10.2018 Kunstmagazin - art media edition verlag freiburg

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Kunstbuch
 Spezial

    10.2018
    Kunstmagazin
    Aarau
    Appenzell
    Baden
    Baden-Baden
    Basel
    Bern
    Biel
    Bregenz
    Donaueschingen
    Freiburg
    Heidelberg
    Karlsruhe
    Konstanz
    Ludwigshafen
    Luzern
    Mannheim
    Mulhouse
    München
    Nürnberg
    Offenburg
    Saarbrücken
    Solothurn
    St. Gallen
    Strasbourg
    Stuttgart
    Thun
    Ulm
    Vaduz
    Winterthur
    Zürich
    Zug

    •
    Zimoun: prepared dc-motors, cotton balls,
    cardboard boxes, 2017, © Zimoun, zu sehen in der
    Ausstellung „Zimoun – Installationen” im Rahmen
    der Donaueschinger Musiktage im Museum Art.Plus,
    Donaueschingen, 20. Oktober bis 11. November 2018
10.2018 Kunstmagazin - art media edition verlag freiburg
I believe I can fly

Nina Rike Springer

  19.10. — 2.12. 2018
                            Zeppelin Museum Friedrichshafen
       ZF Kunststiftung     Seestraße 22, 88045 Friedrichshafen
       im Zeppelin Museum   Oktober Mo – So 9 – 17 Uhr
                            November / Dezember Di – So 10 – 17 Uhr
10.2018 Kunstmagazin - art media edition verlag freiburg
DAS LANGE
WOCHENENDE MIT
KUNST & MUSIK
WWW.JUNGKUNST.CH

HALLE 53
WINTERTHUR
10.2018 Kunstmagazin - art media edition verlag freiburg
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Ludwigshafen
                                                                      Mannheim

                                                                               Heidelberg
                                                                                                                Inhalt>                           Nürnberg

                         Saarbrücken
                                                                                              Heilbronn

                                                                    Karlsruhe
                                                                                                                                                                       Regensburg

                                                                 Baden-Baden                      Stuttgart

                                                Strasbourg

                                                       Offenburg

                                                                                                                                                             München
                                                                              Rottweil

                                                    Freiburg

                                    Mulhouse
                                                                                                              Friedrichshafen
                                                Weil

                                            Basel
                                                                                 Winterthur                           Bregenz

                                                         Aarau                                       St. Gallen
                                                                            Zürich

                                                                                     Rapperswil
                                        Solothurn
                             Biel                                                           Glarus
                                            Burgdorf               Luzern

                                     Bern

                                                                                                          Chur
                                            Thun

                                                                                                        Intro>
Liebe Leserinnen, liebe Leser!                                                                        6 Various Others:
Es kann kein Zufall sein: Im Oktober häufen sich die Termine für Lesende –                              Eine Kooperation zwischen Galerien, Museen und Offspaces in München
der Herbst gehört dem Buch. Das prominenteste Datum ist sicherlich der
Start der Frankfurter Buchmesse, die wie jedes Jahr die neue Buchsaison                               7 Porträt>
eröffnet und vom 10. bis 14. Oktober stattfindet. 2018 ist Georgien                                     Kyra Tabea Balderer
Gastland, das für sich mit „Georgia – Made by Characters“ wirbt. Doch
gilt das nicht auch für Buchmachende? Denn Leidenschaft braucht es                                            Review>
schon, um gute Bücher zu machen, seien es belletristische oder Kunst-                                 8       Alina Szapocznikow in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden
kataloge und Künstlerbücher. In diesem Bereich umso mehr, denn das                                    9       „Surrealismus Schweiz” im Aargauer Kunsthaus in Aarau
Segment ist besonders.                                                                               10       Balthus in der Fondation Beyeler in Basel-Riehen
                                                                                                     11       „Eco-Visionairies” im Haus der elektronischen Künste Basel
Mit unserem Kunstbuch-Spezial feiern wir nicht nur die Vielfalt dessen,                              12       Bernard Voïta im Kunstmuseum Solothurn
was erscheint, sondern auch ein bisschen die Charaktere, die dahinter                                13       Nina Canell im Kunstmuseum St. Gallen
stecken. Die Art Book Fair Berlin im Hamburger Bahnhof widmet sich                                   14       Jörg Immendorff im Haus der Kunst München
dann vom 19. bis 21. Oktober ganz dem Kunstbuch, während man am                                      15       Amy Lien & Enzo Camacho im Kunstverein Freiburg
Rheinknie mit der Buch Basel vom 9. bis 11. November die Literatur in
den Mittelpunkt stellt. Es gibt viel zu lesen und viel anzusehen – wir haben                            Shortcuts>
die Herbstprogramme für Sie durchforstet.                                                            16 Klodin Erb in Basel | „Material Gestures” in Freiburg

Das artline>Kunstmagazin 11.2018 erscheint am 19. Oktober 2018.                                      17 News>
Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen beim Lesen auf den folgenden Seiten
sowie unter www.artline.org.                                                                         18 Kunstbuch Spezial>

Ihre Redaktion                                                                                       21 Ausstellungen>

artline> Kunstmagazin                                                                                                                                                               5
10.2018 Kunstmagazin - art media edition verlag freiburg
Intro>

Performance anlässlich von „Various Others 2018” (l.), © Ruine München, 2018; Anna Vogel, Temples IX, 2018 (o.m.), Courtesy SPERLING, München; Amalia Ulman, Never Give Up On Money, 2016 (u.m.),
Courtesy the artist, Deborah Schamoni and ArcadiaMissa; Ari Sariannidis & Lennart Schweder, Also, was ist das für ein Haus, 2018 (r.), Installationsansicht, Courtesy Loggia München, Lennart Schweder

Gemeinschaft belebt das Geschäft
Das Projekt „Various Others” will die Außerwirkung des Kunststandorts München stärken
                                                                                                                                                     Diesen Monat
                                                                                                                                                     unter
Eigentlich hat München wie jede Großstadt längst                    Stadt bislang allerdings kaum wahrgenommen. Uns
                                                                                                                                                     www.artline.org
sein eigenes Galerienwochenende. Es heißt Open                      ging es darum, diese Energie sichtbar zu machen.
Art, wird vom örtlichen Galerienverband organisiert,                Die „Various Others”, die unterschiedlichen anderen,
zählt gut 40 Teilnehmende und eröffnet immer Mitte                  die wir als Gruppe Münchner Galerien und Offspaces
September zum Saisonstart. In diesem Jahr gab es                    eingeladen haben, sind befreundete Kunsträume
nun erstmals Konkurrenz durch das neue Format                       oder Galerien von außerhalb, die hier eigene Projekte
„Various Others“, ins Leben gerufen von einer Grup-                 mit ihren KünstlerInnen realisieren. Barbara Gross hat                                  Reviews
pe junger Galeristen aus München. Wir sprachen mit                  so etwa Barbara Wien aus Berlin mit Nina Canell und                        Ekstase im Kunstmuseum Stuttgart
Co-Initiator Johannes Sperling über das Projekt.                    Ian Kiaer eingeladen, Christine Mayer Hauser & Wirth                        Beehave im Kunsthaus Baselland
                                                                    mit Andy Hope 1930, Deborah Schamoni das Lon-                           The Humans im Kunstmuseum St. Gallen
Artline: Herr Sperling, wie lief die Premiere von                   doner Project Native Informant und das Münchner                           Independence in der Kunsthalle Bern
Various Others?                                                     Off-Projekt Ruine die Transmission Gallery aus Glas-                   Alexandra Navratil im Kunsthaus Langenthal
Johannes Sperling: Wir waren sehr zufrieden. Die                    gow. Institutionen wie der Kunstverein München,
beteiligten Galerien und Offspaces waren zur Eröff-                 Lothringer 13, das Lenbachhaus oder das Museum                                             Porträts
nung drei Tage lang voll. Das Begleitprogramm in den                Brandhorst stellen dazu das Rahmenprogramm mit                                         Charlotte Mumm
Institutionen wurde gut besucht, die Gäste waren                    Konzerten, Talks und Screenings.                                                      Rodrigo Hernández
begeistert. Nie habe er so viele Sammler an einer                                                                                                            Trisha Baga
Eröffnung kennengelernt, sagte mir Mike Ruiz von                    Sehen Sie sich als Konkurrenz zur Open Art?
der Future Gallery Mexiko City und Berlin, den ich                  Nein, eher als Ergänzung. Wir verstehen uns nicht als
zusammen mit piktogramm Warschau zur Präsenta-                      Interessensvertretung von Geschäftsleuten, sondern
tion einiger ihrer Künstler eingeladen hatte.                       haben „Various Others” als Initiative zur Stärkung der
                                                                    Außenwahrnehmung der Münchner Kunstszene ge-
Wie kam es zu dieser neuen Kooperation?                             gründet. Wir wollen damit ein internationales Umfeld
Die Idee zu „Various Others” entstand im Gespräch                   schaffen, in dem sich Galeristen, Sammler, Muse-
mit Freunden aus der Kunstszene. Bei vielen Samm-                   umsleute und Akteure aus der Offszene auf Augen-
lern hat München weltweit einen Ruf als bedeutende                  höhe begegnen können – wenn alles gut geht ab
Museumsstadt. Als Standort einer jungen, internatio-                jetzt in jedem Herbst.                   Interview: roe
nal vernetzten Galerienszene, die vor Ort in engem
und fruchtbarem Austausch mit Offspaces und Insti-                  ■ Various Others. Bis 21. Oktober 2018.
tutionen für zeitgenössische Kunst steht, wird die                  www.variousothers.com

