an den Läufen, mit denen sie beim Gehen ein Klacken erzeugen. Stellen Sie sich vor, es hat gerade frisch geschneit und ein mäch- tiger Eisbär kommt angelaufen. Den hören Sie nicht. Selbst wenn es absolut windstill ist. Das habe ich mehrmals in der Tundra er- lebt. Bei Dreharbeiten campe ich oft weit nördlich des Polarkrei- ses. Schon mehrmals wurde ich dabei von Tundra-Grizzlys oder Eisbären überrascht. Die Tiere nähern sich völlig geräuschlos an. Das Erste, was man bei einem Bären hört, ist sein erregter Atem. Das hat nichts mit Bronchitis oder einer Erkältung zu tun. Das Tier ist erregt, weil es mich wahrgenommen hat. Menschen riechen wie Beutegreifer. Aus der Sicht von Bären werden wir wie andere Beutegreifer wahrgenommen, zum Beispiel wie ein Wolf, Luchs oder ein Viel- fraß. Wir Menschen haben eine aggressive Motorik und riechen wie ein Raubtier. In der Natur gehen sich Beutegreifer in der Regel aus dem Weg, es sei denn, man beansprucht denselben Riss oder Kadaver. Würden wir dagegen wie ein Elch oder ein Karibu riechen und noch auf vier Beinen gehen, wäre es um uns ge- schehen. Haben allerdings Bären, Wölfe oder Großkatzen mit uns Menschen schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht, verhal- ten sie sich eher scheu und zurückhaltend – und dasselbe trifft natürlich auch für Pflanzenfresser zu. Die Geräusche, die wir in Tierdokumentationen hören, wenn ein Bär auftritt, werden erst hinterher erzeugt und eingespielt, weil die Zuschauer:innen das erwarten. Wir verbinden einen Tritt damit, dass es raschelt, knackt oder knistert, aber in Wahrheit läuft der Bär völlig geräuschlos durch den Schnee. Wenn man mit dem Ohr danebenliegen würde, dann würde man etwas hören, aber es wäre vermutlich auch das Letzte, was man im Leben hört. Ruhe mitten in Deutschland. Ich kann Stunden damit zubringen, durch die Natur zu streifen oder einfach regungslos dazusitzen und ein Tier aus nächster Nähe zu beobachten. Das funktioniert auch ganz wunderbar hier- zulande. Ich lebe in einem kleinen Dorf in der Eifel, es ist eine der Über den Autor. ruhigsten Gegenden Deutschlands. Wenn ich hier nach draußen gehe und beobachte, was da so läuft und kreucht, komme ich Andreas Kieling, 1959 geboren, gehört zu den zur Ruhe. Wenn Sie hier in den Wald gehen und sich eine Stunde bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Tier- hinsetzen, das Handy auf stumm schalten und die Ohren spit- filmer:innen. Mit 16 Jahren floh er aus der DDR, zen, das ist sehr spannend, was da um einen herum passiert. Da arbeitete als Seemann und Förster, bevor er seine gibt es so viel zu hören und zu entdecken. In dem Moment, wo Karriere als Tierfilmer begann und die ganze Welt man etwas sieht, riecht, spürt oder hört, bekommt man ein ganz bereiste. Kieling war oft monatelang draußen in der anderes Gefühl, als wenn man es nur in einem Film sieht. Es ist Wildnis unterwegs, ist Tieren so nahe wie sonst wohl wichtig, sich das Staunen zu bewahren – und manchmal einfach niemand gekommen, hat Bären in Alaska gefilmt, mal still zu sein. • wurde von einem ausgewachsenen Wüstenelefanten in der Namib in Afrika angegriffen und ist mit Haien vor Australiens Küsten getaucht. Seine Filme laufen in der ZDF-Sendereihe „Terra X“. Für den ARD-Drei- teiler „Abenteuer Erde – Yukon River“ erhielt er den renommierten BBC-Panda-Award, den Oscar im Tierfilm. Sein Buch „Ein deutscher Wandersom- mer“ (Piper Verlag), für das Kieling 1.400 Kilometer durch acht Bundesländer ging, wurde ein Spiegel- Bestseller. Bauwerk 02 | 2022 10 | 11
Stille Laut gedacht Mit der Stille ist das nicht so einfach. Wir sehnen uns nach Ruhe und können sie doch oft nur schwer ertragen. Menschen besuchen freiwillig ohrenbetäubend laute Opern und Rockkonzerte und buchen dann Schweige-Urlaube oder fliehen in Ruheräume. Kurt Tucholsky hat gesagt: „Der eigene Hund macht keinen Lärm. Er bellt nur.“ Sind Krach und Ruhe also nur eine Frage der Perspektive? Viel Lärm um nichts. Foto oz - stock.adobe.com Der Gehörsinn lässt uns nicht in Ruhe. Er ist stets aufnahmebereit. Bauwerk 02 | 2022 12 | 13
S Stille Laut gedacht tändig dringt Ge- suchten Menschen, sich verzweifelt ge- um abzuschalten. Denn mitunter ist es gut, zeter, Gejohle, Ge- gen die Belästigung durch Lärm zu weh- einfach mal Ruhe zu geben, die Musik ab- dröhne und Getöse ren. Besonders mit der Industrialisierung zudrehen und das Piepen auszustellen, um an unsere Ohren. wuchs das Bedürfnis nach Stille. Anfang tief durchzuatmen und aufzutanken. Und Dass Lärm krank des 20. Jahrhunderts wurden vielerorts dabei festzustellen, dass es sowieso fast machen kann, phy- sogenannte Anti-Lärm-Vereine gegründet. nirgendwo wirklich absolut still ist – und sisch wie psychisch, das ist wiederum auch gut so. Also einfach ist wissenschaftlich Stille ist jedoch ein rares Gut geblieben. mal der Stille lauschen, die so manch ein unbestritten. Wer in anhaltendem Lärm Pausenlos wird gequatscht, es piept, rap- Hörerlebnis und Geheimnis birgt. • leben muss, der befindet sich in ständi- pelt, dröhnt und rauscht, und selbst an ger Alarmbereitschaft. Laut der Weltge- Bahnhöfen, in Wartezimmern und in Ge- sundheitsorganisation leiden Millionen schäften werden wir mit Musik zwangs- Menschen an Verkehrslärm, was die ge- bedudelt und berieselt. Dabei hören wir in sundheitlichen Risiken zum Beispiel für der Stille oft erst, was im Getöse unhörbar Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht. ist. Man denke nur an die Stille vor dem Schuss. Oder die Ruhe vor dem Sturm. Und so wächst das Bedürfnis nach Ruhe. In der Musik ist das Fehlen von Tönen ein Doch gleichzeitig fällt es uns oft schwer, bewusst eingesetztes Instrumentarium, die Stille zu ertragen – und dabei auch um Spannung zu erzeugen. Auch im Ge- noch