10.2018 Kunstmagazin - art media edition verlag freiburg
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mit Kunstbuch Spezial 10.2018 Kunstmagazin Aarau Appenzell Baden Baden-Baden Basel Bern Biel Bregenz Donaueschingen Freiburg Heidelberg Karlsruhe Konstanz Ludwigshafen Luzern Mannheim Mulhouse München Nürnberg Offenburg Saarbrücken Solothurn St. Gallen Strasbourg Stuttgart Thun Ulm Vaduz Winterthur Zürich Zug • Zimoun: prepared dc-motors, cotton balls, cardboard boxes, 2017, © Zimoun, zu sehen in der Ausstellung „Zimoun – Installationen” im Rahmen der Donaueschinger Musiktage im Museum Art.Plus, Donaueschingen, 20. Oktober bis 11. November 2018
I believe I can fly Nina Rike Springer 19.10. — 2.12. 2018 Zeppelin Museum Friedrichshafen ZF Kunststiftung Seestraße 22, 88045 Friedrichshafen im Zeppelin Museum Oktober Mo – So 9 – 17 Uhr November / Dezember Di – So 10 – 17 Uhr
Ludwigshafen Mannheim Heidelberg Inhalt> Nürnberg Saarbrücken Heilbronn Karlsruhe Regensburg Baden-Baden Stuttgart Strasbourg Offenburg München Rottweil Freiburg Mulhouse Friedrichshafen Weil Basel Winterthur Bregenz Aarau St. Gallen Zürich Rapperswil Solothurn Biel Glarus Burgdorf Luzern Bern Chur Thun Intro> Liebe Leserinnen, liebe Leser! 6 Various Others: Es kann kein Zufall sein: Im Oktober häufen sich die Termine für Lesende – Eine Kooperation zwischen Galerien, Museen und Offspaces in München der Herbst gehört dem Buch. Das prominenteste Datum ist sicherlich der Start der Frankfurter Buchmesse, die wie jedes Jahr die neue Buchsaison 7 Porträt> eröffnet und vom 10. bis 14. Oktober stattfindet. 2018 ist Georgien Kyra Tabea Balderer Gastland, das für sich mit „Georgia – Made by Characters“ wirbt. Doch gilt das nicht auch für Buchmachende? Denn Leidenschaft braucht es Review> schon, um gute Bücher zu machen, seien es belletristische oder Kunst- 8 Alina Szapocznikow in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden kataloge und Künstlerbücher. In diesem Bereich umso mehr, denn das 9 „Surrealismus Schweiz” im Aargauer Kunsthaus in Aarau Segment ist besonders. 10 Balthus in der Fondation Beyeler in Basel-Riehen 11 „Eco-Visionairies” im Haus der elektronischen Künste Basel Mit unserem Kunstbuch-Spezial feiern wir nicht nur die Vielfalt dessen, 12 Bernard Voïta im Kunstmuseum Solothurn was erscheint, sondern auch ein bisschen die Charaktere, die dahinter 13 Nina Canell im Kunstmuseum St. Gallen stecken. Die Art Book Fair Berlin im Hamburger Bahnhof widmet sich 14 Jörg Immendorff im Haus der Kunst München dann vom 19. bis 21. Oktober ganz dem Kunstbuch, während man am 15 Amy Lien & Enzo Camacho im Kunstverein Freiburg Rheinknie mit der Buch Basel vom 9. bis 11. November die Literatur in den Mittelpunkt stellt. Es gibt viel zu lesen und viel anzusehen – wir haben Shortcuts> die Herbstprogramme für Sie durchforstet. 16 Klodin Erb in Basel | „Material Gestures” in Freiburg Das artline>Kunstmagazin 11.2018 erscheint am 19. Oktober 2018. 17 News> Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen beim Lesen auf den folgenden Seiten sowie unter www.artline.org. 18 Kunstbuch Spezial> Ihre Redaktion 21 Ausstellungen> artline> Kunstmagazin 5
Intro> Performance anlässlich von „Various Others 2018” (l.), © Ruine München, 2018; Anna Vogel, Temples IX, 2018 (o.m.), Courtesy SPERLING, München; Amalia Ulman, Never Give Up On Money, 2016 (u.m.), Courtesy the artist, Deborah Schamoni and ArcadiaMissa; Ari Sariannidis & Lennart Schweder, Also, was ist das für ein Haus, 2018 (r.), Installationsansicht, Courtesy Loggia München, Lennart Schweder Gemeinschaft belebt das Geschäft Das Projekt „Various Others” will die Außerwirkung des Kunststandorts München stärken Diesen Monat unter Eigentlich hat München wie jede Großstadt längst Stadt bislang allerdings kaum wahrgenommen. Uns www.artline.org sein eigenes Galerienwochenende. Es heißt Open ging es darum, diese Energie sichtbar zu machen. Art, wird vom örtlichen Galerienverband organisiert, Die „Various Others”, die unterschiedlichen anderen, zählt gut 40 Teilnehmende und eröffnet immer Mitte die wir als Gruppe Münchner Galerien und Offspaces September zum Saisonstart. In diesem Jahr gab es eingeladen haben, sind befreundete Kunsträume nun erstmals Konkurrenz durch das neue Format oder Galerien von außerhalb, die hier eigene Projekte „Various Others“, ins Leben gerufen von einer Grup- mit ihren KünstlerInnen realisieren. Barbara Gross hat Reviews pe junger Galeristen aus München. Wir sprachen mit so etwa Barbara Wien aus Berlin mit Nina Canell und Ekstase im Kunstmuseum Stuttgart Co-Initiator Johannes Sperling über das Projekt. Ian Kiaer eingeladen, Christine Mayer Hauser & Wirth Beehave im Kunsthaus Baselland mit Andy Hope 1930, Deborah Schamoni das Lon- The Humans im Kunstmuseum St. Gallen Artline: Herr Sperling, wie lief die Premiere von doner Project Native Informant und das Münchner Independence in der Kunsthalle Bern Various Others? Off-Projekt Ruine die Transmission Gallery aus Glas- Alexandra Navratil im Kunsthaus Langenthal Johannes Sperling: Wir waren sehr zufrieden. Die gow. Institutionen wie der Kunstverein München, beteiligten Galerien und Offspaces waren zur Eröff- Lothringer 13, das Lenbachhaus oder das Museum Porträts nung drei Tage lang voll. Das Begleitprogramm in den Brandhorst stellen dazu das Rahmenprogramm mit Charlotte Mumm Institutionen wurde gut besucht, die Gäste waren Konzerten, Talks und Screenings. Rodrigo Hernández begeistert. Nie habe er so viele Sammler an einer Trisha Baga Eröffnung kennengelernt, sagte mir Mike Ruiz von Sehen Sie sich als Konkurrenz zur Open Art? der Future Gallery Mexiko City und Berlin, den ich Nein, eher als Ergänzung. Wir verstehen uns nicht als zusammen mit piktogramm Warschau zur Präsenta- Interessensvertretung von Geschäftsleuten, sondern tion einiger ihrer Künstler eingeladen hatte. haben „Various Others” als Initiative zur Stärkung der Außenwahrnehmung der Münchner Kunstszene ge- Wie kam es zu dieser neuen Kooperation? gründet. Wir wollen damit ein internationales Umfeld Die Idee zu „Various Others” entstand im Gespräch schaffen, in dem sich Galeristen, Sammler, Muse- mit Freunden aus der Kunstszene. Bei vielen Samm- umsleute und Akteure aus der Offszene auf Augen- lern hat München weltweit einen Ruf als bedeutende höhe begegnen können – wenn alles gut geht ab Museumsstadt. Als Standort einer jungen, internatio- jetzt in jedem Herbst. Interview: roe nal vernetzten Galerienszene, die vor Ort in engem und fruchtbarem Austausch mit Offspaces und Insti- ■ Various Others. Bis 21. Oktober 2018. tutionen für zeitgenössische Kunst steht, wird die www.variousothers.com 6 artline> Kunstmagazin