6                                                                                                                                                                         artline> Kunstmagazin
10.2018 Kunstmagazin - art media edition verlag freiburg
Porträt>

Kyra Tabea Balderer, Ohne Titel, 2016 (l.); Ohne Titel, 2016 (m.); PEACOCK, 2016 (o.r.), Detail; Ohne Titel (Diptychon), 2016 (u.r.), Courtesy the artist

Kyra Tabea Balderer
Die in Leipzig lebende Schweizerin inszeniert augentäuschende Fotografien, die wie Malerei wirken

Wenn einem auf Flohmärkten oder in Familienalben alte Fotos in die Hände fal-                                  grafiert zu werden. Nicht grundlos nennt sie ihre Ausstellung im Kunstmuseum
len – diese fremd gewordenen kartonierten Bilder, auf denen alle immer so steif                                Luzern anlässlich des Manor Kunstpreises „Szenario“. Die junge Künstlerin ist
wirken –, sieht man neben den porträtierten Menschen oft riesige Zimmer-                                       nicht die einzige, die Pappobjekte und Materialcollagen baut, um sie dann mit
pflanzen. Das Fotografenatelier imitiert den Salon, auch wenn es bei denen, die                                der Kamera festzuhalten. Die in Zürich lebende Shirana Shahbazi kreiert eben-
sich hier feierlich verewigen ließen, vielleicht weniger großbürgerlich zuging. Auf                            falls Situationen, bei ihr sind sie oft an den Konstruktivismus angelehnt, um die
Kyra Tabea Balderers Aufnahmen sind solche Pflanzen oder ähnlich repräsen-                                     Grenzen der Fotografie zu verunklären. Und dann ist da natürlich auch Thomas
tative Objekte die Hauptpersonen. Doch halt, Aufnahmen? Obgleich Balderer                                      Demand, der mit fotografierten Modellen von zeitgeschichtlichen Orten
(*1984) mittlerweile in Leipzig lebt, in der Hochburg einer artifiziellen, selbstre-                           bekannt wurde. Balderer bezieht ihre Bildreize hingegen aus dem Stadtraum
ferentiellen Malerei, arbeitet sie tatsächlich mit der Großbildkamera. Dennoch                                 und aus Reproduktionen von Kunstwerken.
kann man die Fotografien der Künstlerin, die in diesem Jahr mit dem Manor
Kunstpreis Zentralschweiz Luzern ausgezeichnet wurde, leicht für Malerei hal-                                  Dabei entstehen Bilder, die haarscharf an dem vorbeigehen, was wir unzählige
ten. Zumal sie ihre Fotos oft vor farbigen Wänden und hintereinander gestapelt                                 Male gesehen haben. Die Stufen einer Wendeltreppe etwa, die wie bunte
wie Bilder inszeniert. Die Fotografie jedenfalls war nie nur auf die Entdeckung                                Fächer zwei ineinander verschränkte Spindeln umgeben. Niemand könnte sie
neuer Welten ausgerichtet, sie zog sich immer schon ebenso ins Studio                                          betreten. Oder die starr wirkenden Federn von „Peacock“ aus dem Jahr 2016,
zurück, um dort Kunstwelten zu schaffen.                                                                       die einmal ganz ohne die irrlichternde Farbigkeit des Gefieders eines Pfaus
                                                                                                               auskommen. Kyra Tabea Balderer gibt der Fotografie eine Tiefe, die sie auch
„Palme“ heißt eine 2017 entstandene Arbeit von Kyra Tabea Balderer. Der                                        durch besonders sorgfältige Prints erreicht. So ganz ohne Aufwand geht es
ganze Bildraum ist voll mit gefiederten Palmenblättern. Sieht man diese, fügt                                  nicht, will man die Augen täuschen..                      Annette Hoffmann
der Verstand unweigerlich architektonische Versatzstücke dazu, weiße
schmiedeeiserne Wendeltreppen oder ein Stück Verglasung wie man es aus                                        ■ Kyra Tabea Balderer: Szenario.
den Palmenhäusern des 19. Jahrhunderts kennt. Nur, da ist nichts. Und                                         Manor Kunstpreis Zentralschweiz Luzern.
schaut man genauer hin, erkennt man auch, dass die Lichtreflexe, die Plastizi-                                Kunstmuseum Luzern, Europaplatz 1, Luzern.
tät und Raum vorgaukeln mit jener raffinierten Haltung gemalt sind, die Präzi-                                Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 20.00 Uhr.
sion mit Nachlässigkeit verbindet. Und überhaupt sind die Blätter glänzend sil-                               13. Oktober 2018 bis 6. Januar 2019. www.kunstmuseumluzern.ch
bern. Und ausgeschnitten sowieso. Balderer fotografiert Installationen und                                    ■ Zur Ausstellung erscheint eine Publikation:
Skulpturen, die sie selbst schafft. Sie haben keinen anderen Zweck als foto-                                  Revolver Verlag, Berlin 2018, 96 S. 24 Euro | ca. 25 Franken.

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Alina Szapocznikow; Ceramika II, Ceramika I et Ceramika III, 1965 (l.); Fotorzeźby / Fotoskulpturen, 1971/2007 (o.), Detail; Pamiątka III / Souvenir III, 1971 (r.), alle © ADAGP, Paris / VG Bild-Kunst, Bonn,
2018. Courtesy The Estate of Alina Szapocznikow / Piotr Stanislawski / Galerie Loevenbruck, Paris / Hauser & Wirth

Organisches in Polyester
Die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden würdigt die französisch-polnische Bildhauerin Alina Szapocznikow