selbst ruhig zu bleiben. Dann erfüllt spräch kann die Stille ebenso inhaltsreich mitunter eine lähmende Stille den Raum, sein wie Wörter. eine peinliche Stille entsteht im Gespräch, und wenn es ganz übel läuft, breitet sich auch gleich noch die Grabesstille aus. Die Oper ist mitunter lauter als die Kettensäge. Ohren kann man Das Gegenteil von Lärm muss allerdings nicht zuklappen. auch nicht unbedingt Stille sein. Geräu- sche und Klänge können angenehm und Wenn wir einen Anblick nicht ertragen ein Zeichen von Lebendigkeit sein. Im Co- möchten, schließen wir die Augen. Die Oh- rona-Lockdown erlebte man vielerorts, wie ren zu verschließen, wird schon schwieri- trostlos und abweisend ganz stille Städte ger. Der Gehörsinn lässt uns nicht in Ruhe. waren. Wir brauchen Klänge, um uns in Er ist stets aufnahmebereit. Wollen wir ihn der Welt zurechtzufinden, und physikalisch ausschalten, müssen wir aufwendig etwas gesehen ist ein Geräusch zunächst einmal in unsere Gehörgänge drücken. Meist mit nichts anderes als eine periodische Verän- eingeschränktem Erfolg. Selbst wenn wir derung des Luftdrucks. Eine Schallwelle die Finger in die Ohren bohren oder diese erreicht das Ohr und wird dort durch mo- mit Watte verschließen, dringt noch etwas torische, mechanische und neurologische von all dem Lärm hindurch. Vorgänge in das umgewandelt, was wir „hören“ nennen. Eine ganze Industrie ist rund um das Be- dürfnis nach Stille entstanden. Allgegen- Was dann als laut und lärmend und was wärtig sind mittlerweile die Kopfhörer, die als wohltuend und angenehm empfunden die Geräusche um uns herum ausblenden. wird, ist individuell sehr unterschiedlich. Menschen geben viel Geld aus, um unter Für manche ist das Rauschen des Mee- Aufsicht ruhig zu sein, einen Schweige- res erholsam, während andere das Sum- Urlaub zu erleben oder in Ruheräumen men einer Computerlüftung beruhigt. Ein Stille zu erfahren. Im Zeitalter der ständi- tropfender Wasserhahn oder eine tickende gen Mitteilungslust, in dem wir von überall Uhr sind zwar leise, haben manch Schlaf- und immer mit der Welt in Kommunikation suchenden jedoch schon in den Wahnsinn treten können, brauchen wir eigens einge- getrieben. Opernfans fällt nicht auf, dass richtete Ruheabteile, in denen das Spre- eine Wagner-Inszenierung lauter sein kann chen verboten ist. als eine Kettensäge. Und es gibt Babys, die beim Dröhnen eines Staubsaugers besser einschlafen, während andere Kin- Unhörbar Foto emmi - stock.adobe.com der beim Einschalten des Geräts panisch im Getöse. zu schreien beginnen. Was als laut und lärmend und was als wohltuend Dabei ist der Kampf gegen den Lärm nicht Wir haben uns in dieser Ausgabe der Bau- und angenehm empfunden wird, ist individuell sehr neu. Schon bevor überall Smartphones werk für das Thema „Stille“ entschieden, unterschiedlich. klingelten, digitale Automaten sprachen um einmal innezuhalten, all den Trubel sa- und tragbare Musikboxen dudelten, ver- cken zu lassen und den Krach um uns her- Bauwerk 02 | 2022 14 | 15
Stille Schon gewusst? Im Nordflügel des Brandenburger Tors ist der „Raum der Stille“ auch als ein Zeichen des Friedens gedacht. Stille in diesem Trubel? Innehalten am Brandenburger Tor. Als Wahrzeichen Deutschlands ist das Brandenburger Tor für Menschen aus der ganzen Foto TIMDAVIDCOLLECTION - stock.adobe.com Welt ein begehrtes Fotomotiv. Das liegt auch an den Bildern vom Mauerfall aus dem Jahr 1989, die mit dem „Triumphtor“ aus dem 18. Jahrhundert verbunden werden. Den wenigsten ist allerdings bekannt, dass es an diesem belebten und geschichtsträchtigen Ort auch einen „Raum der Stille“ gibt. Während sich draußen Millionen von Besucher:innen durch die imposanten Säulen des Bauwerks schlängeln, können Menschen im Innern des Komplexes im „Raum der Stille“ innehalten, entspannen, meditieren und beten. Eine willkommene Abwechselung zum mitunter regen Treiben auf dem Pariser Platz. • Bauwerk 02 | 2022 16 | 17
RICHTIG Stille Hinter den Kulissen Im Herzen Bochums, direkt in der Nähe des Hauptbahnhofs, entsteht ein neues Wahrzeichen: der 20.000 Quadratmeter große Bochum City Tower mit mehr als 60 Metern Höhe. WAS LOS HIER! Wie beim Bochum City Tower für Ruhe gesorgt wird. Jede Immobilie wird in eine mehr oder weniger bebaute Umwelt hinein- geplant. In der Regel gilt dabei: Je belebter der Ort, desto besser. Denn Kundenfrequenz, Aufenthaltsqualität und eine gute Anbindung machen Immobilien erfolgreich. Über den damit einhergehenden Geräuschpegel wird nicht groß gesprochen, schließlich regelt der Schallschutz das schon. Dennoch möchten wir die Disziplin jetzt einmal zum Thema machen. Denn klar ist auch: Jede noch so gut geplante und besetzte Immobilie funktioniert nicht, wenn die Geräusche nicht draußen bleiben. Visualisierung Gerber Architekten GmbH Bauwerk 02 | 2022 18 | 19
Stille Hinter den Kulissen A ls Anschauungsprojekt ha- Ort. Nehmen wir die Lärmquellen und ihre ben wir uns den Bochum City Bedeutung für das Gebäude also einmal Tower ausgesucht. Dieser auseinander. „Wir haben für die Änderung wird von unseren Kolleg:in- des Bebauungsplanes ein Verkehrs- und nen von LIST Develop Commercial Schallgutachten machen lassen“, erklärt entwickelt, der Bauantrag wird gera- Projektentwickler Daniel Hille. „Darin sind de vorbereitet. In Sachen Schallschutz sämtliche Geräusche in einem Radius von bringt der City Tower einige besonde- 500 Metern als Linien- und Punktquellen re Anforderungen mit: Das Grundstück liegt in zentraler Lage nahe der Innen- aufgelistet.