Porträt> Kyra Tabea Balderer, Ohne Titel, 2016 (l.); Ohne Titel, 2016 (m.); PEACOCK, 2016 (o.r.), Detail; Ohne Titel (Diptychon), 2016 (u.r.), Courtesy the artist Kyra Tabea Balderer Die in Leipzig lebende Schweizerin inszeniert augentäuschende Fotografien, die wie Malerei wirken Wenn einem auf Flohmärkten oder in Familienalben alte Fotos in die Hände fal- grafiert zu werden. Nicht grundlos nennt sie ihre Ausstellung im Kunstmuseum len – diese fremd gewordenen kartonierten Bilder, auf denen alle immer so steif Luzern anlässlich des Manor Kunstpreises „Szenario“. Die junge Künstlerin ist wirken –, sieht man neben den porträtierten Menschen oft riesige Zimmer- nicht die einzige, die Pappobjekte und Materialcollagen baut, um sie dann mit pflanzen. Das Fotografenatelier imitiert den Salon, auch wenn es bei denen, die der Kamera festzuhalten. Die in Zürich lebende Shirana Shahbazi kreiert eben- sich hier feierlich verewigen ließen, vielleicht weniger großbürgerlich zuging. Auf falls Situationen, bei ihr sind sie oft an den Konstruktivismus angelehnt, um die Kyra Tabea Balderers Aufnahmen sind solche Pflanzen oder ähnlich repräsen- Grenzen der Fotografie zu verunklären. Und dann ist da natürlich auch Thomas tative Objekte die Hauptpersonen. Doch halt, Aufnahmen? Obgleich Balderer Demand, der mit fotografierten Modellen von zeitgeschichtlichen Orten (*1984) mittlerweile in Leipzig lebt, in der Hochburg einer artifiziellen, selbstre- bekannt wurde. Balderer bezieht ihre Bildreize hingegen aus dem Stadtraum ferentiellen Malerei, arbeitet sie tatsächlich mit der Großbildkamera. Dennoch und aus Reproduktionen von Kunstwerken. kann man die Fotografien der Künstlerin, die in diesem Jahr mit dem Manor Kunstpreis Zentralschweiz Luzern ausgezeichnet wurde, leicht für Malerei hal- Dabei entstehen Bilder, die haarscharf an dem vorbeigehen, was wir unzählige ten. Zumal sie ihre Fotos oft vor farbigen Wänden und hintereinander gestapelt Male gesehen haben. Die Stufen einer Wendeltreppe etwa, die wie bunte wie Bilder inszeniert. Die Fotografie jedenfalls war nie nur auf die Entdeckung Fächer zwei ineinander verschränkte Spindeln umgeben. Niemand könnte sie neuer Welten ausgerichtet, sie zog sich immer schon ebenso ins Studio betreten. Oder die starr wirkenden Federn von „Peacock“ aus dem Jahr 2016, zurück, um dort Kunstwelten zu schaffen. die einmal ganz ohne die irrlichternde Farbigkeit des Gefieders eines Pfaus auskommen. Kyra Tabea Balderer gibt der Fotografie eine Tiefe, die sie auch „Palme“ heißt eine 2017 entstandene Arbeit von Kyra Tabea Balderer. Der durch besonders sorgfältige Prints erreicht. So ganz ohne Aufwand geht es ganze Bildraum ist voll mit gefiederten Palmenblättern. Sieht man diese, fügt nicht, will man die Augen täuschen.. Annette Hoffmann der Verstand unweigerlich architektonische Versatzstücke dazu, weiße schmiedeeiserne Wendeltreppen oder ein Stück Verglasung wie man es aus ■ Kyra Tabea Balderer: Szenario. den Palmenhäusern des 19. Jahrhunderts kennt. Nur, da ist nichts. Und Manor Kunstpreis Zentralschweiz Luzern. schaut man genauer hin, erkennt man auch, dass die Lichtreflexe, die Plastizi- Kunstmuseum Luzern, Europaplatz 1, Luzern. tät und Raum vorgaukeln mit jener raffinierten Haltung gemalt sind, die Präzi- Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 20.00 Uhr. sion mit Nachlässigkeit verbindet. Und überhaupt sind die Blätter glänzend sil- 13. Oktober 2018 bis 6. Januar 2019. www.kunstmuseumluzern.ch bern. Und ausgeschnitten sowieso. Balderer fotografiert Installationen und ■ Zur Ausstellung erscheint eine Publikation: Skulpturen, die sie selbst schafft. Sie haben keinen anderen Zweck als foto- Revolver Verlag, Berlin 2018, 96 S. 24 Euro | ca. 25 Franken. artline> Kunstmagazin 7
Review> Alina Szapocznikow; Ceramika II, Ceramika I et Ceramika III, 1965 (l.); Fotorzeźby / Fotoskulpturen, 1971/2007 (o.), Detail; Pamiątka III / Souvenir III, 1971 (r.), alle © ADAGP, Paris / VG Bild-Kunst, Bonn, 2018. Courtesy The Estate of Alina Szapocznikow / Piotr Stanislawski / Galerie Loevenbruck, Paris / Hauser & Wirth Organisches in Polyester Die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden würdigt die französisch-polnische Bildhauerin Alina Szapocznikow Baden-Baden – In Polen gilt sie als wichtigste Bildhauerin des 20. Jahrhunderts. Erlebnisse. Alina Szapocznikow wurde 1926 in Kalisz geboren, ihre Eltern, assi- Und sie ist mehr als das: Sie ist das europäische Pendent zu Eva Hesse, der New milierte Juden, waren beide Ärzte. Gemeinsam mit ihrer Mutter überlebte sie Yorker Pionierin des Postminimalismus, die wie Alina Szapocznikow mit Kunst- Ghetto, Zwangsarbeit und Vernichtungslager. Nach der Befreiung studierte sie stoff und organischen Formen experimentierte. Zugleich ist sie eine Künstlerin, die in Prag an der Hochschule für Kunstgewerbe und begeisterte sich für den Kom- ein Werk schuf, das im besten Sinne feministisch ist, ohne sich programmatisch munismus. Ein Stipendium brachte sie 1947 nach Paris, ihre spätere Wahlhei- in diesem Kontext zu exponieren. Alina Szapocznikow repräsentierte 1962 auf mat. Beeinflusst vom Existenzialismus weichen ihre in Ton modellierten Figuren der Biennale von Venedig ihr Geburtsland Polen, auf der Documenta 14 wurden zunehmend vom Ideal ab, werden abstrakt und fragmentarisch. In den 1960er einige ihrer Polyesterarbeiten in Kassel gezeigt. Solche gelegentliche Präsentatio- Jahren kommt Kunststoff als künstlerisches Material auf. Seine porösen oder nen konnten ihr Werk in Deutschland jedoch nicht bekannt machen. Insofern ist durchscheinenden Oberflächen, seine organische Anmutung kommt ihren die Retrospektive „Menschliche Landschaften“, die das Hepworth Wakefield in Ideen entgegen. Es entstehen „illuminierte Skulpturen“ wie „Lampe-Bouche“, Yorkshire gemeinsam mit der Kunsthalle Baden-Baden zusammengestellt hat, eine Lampe in Form eines weiblichen Mundes. Damals begann sie in ihrem Ate- nicht genug zu loben. Über 100 Objekte, Zeichnungen und Fotografien vergegen- lier in Malakoff auch mit Abformungen ihres Leibes, später auch des Körpers wärtigen das Schaffen einer Künstlerin, deren Sensibilität und Unabhängigkeit ihres Adoptivsohns Piotr. Alles in ihrem Werk ist Leib, Körper, ihr Körper. erstaunt und zugleich beschämt. Denn ihre, wie sie es selbst ausdrückte, „unbe- holfenen Objekte“, erinnern an eine Dimension des Lebens, die in der auf Effizienz In Baden-Baden kann die Retrospektive auf Grund einer Dachrenovierung nur getrimmten Gegenwart des 21. Jahrhunderts keinen Platz haben. im großen Saal und einem Nebenraum