Baden-Baden – In Polen gilt sie als wichtigste Bildhauerin des 20. Jahrhunderts.                          Erlebnisse. Alina Szapocznikow wurde 1926 in Kalisz geboren, ihre Eltern, assi-
Und sie ist mehr als das: Sie ist das europäische Pendent zu Eva Hesse, der New                           milierte Juden, waren beide Ärzte. Gemeinsam mit ihrer Mutter überlebte sie
Yorker Pionierin des Postminimalismus, die wie Alina Szapocznikow mit Kunst-                              Ghetto, Zwangsarbeit und Vernichtungslager. Nach der Befreiung studierte sie
stoff und organischen Formen experimentierte. Zugleich ist sie eine Künstlerin, die                       in Prag an der Hochschule für Kunstgewerbe und begeisterte sich für den Kom-
ein Werk schuf, das im besten Sinne feministisch ist, ohne sich programmatisch                            munismus. Ein Stipendium brachte sie 1947 nach Paris, ihre spätere Wahlhei-
in diesem Kontext zu exponieren. Alina Szapocznikow repräsentierte 1962 auf                               mat. Beeinflusst vom Existenzialismus weichen ihre in Ton modellierten Figuren
der Biennale von Venedig ihr Geburtsland Polen, auf der Documenta 14 wurden                               zunehmend vom Ideal ab, werden abstrakt und fragmentarisch. In den 1960er
einige ihrer Polyesterarbeiten in Kassel gezeigt. Solche gelegentliche Präsentatio-                       Jahren kommt Kunststoff als künstlerisches Material auf. Seine porösen oder
nen konnten ihr Werk in Deutschland jedoch nicht bekannt machen. Insofern ist                             durchscheinenden Oberflächen, seine organische Anmutung kommt ihren
die Retrospektive „Menschliche Landschaften“, die das Hepworth Wakefield in                               Ideen entgegen. Es entstehen „illuminierte Skulpturen“ wie „Lampe-Bouche“,
Yorkshire gemeinsam mit der Kunsthalle Baden-Baden zusammengestellt hat,                                  eine Lampe in Form eines weiblichen Mundes. Damals begann sie in ihrem Ate-
nicht genug zu loben. Über 100 Objekte, Zeichnungen und Fotografien vergegen-                             lier in Malakoff auch mit Abformungen ihres Leibes, später auch des Körpers
wärtigen das Schaffen einer Künstlerin, deren Sensibilität und Unabhängigkeit                             ihres Adoptivsohns Piotr. Alles in ihrem Werk ist Leib, Körper, ihr Körper.
erstaunt und zugleich beschämt. Denn ihre, wie sie es selbst ausdrückte, „unbe-
holfenen Objekte“, erinnern an eine Dimension des Lebens, die in der auf Effizienz                        In Baden-Baden kann die Retrospektive auf Grund einer Dachrenovierung nur
getrimmten Gegenwart des 21. Jahrhunderts keinen Platz haben.                                             im großen Saal und einem Nebenraum gezeigt werden. Die komprimierte Prä-
                                                                                                          sentation hat Vor- und Nachteile. Manchen der im Geist der Moderne geform-
Ihre fragilen Polyesterarbeiten stehen aber nicht nur für in Worten nicht auszu-                          ten Werke fehlt es deutlich an Raum zum Atmen, so dass Szapocznikows Früh-
drückende Empfindungen der Freude, der Lust oder des Schmerzes. Ihre Ironie,                              werk zum reinen Vorspiel verblasst. Ihr Spätwerk hingegen erfährt durch die inti-
ihr Fatalismus und ihre Immunität gegenüber vordergründiger Schönheit erin-                               me Nähe eine besondere Eindringlichkeit. Als die Künstlerin 1969 von ihrer
nern an die tiefere, vielleicht eigentliche Bedeutung der Wendung „künstlerische                          Krebserkrankung erfährt, geht sie mit noch größerer Intensität dessen sinnlicher
Unabhängigkeit“. Sowohl in Kassel wie in Baden-Baden ist etwa ihr „Cendrier                               Präparierung nach, dringt vor zu Gestaltungen, die Inneres nach außen kehren,
de Célibataire“ ausgestellt, der im letzten Jahr vor ihrem Tod 1973 entstanden                            surreal wuchernde Formen aus Polyesterharz real erscheinen lassen. In einer
ist. Der „Aschenbecher eines Junggesellen“ hätte eine witzige Pop Art-Ikone                               ihrer letzten großen Werkgruppen verarbeitet sie Abformungen zu Reliefs: aus
sein können, wenn Alina Szapocznikow das Motiv in knalligem Realismus pro-                                Körpern werden Hüllen, in die Strukturen vergangenen Leben eingeschrieben
duziert hätte. Doch handelt es sich um einen über dem Mund abgeschnittenen                                sind. Alina Szapocznikow nannte sie „Herbarium“, entsprechend einer Samm-
Abguss ihres eigenen Halses und Kopfes und um echte Zigarettenstummel, die                                lung getrockneter Pflanzen.                                      Carmela Thiele
mit einer Ascheschicht in der Polyesterharz-Plastik konserviert sind.
                                                                                                          ■ Alina Szapocznikow: Menschliche Landschaften.
Im Zentrum ihres Schaffens steht der Körper, der eigene Körper als Speicher                               Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Lichtenthaler Allee 8, Baden-Baden.
von einzigartigen Erfahrungen, und auch als Projektionsfläche traumatischer                               Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr. Bis 7. Oktober 2018.

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Ilse Weber, Nachtcapriccio, 1981 (l.), Foto: Jörg Müller; Ernst Maass, Maschinenmensch, 1931 (o.l.), Foto: Dany Schulthess, Emmenbrücke; Ernst Maass, Nächtliches Keimen II, um 1938 (o.r.),
Foto: SIK-ISEA, Zürich; Max von Moos, Dämonisches Frühstück. (Inferno, lügnerisches Bild), 1934 (r.), Foto: Jörg Müller, © 2018, ProLitteris, Zürich

Eine Überdosis Beliebigkeit
Das Aargauer Kunsthaus hat unglaubliche 400 Werke zur Überblicksschau „Surrealismus Schweiz“ zusammengetragen

Aarau – Bereits die Einleitung im Katalog „Surrealismus Schweiz“ zur gleich-                           ihre Zerwürfnisse und Grabenkämpfe, die dem Surrealismus eine Dynamik
namigen Ausstellung im Aargauer Kunsthaus formuliert ein Paradox. Wie                                  und auch ein Profil gaben. Denn selbst André Bretons Definition von 1924 als
kann das sein, dass sowohl Paul Klee als auch Hans Arp als wesentliche Ver-                            „Denkdiktat ohne jede Vernunft-Kontrolle und ausserhalb aller ästhetischen
treter des Surrealismus wahrgenommen werden, aber die Kunstrichtung in                                 oder ethischen Fragestellungen“ bleibt vage. Schweizer Künstlerinnen und
der Schweiz kaum existent zu sein scheint? Schließlich nahmen Klee und Arp                             Künstler, die mit dieser Pariser Szene in Verbindung standen, hatten es leich-
zusammen mit de Chirico, Ernst, Miro und Picasso 1925 an der Ausstellung                               ter, einen gewissen Bekanntheitsgrad zu erreichen. Vereinigungen wie die
der Pariser Galerie Pierre „Le surréalisme et la peinture“ teil.                                       Selbstorganisation Basler Künstler in der „Gruppe 33“ halfen etwas gegen
                                                                                                       die Isolation, doch auch hier zeigt sich die Bedeutung des Konstruktivismus
Die Schau „Surrealismus Schweiz“, die nach ihrer Station in Aarau ans Museo                            für die Schweizer Kunst.
d’arte della Svizzera italiana nach Lugano weiter ziehen wird, versucht mit
einem ersten Raum eine Antwort. Die besondere geografische Lage, aber                                  War der Erste Weltkrieg mit seiner sinnlosen Grausamkeit ein Auslöser für die
auch die spezifische Verfasstheit der Schweiz förderten in den späten 1920er                           surrealistische Bewegung, so prägte der Zweite Weltkrieg und die prekäre
und 1930er Jahren ein Klima, das weniger auf Internationalität und das Irra-                           Grenzsituation der Schweiz viele Werke. Der Luzerner Max von Moos (1903-
tionale setzte. Die Kunst war damals national, möchte dieses Entree zu einer                           1979) malt die Fratze des Krieges: 1944 „Teufelsküche (Stalingrad)“ oder als
Schau nahelegen, die unglaubliche 400 Werke von 60 Schweizer Künstlerin-                               Reaktion auf den spanischen Bürgerkrieg „Toledo“ im Jahr 1937, Ernst
nen und Künstler in Petersburger Hängung ausbreiten wird. Eine Arbeit wie                              Maass (1904-1971), der nach seiner Flucht aus Nazi-Deutschland, heimat-
das Landibild des Luzerner Künstlers Hans Erni (1909-2015), das für den                                und mittellos wurde, schuf in Luzern bizarre Bühnensituationen, die Mobiles
Tourismuspavillon der Schweizerischen Landesausstellung in Zürich 1939                                 gleichen wie „Bedrohter Friede“ von 1938. Der grundsätzlich eklektizistische
entstand, bekommt da die Rolle eines Trojanischen Pferds des Surrealismus                              Charakter des Surrealismus wird auch für die Ausstellung problematisch, Bei
zugewiesen, weil es Räume verkürzt und zusammenbringt, was inkongruent                                 400 Beispielen, die unter eher spitzfindigen Kriterien in neun „atmosphäri-
wirkt. Diese Interpretation verkennt, dass bereits die konservative Variante der                       sche Themenräume“ subsumiert werden, ähnelt sich nicht nur vieles, son-
Neuen Sachlichkeit, der Magische Realismus, Ähnliches entwickelt hatte.                                dern da scheinen auch Vorbilder wie Max Ernst und Francis Picabia allzu
                                                                                                       deutlich durch. Das strapaziert die Aufnahmefähigkeit doch sehr, daran
Peter Fischer, der von 2011 bis 2016 das Zentrum Paul Klee leitete, hat mit                            ändern auch die mit lockerer Hand eingestreuten Beispiele zeitgenössischer
„Surrealismus Schweiz“ eine Fleißarbeit vorgelegt. Die Folge der Räume will                            Kunst nichts.                                             Annette Hoffmann
nicht enden, ebenso wenig die Namen der ausgestellten Künstlerinnen und
Künstler, von denen heute viele – und manche nicht ganz zu Unrecht – ver-                              ■ Surrealismus Schweiz.
gessen sind. Seit 1979 ist es die erste Schau in der Schweiz, die sich wieder                          Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz, Aarau. Dienstag bis Sonntag 10.00 bis
mit dem Surrealismus befasst. Obgleich sie ganz auf die Schweiz fokussiert                             17.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr. Bis 2. Januar 2019.
ist, fällt auf, welch immense Bedeutung Paris für die Bewegung hatte. Es war                           ■ Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen:
die französische Hauptstadt, die Zusammenkünfte der Künstler, aber auch                                Snoeck Verlag, Köln 2018, 280 S., 48 Euro | 63,90 Franken.