“ Dr. Topp nickt und knüpft daran an: „Genau, und das ist dann die „Es geht nicht stadt an einer großen und vielbefah- renen Kreuzung mit Ampel-System. Grundlage für unsere Planung. Die Autos, die hier vorbeifahren, sind eine der rele- darum, was Links: Herr Dr. Topp (rechts), unsere Kollegin Ebenso zählen der Hauptbahnhof und ein öffentliches Parkhaus mit 450 Stell- vanten Linienquellen. Denn die stehenden, anfahrenden und vorbeifahrenden Au- man hören Lena Körbel und unser Kollege Daniel Hille (links) erarbeiten zusammen das Schallschutzkonzept für plätzen zu den direkten Nachbarn. Die Gleise sind dabei nicht ebenerdig, son- tos bewegen sich ja die meiste Zeit und produzieren parallel Geräusche. Das Ohr kann, sondern den Bochum City Tower. dern befinden sich auf einer Brücke etwa in Höhe des dritten Stockwerks nimmt eine linienförmige Bewegung wahr.“ Ein Teil dieses Schalls treffe direkt auf das darum, des Gebäudes. Außerdem unterschei- den sich die weiteren benachbarten geplante Gebäude, für den Rest gebe es aus Projektsicht zwei mögliche Varianten: was man Gebäude sehr stark in Höhe und Breite. Entweder der Schall treffe auf Flächen zum Beispiel in Form weiterer Gebäude und wahrnimmt.“ Wir fragen uns also: Was muss das Ge- werde reflektiert. Dann sei er zwar abge- bäude leisten, damit das Wort Nachtruhe schwächt, aber ebenso relevant. Oder er für zukünftige Hotelgäste seinen Namen könne sich frei ausbreiten und verpuffe in hier wirklich verdient? Und wie wird es Bezug auf den City Tower. All das wer- möglich, dass Büromieter:innen an diesem de berücksichtigt, betont Dr. Topp. Die belebten Ort einmal konzentriert arbeiten Geräusche, die von Spazierenden und können? Um diese Fragen zu klären, haben Fahrradfahrer:innen oder auch den be- wir uns mit den Projektbeteiligten vor Ort nachbarten Nutzungen ausgehen, seien auf dem bislang unbebauten Grundstück meist Punktquellen, aber nicht relevant. getroffen. Von LIST Develop Commercial Denn sie blieben deutlich unter den Dezi- sind Projektentwickler Daniel Hille und Pro- bel-Werten der Autos zurück. jektmanagerin Lena Körbel dabei. Und auch unser zuständiger Sachverständiger Herr Dr. Topp von Löschmann + Partner Beratende Schall kann keine Bögen Ingenieure hat sich auf den Weg gemacht. schlagen. „Wiederum spannend ist aber die Bedeu- Viele Autos, tung der Bahn. Weil die Schienen auf einer viel Lärm. Brücke über den Straßenverkehr herfüh- ren, haben wir hier eine Geräuschquelle, Wir begrüßen uns gerade, da setzt sich die die nicht ebenerdig zu verorten ist. Zudem Autokolonne an der Ampel neben uns in haben wir mit dem Parkhaus, das die Wirt- Bewegung. Perfekte Steilvorlage. „Und das schaftsentwicklungsgesellschaft Bochum kann man zukünftig im Gebäude wirklich aktuell schon auf dem direkt angrenzenden nicht hören?“, frage ich in die Runde. „Es Nachbargrundstück errichtet, eine Mauer, geht nicht darum, was man hören kann, die den City Tower in einem bestimmten sondern darum, was man wahrnimmt. Wir Abschnitt und bis zu einer bestimmten sagen zum Beispiel immer, ein Dezibel ist Höhe akustisch von der Bahn abschirmt“, kein Dezibel. Und bis zu einer Region von gibt Dr. Topp Einblick in das Vorhaben. Da- 30 Dezibeln kann man auch noch gut und mit entstehe folgendes Szenario: Da sich erholsam schlafen. Das wäre dann in etwa Schall zwiebelschalenförmig in immer grö- die Geräuschkulisse von leichtem Regen“, ßer werdenden Bögen ausbreite, könne erklärt Dr. Topp. „Das Land Nordrhein- er nicht einfach über die Mauer des Park- Westfalen gibt da ganz klare Richtwer- hauses hinwegspringen. „Der Schall kann te vor, die wir einzuhalten haben“, führt sich nur in einer Diagonalen ausbreiten Projektmanagerin Lena Körbel weiter aus. und trifft erst deutlich höher auf das Ge- Fotos LIST Gruppe bäude, als man vielleicht vermuten wür- Damit die Richtwerte eingehalten werden de“, geht er weiter ins Detail. „Das bedeu- können, muss auf diesem Grundstück tet, dass die Räume auf der Bahn-Seite viel passieren, das sagen uns unsere Oh- in den Geschossen sieben bis neun dem ren schon nach wenigen Minuten hier vor größten Lärm ausgesetzt sein werden. ‣ Bauwerk 02 | 2022 20 | 21
Stille Hinter den Kulissen In nordöstlicher Ausrichtung schützt das Parkhaus nicht mehr und der Straßenlärm kommt hinzu. Hier sind die Eckräume in den Geschossen fünf bis acht dem Lautstärke- Maximum ausgesetzt. Wir sprechen hier von Dezibel-Werten von über 80, das lässt sich mit einem Gewitter oder einem Rasen- mäher vergleichen und ist nicht mehr weit vom Presslufthammer entfernt.“ Wie die Einblicke zeigen, wird das Ge- bäude sehr unterschiedlichen Lärmpegeln „Bei den Fenstern macht ausgesetzt sein – die verschiedenen Him- melsrichtungen, aber auch die Gebäude- eine Individuallösung höhe von gut 60 Metern spielen dabei eine wichtige Rolle. „In so einem Fall wird eine in Sachen Schallschutz Immobilie aus unserer Sicht zu einer Art Puzzle“, erklärt Projektentwickler Daniel absolut Sinn.“ Hille, „zumindest was die Fenster angeht. Wir haben das Gebäude horizontal und vertikal in Achsen eingeteilt und behan- deln die Fenster in den einzelnen Feldern in Sachen Schallschutz unterschiedlich.“ Lena Körbel, die das Projektmanagement verantwortet, ergänzt: „Bei den Fenstern macht diese Individuallösung absolut Sinn. Man könnte jetzt hingehen und alle Fenster auf den Worst Case vorbereiten, das ist je- doch unwirtschaftlich und auch nicht not- wendig. Für die Außenwände aus Beton hingegen gibt es nur ein einziges Schall- dämmmaß. Bei so massiven Bauteilen ha- ben die unterschiedlichen Dezibel-Werte keine wirkliche Bedeutung.