gezeigt werden. Die komprimierte Prä- sentation hat Vor- und Nachteile. Manchen der im Geist der Moderne geform- Ihre fragilen Polyesterarbeiten stehen aber nicht nur für in Worten nicht auszu- ten Werke fehlt es deutlich an Raum zum Atmen, so dass Szapocznikows Früh- drückende Empfindungen der Freude, der Lust oder des Schmerzes. Ihre Ironie, werk zum reinen Vorspiel verblasst. Ihr Spätwerk hingegen erfährt durch die inti- ihr Fatalismus und ihre Immunität gegenüber vordergründiger Schönheit erin- me Nähe eine besondere Eindringlichkeit. Als die Künstlerin 1969 von ihrer nern an die tiefere, vielleicht eigentliche Bedeutung der Wendung „künstlerische Krebserkrankung erfährt, geht sie mit noch größerer Intensität dessen sinnlicher Unabhängigkeit“. Sowohl in Kassel wie in Baden-Baden ist etwa ihr „Cendrier Präparierung nach, dringt vor zu Gestaltungen, die Inneres nach außen kehren, de Célibataire“ ausgestellt, der im letzten Jahr vor ihrem Tod 1973 entstanden surreal wuchernde Formen aus Polyesterharz real erscheinen lassen. In einer ist. Der „Aschenbecher eines Junggesellen“ hätte eine witzige Pop Art-Ikone ihrer letzten großen Werkgruppen verarbeitet sie Abformungen zu Reliefs: aus sein können, wenn Alina Szapocznikow das Motiv in knalligem Realismus pro- Körpern werden Hüllen, in die Strukturen vergangenen Leben eingeschrieben duziert hätte. Doch handelt es sich um einen über dem Mund abgeschnittenen sind. Alina Szapocznikow nannte sie „Herbarium“, entsprechend einer Samm- Abguss ihres eigenen Halses und Kopfes und um echte Zigarettenstummel, die lung getrockneter Pflanzen. Carmela Thiele mit einer Ascheschicht in der Polyesterharz-Plastik konserviert sind. ■ Alina Szapocznikow: Menschliche Landschaften. Im Zentrum ihres Schaffens steht der Körper, der eigene Körper als Speicher Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Lichtenthaler Allee 8, Baden-Baden. von einzigartigen Erfahrungen, und auch als Projektionsfläche traumatischer Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr. Bis 7. Oktober 2018. 8 artline> Kunstmagazin
Ilse Weber, Nachtcapriccio, 1981 (l.), Foto: Jörg Müller; Ernst Maass, Maschinenmensch, 1931 (o.l.), Foto: Dany Schulthess, Emmenbrücke; Ernst Maass, Nächtliches Keimen II, um 1938 (o.r.), Foto: SIK-ISEA, Zürich; Max von Moos, Dämonisches Frühstück. (Inferno, lügnerisches Bild), 1934 (r.), Foto: Jörg Müller, © 2018, ProLitteris, Zürich Eine Überdosis Beliebigkeit Das Aargauer Kunsthaus hat unglaubliche 400 Werke zur Überblicksschau „Surrealismus Schweiz“ zusammengetragen Aarau – Bereits die Einleitung im Katalog „Surrealismus Schweiz“ zur gleich- ihre Zerwürfnisse und Grabenkämpfe, die dem Surrealismus eine Dynamik namigen Ausstellung im Aargauer Kunsthaus formuliert ein Paradox. Wie und auch ein Profil gaben. Denn selbst André Bretons Definition von 1924 als kann das sein, dass sowohl Paul Klee als auch Hans Arp als wesentliche Ver- „Denkdiktat ohne jede Vernunft-Kontrolle und ausserhalb aller ästhetischen treter des Surrealismus wahrgenommen werden, aber die Kunstrichtung in oder ethischen Fragestellungen“ bleibt vage. Schweizer Künstlerinnen und der Schweiz kaum existent zu sein scheint? Schließlich nahmen Klee und Arp Künstler, die mit dieser Pariser Szene in Verbindung standen, hatten es leich- zusammen mit de Chirico, Ernst, Miro und Picasso 1925 an der Ausstellung ter, einen gewissen Bekanntheitsgrad zu erreichen. Vereinigungen wie die der Pariser Galerie Pierre „Le surréalisme et la peinture“ teil. Selbstorganisation Basler Künstler in der „Gruppe 33“ halfen etwas gegen die Isolation, doch auch hier zeigt sich die Bedeutung des Konstruktivismus Die Schau „Surrealismus Schweiz“, die nach ihrer Station in Aarau ans Museo für die Schweizer Kunst. d’arte della Svizzera italiana nach Lugano weiter ziehen wird, versucht mit einem ersten Raum eine Antwort. Die besondere geografische Lage, aber War der Erste Weltkrieg mit seiner sinnlosen Grausamkeit ein Auslöser für die auch die spezifische Verfasstheit der Schweiz förderten in den späten 1920er surrealistische Bewegung, so prägte der Zweite Weltkrieg und die prekäre und 1930er Jahren ein Klima, das weniger auf Internationalität und das Irra- Grenzsituation der Schweiz viele Werke. Der Luzerner Max von Moos (1903- tionale setzte. Die Kunst war damals national, möchte dieses Entree zu einer 1979) malt die Fratze des Krieges: 1944 „Teufelsküche (Stalingrad)“ oder als Schau nahelegen, die unglaubliche 400 Werke von 60 Schweizer Künstlerin- Reaktion auf den spanischen Bürgerkrieg „Toledo“ im Jahr 1937, Ernst nen und Künstler in Petersburger Hängung ausbreiten wird. Eine Arbeit wie Maass (1904-1971), der nach seiner Flucht aus Nazi-Deutschland, heimat- das Landibild des Luzerner Künstlers Hans Erni (1909-2015), das für den und mittellos wurde, schuf in Luzern bizarre Bühnensituationen, die Mobiles Tourismuspavillon der Schweizerischen Landesausstellung in Zürich 1939 gleichen wie „Bedrohter Friede“ von 1938. Der grundsätzlich eklektizistische entstand, bekommt da die Rolle eines Trojanischen Pferds des Surrealismus Charakter des Surrealismus wird auch für die Ausstellung problematisch, Bei zugewiesen, weil es Räume verkürzt und zusammenbringt, was inkongruent 400 Beispielen, die unter eher spitzfindigen Kriterien in neun „atmosphäri- wirkt. Diese Interpretation verkennt, dass bereits die konservative Variante der sche Themenräume“ subsumiert werden, ähnelt sich nicht nur vieles, son- Neuen Sachlichkeit, der Magische Realismus, Ähnliches entwickelt hatte. dern da scheinen auch Vorbilder wie Max Ernst und Francis Picabia allzu deutlich durch. Das strapaziert die Aufnahmefähigkeit doch sehr, daran Peter Fischer, der von 2011 bis 2016 das Zentrum Paul Klee leitete, hat mit ändern auch die mit lockerer Hand eingestreuten Beispiele zeitgenössischer „Surrealismus Schweiz“ eine Fleißarbeit vorgelegt. Die Folge der Räume will Kunst nichts. Annette Hoffmann nicht enden, ebenso wenig die Namen der ausgestellten Künstlerinnen und Künstler, von denen heute viele – und manche nicht ganz zu Unrecht – ver- ■ Surrealismus Schweiz. gessen sind. Seit 1979 ist es die erste Schau in der Schweiz, die sich wieder Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz, Aarau. Dienstag bis Sonntag 10.00 bis mit dem Surrealismus befasst. Obgleich sie ganz auf die Schweiz fokussiert 17.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr. Bis 2. Januar 2019. ist, fällt auf, welch immense Bedeutung Paris für die Bewegung hatte. Es war ■ Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: die französische Hauptstadt, die Zusammenkünfte der Künstler, aber auch Snoeck Verlag, Köln 2018, 280 S., 48 Euro | 63,90 Franken. artline> Kunstmagazin 9