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Balthus, La Rue, 1933 (l.), © Balthus, Foto: © 2018, The Museum of Modern Art, New York / Scala, Florenz; Les Enfants Blanchard, 1937 (m.), © Balthus, Foto: RMN-Grand Palais / Mathieu Rabeau;
Thérèse, 1938 (r.), © Balthus, Foto: The Metropolitan Museum of Art, New York / Art Resource / Scala, Florenz

Eine Frage der Haltung
Die Fondation Beyeler versucht sich an einer Balthus-Ausstellung ohne Skandalisierung

Basel-Riehen – In der Fondation Beyeler wird man es mit Unbehagen betrach-                        Piero della Francesca und blieb immer Autodidakt. Keine der Figuren des Bildes
tet haben als vor einem Jahr Forderungen an das New Yorker Metropolitan                           „Passage du Commerce-Saint-André“, das als Sujet eine lebhafte Straßenszene
Museum of Art herangetragen wurden, Balthus‘ „Thérèse, träumend“ aus dem                          vorstellen könnte, nimmt aufeinander Bezug. Die mittige männliche Figur wendet
Jahr 1938 abzuhängen. Das Bild ist geblieben und wurde jetzt nach Basel aus-                      dem Betrachter den Rücken zu, das Mädchen vorne hat eine nachdenkliche
geliehen. In der schlicht „Balthus“ betitelten Ausstellung kann man sich nun                      Haltung eingenommen und rechts sitzt zusammengekauert auf dem Bordstein
selbst eine Meinung bilden, ob die Diskussion über die vermeintliche Nähe des                     ein Männchen mit Halbglatze – vermutlich der Maler. Auch bei seinen erotisch
Werkes zur Pädophilie eine Berechtigung hat. In der Fondation Beyeler, wo                         aufgeladenen Bildern, auf denen nackte Mädchen Kniestrümpfe und rote Pan-
man zwei Jahre an der Schau gearbeitet hat, ist man jedenfalls vorbereitet.                       toffeln tragen, sind diese in seltsam unnatürlichen Haltungen dargestellt. Dieses
Nicht nur ist man nach vorne gegangen: Thérèse – im wachen Zustand von                            Moment der affektierten Inszenierung prägt auch das „Portrait der Madame
1939 – findet sich auf den Plakaten, auf Merchandising-Produkten und selbst                       Georges Hilaire“ von 1935. Die erwachsene Frau steckt in einem Kindchensche-
auf Taxis in Basel. Auch Postkarten liegen aus, auf die man Antworten auf die                     ma-Körper mit großem Kopf und schmaler Taille. Die Pose und die bedeutungs-
Frage „Was fasziniert, irritiert oder überrascht Sie an Balthus‘ Bildern“ geben                   schwere Farbigkeit könnte dem Film abgeschaut sein.
und an die Wand heften kann. Und sollte einem ein Unwohlsein befallen ange-
sichts der träumenden Thérèse, der im Schlaf der Rock so weit hochrutscht,                        Überhaupt die Posen: Es fällt schwer, die Häufung von Mädchen, die auf allen
dass man das Weiß ihres Schlüpfers sehen kann, derweil zu ihren Füßen ein                         Vieren auf dem Boden ein Buch lesen oder sich gar robbend durch den Raum
Kätzchen Milch aus einer Schale schleckt, kann man sich an die Kunstvermitt-                      bewegen, nicht mindestens für schwülstig zu halten. Nur zur Erinnerung: Bal-
lerinnen im Raum wenden. Nichts soll unausgesprochen bleiben. Nun ist nicht                       thus zeigt hier von Erwachsenen abhängige Kinder in unterwürfigen Haltungen.
nur Papier, sondern auch die Leinwand geduldig – doch jeder Betrachtende                          Oft in seiner Karriere hat Balthus den Skandal eher forciert als vermieden. 1933
weiß angesichts der vielen aufgedeckten Missbrauchsfälle der letzten Zeit, dass                   etwa stellte er Antoinette de Watteville im offenen Negligé bei der Toilette dar,
nicht jede Fantasie Fantasie bleiben muss.                                                        die Zofe hilft ihr mit den Haaren, links daneben sitzt das Alter Ego des Malers
                                                                                                  sinnierend. Antoinette de Watteville und Balthus, die vier Jahre später heiraten
Ausschlaggebend für diese Ausstellung mit um die 40 Hauptwerken war das                           werden, sind in „La Toilette de Cathy“ durch den Plot von Emily Brontës Roman
großformatige Bild „Passage du Commerce-Saint-André“, an dem Balthus                              „Sturmhöhe“ überformt – so wie Balthus bei vielen Bildern Anleihen bei der
(1908-2001), der eigentlich Balthasar Klossowski hieß und schon früh den Ent-                     christlichen Ikonografie macht. Nichtsdestotrotz sind die Bilder dazu angetan,
schluss fasste, Maler zu werden, von 1952 bis 1954 arbeitete. An „Passage du                      viele falsche Freunde zu haben.                                Annette Hoffmann
Commerce-Saint-André“, das sich seit mehreren Jahren als Dauerleihgabe einer
Privatsammlung in der Fondation Beyeler befindet, kann man ablesen, was die                       ■ Balthus.
charakteristische Atmosphäre von Balthus‘ Bilder ausmacht. Bereits seine                          Fondation Beyeler, Baselstr. 101, Basel-Riehen. Montag bis Sonntag 10.00 bis
ersten Bilder aus den späten 1920er Jahren zeigen eine Luftleere, wie man sie                     18.00 Uhr, Mittwoch 10.00 bis 20.00 Uhr. Bis 1. Januar 2019.
der Neuen Sachlichkeit kennt. Wie die Maler der Neuen Sachlichkeit war auch                       ■ Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen:
Balthus an der Frührenaissance interessiert, er kopierte in Italien Fresken von                   Hatje Cantz, Ostfildern 2018, 172 S., 58 Euro | ca. 82.90 Franken.

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María Castellanos & Alberto Valverde, Symbiotic Interaction, 2017 (l.); Ursula Biemann, Acoustic Ocean, 2018, Videostill (o.); Baggenstos / Rudolf, Duckweed in Space, 2017 (r.), Courtesy the artists

Moos als Interface
Das Haus der elektronischen Künste Basel zeigt Medienkunst in Zeiten des ökologischen Wandels