“ Über den Bochum City Tower. Unterschätzt ja, Im Herzen Bochums, direkt in der Nähe des Haupt- aber nicht Prio eins. bahnhofs, entwickelt LIST Develop Commercial ein neues Wahrzeichen: den 20.000 qm großen Bo- Kurzzeitig im Raum habe auch die Über- chum City Tower mit mehr als 60 Metern Höhe. Der legung gestanden, die Nutzungen zu tau- architektonische Entwurf stammt von Gerber Archi- schen. Die Schallschutzanforderungen für Hotels sind deutlich höher als die für Bü- tekten. Mit dem Neubau schöpft das Projektteam den wenigen zur Verfügung stehenden Platz ideal Das muss das roflächen. Also hätte man die Hotelflächen aus und verbindet die Nutzungen aus Arbeitswelt, Gebäude leisten – in den oberen und die Büroflächen in den mittleren Stockwerken mit der höchsten Beherbergung, Einkaufen und Freizeit unter einem Dach. Anforderungen an die Lärmbelastung platzieren können. Das Luftschalldämmung der wiederum hätte einen geringeren bau- lichen Aufwand bedeutet. „Da geht die Das geplante Hochhaus erstreckt sich insgesamt über 21 Ebenen. Im künftigen Erdgeschoss ist eine Außenbauteile. Nutzung aber natürlich immer vor“, stellt Mischung aus Gastronomie und City-Markt vor- Visualisierung Gerber Architekten GmbH / LIST Gruppe Daniel Hille klar. „Wir haben den Gedanken gesehen. Das erste Obergeschoss wird von einer einmal ausgesprochen, die Idee aber so- großen Lobby geprägt sein. Die weiteren Ebenen ● ≤ 55 dB(A) fort wieder verworfen. Die kürzeren Wege sind für Hotelnutzung (Premier Inn) sowie Büroräu- sind für die Hotelgäste wichtig und Büros me vorgesehen. Das Highlight des Objekts wird die ● ≤ 60 dB(A) mit Aussicht sind besser zu vermieten. zukünftige Sky-Bar im obersten Geschoss sein. ● ≤ 65 dB(A) Das ist dann der Punkt, an dem das The- ma Schallschutz wieder in den Hintergrund Den Zuschlag für das Projekt hat LIST Develop ● ≤ 70 dB(A) treten muss.“ • Commercial im Rahmen eines Investorenaus- ● ≤ 75 dB(A) wahlverfahrens erhalten. Neben dem Bochum City Tower ist zusätzlich ein Parkhaus mit rund 450 Stell- ● ≤ 80 dB(A) plätzen auf sieben Etagen vorgesehen, dessen Bau ● > 80 dB(A) die Wirtschaftsentwicklungsgesellschaft Bochum vorantreibt. Bauwerk 02 | 2022 22 | 23
Stille Genau hingeschaut Heutzutage gehört die Stille im Konzertsaal zwischen zwei Sätzen zur selbst- verständlichen Manier. Die Stille ist wie ein Nachhall des beendeten Satzes zu verstehen, den es zu würdigen gilt. Noch im 19. Jahrhundert hätten sich die Komponist:innen gewundert, wenn nicht auch zwischen den einzelnen Sätzen eines Stückes geklatscht worden wäre. Ruhe im Saal! Über Pausen in der Musik. Wenn im Konzertsaal die Musik verklingt und die Instrumente schweigen, lässt sich das unerfahrene Publikum leicht zum Applaus hinreißen. Doch nicht immer zeigt eine Pause nach klangvollen Takten auch das Ende eines Musikstückes an. Häufig genug dient ein solcher Moment der simplen Effekthascherei, der Aufmerksamkeit oder dem Spannungsbogen. Ein Moment der Stille gibt aber auch dem Hörgenuss und dem inneren Nachspüren des gerade Gehörten Raum. Und fragte man Beethoven und andere Größen der Musikgeschichte, dann geht es sogar um den Tod und die Ewigkeit. Foto bdavid32 - stock.adobe.com Bauwerk 02 | 2022 24 | 25
H Stille Genau hingeschaut alberstadt: Burchardikirche. Die einzelnen Sätzen eines Stückes geklatscht worden wäre. Mu- ringsum emporragenden massi- sikjournalist Uwe Friedrich sagte dazu im Deutschlandfunk: „Es Tatsächlich kamen Musiker:innen auch sehr lange ven Natursteinmauern haben im gibt auch Schilderungen, wo Wiederholungen von Einzelsätzen, ohne Pausenzeichen aus. Erst im frühen Mittelalter Mittelalter bereits dem Templeror- also Binnensätzen mitten in der Sinfonie, gefordert wurden, und erforderten die Noten für mehrstimmige Musik den Schutz und Zuflucht gewährt. die haben sich alle gefreut.“ Erst das Bürgertum habe aus der exakt definierte Pausenwerte. Mehr als 800 Jahre später geben Musik eine Pseudoreligion und aus einer Aufführung eine Weihe sie einer sehr gemächlich spie- gemacht – mit einem strengen Verhaltenskodex beim Klatschen. lenden automatischen Orgel den nötigen Raum für ein weltweit ein- Aus diesem Angstmoment für das Publikum haben sich gleich maliges Musikkunstprojekt. Auf- mehrere Komponist:innen einen Spaß gemacht und ihre Stücke geführt wird das Orgelstück ORGAN²/ASLSP – As SLow aS mit Pausen garniert, die bewusst die Erwartungen der Hörer- Possible – von John Cage. Die Prämisse „So langsam wie schaft unterlaufen. Als Musterbeispiel gilt die äußerst lange Ge- möglich“ haben sich die Konzertveranstalter zu Herzen ge- neralpause im Schlusssatz von Haydns 90. Sinfonie. Dann nimmt nommen. Als die Aufführung am 5. September des Jahres üblicherweise sogar die dirigierende Person ihre Arme herunter 2001 begann, herrschte in der altehrwürdigen Halberstädter und lässt das Publikum glauben, die Sinfonie sei beendet und es Burchardikirche zunächst einmal Stille – für ganze 17 Mo- solle jetzt applaudieren. nate. Eine längere Pause in einem Musikstück hat es in der Geschichte noch nie gegeben. Erst im Jahr 2003 erklang auf der eigens für dieses Stück gebauten Orgel der erste Laut. Die Stille als Gestaltungselement. Seither erlebte das Publikum in dem romanischen Bauwerk lediglich 15 Tonwechsel, zuletzt im Februar dieses Jahres. In Die Pause ist bei Joseph Haydn aber deutlich mehr als ein Ele- diesem Tempo soll das beschauliche Spiel, wenn die Finan- ment, um Verwirrung über den Applaus zu stiften. Vielmehr ist zierung weiterhin gesichert ist und das Material hält, noch bis sie ein typisches Stilmittel des Komponisten gewesen, erläutert zum Jahr 2640 weitergehen – die eine oder andere General- Musikkenner Uwe Friedrich im Deutschlandfunk: „Er hat in den pause inbegriffen. Sinfonien immer wieder die Themen scheinbar abreißen und sich verstolpern lassen, sodass man als Zuhörer:in auch nicht genau Der im Jahr 1992 verstorbene US-amerikanische Komponist weiß, wo es da hingeht.