Review> Balthus, La Rue, 1933 (l.), © Balthus, Foto: © 2018, The Museum of Modern Art, New York / Scala, Florenz; Les Enfants Blanchard, 1937 (m.), © Balthus, Foto: RMN-Grand Palais / Mathieu Rabeau; Thérèse, 1938 (r.), © Balthus, Foto: The Metropolitan Museum of Art, New York / Art Resource / Scala, Florenz Eine Frage der Haltung Die Fondation Beyeler versucht sich an einer Balthus-Ausstellung ohne Skandalisierung Basel-Riehen – In der Fondation Beyeler wird man es mit Unbehagen betrach- Piero della Francesca und blieb immer Autodidakt. Keine der Figuren des Bildes tet haben als vor einem Jahr Forderungen an das New Yorker Metropolitan „Passage du Commerce-Saint-André“, das als Sujet eine lebhafte Straßenszene Museum of Art herangetragen wurden, Balthus‘ „Thérèse, träumend“ aus dem vorstellen könnte, nimmt aufeinander Bezug. Die mittige männliche Figur wendet Jahr 1938 abzuhängen. Das Bild ist geblieben und wurde jetzt nach Basel aus- dem Betrachter den Rücken zu, das Mädchen vorne hat eine nachdenkliche geliehen. In der schlicht „Balthus“ betitelten Ausstellung kann man sich nun Haltung eingenommen und rechts sitzt zusammengekauert auf dem Bordstein selbst eine Meinung bilden, ob die Diskussion über die vermeintliche Nähe des ein Männchen mit Halbglatze – vermutlich der Maler. Auch bei seinen erotisch Werkes zur Pädophilie eine Berechtigung hat. In der Fondation Beyeler, wo aufgeladenen Bildern, auf denen nackte Mädchen Kniestrümpfe und rote Pan- man zwei Jahre an der Schau gearbeitet hat, ist man jedenfalls vorbereitet. toffeln tragen, sind diese in seltsam unnatürlichen Haltungen dargestellt. Dieses Nicht nur ist man nach vorne gegangen: Thérèse – im wachen Zustand von Moment der affektierten Inszenierung prägt auch das „Portrait der Madame 1939 – findet sich auf den Plakaten, auf Merchandising-Produkten und selbst Georges Hilaire“ von 1935. Die erwachsene Frau steckt in einem Kindchensche- auf Taxis in Basel. Auch Postkarten liegen aus, auf die man Antworten auf die ma-Körper mit großem Kopf und schmaler Taille. Die Pose und die bedeutungs- Frage „Was fasziniert, irritiert oder überrascht Sie an Balthus‘ Bildern“ geben schwere Farbigkeit könnte dem Film abgeschaut sein. und an die Wand heften kann. Und sollte einem ein Unwohlsein befallen ange- sichts der träumenden Thérèse, der im Schlaf der Rock so weit hochrutscht, Überhaupt die Posen: Es fällt schwer, die Häufung von Mädchen, die auf allen dass man das Weiß ihres Schlüpfers sehen kann, derweil zu ihren Füßen ein Vieren auf dem Boden ein Buch lesen oder sich gar robbend durch den Raum Kätzchen Milch aus einer Schale schleckt, kann man sich an die Kunstvermitt- bewegen, nicht mindestens für schwülstig zu halten. Nur zur Erinnerung: Bal- lerinnen im Raum wenden. Nichts soll unausgesprochen bleiben. Nun ist nicht thus zeigt hier von Erwachsenen abhängige Kinder in unterwürfigen Haltungen. nur Papier, sondern auch die Leinwand geduldig – doch jeder Betrachtende Oft in seiner Karriere hat Balthus den Skandal eher forciert als vermieden. 1933 weiß angesichts der vielen aufgedeckten Missbrauchsfälle der letzten Zeit, dass etwa stellte er Antoinette de Watteville im offenen Negligé bei der Toilette dar, nicht jede Fantasie Fantasie bleiben muss. die Zofe hilft ihr mit den Haaren, links daneben sitzt das Alter Ego des Malers sinnierend. Antoinette de Watteville und Balthus, die vier Jahre später heiraten Ausschlaggebend für diese Ausstellung mit um die 40 Hauptwerken war das werden, sind in „La Toilette de Cathy“ durch den Plot von Emily Brontës Roman großformatige Bild „Passage du Commerce-Saint-André“, an dem Balthus „Sturmhöhe“ überformt – so wie Balthus bei vielen Bildern Anleihen bei der (1908-2001), der eigentlich Balthasar Klossowski hieß und schon früh den Ent- christlichen Ikonografie macht. Nichtsdestotrotz sind die Bilder dazu angetan, schluss fasste, Maler zu werden, von 1952 bis 1954 arbeitete. An „Passage du viele falsche Freunde zu haben. Annette Hoffmann Commerce-Saint-André“, das sich seit mehreren Jahren als Dauerleihgabe einer Privatsammlung in der Fondation Beyeler befindet, kann man ablesen, was die ■ Balthus. charakteristische Atmosphäre von Balthus‘ Bilder ausmacht. Bereits seine Fondation Beyeler, Baselstr. 101, Basel-Riehen. Montag bis Sonntag 10.00 bis ersten Bilder aus den späten 1920er Jahren zeigen eine Luftleere, wie man sie 18.00 Uhr, Mittwoch 10.00 bis 20.00 Uhr. Bis 1. Januar 2019. der Neuen Sachlichkeit kennt. Wie die Maler der Neuen Sachlichkeit war auch ■ Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: Balthus an der Frührenaissance interessiert, er kopierte in Italien Fresken von Hatje Cantz, Ostfildern 2018, 172 S., 58 Euro | ca. 82.90 Franken. 10 artline> Kunstmagazin
María Castellanos & Alberto Valverde, Symbiotic Interaction, 2017 (l.); Ursula Biemann, Acoustic Ocean, 2018, Videostill (o.); Baggenstos / Rudolf, Duckweed in Space, 2017 (r.), Courtesy the artists Moos als Interface Das Haus der elektronischen Künste Basel zeigt Medienkunst in Zeiten des ökologischen Wandels Basel – Anthropozän, das vom Menschen gemachte Zeitalter: Dieser sich lang- tene Daten in Bewegung umsetzen. Ähnlich funktionieren die Kleidungsstücke sam etablierende Begriff bezeichnet die neueste Epoche der Erdgeschichte, die von Maria Castellanos und Alberto Valverde mit eingebauten Pflanzen, die mit- vor rund 200 Jahren begonnen hat. Gemeint ist, dass der moderne Homo hilfe von Sensoren auf ihre Umwelt antworten – etwa mit einem Warnblinken. sapiens mit seinen zerstörerischen Aktivitäten so stark auf biologische, geologi- sche und atmosphärische Prozesse der Erde einwirkt, dass das noch in Hundert- Oft sind es die für uns nicht fassbaren Akteure der Natur, die sich durch neueste tausenden Jahren Folgen haben wird. Die Schlagwörter dazu sind bekannt: Kli- Technologie erst überhaupt darstellen lassen. Zum Vorschein kommen da ver- maerwärmung, Luftverschmutzung, Rohstoff-Raubbau, Plastik-Meer. borgene Phänomene, die unsere Sinne nicht wahrnehmen können: Bakterien etwa, die kleinste Mengen an Strom erzeugen, verursachen kurze Bildstörungen Das Wort Anthropozän kommt auch in der aktuellen Gruppenausstellung „Eco- in einem Video von Rasa Smite und Raitis Smits. Daneben verwandeln Marcus Visionaries“ im HeK vor – im Dreispitz, inmitten von Lagerhäusern, Ausfallstras- Maeder und Roman Zweifel den Wasserfluss in einer Fichte zu einer klingenden sen und Autohäusern. Gezeigt wird, wie die Medienkunst auf die ökologischen Komposition. Zu hören ist ein dunkles