Basel – Anthropozän, das vom Menschen gemachte Zeitalter: Dieser sich lang-                           tene Daten in Bewegung umsetzen. Ähnlich funktionieren die Kleidungsstücke
sam etablierende Begriff bezeichnet die neueste Epoche der Erdgeschichte, die                         von Maria Castellanos und Alberto Valverde mit eingebauten Pflanzen, die mit-
vor rund 200 Jahren begonnen hat. Gemeint ist, dass der moderne Homo                                  hilfe von Sensoren auf ihre Umwelt antworten – etwa mit einem Warnblinken.
sapiens mit seinen zerstörerischen Aktivitäten so stark auf biologische, geologi-
sche und atmosphärische Prozesse der Erde einwirkt, dass das noch in Hundert-                         Oft sind es die für uns nicht fassbaren Akteure der Natur, die sich durch neueste
tausenden Jahren Folgen haben wird. Die Schlagwörter dazu sind bekannt: Kli-                          Technologie erst überhaupt darstellen lassen. Zum Vorschein kommen da ver-
maerwärmung, Luftverschmutzung, Rohstoff-Raubbau, Plastik-Meer.                                       borgene Phänomene, die unsere Sinne nicht wahrnehmen können: Bakterien
                                                                                                      etwa, die kleinste Mengen an Strom erzeugen, verursachen kurze Bildstörungen
Das Wort Anthropozän kommt auch in der aktuellen Gruppenausstellung „Eco-                             in einem Video von Rasa Smite und Raitis Smits. Daneben verwandeln Marcus
Visionaries“ im HeK vor – im Dreispitz, inmitten von Lagerhäusern, Ausfallstras-                      Maeder und Roman Zweifel den Wasserfluss in einer Fichte zu einer klingenden
sen und Autohäusern. Gezeigt wird, wie die Medienkunst auf die ökologischen                           Komposition. Zu hören ist ein dunkles Rauschen, gelegentlich unterbrochen von
Herausforderungen reagiert. Künstler und Künstlerinnen aus dem In- und Aus-                           einem harten Knacken – dann hat der Baum zu wenig Wasser und zeigt soge-
land setzen dabei neue Technologien und Medien ein, um auf die Probleme auf-                          nannten Trockenstress an. Längere, eindrückliche Dokumentarvideos geben Ein-
merksam zu machen und Menschen zu sensibilisieren. „Wir alle haben genug                              blicke in weitere Problemzonen der Erde; ins Leben von Albatrossen, die im nörd-
Informationen und gesichertes Wissen über die ökologischen Bedrohungen. Die                           lichen Pazifik an herumtreibendem Plastikabfall verenden, in einem Video des Fil-
Ausstellung möchte zum Nachdenken anregen, aber auch emotionale Zugänge                               memachers und Fotografen Chris Jordan. Und Ursula Biemann zeigt die Akustik
zum Thema herstellen“, sagt HeK-Direktorin Sabine Himmelsbach, die die                                des Meeres in den Lofoten, erklärt von einer Samin als Vermittlerin. Viele Arbeiten
Schau zusammen mit Karin Ohlenschläger und Yvonne Volkart kuratiert hat. Wir                          sind in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern entstanden und stützen sich damit
sollten lernen, von den Heilsversprechen der Technik zulasten der Umwelt weg-                         selbst auf neue Technologien: auf verfeinerte digitale Messinstrumente, Sensoren
zukommen. Viele Werke in der Ausstellung versuchen denn auch, mögliche                                und Mikroskope. Ohne Einsatz von Energie und Technik würde es die meisten
Auswege anzudeuten. Ob schnell wachsende Wasserlinsen mit ihrem hohen                                 Installationen wohl nicht geben – sie sind ein Teil dessen, was sie kritisieren. „Über
Proteingehalt eine Lösung für die Nahrung der Zukunft oder eine alternative                           einen nachhaltigen Umgang mit der Natur müssen wir uns alle gemeinsam
Energiequelle sein könnten, ist etwa eine Frage von Heidy Baggenstos und                              Gedanken machen“, sagt Sabine Himmelsbach. So wäre die Kunst eine Möglich-
Andreas Rudolf, die sie in einer Installation stellen. Wasserlinsen hätten biologi-                   keit, Menschen anzusprechen, einzubinden und zu einem veränderten Verhalten
sche Eigenschaften, die sie für die Reinigung von Gewässern interessant                               zu bewegen.                                                 Christoph Dieffenbacher
machen, und können Schwermetalle aufnehmen, sagt das Künstlerduo. Ein
eigenartiges Gefühl löst die Installation von Vanessa Lorenzo aus: Man berührt                        ■ Eco-Visionairies: Kunst, neue Medien und Ökologie nach dem Anthropozän.
einen Teppich aus Moos, und dieser beginnt dank Sensoren, Klänge von sich                             HeK – Haus der elektronischen Künste, Freilager-Platz 9, Basel-Münchenstein.
zu geben – das Moos als Interface. Aline Veillat fragt derweil in einem Gedan-                        Mittwoch bis Sonntag 12.00 bis 18.00 Uhr. Bis 11. November 2018.
kenexperiment nach der Beweglichkeit von Pflanzen. Ihre Topfpflanzen sind                             www.hek.ch
Roboter, die auf Geräusche, Licht und Lebewesen reagieren, indem sie erhal-                           Dieser Text erschien zuerst in der Basellandschaftlichen Zeitung.

artline> Kunstmagazin                                                                                                                                                                              11
Review>

Bernard Voïta, Jalouise III, 2017 (l.); Melencolia V (Barthélemy B.), 2014 (2.v.l.), Courtesy Galerie Bob van Orsouw, Zürich; Jalousie II, 2017 (o.l./m.); Display verso, 2018 (o.r.); Recto verso, 2018 (u.r.),
Installationsansichten Kunstmuseum Solothurn, Courtesy the artist

Nachts im Museum
Bernard Voïta hat im Kunstmuseum Solothurn eine kurzweilige Schau über die Konstruktion von Wirklichkeit eingerichtet

Solothurn – Die Arbeiten, die Bernard Voïta (*1960) derzeit im Kunstmuseum                                    Übrig bleiben neben Schwarz und Weiß lediglich das Gelb von „Jalousie III”, das
Solothurn zeigt, dürften auf dem Weg zum Aufbau in einem Sprinter Platz gefun-                                Rot der wie falsch programmierte Roboter in den Raum staksenden „Jalousien
den haben. Dass sie jetzt dennoch sieben Säle füllen, erzählt viel über eine ihrer                            I” und „II” sowie das matte Braun des Kartons, aus dem der Künstler extrem
zentralen Quallitäten: Sie sind wahre Raumwunder, dehnen sich aus, falten sich                                stabile Unterkonstruktionen für unentschieden zwischen Lampenschirm und
auf, greifen nach dem Betrachter, und scheuen zugleich nicht den Rückzug, wie                                 Pissoir-Modell changierende Skulpturen baut oder für leere, an Werbedisplays
dieses kleine, gelbe Bildobjekt aus lackiertem Stahlblech, das in einem der letz-                             erinnernde Wandtafeln als minimalistische Urformen des Zeigens. Man fühlt sich
ten Räume dieser Soloschau zusammengeklappt an der Wand schläft. Es heißt                                     wie in einer digital bearbeiteten Version der Wirklichkeit. Eingefasst wird die
„Jalousie III”, doch bis zur Finissage wird es – anderes als seine drei großforma-                            Schau von drei knapp unter der Decke hängenden Collagen aus fotografierten
tigen Pendants in Rot und Grau nebenan – nicht mehr geöffnet werden. Es darf                                  Kamerateilen, die sich zu schrägen Gehäusen fügen. Was aussieht wie eine DIY-
jenes Bild bleiben, als das Bernard Voïta es für diese Wand vorgesehen hatte.                                 Parodie der Überwachungstechnik, erzählt zugleich von Voïtas Faible für das
                                                                                                              Spiel mit unterschiedlichen Realitätsebenen. Schon zu Beginn seiner Karriere
Tatsächlich war der Künstler im Frühjahr schon einmal hier und hatte die Umris-                               experimentierte der Welschschweizer, der seit 1989 in Brüssel lebt, mit fotogra-
se von „Jalousie III” mit einem Projektor an die Wand geworfen, wie auch die                                  fischer Unschärfe, Licht und Schatten und baute aus einfachsten Atelierutensilien
aller anderen Arbeiten. Nachts war er dann mit der Kamera durch das Haus                                      vor der Kamera imaginäre Stadtlandschaften. Einen guten Eindruck von der
gestreift, hatte die Probehängung fotografiert und die Aufnahmen in den                                       Suggestivkraft dieser frühen Arbeiten gibt die winzigformatige Serie „White Gar-
Wochen danach zu einem schwarz-weißen Parcours arrangiert, der sich nun                                       den” (1997), die zugleich eine Fährte zu der großen Werkgruppe „Melencolia”
sowohl im Katalog als gut 60-seitige Bildstrecke wiederfindet als auch ausgefal-                              von 2014 legt. Auch diese Materialinszenierungen entstanden allein für den
tet in einer langen Vitrine im zweiten Saal. Die Idee, den Katalog vor Aufbau der                             Moment der Aufnahme. Voïta arrangierte dafür Gegenstände wie Lampen,
eigentlichen Ausstellung als Modellskizze zu fotografieren, nachts im Museum                                  Aktenordner oder Diaprojektoren zu kleinteiligen Raumansichten, die er abfoto-
statt tagsüber bei Sonnenlicht, gewissermaßen als geträumter Vorausschatten                                   grafierte und die dank präzise kalkulierter Licht- und Schatteneffekte nun bestän-
eines kommenden Ereignisses, passt gut zum Ausstellungstitel „Recto verso”.                                   dig zwischen Raum und Fläche, Gegenständlichkeit und geometrischer Abstrak-
Und auch ansonsten steht hier vieles Kopf. So hat Voïta gleich im Entrée zu sei-                              tion kippen. Eine faltbare Skulptur aus lackierten Stahlblechen, die im letzten
ner Schau die Neonröhren von der Decke geholt und spiegelverkehrt am Boden                                    Raum durch den Saal mäandert, beschließt die kurzweilige Schau mit einer
montiert, so dass der Raum nun von unten erleuchtet wird und man das Gefühl                                   schönen Metapher auf die Unendlichkeit der Möglichkeiten und Wirkungen
nicht los wird, sich ins Innere einer Lochkamera verirrt zu haben. Tritt man aus                              räumlicher Inszenierung.                                     Dietrich Roeschmann
dieser seltsam bodenlichtdurchfluteten Dunkelheit dann in den nächsten Saal,
empfangen einen Voïtas Arbeiten in einer reduzierten Farbpalette, die auf den                                 ■ Bernard Voita: recto verso.
ersten Blick als optische Täuschung infolge des starken Hell-Dunkel-Kontrasts                                 Kunstmuseum Solothurn, Solothurn. Dienstag bis Freitag 11.00 bis 17.00 Uhr,
durchgehen könnte, tatsächlich aber ganz real ist: Voïta entzieht seinen Objek-                               Samstag und Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr. Bis 21. Oktober 2018.
ten und Fotografien, die er streng nach Regeln der Spiegelung und der Achsen-                                 ■ Zur Ausstellung ist eine Publikation erschienen: Verlag für moderne Kunst,
symmetrie im neoklassizistischen Museumsbau verteilt hat, die Farben.                                         Nürnberg 2018, 192 S., 35 Euro | ca. 57.90 Franken.