“ Cage hat der Musikwelt eine Vielzahl exzentrisch anmutender Stücke hinterlassen. Hervorzuheben ist hier die wegweisende Funktional unterscheiden Musikwissenschaftler:innen ganz unter- Komposition 4'33" („Vier Minuten 33 Sekunden“). Sie kann mit schiedliche Wirkungen der Stille. Nach einem Aufwallen der Musik jedem Instrument und von beliebig vielen Musizierenden gespielt können sogenannte Spannungspausen die Intensität des zuvor werden, denn die Handlungsanweisung für alle drei Sätze von Gehörten weiter verdichten. Umgekehrt bringen Erschöpfungs- 4'33" lautet „Tacet“. Die Instrumente pausieren. Absolute Stille. pausen eine abklingende Passage zum stimmigen Erliegen. Da- Tatsächlich wurde und wird das Stück seit seiner Entstehung in neben gibt es Phrasierungspausen, Innenpausen, Motivpausen. den Fünfzigerjahren immer wieder in aller professionellen Ernst- Musikschaffende ordnen ihnen sprechende, tönende und neutra- haftigkeit aufgeführt – mit dem immergleichen Effekt. Während lisierende Wirkungen zu. Geduld und Konzentration des unvorbereiteten Publikums mit fortschreitender Stille schwinden, steigt im Saal unvermeidlich Einen ähnlichen Effekt wie die Stille einer Generalpause haben der Geräuschpegel. Mit gleicher Zuverlässigkeit spendet aber die die sogenannten Fermaten. Dabei handelt es sich um verlängerte eingeweihte Hörerschaft ihren Beifall mitten in die provozierende Töne. Beiden ist der Stillstand des Geschehens gemeinsam, und Stille der Aufführung hinein. entsprechend wird Fermate im Englischen schlicht „Pause“ ge- Tatsächlich kamen Musiker:innen auch sehr lange ohne Pausen- Empfinden tunlichst nicht hineinklatschen sollte. „Aber“, so sagt nannt. Nach Pausen, Fermaten und anderen Ereignislosigkeiten zeichen aus. Erst im frühen Mittelalter erforderten die Noten für der Musikkenner versöhnlich, „wenn das denn doch passiert, fin- ist das Ohr der Zuhörenden bereit für neue Eindrücke und bis aufs Klatschen will wohl positioniert sein. Äußerste sensibel für Schwankungen und Abweichungen. mehrstimmige Musik exakt definierte Pausenwerte. Anders wäre de ich Leute, die das niederzischen, fast noch ärgerlicher. Denn der jeweilige Einsatz der verschiedenen Stimmen nicht zu koordi- wenn so ein Publikum wirklich begeistert ist, weil es das tatsäch- Indem das Stück 4'33" über das Klatschverhalten mutmaßliche nieren gewesen. Seither ist die Stille über eine eindeutige Länge lich zum ersten Mal hört und so mitreißend fand, ja, dann sollen Kenner:innen von unbedarften Musikfreund:innen trennt, hat es notentechnisch fassbar – und die sakralen Klänge von damals für sie doch applaudieren.“ • sehr viel mit konventionelleren Kompositionen gemeinsam. Denn Platzhalter für die Ewigkeit die Ewigkeit fixiert. Beifallsbekundungen an der falschen Stelle einer Aufführung gel- und den Tod. ten in vielen Konzerthäusern dieser Welt auch heute noch als ein mittelschwerer Fauxpas. Längst nicht jede Pause – oder Stille – Schon im 16. Jahrhundert nutzten Musiker:innen markante Pau- Das Ende vom Lied. soll den nötigen Raum für Applaus geben. sen gerne auch als Symbol für Metaphysisches und für die Darstel- lung von Dingen, die im weiteren Sinne mit dem Schweigen zu tun Eine konkrete Zeitangabe für die Stille gibt der österreichisch-un- Die Stille zwischen zwei Sätzen ist wie ein Nachhall des been- haben. Der frühbarocke Komponist Heinrich Schütz etwa drückte garische Komponist György Ligeti den Aufführenden seines deten Satzes zu verstehen. Sie lässt die Spannung nicht ganz in seinen Stücken den Tod und die Ewigkeit mittels musikalischer Stückes Aventures mit auf den Weg. Exakt 20 Sekunden sollen abklingen, bietet eine gewisse Vorbereitungszeit auf das Folgende Pausen aus. Auch Ludwig van Beethoven schloss sich dieser „Sänger, Musiker und der Dirigent bis zum Schluss regungslos Foto furtseff - stock.adobe.com und vermittelt zwischen möglicherweise kontrastierenden Teilen. Lesart an: „Der Tod kann ausgedrückt werden durch eine Pause.“ verharren“, so die Anweisung. Auch sein Orchesterstück Atmo- Wandlungspause wurde dieses musikalische Innehalten früher Und während in Mozarts Zauberflöte jeweils eine Generalpause sphères beschließt Ligeti mit fünf Takten Generalpause. Dafür hat auch genannt, und es wird zumindest in der heutigen Auffüh- die dreifachen Fanfarenklänge beim Eintritt in den Weisheitstempel Ligeti einen guten Grund. Gerade am Ende eines Musikstückes rungspraxis sehr ernst genommen. Wer die Ruhe zwischen zwei vertieft, folgt auch den Worten „Usque ad Aeternum“ („Bis in alle wird die Ruhe als besonders intensiv empfunden, mitunter auch Sätzen als Ende des Stückes interpretiert und Beifall spendet, Ewigkeit“) in Bruckners Te Deum eine markante Generalpause. der Applaus als radikal störendes Element. Dem hat der im Jahr wird nicht selten niedergezischt oder wenigstens müde belächelt. 2006 verstorbene Künstler gleichermaßen vorgebeugt. Auch Das war nicht immer so. Noch im 19. Jahrhundert hätten sich Es scheint fast so, als hätte die Musik keinen Ton für die Ewigkeit. Journalist Friedrich räumt ein, dass es einige Werke des späten die Komponist:innen gewundert, wenn nicht auch zwischen den Selbst die Stille findet sich als Stichwort in keinem Musiklexikon. 19. und frühen 20. Jahrhunderts gibt, in die man nach seinem Bauwerk 02 | 2022 26 | 27