Rauschen, gelegentlich unterbrochen von Herausforderungen reagiert. Künstler und Künstlerinnen aus dem In- und Aus- einem harten Knacken – dann hat der Baum zu wenig Wasser und zeigt soge- land setzen dabei neue Technologien und Medien ein, um auf die Probleme auf- nannten Trockenstress an. Längere, eindrückliche Dokumentarvideos geben Ein- merksam zu machen und Menschen zu sensibilisieren. „Wir alle haben genug blicke in weitere Problemzonen der Erde; ins Leben von Albatrossen, die im nörd- Informationen und gesichertes Wissen über die ökologischen Bedrohungen. Die lichen Pazifik an herumtreibendem Plastikabfall verenden, in einem Video des Fil- Ausstellung möchte zum Nachdenken anregen, aber auch emotionale Zugänge memachers und Fotografen Chris Jordan. Und Ursula Biemann zeigt die Akustik zum Thema herstellen“, sagt HeK-Direktorin Sabine Himmelsbach, die die des Meeres in den Lofoten, erklärt von einer Samin als Vermittlerin. Viele Arbeiten Schau zusammen mit Karin Ohlenschläger und Yvonne Volkart kuratiert hat. Wir sind in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern entstanden und stützen sich damit sollten lernen, von den Heilsversprechen der Technik zulasten der Umwelt weg- selbst auf neue Technologien: auf verfeinerte digitale Messinstrumente, Sensoren zukommen. Viele Werke in der Ausstellung versuchen denn auch, mögliche und Mikroskope. Ohne Einsatz von Energie und Technik würde es die meisten Auswege anzudeuten. Ob schnell wachsende Wasserlinsen mit ihrem hohen Installationen wohl nicht geben – sie sind ein Teil dessen, was sie kritisieren. „Über Proteingehalt eine Lösung für die Nahrung der Zukunft oder eine alternative einen nachhaltigen Umgang mit der Natur müssen wir uns alle gemeinsam Energiequelle sein könnten, ist etwa eine Frage von Heidy Baggenstos und Gedanken machen“, sagt Sabine Himmelsbach. So wäre die Kunst eine Möglich- Andreas Rudolf, die sie in einer Installation stellen. Wasserlinsen hätten biologi- keit, Menschen anzusprechen, einzubinden und zu einem veränderten Verhalten sche Eigenschaften, die sie für die Reinigung von Gewässern interessant zu bewegen. Christoph Dieffenbacher machen, und können Schwermetalle aufnehmen, sagt das Künstlerduo. Ein eigenartiges Gefühl löst die Installation von Vanessa Lorenzo aus: Man berührt ■ Eco-Visionairies: Kunst, neue Medien und Ökologie nach dem Anthropozän. einen Teppich aus Moos, und dieser beginnt dank Sensoren, Klänge von sich HeK – Haus der elektronischen Künste, Freilager-Platz 9, Basel-Münchenstein. zu geben – das Moos als Interface. Aline Veillat fragt derweil in einem Gedan- Mittwoch bis Sonntag 12.00 bis 18.00 Uhr. Bis 11. November 2018. kenexperiment nach der Beweglichkeit von Pflanzen. Ihre Topfpflanzen sind www.hek.ch Roboter, die auf Geräusche, Licht und Lebewesen reagieren, indem sie erhal- Dieser Text erschien zuerst in der Basellandschaftlichen Zeitung. artline> Kunstmagazin 11
Review> Bernard Voïta, Jalouise III, 2017 (l.); Melencolia V (Barthélemy B.), 2014 (2.v.l.), Courtesy Galerie Bob van Orsouw, Zürich; Jalousie II, 2017 (o.l./m.); Display verso, 2018 (o.r.); Recto verso, 2018 (u.r.), Installationsansichten Kunstmuseum Solothurn, Courtesy the artist Nachts im Museum Bernard Voïta hat im Kunstmuseum Solothurn eine kurzweilige Schau über die Konstruktion von Wirklichkeit eingerichtet Solothurn – Die Arbeiten, die Bernard Voïta (*1960) derzeit im Kunstmuseum Übrig bleiben neben Schwarz und Weiß lediglich das Gelb von „Jalousie III”, das Solothurn zeigt, dürften auf dem Weg zum Aufbau in einem Sprinter Platz gefun- Rot der wie falsch programmierte Roboter in den Raum staksenden „Jalousien den haben. Dass sie jetzt dennoch sieben Säle füllen, erzählt viel über eine ihrer I” und „II” sowie das matte Braun des Kartons, aus dem der Künstler extrem zentralen Quallitäten: Sie sind wahre Raumwunder, dehnen sich aus, falten sich stabile Unterkonstruktionen für unentschieden zwischen Lampenschirm und auf, greifen nach dem Betrachter, und scheuen zugleich nicht den Rückzug, wie Pissoir-Modell changierende Skulpturen baut oder für leere, an Werbedisplays dieses kleine, gelbe Bildobjekt aus lackiertem Stahlblech, das in einem der letz- erinnernde Wandtafeln als minimalistische Urformen des Zeigens. Man fühlt sich ten Räume dieser Soloschau zusammengeklappt an der Wand schläft. Es heißt wie in einer digital bearbeiteten Version der Wirklichkeit. Eingefasst wird die „Jalousie III”, doch bis zur Finissage wird es – anderes als seine drei großforma- Schau von drei knapp unter der Decke hängenden Collagen aus fotografierten tigen Pendants in Rot und Grau nebenan – nicht mehr geöffnet werden. Es darf Kamerateilen, die sich zu schrägen Gehäusen fügen. Was aussieht wie eine DIY- jenes Bild bleiben, als das Bernard Voïta es für diese Wand vorgesehen hatte. Parodie der Überwachungstechnik, erzählt zugleich von Voïtas Faible für das Spiel mit unterschiedlichen Realitätsebenen. Schon zu Beginn seiner Karriere Tatsächlich war der Künstler im Frühjahr schon einmal hier und hatte die Umris- experimentierte der Welschschweizer, der seit 1989 in Brüssel lebt, mit fotogra- se von „Jalousie III” mit einem Projektor an die Wand geworfen, wie auch die fischer Unschärfe, Licht und Schatten und baute aus einfachsten Atelierutensilien aller anderen Arbeiten. Nachts war er dann mit der Kamera durch das Haus vor der Kamera imaginäre Stadtlandschaften. Einen guten Eindruck von der gestreift, hatte die Probehängung fotografiert und die Aufnahmen in den Suggestivkraft dieser frühen Arbeiten gibt die winzigformatige Serie „White Gar- Wochen danach zu einem schwarz-weißen Parcours arrangiert, der sich nun den” (1997), die zugleich eine Fährte zu der großen Werkgruppe „Melencolia” sowohl im Katalog als gut 60-seitige Bildstrecke wiederfindet als auch ausgefal- von 2014 legt. Auch diese Materialinszenierungen entstanden allein für den tet in einer langen Vitrine im zweiten Saal. Die Idee, den Katalog vor Aufbau der Moment der Aufnahme. Voïta arrangierte dafür Gegenstände wie Lampen, eigentlichen Ausstellung als Modellskizze zu fotografieren, nachts im Museum Aktenordner oder Diaprojektoren zu kleinteiligen Raumansichten, die er abfoto- statt tagsüber bei Sonnenlicht, gewissermaßen als geträumter Vorausschatten grafierte und die dank präzise kalkulierter Licht- und Schatteneffekte nun bestän- eines kommenden Ereignisses, passt gut zum Ausstellungstitel „Recto verso”. dig zwischen Raum und Fläche, Gegenständlichkeit und geometrischer Abstrak- Und auch ansonsten steht hier vieles Kopf. So hat Voïta gleich im Entrée zu sei- tion kippen. Eine faltbare Skulptur