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Nina Canell, Brief Syllable (Skewed), 2018 (l.); Mid Sentence (mit Robin Watkins), 2018 (o.l.); Thins (o.m./r.); Energy Budget (mit Robin Watkins), 2018, Videostill (r.), Courtesy Galerie Barbara Wien,
Daniel Marzona und Mendes Wood, Installationsansichten Kunstmuseum St. Gallen, Fotos: Sebastian Stadler

Tigernacktschnecke im elektrischen Schaltwerk
Nina Canell spürt im Kunstmuseum St. Gallen dem formalen Potenzial von technischen Materialien nach

St. Gallen – Daten fließen inzwischen überall und jederzeit. Sie fließen unbemerkt                           rasch die Form dahin. Die Überreste von Kunststoffummantelungen lassen
und unablässig. Erst, wenn der Datenstrom zufällig oder per technischer Kompli-                              sich zu unansehnlichen Haufen türmen, lassen sich verkneten, verbiegen und
kation unterbrochen ist, wenn die Zuganzeige ausfällt, das Mobilfunknetz überlas-                            zu gnomenhaften Wesen verschlingen. Nina Canell präsentiert diese Varian-
tet oder nicht mehr vorhanden ist, sich die Fotos im Internet nicht hochladen las-                           ten unter den Titel „Shedding Sheats“ konsequenterweise wie zuvor das
sen, dringt ins Bewusstsein, dass es sonst eigentlich funktioniert. Warum es das                             Unterseekabel auf dem Boden der Ausstellungssäle. Aber anders als das sin-
aber tut, wie die Technik im Hintergrund wirkt und aussieht, bleibt dennoch ver-                             gulär und ausgewogen platzierte „Brief Syllable (Skewed)” wirken sie wie
borgen. Dabei lohnte sich ein Augenschein. Den ermöglicht jetzt Nina Canell im                               achtlos hingeworfen: ausgediente Materialreste eben, selbst im Kunstkontext
Kunstmuseum St. Gallen. Die 1979 in Schweden geborene und in Berlin lebende                                  beliebig geworden.
Künstlerin erforscht das formale Potential technischer Materialien und deckt
ungeahnte Verwandtschaften auf. Sie verwendet die originalen Materialien, aller-                             Kontraste inszeniert Canell aber nicht nur zwischen unterschiedlichen Wer-
dings erst dann, wenn sie ihren Dienst getan haben und nur noch als Recycling-                               ken, sondern auch innerhalb ein und derselben Arbeit. Die Ausstellung zeigt
material zur Verfügung stehen. Ästhetisch ansprechend sind sie dennoch, zumin-                               mehrere eindrückliche Beispiele dafür. So besteht die vierteilige Wandarbeit
dest im Falle des Überseekabels. Es ist als „Brief Syllable (Skewed)” im Oberge-                             „Gum Shelves” aus Mastix, dem Baumharz der Wilden Pistazie. Es wurde auf
schoss des Kunstmuseums auf den Steinfliesen des Foyers überaus prominent                                    rechteckige Stahlträger in ebenfalls rechteckigen Blöcken gelegt und fließt
platziert. Inmitten der prachtvollen, neoklassizistischen Raumgestaltung und                                 seither der Schwerkraft ergeben dem Boden entgegen. Formlos, hautfarben,
-ausstattung ruht es mit größter Selbstverständlichkeit und gibt sein Innenleben                             unbeschreiblich zäh und in wirkungsvollem Gegensatz zur exakten Gestalt
preis. Leuchtend gelber Kunststoff umhüllt ein ausgeklügeltes System aus Metall-                             der Stahlträger. Lässt sich ein solcher Kontrast noch steigern? Er lässt sich,
streben, schwarzen Gummi, Textil und in Blau und Rot gefassten kleinen kupfer-                               und wie: Wenn eine Tigernacktschnecke in ein elektrisches Schalterwerk
nen Drähten. Kein Kubikzentimeter ist verschenkt, nichts ist überflüssig oder an                             gesetzt wird, dort langsam, schleimig über Tasten und Relais kriecht, dann
der falschen Stelle. Canell ist so begeistert von dieser perfekten, aus der Funktion                         sind alle Kategorien von Schönheit und Technik, von Funktion und Überfluss
geborenen Form, dass sie dieser eine ganze Serie widmet: Die Blätter „Mid Sen-                               auf den Kopf gestellt. Canells Videoarbeit „Energy Budget” lässt es jedoch
tence” basieren auf technischen Zeichnungen von grafischen Labeldiagrammen                                   nicht dabei bewenden, sondern zoomt auch noch in Hong Kong über die
und zeigen einmal mehr die perfekte Anlage der Kabelkonstruktionen im Quer-                                  Wolkenkratzer mit Drachenflugschneisen – eine geistreich gesetzte Parallele
schnitt. Sie werden im Kunstmuseum im letzten Saal des Rundganges präsentiert                                zur Schnecke im Schaltwerk: Dort, wo die Technik dominiert, ist auch ihr
und so rahmen letztlich das Originalkabel im Foyer und die den Originalzeichnun-                             Ende nicht weit.                                              Kristin Schmidt
gen entlehnten Bilder die gesamte Ausstellung. In dieser geht es dann durchaus
auch anders zu als nur wohlgeordnet.                                                                         ■ Nina Canell: Reflexologies.
                                                                                                             Kunstmuseum St. Gallen, Museumstr. 32, St. Gallen.
Nina Canell lässt Materialien mit augenscheinlichem Vergnügen zerfließen,                                    Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Mittwoch 10.00 bis 20.00 Uhr.
verschmelzen, zusammensacken. Sind beispielsweise die Kabel im Laufe des                                     Bis 25. November 2018.
Recyclingprozesses erst einmal ihres metallenen Kerns entledigt, ist auch                                    www.kunstmuseumsg.ch

artline> Kunstmagazin                                                                                                                                                                                       13
Review>

 ̈rg Immendorff, Fu
Jo                   ̈r alle Lieben in der Welt, 1966 (l.), Sta
                                                              ̈dtische Galerie Karlsruhe; Café Deutschland I, 1978 (m.); Die Lidlstadt nimmt Gestalt an, 1968 (o..r.); Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?,
1973 (r.), alle © Estate of Jörg Immendorff, Courtesy Galerie Michael Werner Ma     ̈rkisch Wilmersdorf, Ko
                                                                                                           ̈ln & New York