Stille Im Fokus Der Magier der Stille. Der französische Pantomime Marcel Marceau kam bei seinen Auftritten ohne Worte aus. Seine Sprachen: Mimik und Gestik. Schon in seiner Jugend fiel Marcel Marceau dadurch auf, dass er seine Gedanken und Ideen mit Vorliebe durch Mimik und Gestik vermittelte. So war es auch nicht verwunder- lich, dass er mit seiner Begeisterung für den Stummfilm den Weg auf die Bühne fand und dort die „Kunst der Stille“ zu seinem Beruf machte. Weltruhm erlangte er mit seiner „stillen“ Figur des Bip – mit weiß geschminktem Gesicht, zerbeultem Seidenhut und einer roten Blume. Nicht nur als Bip war Marcel Marceau in der Lage, rein über das Spiel seines Gesichts- ausdrucks und seiner Gesten ganze Stücke aufzuführen. So prägte er die Kunst der Pantomime wie kein Zweiter und beeinflusst bis heute Kunstschaffende aus allen Gen- res. Selbst Michael Jacksons Moonwalk soll durch den von Marceau kreierten Marsch gegen den Wind inspiriert worden sein. Im September 2007 starb der Magier der Stille im Alter von 84 Jahren. • Foto picture alliance / dpa | AFP Marcel Marceau hat eine bewegte Geschichte, die nun auch im Film „Die Kunst der Stille“ (2022) erzählt wird. Marceau schloss sich im Zweiten Welt- krieg der französischen Résistance an und schmuggelte mit seinem Cousin Georges Loinger jüdische Kinder heimlich über die Grenze in die Schweiz. Er brachte den Kindern mit Gesten und Mimen bei, in Gefahrensituationen nicht zu sprechen. In dieser Zeit nutzte er die Stille zum Überleben. Bauwerk 02 | 2022 28 | 29
Stille Hinter den Kulissen Im Münchener Stadtteil Pasing errichtet LIST Bau München im Auftrag des Baupro- jektentwicklers M-CONCEPT Real Estate ein modernes und rund 21.000 qm großes Stadt- quartier – das „Paseo Carré“. Die Baustellen- Sinfonie. Zu Besuch beim „Paseo Carré“. Fotos MELISSA BUNGARTZ FOTOGRAFIE ERLEBEN Bauwerk 02 | 2022 30 | 31
Stille Hinter den Kulissen Arno Berger ist Baustellen- Oben auf dem Gerüst geht es ruhig zu. Baustel- leiter bei LIST Bau München lenleiter Arno Berger nutzt das für ein Telefonat. und verantwortet aktuell zusammen mit seinem Team den Bau des „Paseo Carrés“ in München-Pasing. Im Auftrag des Bauprojekt- entwicklers M-CONCEPT Real Estate entsteht ein Quartier, das Wohnen und Arbeiten verbinden wird. Wir haben ihn auf der Bau- stelle im Westen Münchens begleitet und dabei ganz genau hingehört. Denn wir wollten wissen: Wie klingt eine Baustelle eigentlich, was macht welche Geräu- sche und ist es auch mal still? Wenn Arno Berger morgens um 06:00 Uhr in seinem Büro auf seiner Baustelle in den Tag startet, ist das lauteste Geräusch das Mahlwerk des Kaffeevollautomaten in dem Containerbüro, das er sich mit seinen Kol- leg:innen teilt. Nicht unbedingt leise, aber im Vergleich zu dem, was noch im Laufe seines Tages folgen wird, keine wirklich große Nummer. Während das Baustellen-Team im Innern der Container frühmorgens noch am PC in ruhiger Atmosphäre den Tag vorberei- tet, wird es draußen nach und nach lau- ter. Immer mehr Autos, Kleinbusse und Lieferwagen kommen angefahren. Immer mehr Arbeiter:innen verteilen sich auf der Baustelle und machen sich ans Werk. Und das hört man. Nach und nach steigt der Geräuschpegel. Der Höhepunkt ist in der Regel bereits zwischen 07:00 und 08:00 Uhr erreicht. Denn dann, so Arno Berger, sind so gut wie alle auf der Baustelle mit ihrer eigentlichen Tätigkeit beschäftigt. Und genau dann trägt fast jede:r auf die eigene Weise zum unorchestrierten Zusammen- spiel der Geräusche bei. Auffällig dabei ist, dass die verschiedenen Bauabschnitte ‣ Bauwerk 02 | 2022 32 | 33
Stille Hinter den Kulissen – je nach Fortschritt – alle einen anderen Beim Gang über die Baustelle fällt immer halb legt er Wert auf ruhigere Momente am Klang haben. Während im Rohbau noch wieder ein stetiges Hämmern auf. Ein Häm- Abend und am Wochenende. „Ich bin viel schwere Geräte mit tiefen Tönen domi- mern zum Richten der Füße des Gerüsts in der Natur. Beim Wandern in den Bergen nieren, sind in den fortgeschritteneren für die Schalung, wie Arno Berger erläutert. und am See kann ich gut abschalten“, so Abschnitten hauptsächlich Geräusche Es ist ein Geräusch, das auch beim An- Berger. Auf die Frage, ob die Geräusche von Akkuschraubern, kleinen Sägen oder ziehen der Gewindeschrauben am Gerüst etwas Positives für ihn sind, kommt spon- Schraubern zu hören. Dazu mischen sich durch Hammerschläge entsteht – durch tan die Antwort: „Natürlich! Dann weiß ich, aber auch immer wieder Laute von Stemm- das Schlagen von Metall auf Metall. Ziem- dass gearbeitet wird.“ So gesehen, würde hämmern, Trennschleifern und Kappsägen. lich charakteristisch für eine Baustelle, wie Stille den Baustellenleiter vermutlich am Hier braucht es keine weiteren Sinnesorga- auch wir bestätigen können. Gepaart mit meisten stressen. • ne als das Ohr, um zu verstehen: Hier geht den Geräuschen aus den unterschiedlichen es gerade richtig rund. Etagen verschiedenster Gewerke entsteht eine Gesamtkomposition, die es so wohl Im Innenhof des Komplexes tummeln sich nur auf der Baustelle gibt. Und auch die ebenfalls einige Geräte, die maßgeblichen Radios, die auf den unterschiedlichen Ebe- Einfluss auf die Geräuschkulisse haben. nen zahlreich vertreten sind, sorgen dabei Größentechnisch fallen hier vor allem Lkw, mit für ein beträchtliches Grundrauschen. Teleskoplader, Bagger und natürlich der Denn diese sind nicht selten so eingestellt, große Baukran auf. Der ist allerdings fast dass man die Musik selbst dann noch hö- lautlos. Während er elegant seine Kreise ren kann, wenn in unmittelbarer Nähe et- zieht, geht von ihm nur ein leises Sum- was lauter gearbeitet wird. Umso mehr men aus. Und auch die anderen, größeren dröhnt die Musik verschiedenster Sender, Maschinen sind akustisch nicht dominant. wenn es drum herum mal weniger laut ist. Auch, da viele dieser Geräte im Laufe der Jahre insbesondere in puncto Schallemis- sion enorm weiterentwickelt wurden. „Nicht Mit der Höhe kommt zuletzt, weil es sich bei vielen Baustellen die Ruhe. Aus dem „Grundrauschen“ der Baustelle stechen um Lückenbebauungen beziehungswei- immer wieder einzelne Klänge hervor, die durch se um bauliche Nachverdichtung handelt, Ruhiger geht es auf der Baustelle des „Pa- ihre hohe Frequenz auffallen. müssen die Maschinen heute deutlich seo Carrés“ aktuell nur in der Höhe zu. Als strengere Standards einhalten als in der wir auf der