aus lackierten Stahlblechen, die im letzten ner Schau die Neonröhren von der Decke geholt und spiegelverkehrt am Boden Raum durch den Saal mäandert, beschließt die kurzweilige Schau mit einer montiert, so dass der Raum nun von unten erleuchtet wird und man das Gefühl schönen Metapher auf die Unendlichkeit der Möglichkeiten und Wirkungen nicht los wird, sich ins Innere einer Lochkamera verirrt zu haben. Tritt man aus räumlicher Inszenierung. Dietrich Roeschmann dieser seltsam bodenlichtdurchfluteten Dunkelheit dann in den nächsten Saal, empfangen einen Voïtas Arbeiten in einer reduzierten Farbpalette, die auf den ■ Bernard Voita: recto verso. ersten Blick als optische Täuschung infolge des starken Hell-Dunkel-Kontrasts Kunstmuseum Solothurn, Solothurn. Dienstag bis Freitag 11.00 bis 17.00 Uhr, durchgehen könnte, tatsächlich aber ganz real ist: Voïta entzieht seinen Objek- Samstag und Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr. Bis 21. Oktober 2018. ten und Fotografien, die er streng nach Regeln der Spiegelung und der Achsen- ■ Zur Ausstellung ist eine Publikation erschienen: Verlag für moderne Kunst, symmetrie im neoklassizistischen Museumsbau verteilt hat, die Farben. Nürnberg 2018, 192 S., 35 Euro | ca. 57.90 Franken. 12 artline> Kunstmagazin
Nina Canell, Brief Syllable (Skewed), 2018 (l.); Mid Sentence (mit Robin Watkins), 2018 (o.l.); Thins (o.m./r.); Energy Budget (mit Robin Watkins), 2018, Videostill (r.), Courtesy Galerie Barbara Wien, Daniel Marzona und Mendes Wood, Installationsansichten Kunstmuseum St. Gallen, Fotos: Sebastian Stadler Tigernacktschnecke im elektrischen Schaltwerk Nina Canell spürt im Kunstmuseum St. Gallen dem formalen Potenzial von technischen Materialien nach St. Gallen – Daten fließen inzwischen überall und jederzeit. Sie fließen unbemerkt rasch die Form dahin. Die Überreste von Kunststoffummantelungen lassen und unablässig. Erst, wenn der Datenstrom zufällig oder per technischer Kompli- sich zu unansehnlichen Haufen türmen, lassen sich verkneten, verbiegen und kation unterbrochen ist, wenn die Zuganzeige ausfällt, das Mobilfunknetz überlas- zu gnomenhaften Wesen verschlingen. Nina Canell präsentiert diese Varian- tet oder nicht mehr vorhanden ist, sich die Fotos im Internet nicht hochladen las- ten unter den Titel „Shedding Sheats“ konsequenterweise wie zuvor das sen, dringt ins Bewusstsein, dass es sonst eigentlich funktioniert. Warum es das Unterseekabel auf dem Boden der Ausstellungssäle. Aber anders als das sin- aber tut, wie die Technik im Hintergrund wirkt und aussieht, bleibt dennoch ver- gulär und ausgewogen platzierte „Brief Syllable (Skewed)” wirken sie wie borgen. Dabei lohnte sich ein Augenschein. Den ermöglicht jetzt Nina Canell im achtlos hingeworfen: ausgediente Materialreste eben, selbst im Kunstkontext Kunstmuseum St. Gallen. Die 1979 in Schweden geborene und in Berlin lebende beliebig geworden. Künstlerin erforscht das formale Potential technischer Materialien und deckt ungeahnte Verwandtschaften auf. Sie verwendet die originalen Materialien, aller- Kontraste inszeniert Canell aber nicht nur zwischen unterschiedlichen Wer- dings erst dann, wenn sie ihren Dienst getan haben und nur noch als Recycling- ken, sondern auch innerhalb ein und derselben Arbeit. Die Ausstellung zeigt material zur Verfügung stehen. Ästhetisch ansprechend sind sie dennoch, zumin- mehrere eindrückliche Beispiele dafür. So besteht die vierteilige Wandarbeit dest im Falle des Überseekabels. Es ist als „Brief Syllable (Skewed)” im Oberge- „Gum Shelves” aus Mastix, dem Baumharz der Wilden Pistazie. Es wurde auf schoss des Kunstmuseums auf den Steinfliesen des Foyers überaus prominent rechteckige Stahlträger in ebenfalls rechteckigen Blöcken gelegt und fließt platziert. Inmitten der prachtvollen, neoklassizistischen Raumgestaltung und seither der Schwerkraft ergeben dem Boden entgegen. Formlos, hautfarben, -ausstattung ruht es mit größter Selbstverständlichkeit und gibt sein Innenleben unbeschreiblich zäh und in wirkungsvollem Gegensatz zur exakten Gestalt preis. Leuchtend gelber Kunststoff umhüllt ein ausgeklügeltes System aus Metall- der Stahlträger. Lässt sich ein solcher Kontrast noch steigern? Er lässt sich, streben, schwarzen Gummi, Textil und in Blau und Rot gefassten kleinen kupfer- und wie: Wenn eine Tigernacktschnecke in ein elektrisches Schalterwerk nen Drähten. Kein Kubikzentimeter ist verschenkt, nichts ist überflüssig oder an gesetzt wird, dort langsam, schleimig über Tasten und Relais kriecht, dann der falschen Stelle. Canell ist so begeistert von dieser perfekten, aus der Funktion sind alle Kategorien von Schönheit und Technik, von Funktion und Überfluss geborenen Form, dass sie dieser eine ganze Serie widmet: Die Blätter „Mid Sen- auf den Kopf gestellt. Canells Videoarbeit „Energy Budget” lässt es jedoch tence” basieren auf technischen Zeichnungen von grafischen Labeldiagrammen nicht dabei bewenden, sondern zoomt auch noch in Hong Kong über die und zeigen einmal mehr die perfekte Anlage der Kabelkonstruktionen im Quer- Wolkenkratzer mit Drachenflugschneisen – eine geistreich gesetzte Parallele schnitt. Sie werden im Kunstmuseum im letzten Saal des Rundganges präsentiert zur Schnecke im Schaltwerk: Dort, wo die Technik dominiert, ist auch ihr und so rahmen letztlich das Originalkabel im Foyer und die den Originalzeichnun- Ende nicht weit. Kristin Schmidt gen entlehnten Bilder die gesamte Ausstellung. In dieser geht es dann durchaus auch anders zu als nur wohlgeordnet. ■ Nina Canell: Reflexologies. Kunstmuseum St. Gallen, Museumstr. 32, St. Gallen. Nina Canell lässt Materialien mit augenscheinlichem Vergnügen zerfließen, Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Mittwoch 10.00 bis 20.00 Uhr. verschmelzen, zusammensacken. Sind beispielsweise die Kabel im Laufe des Bis 25. November 2018. Recyclingprozesses erst einmal ihres metallenen Kerns entledigt, ist auch www.kunstmuseumsg.ch artline> Kunstmagazin 13