Kunst aus dem Geist der Einmischung
Das Münchner Haus der Kunst richtet dem 2007 verstorbenen Jörg Immendorff die erste große Retrospektive aus

München – Wer das Haus der Kunst betritt und die monumentalen Säulen an                                     entschlossenem Blick und entschiedener Geste einem Maler den Weg aus dem
der Südfassade des neoklassizistischen Baus passiert, wird unweigerlich an die                              Atelier nach draußen zum Klassenkampf auf die Straße.
Entstehungszeit dieses Gebäudes erinnert, das Adolf Hitler persönlich als Haus
der Deutschen Kunst 1933 in Auftrag gegeben hatte. Dass ausgerechnet in die-                                Ab 1978 entstand Immendorffs 19-teiliger Zyklus „Café Deutschland”, zu dem ihn
sen Räumen nun die erste große Ausstellung von Jörg Immendorff (1945-2007)                                  Renato Guttusos „Caffè Greco” (1976) inspiriert hatte. Nach Guttuso entwirft
gezeigt wird, ist bedeutend, gilt Immendorff doch als einer der wichtigsten deut-                           Immendorff auf monumentalen Formaten überbordende Interieurszenen, in
schen Maler der Nachkriegszeit. Etwa 200 Arbeiten aus über vier Jahrzehnten                                 denen er sich umgeben von Intellektuellen und Politikern aus beiden Teilen
geben einen umfassenden Überblick auf sein Lebenswerk.                                                      Deutschlands in Cafés und Bars inszeniert. Seine Kritik an der deutschen Nach-
                                                                                                            kriegspolitik ist unmissverständlich. Immer wieder tauchen in diesen energiegela-
Der Rundgang ist nur grob chronologisch angelegt, oft gibt es zeitliche Sprünge                             denen Bildern explizite Symbole wie Adler, Hakenkreuz, Deutschlandfahne, aber
zugunsten einer thematischen Gruppierung der Arbeiten. Den Auftakt machen                                   auch Teile der Mauer sowie Hammer und Zirkel auf. Fortan verschreibt sich
frühe Arbeiten aus den 1960er Jahren. Als Student von Joseph Beuys an der                                   Immendorff ganz der Kunst. Sein Geburtsort Bleckede in Niedersachsen war in
Düsseldorfer Kunstakademie reagierte Immendorff mit Happenings und Aktionen                                 einen Ost- und einen Westteil gespalten. Die deutsche Teilung betraf ihn somit
auf das politisch aufgeheizte Klima dieser Jahre. Mit seiner damaligen Lebensge-                            auch ganz persönlich und wurde Gegenstand vieler Bilder und Skulpturen. Für
fährtin Chris Reinecke entwickelte er das nach einem dadaistischen Kunstwort                                die documenta 7 schuf er eine monumentale bemalte Bronzeskulptur mit dem
benannte LIDL-Projekt. Kleinformatige Kreidezeichnungen auf Holzplatten doku-                               Titel „Naht (Brandenburger Tor – Weltfrage)“: Sinnbild für die Grenze zwischen
mentieren die Entwürfe einer LIDL-Stadt und einer LIDL-Akademie. Mit anti-auto-                             BRD und DDR und zugleich, wie auch die „Café Deutschland”-Bilder, retrospektiv
ritären Utopien wollte LIDL das politische Establishment provozieren.                                       betrachtet eine erträumte Vorwegnahme der Wiedervereinigung.

Der Rauswurf aus der Akademie 1969 steigerte Immendorffs politisches Enga-                                  Der Titel der Ausstellung „Für alle Lieben in der Welt“, einer frühen Werkserie ent-
gement. Er wurde in der KPD aktiv und Kunstlehrer an einer Hauptschule. In den                              nommen, die pausbäckige, comicartig überzeichnete Babys verschiedener Haut-
Arbeiten aus dieser Zeit stehen Bild und Text gleichwertig nebeneinander. Städ-                             farben als friedensstiftende Antwort auf den Vietnamkrieg zeigt, mag zunächst
tebilder von Frankfurt und Köln etwa dokumentieren und kommentieren Demon-                                  fehlleitend wirken, lenkt aber auch den Fokus auf eine fragile und zarte Seite, die
strationen gegen den Vietnamkrieg. Seine Rolle als Pädagoge reflektierte                                    in seinem Spätwerk deutlicher hervortritt. Trotz der ALS-Erkrankung arbeitet
Immendorff in Bildern, die exemplarische Szenen aus dem Schulleben und sein                                 Immendorff bis zuletzt, immer im Glauben an die Kunst als intellektuelles Grund-
Bestreben nach gemeinschaftlich gestaltetem Unterricht zeigen. Kunst und Poli-                              bedürfnis. Für sich selbst wie für seine Betrachter. Eine Arbeit von 1988 trägt den
tik waren ihm in dieser Zeit gleichwertige und gleich wichtige Interessen. Dabei                            Titel: „Das Bild muss die Funktion der Kartoffel übernehmen“. Jolanda Bozetti
stellte er explizite Fragen nach der gesellschaftlichen Verantwortung des Künst-
lers wie in dem bekannten Bild: „Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?“ von                               ■ Jörg Immendorf: Für alle Lieben in der Welt.
1973. In einem Realismus, der an Propagandabilder der Ostblockstaaten erin-                                 Haus der Kunst, Prinzregentenstr. 1. München. Montag bis Sonntag 10.00 bis
nert, ist er selbst zentral platziert und weist breitbeinig, mit brauner Lederjacke,                        20.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 22.00 Uhr. Bis 27. Januar 2019.

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Amy Lien & Enzo Camacho, 260 South Street, NYC, NY 10002, 2018 (l./m.); Shady Mansion, 2018 (r.), Ausstellungsansicht 1. Obergeschoss Kunstverein Freiburg, Courtesy the artists, Fotos: Marc Doradzillo

Die Hölle der Gentrifizierung
Amy Lien & Enzo Camacho thematiseren mit ihrer Instalaltion „Shady Mansion” im Kunstverein Freiburg die Ökonomisierung des Sozialen