obersten Ebene des Gerüsts Vergangenheit“, so Arno Berger. Doch re- am 26 Meter hohen Gebäude stehen, sind duzieren lässt sich der Geräuschpegel of- die Baustellengeräusche deutlich leiser fensichtlich nicht bei allen Arbeiten. Denn wahrzunehmen. Den geringeren Lautstär- aus dem „Grundrauschen“ der Baustelle kepegel nutzt Arno Berger direkt, um sich stechen immer wieder einzelne Klänge her- kurz per Telefon mit einem Kollegen abzu- vor, die durch ihre hohe Frequenz auffallen. sprechen. Denn stille Orte wie diesen muss man zu nutzen wissen. Volles Für uns ist es insgesamt ein ziemlich hörge- Klangspektrum. waltiger Rundgang! Für Arno Berger Alltag. „Aber mit der Zeit entwickelt man eine ge- „Mit das Unangenehmste, was eine Bau- wisse ‚Baustellentaubheit‘“, berichtet der stelle in puncto Klang zu bieten hat, sind Bayer. „Man blendet gewisse Geräusche wohl die Tischkreissäge und die Stein- aus und nimmt sie gar nicht mehr wahr.“ säge“, meint Arno Berger, der dann auch Außerdem ist er überzeugt, dass erst diese selbst das „Singen der Kreissäge“ beim Geräusche die Baustelle zu einer richtigen Trennen eines Schalungsbrettes vorführt – Baustelle machen. Das Piepen beim Rück- Einfach mal freilich mit Gehörschutz. Durch die enor- wärtsrangieren von Ladern, das Hupen der reinhören. me Umdrehungszahl der Sägeblätter ent- Lkw, das Scheppern von Metall, das Häm- steht insbesondere an der Steinsäge ein mern an Bauelementen, das Stemmen in Schreiben kann man viel über Geräusch, das man niemandem ohne die Decken, das Dröhnen der Estrichpumpe, Geräusche. Wie sich die Baustel- sogenannten Mickymäuse länger zumu- das unterschiedlichste Brummen verschie- len-Sinfonie des „Paseo Carrés“ ten möchte. Spätestens jetzt wird klar, dener Geräte oder das Dudeln der Radios – aber wirklich anhört, erfahren Sie was Arno Berger meint, wenn er sagt: „Die das alles und noch viel mehr zeichne die in unserem Journal-Beitrag: tiefen und dumpfen Töne sind meine Fa- Baustellen-Sinfonie aus. list-gruppe.de/die-baustellen-sinfonie Ein Projekt von: voriten, penetrant sind die Geräusche mit hoher Frequenz.“ Wobei er einschränkt, Ob es auch wirklich ruhige Phasen und dass auch der Beton- beziehungsweise Momente auf der Baustelle gibt, wollen Innenrüttler zum Verdichten des Betons in wir wissen. Der Unterschleißheimer muss der Schalung mit seinem tiefen Brummen lange überlegen. „Wenn, dann im Büro! da etwas aus der Reihe fällt. In den Genuss Auf der Baustelle ist tagsüber immer was the key to your home. kommen wir heute allerdings nicht. los. Selbst in der Mittagszeit.“ Auch des- Bauwerk 02 | 2022 34 | 35
Stille Entdeckungsreise Sound of Silence – nonverbale Kommunikation in der Pflanzen- und Tierwelt. Foto SvetlanaSF - stock.adobe.com Das Wurzelwerk dient im Wald als Kommunikationskanal und sorgt für ein friedliches Miteinander. Bauwerk 02 | 2022 36 | 37
Stille Entdeckungsreise Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus, sagt ein geflügeltes Wort. Sein Verfasser spielte natürlich auf das Echo an, denn mitnichten ruft der Wald selbst zurück. Dennoch können Bäume ebenso wie jede andere Pflanze mit- und untereinander kommunizieren. Statt Worten nutzen sie Botenstoffe, ihre Themen reichen von der Nachwuchspflege bis hin zu überlebenswichtigen Breaking News. Stille Dialoge finden auch anderswo im Tier- reich statt. Licht, Düfte, Berührungen oder Geräusche weit außerhalb der menschlichen Wahrnehmung gehören zum Small-Talk-Standardrepertoire in der Natur. Von den Wipfeln der Bäume bis hinein in die Tiefsee haben wir der Stille gelauscht und erstaunliche Bei- spiele für die lautlose Kommunikation im Tier- und Pflanzenreich gefunden. Das Wood Wide Web? Bakterien – Ein längerer Aufenthalt im Wald tut wah- die Stimme der Vielen. re Wunder. Die Stresshormone Cortisol Vermutlich starteten bereits Einzeller vor und Adrenalin schwinden messbar, wäh- rund drei Milliarden Jahren den ersten kol- rend das Immunsystem an Kraft gewinnt, legialen Plausch der Welt. Das Ohr war Burn-out-Symptome und Depressionen noch nicht erfunden, wohl aber die Bio- schwächer werden und der Blutdruck chemie, und so werden sich die frühen Le- nachlassen kann. Die sprichwörtliche bensformen gegenseitig über Botenstoffe Waldesruhe trägt nur einen Teil zu diesen auf dem Laufenden gehalten haben. Der Effekten bei. Weit mehr Einfluss sprechen Inhalt ihrer Unterhaltungen ist nicht über- Forschende der Waldluft zu oder konkre- liefert, aber ein Blick auf ihre Nachfahren ter: ihrem Gehalt an Terpenen. Die wohl- verrät uns allerhand über die typischen tuenden Botenstoffe bilden eine Art WLAN Themen des Mikrokosmos. Krankmachen- der Baumkronen und geben unter ande- de Bakterien senden spezielle Moleküle rem Auskunft über Schädlinge im Revier, aus und erkennen, wann sie zahlreich ge- wie den berüchtigten Eichenprozessions- nug sind, um eine Krankheit ausbrechen zu spinner. Warnhinweise dieser Art regen lassen. Das abgestimmte Verhalten sichert auch jene Bäume zur Produktion von der Gemeinschaft den größtmöglichen Abwehrstoffen an, die noch nicht befallen Erfolg, und es hat einen Namen. Quorum sind. Weitere lautlose Gesprächskanäle Sensing, frei übersetzt „das Erspüren der warten in der dunklen Tiefe des Waldbo- kritischen Masse“, geschieht in der Welt dens auf ihre Entdeckung. Im Austausch der Einzeller fortwährend – mit sichtbaren mit benachbarten Bäumen sorgt das Wur- Auswirkungen bis hinein in unseren All- zelwerk für ein friedliches Miteinander. Die tag. Es sorgt etwa dafür, dass Bakterien fein verästelten Wurzelspitzen registrieren den Abfluss jedes Waschbeckens immer die Netzwerke der umgebenden Bäume. wieder aufs Neue mit einem schleimi- Kommen sich zwei Vertreter der gleichen gen Biofilm überziehen. Der sichert den Art