Review> ̈rg Immendorff, Fu Jo ̈r alle Lieben in der Welt, 1966 (l.), Sta ̈dtische Galerie Karlsruhe; Café Deutschland I, 1978 (m.); Die Lidlstadt nimmt Gestalt an, 1968 (o..r.); Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?, 1973 (r.), alle © Estate of Jörg Immendorff, Courtesy Galerie Michael Werner Ma ̈rkisch Wilmersdorf, Ko ̈ln & New York Kunst aus dem Geist der Einmischung Das Münchner Haus der Kunst richtet dem 2007 verstorbenen Jörg Immendorff die erste große Retrospektive aus München – Wer das Haus der Kunst betritt und die monumentalen Säulen an entschlossenem Blick und entschiedener Geste einem Maler den Weg aus dem der Südfassade des neoklassizistischen Baus passiert, wird unweigerlich an die Atelier nach draußen zum Klassenkampf auf die Straße. Entstehungszeit dieses Gebäudes erinnert, das Adolf Hitler persönlich als Haus der Deutschen Kunst 1933 in Auftrag gegeben hatte. Dass ausgerechnet in die- Ab 1978 entstand Immendorffs 19-teiliger Zyklus „Café Deutschland”, zu dem ihn sen Räumen nun die erste große Ausstellung von Jörg Immendorff (1945-2007) Renato Guttusos „Caffè Greco” (1976) inspiriert hatte. Nach Guttuso entwirft gezeigt wird, ist bedeutend, gilt Immendorff doch als einer der wichtigsten deut- Immendorff auf monumentalen Formaten überbordende Interieurszenen, in schen Maler der Nachkriegszeit. Etwa 200 Arbeiten aus über vier Jahrzehnten denen er sich umgeben von Intellektuellen und Politikern aus beiden Teilen geben einen umfassenden Überblick auf sein Lebenswerk. Deutschlands in Cafés und Bars inszeniert. Seine Kritik an der deutschen Nach- kriegspolitik ist unmissverständlich. Immer wieder tauchen in diesen energiegela- Der Rundgang ist nur grob chronologisch angelegt, oft gibt es zeitliche Sprünge denen Bildern explizite Symbole wie Adler, Hakenkreuz, Deutschlandfahne, aber zugunsten einer thematischen Gruppierung der Arbeiten. Den Auftakt machen auch Teile der Mauer sowie Hammer und Zirkel auf. Fortan verschreibt sich frühe Arbeiten aus den 1960er Jahren. Als Student von Joseph Beuys an der Immendorff ganz der Kunst. Sein Geburtsort Bleckede in Niedersachsen war in Düsseldorfer Kunstakademie reagierte Immendorff mit Happenings und Aktionen einen Ost- und einen Westteil gespalten. Die deutsche Teilung betraf ihn somit auf das politisch aufgeheizte Klima dieser Jahre. Mit seiner damaligen Lebensge- auch ganz persönlich und wurde Gegenstand vieler Bilder und Skulpturen. Für fährtin Chris Reinecke entwickelte er das nach einem dadaistischen Kunstwort die documenta 7 schuf er eine monumentale bemalte Bronzeskulptur mit dem benannte LIDL-Projekt. Kleinformatige Kreidezeichnungen auf Holzplatten doku- Titel „Naht (Brandenburger Tor – Weltfrage)“: Sinnbild für die Grenze zwischen mentieren die Entwürfe einer LIDL-Stadt und einer LIDL-Akademie. Mit anti-auto- BRD und DDR und zugleich, wie auch die „Café Deutschland”-Bilder, retrospektiv ritären Utopien wollte LIDL das politische Establishment provozieren. betrachtet eine erträumte Vorwegnahme der Wiedervereinigung. Der Rauswurf aus der Akademie 1969 steigerte Immendorffs politisches Enga- Der Titel der Ausstellung „Für alle Lieben in der Welt“, einer frühen Werkserie ent- gement. Er wurde in der KPD aktiv und Kunstlehrer an einer Hauptschule. In den nommen, die pausbäckige, comicartig überzeichnete Babys verschiedener Haut- Arbeiten aus dieser Zeit stehen Bild und Text gleichwertig nebeneinander. Städ- farben als friedensstiftende Antwort auf den Vietnamkrieg zeigt, mag zunächst tebilder von Frankfurt und Köln etwa dokumentieren und kommentieren Demon- fehlleitend wirken, lenkt aber auch den Fokus auf eine fragile und zarte Seite, die strationen gegen den Vietnamkrieg. Seine Rolle als Pädagoge reflektierte in seinem Spätwerk deutlicher hervortritt. Trotz der ALS-Erkrankung arbeitet Immendorff in Bildern, die exemplarische Szenen aus dem Schulleben und sein Immendorff bis zuletzt, immer im Glauben an die Kunst als intellektuelles Grund- Bestreben nach gemeinschaftlich gestaltetem Unterricht zeigen. Kunst und Poli- bedürfnis. Für sich selbst wie für seine Betrachter. Eine Arbeit von 1988 trägt den tik waren ihm in dieser Zeit gleichwertige und gleich wichtige Interessen. Dabei Titel: „Das Bild muss die Funktion der Kartoffel übernehmen“. Jolanda Bozetti stellte er explizite Fragen nach der gesellschaftlichen Verantwortung des Künst- lers wie in dem bekannten Bild: „Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?“ von ■ Jörg Immendorf: Für alle Lieben in der Welt. 1973. In einem Realismus, der an Propagandabilder der Ostblockstaaten erin- Haus der Kunst, Prinzregentenstr. 1. München. Montag bis Sonntag 10.00 bis nert, ist er selbst zentral platziert und weist breitbeinig, mit brauner Lederjacke, 20.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 22.00 Uhr. Bis 27. Januar 2019. 14 artline> Kunstmagazin
Amy Lien & Enzo Camacho, 260 South Street, NYC, NY 10002, 2018 (l./m.); Shady Mansion, 2018 (r.), Ausstellungsansicht 1. Obergeschoss Kunstverein Freiburg, Courtesy the artists, Fotos: Marc Doradzillo Die Hölle der Gentrifizierung Amy Lien & Enzo Camacho thematiseren mit ihrer Instalaltion „Shady Mansion” im Kunstverein Freiburg die Ökonomisierung des Sozialen Freiburg – Um es vorwegzunehmen: Wenn es einer Ausstellung gelingen kann, Bewohnern skizzieren. Eine schwarze Plastiktüte vor in Folie verpacktem Draht- eine magische Parallelwelt zu kreieren, die sehr reale und überaus komplexe gitter, die hier zwischen den Ästen schwebt, spielt so etwa auf die Verschattung Zusammenhänge von Ökonomie, Ökologie, Politik und Klassengesellschaft von Solaranlagen in ärmeren Gegenden Chinatowns durch den am Fuß der ebenso poetisch wie kritisch reflektiert, dann haben Amy Lien (*1987) und Enzo Brooklyn Bridge in den Himmel ragenden Luxusappartment-Block One Manhat- Camacho (*1985) im Kunstverein Freiburg ganze Arbeit geleistet. Sechs Wochen tan Square an. Der gerade fertig gestellte 260-Meter-Turm ist eines von fünf mil- verbrachte das Künstler-Duo, das zwischen New York, Manila und Berlin pendelt, liardenschweren Wohnbauprojekten, das Gentrifizierungsgegner in der Lower für den Aufbau seiner Schau in Freiburg. Das Ergebnis trägt den Titel „Shady East Side derzeit auf die Straße bringt. Liebevoll aus Materialresten nachgebaut, Mansion” – im Chinesischen eine Bezeichnung für die Hölle. Der Abgrund, den krönt je ein Modell dieser Hochhäuser die Bäume wie ein funkelnder Kristall. Lien und Camacho meinen, ist die Dystopie der urbanen Gesellschaft in einer von Die eigentliche Energiequelle dieser aufwendig recherchierten, detailreichen und Gewinnerwartungen aggressiver Investoren gesteuerten Zukunft der Stadtent- wunderbar verspielten Installation über die Ökonomisierung sozialer Räume befin- wicklung. Ausgangspunkt ihrer Installation ist ein Projekt des Architekten Dan det sich auf der Galerie. Scheinwerfer mit mehreren Tausend Watt strahlen hier Barasch, der in einer stillgelegten Subway-Station in Manhattans Lower East Side an die mit Spiegelfolie verkleidete Decke und tauchen den niedrigen Raum in glei- den ersten Untergrundpark der Welt bauen will, samt pflanzentauglicher, per ßendes Licht. Den Abglanz wiederum fangen fünf aus Regenschirmen konstru- Parabolspiegel, Glasfaserkabel und komplexer