Freiburg – Um es vorwegzunehmen: Wenn es einer Ausstellung gelingen kann,                             Bewohnern skizzieren. Eine schwarze Plastiktüte vor in Folie verpacktem Draht-
eine magische Parallelwelt zu kreieren, die sehr reale und überaus komplexe                           gitter, die hier zwischen den Ästen schwebt, spielt so etwa auf die Verschattung
Zusammenhänge von Ökonomie, Ökologie, Politik und Klassengesellschaft                                 von Solaranlagen in ärmeren Gegenden Chinatowns durch den am Fuß der
ebenso poetisch wie kritisch reflektiert, dann haben Amy Lien (*1987) und Enzo                        Brooklyn Bridge in den Himmel ragenden Luxusappartment-Block One Manhat-
Camacho (*1985) im Kunstverein Freiburg ganze Arbeit geleistet. Sechs Wochen                          tan Square an. Der gerade fertig gestellte 260-Meter-Turm ist eines von fünf mil-
verbrachte das Künstler-Duo, das zwischen New York, Manila und Berlin pendelt,                        liardenschweren Wohnbauprojekten, das Gentrifizierungsgegner in der Lower
für den Aufbau seiner Schau in Freiburg. Das Ergebnis trägt den Titel „Shady                          East Side derzeit auf die Straße bringt. Liebevoll aus Materialresten nachgebaut,
Mansion” – im Chinesischen eine Bezeichnung für die Hölle. Der Abgrund, den                           krönt je ein Modell dieser Hochhäuser die Bäume wie ein funkelnder Kristall.
Lien und Camacho meinen, ist die Dystopie der urbanen Gesellschaft in einer von                       Die eigentliche Energiequelle dieser aufwendig recherchierten, detailreichen und
Gewinnerwartungen aggressiver Investoren gesteuerten Zukunft der Stadtent-                            wunderbar verspielten Installation über die Ökonomisierung sozialer Räume befin-
wicklung. Ausgangspunkt ihrer Installation ist ein Projekt des Architekten Dan                        det sich auf der Galerie. Scheinwerfer mit mehreren Tausend Watt strahlen hier
Barasch, der in einer stillgelegten Subway-Station in Manhattans Lower East Side                      an die mit Spiegelfolie verkleidete Decke und tauchen den niedrigen Raum in glei-
den ersten Untergrundpark der Welt bauen will, samt pflanzentauglicher, per                           ßendes Licht. Den Abglanz wiederum fangen fünf aus Regenschirmen konstru-
Parabolspiegel, Glasfaserkabel und komplexer Streutechnik umgeleiteter Tages-                         ierte Hohlspiegel auf, die das gebündelte Restlicht durch Pappröhren in die dar-
lichtführung. Als Pendant zur High Line, dem 2009 eröffneten Park auf einer ehe-                      unter liegende Ausstellungshalle rieseln lassen. Hautnah zu erleben ist hier der
maligen Hochbahntrasse im Westen der Stadt, dürfte auch die „Lowline”, sollte sie                     technische und energetische Aufwand, der notwendig ist, um einen geschlosse-
je realisiert werden, erheblich zur Gentrifizierung der angrenzenden Viertel und zur                  nen Raum wie die Lowline allein durch Ablicht zu erhellen. Dass neben den
Verdrängung der mehrheitlich einkommensschwachen Bevölkerung beitragen.                               Scheinwerfern in Säcken und Kisten zudem der gesamte Müll lagert, der beim
                                                                                                      Aufbau der Schau anfiel, verwandelt dieses Setting hinter den Kulissen gewisser-
Im Freiburger Kunstverein haben Amy Lien und Enzo Camacho ihre eigene Inter-                          maßen in ein begehbares Modell ihrer Ökobilanz. Genau das macht „Shady Man-
pretation dieses Parks gebaut und dafür kurzerhand eine neue Decke aus                                sion” so großartig: Lien und Camacho versuchen nicht, die Komplexität ökono-
schwarzer Folie eingezogen, die den Saal nun von der darüberliegenden Galerie                         mischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge auf eine griffige Formel zu brin-
trennt und komplett abdunkelt. Auch der gedämpfte Raumklang nährt die Illusion,                       gen, sondern übersetzen sie in kaum weniger komplexe poetische Szenarien, die
man befinde sich tatsächlich tief unter der Erde. Eine Ahnung von fahlem Licht fällt                  darauf zielen, reale politische Prozesse anzustoßen. So ist es kein Zufall, dass ihre
hier lediglich durch fünf Löcher aus der Decke, in den Raum gespiegelt von mit                        Ausstellung Ende September die Bühne für ein Symposium war, das die konkur-
Silberfolie beklebten Sonnenschirmen, unter denen sich je eine Baumskulptur gut                       rierenden Ansprüche von Entwicklung, Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit
vier Meter in die Höhe reckt. Angelehnt an die Form von Geldbäumen chinesi-                           in der „Green City” Freiburg zum Thema hatte.                Dietrich Roeschmann
scher Totenkulte bilden die Äste jeder Skulptur vier Rahmen, in denen Lien &
Camacho mit gefundenen Materialien wie Draht, Scherben oder Zweigen und                               ■ Amy Lien & Enzo Camacho: Shady Mansion.
Gräsern aus dem Schwarzwald Werbefotos aus Prospekten New Yorker Immo-                                Kunstverein Freiburg, Dreisamstr. 21, Freiburg. Dienstag bis Sonntag 12.00
bilienentwickler nachstellen oder Interessenskonflikte zwischen Investoren und                        bis 18.00 Uhr, Mittwoch 12.00 bis 20.00 Uhr. Bis 28. Oktober 2018.

artline> Kunstmagazin                                                                                                                                                                                15
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Klodin Erb, Monkey see, Monkey do (l.); J’adore with joy (r.), beide 2018, Courtesy the artist, Foto: Viktor Kolibàl              Carla Lavin, Bodies of the Anthropocene, 2017, Installationsansicht E-Werk

Klodin Erb                                                               dersetzung mit dem Religiösen fort, deren Anlass         Material Gestures
                                                                         für diese Ausstellung nicht zuletzt Jean Tinguelys
Helvetia Art Foyer, Basel                                                „Cenodoxux Isenheimer Altar“ ist, der dauerhaft          Galerie für Gegenwartskunst,
                                                                                                                                  E-Werk Freiburg
                                                                         im Foyer installiert ist. Erb bezieht sich dabei nicht
                                                                         allein auf das Christentum und die anderen Welt-
Der Titel der aktuellen Einzelschau von Klodin Erb                       religionen, sie bindet auch die Versuchungen der         Mit dem Material ist es so eine Sache. Es kann
(* 1963) im Helvetia Art Foyer klingt wie ein Seuf-                      Waren- und Werbewelt mit ein, denen sie                  Anlass größter sinnlicher Freuden sein, doch
zer: „Ein langer Tag“. Tatsächlich ist niemand zu                        dadurch einen quasi religiösen Status zubilligt. Im      manchmal nervt es einfach nur. Mit seinem Video
sehen, der ihn ausgestoßen haben könnte. In                              Sinne der Selbstoptimierung.                             „Long-distance“ hat William Cobbing (*1974) so
Erbs gleichnamiger Videoarbeit zieht eine para-                                                                                   etwas wie eine Allegorie auf den Ton geschaffen,
diesische, einsame, gemalte Landschaft an unse-                          Indem Klodin Erb das Medium der Billboards auf-          mit dem der Londoner arbeitet. Zwei blinde Hände
rem Auge vorbei. Das Licht vollzieht die Verände-                        greift, öffnet sich ihr ein ganzes Arsenal an Gestal-    greifen lustvoll in den Ton und kneten den Steg, der
rungen nach, die sich im Laufe eines Tages erge-                         tungs- und Bildelementen. Ganz selbstverständ-           zwei klobige, grob geformte Köpfe miteinander ver-
ben. Es wird dunkler und irgendwann wieder                               lich gehören die Typografie und Slogans dazu.            bindet. Immer wieder. Darunter verbergen sich der
heller. „Ein langer Tag“ geht auf Erbs Einzelaus-                        Ihre Bilder reflektieren auch die oft so absurde         Künstler und seine Assistentin. Das Paar ist in einer
stellung im Kunsthaus Pasquart in Biel / Bienne                          Kombinatorik der Werbeindustrie. Doch auch das           nicht enden wollenden Annäherung auf Distanz
zurück, wo sie Anfang des Jahres in einer langen                         Referenzsystem Kunst ist noch fruchtbar, das sie         gehalten. Ton kann manchmal eben auch ein wirk-
Vitrine Landschaftsbilder aneinanderreihte und                           sowohl formal als auch inhaltlich zitiert.               licher Widerstand sein.
diese danach abfilmte. Die Schnitte zwischen den
Bildern gehen auf die aufeinanderstoßenden                               Darüber hinaus finden sich Anleihen aus der Film-        Dass das Material derzeit verstärkt Thema der
Glasplatten zurück, denn hier ist alles analog.                          geschichte wie „Der blaue Engel“ oder „Casa-             Kunst ist, nachdem unser Alltag immer virtueller
                                                                         blanca“, aber auch der Werbespruch einer                 wird, ist sich Heidi Brunnschweiler sicher. Es ist der
Doch Klodin Erbs Ausstellung „Ein langer Tag“                            Online-Datingplattform. Das Bild, das sich               Grundgedanke der von ihr kuratierten Ausstellung
befasst sich auf grundsätzliche Weise mit dem                            dadurch von unserer Gegenwart ergibt, erzählt            „Material Gestures. Material und Materialität in der
Bild und die Zürcher Malerin gehört bekanntlich                          von einer manieristischen Zeit und von einer tief        Gegenwartskunst“, die in der Galerie für Gegen-
zu jenen, die das Medium selbst für eine solche                          sitzenden Angst. Wer hätte gedacht, dass man             wartskunst im Freiburger E-Werk zu sehen ist. Nicht
Auseinandersetzung herbeizitiert. Ihre neue                              Billboards ein derart komplexes Bildsystem ein-          nur bei William Cobbing meint Material Ton. Die
Werkgruppe der „Billboards“ ist ein wilder Motiv-                        hauchen kann.                  Annette Hoffmann          Gruppenschau bezieht den Freiburger Künstler Ste-
mix, der sich auch auf den verschiedenen Ebenen                                                                                   phan Hasslinger (*1960) ein, der seit Jahren daran
von Popkultur und weniger Profanem bedient. In                           ■ Bis 4. Oktober 2018.                                   arbeitet, der Keramik die Schwere auszutreiben,
den „Billboards“ führt Klodin Erb eine Auseinan-                         www.helvetia.ch/kunst                                    indem er textile Strukturen, Spitze und Muster

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