zu nahe, bremsen sie automatisch ihr Mitgliedern des Zellverbundes einen Über- Wachstum. Diese Absprache sichert je- lebensvorteil, weil er sich weniger leicht dem Baum seinen eigenen Lebensraum. wegspülen lässt als eine einzelne Zel- Foto Imagicom Creative - stock.adobe.com Bäume in größerer Distanz sprechen Art- le. Die lautlose Chemo-Parole „Wir sind genossen über Pilzfäden im Waldboden genug“ bildet sogar die Grundlage für an. Pilze sind eng mit Baumwurzeln ver- eine weitere stille Kommunikationsform, knüpft, sie erhalten vom Baum Zucker im die Biolumineszenz. In den Leuchtorga- Austausch für Mineralstoffe. Ihre soge- nen von Tiefseefischen und vielen ande- Prof. Dr. Harald Lesch ist Physiker, Astronom, nannten Myzelien können unterirdisch ei- ren Lebewesen wohnen fluoreszierende Naturphilosoph und Autor in einem. Ihm macht nen ganzen Wald vernetzen. Alte Bäume Bakterien. Sie schalten sich per Quorum es richtig Spaß, über seine Arbeit zu sprechen – nutzen diese Verbindungen als Pipeline, Sensing gegenseitig ein; außerhalb dieser Borstenwürmer „und zwar aufziehen die und Deutsch Aufmerksamkeit ohne Fachausdrü- über die sie ihrem Nachwuchs Zucker aus Organe würden sie kein Licht aussenden. ‣ potenzieller cke“, wiePartnerinnen mit kunstvoll illuminierten er selbst sagt. eigener Produktion senden können – mit Tänzen auf sich. besten Grüßen vom Mutterbaum. Bauwerk 02 | 2022 38 | 39
Stille Entdeckungsreise schwindigkeiten und Richtungen verra- Lichtgestalten zu Lande, ten den Daheimgebliebenen, ob der Bie- zu Wasser und in der Luft. nen-Scout eine wirklich lohnende Quelle gefunden hat, wie ergiebig diese ist und Gezählt haben Forschende bis heute mehr von welcher Güte die Ressource ist. Außer- als 700 leuchtende Gattungen der unter- dem können Bienen in einer Sonderform schiedlichsten Tiere, Einzeller und Pilze, ihres Ausdruckstanzes, dem Schwänzel- die Lichteffekte zur Kommunikation einset- tanz, eine recht genaue Wegbeschreibung zen, darunter drei Viertel aller Arten in den inklusive Entfernungsangaben übermitteln. Weltmeeren. Damit gelten Lichtzeichen als wichtigste Kommunikationsform auf dem Planeten. Das Glühwürmchen ist in unse- Können Elefanten ren Breitengraden der bekannteste Ver- Infraschall hören? treter jener Lebewesen, denen die Natur Leuchtkraft verliehen hat. Kein Brummen Elefanten unterhalten sich bei Bedarf über oder Zirpen, sondern ein stilles Glimmen weite Strecken hinweg mittels Infraschall. führt in lauen Sommernächten Männchen Die Töne übertragen sie zu diesem Zweck und Weibchen einer Art zusammen. vom Rüssel direkt in den Boden, dort ver- breiten sie sich über deutlich größere Dis- Ob Fortpflanzung, Jagd oder falsche Fähr- tanzen als in der Luft. Nachgewiesen sind te – insbesondere in der ewig dunklen Tief- Elefantengespräche über eine Entfernung see haben Tiere die unterschiedlichsten von rund zehn Kilometern. Das menschli- Leuchtstrategien entwickelt. Mit kunstvoll che Gehör ist für diese Art von Geräuschen illuminierten Tänzen ziehen etwa Bors- nicht empfänglich, wir nehmen sie auch in tenwürmer und Muschelkrebse vor der unmittelbarer Nähe höchstens als leichte Paarung die Aufmerksamkeit potenziel- Vibration wahr. Elefanten können die von ler Partnerinnen auf sich. Der Anglerfisch ihnen ausgelösten Wellen ebenfalls nicht macht hingegen mit seinem phosphores- im eigentlichen Sinne hören. Stattdes- zierenden Anhängsel kleineren Fischen sen registrieren sie den Infraschall über Hoffnung auf einen schnellen Happen – be- spezielle Rezeptoren im Rüssel. Zusätz- vor sie selbst als Happen enden. Ähnliche liche Sinneszellen in den Füßen verraten Desinformation betreiben auch manche dem Elefanten, aus welcher Richtung das Kalmare und verwirren ihre Opfer mittels Signal kommt. Im tieftönenden Buschfunk komplexer Leuchtmuster, während sich dominieren die zwei großen Themen des bestimmte Garnelen und auch Quallen bei Lebens. Zum einen suchen Elefanten- Gefahr in schützende Leuchtwolken hül- bullen via Infraschall im weiten Umkreis len, dem Tiefsee-Pendant zur Tinte des nach paarungswilligen Kühen. Bei Inter- Tintenfischs. Andere Meeresbewohner esse verabredet die Elefantendame per blinken permanent und zeigen mit einem Infraschall-Chat ein konkretes Kennen- Tempowechsel an, wenn sie eine Bedro- lernen. Zum anderen verkünden trächtige hung vermuten und gerne mit weiteren Art- Elefantenkühe auf diesem Weg eine be- genossen einen Schwarm bilden würden. vorstehende Geburt. Die entsprechenden Signale setzen sie knapp zwei Wochen vor der Niederkunft ab. Der Bienentanz – ein gefundenes Fressen! Neben Elefanten profitieren auch andere Tiere von den niederfrequenten Sounds. Im Gegensatz zur lautlosen Kommunikati- Nilpferde benutzen sie ebenso zur Kom- on vieler anderer Lebewesen ist der tän- munikation wie Wale. Letztere unterstrei- zelnde Informationsaustausch von Bienen chen mit Infraschall ihre Reviergrenzen, bereits seit der Antike bekannt. Genau- verbessern ihre Gruppendynamik und er erforscht wurde der Honigbienentanz melden während der Paarungszeit An- aber erst in den vergangenen 100 Jahren. sprüche an. • Foto Ionescu Bogdan - stock.adobe.com Ausgangspunkt sind die Kundschafterbie- nen. Sie machen etwa fünf Prozent der Flugbienen eines Volkes aus. Kehrt eine Kundschafterin von einer erfolgreichen Expedition heim in ihren Stock, übermit- telt sie mit genau definierten Körperbewe- gungen eine große Fülle an Informationen zur frisch identifizierten Nahrungsquelle. Bäume nutzen statt Worten Botenstoffe, ihre Kreisförmige Laufmuster und tänzelnde Themen reichen von der Nachwuchspflege bis hin Bewegungen in unterschiedlichen Ge- zu überlebenswichtigen Breaking News. Bauwerk 02 | 2022 40 | 41
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