Streutechnik umgeleiteter Tages- ierte Hohlspiegel auf, die das gebündelte Restlicht durch Pappröhren in die dar- lichtführung. Als Pendant zur High Line, dem 2009 eröffneten Park auf einer ehe- unter liegende Ausstellungshalle rieseln lassen. Hautnah zu erleben ist hier der maligen Hochbahntrasse im Westen der Stadt, dürfte auch die „Lowline”, sollte sie technische und energetische Aufwand, der notwendig ist, um einen geschlosse- je realisiert werden, erheblich zur Gentrifizierung der angrenzenden Viertel und zur nen Raum wie die Lowline allein durch Ablicht zu erhellen. Dass neben den Verdrängung der mehrheitlich einkommensschwachen Bevölkerung beitragen. Scheinwerfern in Säcken und Kisten zudem der gesamte Müll lagert, der beim Aufbau der Schau anfiel, verwandelt dieses Setting hinter den Kulissen gewisser- Im Freiburger Kunstverein haben Amy Lien und Enzo Camacho ihre eigene Inter- maßen in ein begehbares Modell ihrer Ökobilanz. Genau das macht „Shady Man- pretation dieses Parks gebaut und dafür kurzerhand eine neue Decke aus sion” so großartig: Lien und Camacho versuchen nicht, die Komplexität ökono- schwarzer Folie eingezogen, die den Saal nun von der darüberliegenden Galerie mischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge auf eine griffige Formel zu brin- trennt und komplett abdunkelt. Auch der gedämpfte Raumklang nährt die Illusion, gen, sondern übersetzen sie in kaum weniger komplexe poetische Szenarien, die man befinde sich tatsächlich tief unter der Erde. Eine Ahnung von fahlem Licht fällt darauf zielen, reale politische Prozesse anzustoßen. So ist es kein Zufall, dass ihre hier lediglich durch fünf Löcher aus der Decke, in den Raum gespiegelt von mit Ausstellung Ende September die Bühne für ein Symposium war, das die konkur- Silberfolie beklebten Sonnenschirmen, unter denen sich je eine Baumskulptur gut rierenden Ansprüche von Entwicklung, Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit vier Meter in die Höhe reckt. Angelehnt an die Form von Geldbäumen chinesi- in der „Green City” Freiburg zum Thema hatte. Dietrich Roeschmann scher Totenkulte bilden die Äste jeder Skulptur vier Rahmen, in denen Lien & Camacho mit gefundenen Materialien wie Draht, Scherben oder Zweigen und ■ Amy Lien & Enzo Camacho: Shady Mansion. Gräsern aus dem Schwarzwald Werbefotos aus Prospekten New Yorker Immo- Kunstverein Freiburg, Dreisamstr. 21, Freiburg. Dienstag bis Sonntag 12.00 bilienentwickler nachstellen oder Interessenskonflikte zwischen Investoren und bis 18.00 Uhr, Mittwoch 12.00 bis 20.00 Uhr. Bis 28. Oktober 2018. artline> Kunstmagazin 15
Shortcuts> Klodin Erb, Monkey see, Monkey do (l.); J’adore with joy (r.), beide 2018, Courtesy the artist, Foto: Viktor Kolibàl Carla Lavin, Bodies of the Anthropocene, 2017, Installationsansicht E-Werk Klodin Erb dersetzung mit dem Religiösen fort, deren Anlass Material Gestures für diese Ausstellung nicht zuletzt Jean Tinguelys Helvetia Art Foyer, Basel „Cenodoxux Isenheimer Altar“ ist, der dauerhaft Galerie für Gegenwartskunst, E-Werk Freiburg im Foyer installiert ist. Erb bezieht sich dabei nicht allein auf das Christentum und die anderen Welt- Der Titel der aktuellen Einzelschau von Klodin Erb religionen, sie bindet auch die Versuchungen der Mit dem Material ist es so eine Sache. Es kann (* 1963) im Helvetia Art Foyer klingt wie ein Seuf- Waren- und Werbewelt mit ein, denen sie Anlass größter sinnlicher Freuden sein, doch zer: „Ein langer Tag“. Tatsächlich ist niemand zu dadurch einen quasi religiösen Status zubilligt. Im manchmal nervt es einfach nur. Mit seinem Video sehen, der ihn ausgestoßen haben könnte. In Sinne der Selbstoptimierung. „Long-distance“ hat William Cobbing (*1974) so Erbs gleichnamiger Videoarbeit zieht eine para- etwas wie eine Allegorie auf den Ton geschaffen, diesische, einsame, gemalte Landschaft an unse- Indem Klodin Erb das Medium der Billboards auf- mit dem der Londoner arbeitet. Zwei blinde Hände rem Auge vorbei. Das Licht vollzieht die Verände- greift, öffnet sich ihr ein ganzes Arsenal an Gestal- greifen lustvoll in den Ton und kneten den Steg, der rungen nach, die sich im Laufe eines Tages erge- tungs- und Bildelementen. Ganz selbstverständ- zwei klobige, grob geformte Köpfe miteinander ver- ben. Es wird dunkler und irgendwann wieder lich gehören die Typografie und Slogans dazu. bindet. Immer wieder. Darunter verbergen sich der heller. „Ein langer Tag“ geht auf Erbs Einzelaus- Ihre Bilder reflektieren auch die oft so absurde Künstler und seine Assistentin. Das Paar ist in einer stellung im Kunsthaus Pasquart in Biel / Bienne Kombinatorik der Werbeindustrie. Doch auch das nicht enden wollenden Annäherung auf Distanz zurück, wo sie Anfang des Jahres in einer langen Referenzsystem Kunst ist noch fruchtbar, das sie gehalten. Ton kann manchmal eben auch ein wirk- Vitrine Landschaftsbilder aneinanderreihte und sowohl formal als auch inhaltlich zitiert. licher Widerstand sein. diese danach abfilmte. Die Schnitte zwischen den Bildern gehen auf die aufeinanderstoßenden Darüber hinaus finden sich Anleihen aus der Film- Dass das Material derzeit verstärkt Thema der Glasplatten zurück, denn hier ist alles analog. geschichte wie „Der blaue Engel“ oder „Casa- Kunst ist, nachdem unser Alltag immer virtueller blanca“, aber auch der Werbespruch einer wird, ist sich Heidi Brunnschweiler sicher. Es ist der Doch Klodin Erbs Ausstellung „Ein langer Tag“ Online-Datingplattform. Das Bild, das sich Grundgedanke der von ihr kuratierten Ausstellung befasst sich auf grundsätzliche Weise mit dem dadurch von unserer Gegenwart ergibt, erzählt „Material Gestures. Material und Materialität in der Bild und die Zürcher Malerin gehört bekanntlich von einer manieristischen Zeit und von einer tief Gegenwartskunst“, die in der Galerie für Gegen- zu jenen, die das Medium selbst für eine solche sitzenden Angst. Wer hätte gedacht, dass man wartskunst im Freiburger E-Werk zu sehen ist. Nicht Auseinandersetzung herbeizitiert. Ihre neue Billboards ein derart komplexes Bildsystem ein- nur bei William Cobbing meint Material Ton. Die Werkgruppe der „Billboards“ ist ein wilder Motiv- hauchen kann. Annette Hoffmann Gruppenschau bezieht den Freiburger Künstler Ste- mix, der sich auch auf den verschiedenen Ebenen phan Hasslinger (*1960) ein, der seit Jahren daran von Popkultur und weniger Profanem bedient. In ■ Bis 4. Oktober 2018. arbeitet, der Keramik die Schwere auszutreiben, den „Billboards“ führt Klodin Erb eine Auseinan- www.helvetia.ch/kunst indem er textile Strukturen, Spitze und Muster 16 artline> Kunstmagazin
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