EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE - EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Impressum Europas industrielles Erbe – eine internationale Erfolgsstory Diese Broschüre ist eine Publikation von ERIH, dem touristischen Informationsnetzwerk zum industriellen Erbe in Europa Text Dr. Barrie Trinder, Olney, Buckinghamshire, GB www.trinderhistory.co.uk Textübersetzung in die deutsche Sprache Lorenz Töpperwien, Köln, D www.tt-textteam.de Redaktion Rainer Klenner, Kaarst, D Layout Volker Pecher, Essen, D Fotos Soweit nicht bei der jeweiligen Bildunterschrift anders angegeben, wurden die Fotos von den vorgestellten Standorten, von Tourismusorganisationen oder von den Fotografen des ERIH e. V. mit freundlicher Genehmigung zur Verwendung zur Verfügung gestellt Copyright Alle Rechte vorbehalten. Nachdrucke, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Film, Funk und Fernsehen, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssystem jeglicher Art, nur mit vorherigen schriftlichen Einwilligung des ERIH e. V.: ERIH - Europäische Route der Industriekultur e. V. Geschäftsstelle concept & beratung Christiane Baum Am Striebruch 42, 40668 Meerbusch, Deutschland Tel +49-2150-756496 Fax +49-2150-756497 Email info@erih.net www.erih.net Presserechtlich verantwortlich Prof. Dr. Meinrad Maria Grewenig, Präsident ERIH e. V., Weltkulturerbe Völklinger Hütte Die Erstellung dieser Broschüre ist durch das Förderprogramm „Kreatives Europa“ der Europäischen Union unterstützt worden 1. Auflage 2017 © ERIH – European Route of Industrial Heritage e. V.
Inhalt 05 Europas industrielles Erbe – eine internationale Erfolgsstory: Einleitung 06 Wie Europa sich seines industriellen Erbes bewusst wird 08 Europa in vorindustrieller Zeit 10 Kleine Schiffe, große Distanzen: Der internationale Handel 12 Die Schätze unserer Erde 14 Traditionsreiche Industriezweige 16 Weißes Gold: Salz 18 Kohle & Dampf: Die Industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts 20 Veränderungen seit 1870 22 Schwarzes Gold: Der Aufstieg des Kohlebergbaus 24 Die Kohle triumphiert 26 Reichtum der Metalle 28 Das Glühen der Öfen und Schmiedefeuer: Eisenverarbeitung 30 Textilien: Die Arbeitsabläufe 32 Gewebte Magie: Seide 34 Vielfalt der Stoffe 40 Werkstätten der Welt: Maschinenbau 42 Schiffe für den Welthandel 44 Das Öl und der Kraftwagen 46 Aus den Tiefen dunkler Wälder 48 Unser Essen & Trinken 50 Luxus & Alltag: Keramik & Glas 52 Sicherer Hafen 54 Binnenschifffahrt 56 Der Fortschritt kommt auf eisernen Schienen 58 Fernstraßen 60 Flugmaschinen 62 Blaues Gold: Wasser – Wie Städte bewohnbar werden 64 Das Leben in Städten 66 Industrielles Erbe 68 Unser Platz in der Geschichte 70 Betrachtungen Zuordnung der Bildunterschriften: von links nach rechts und von oben nach unten ERIH-Ankerpunkt
Europas industrielles Erbe – eine internationale Erfolgsstory Einleitung Die Industrialisierung war von Anfang an ein grenzüberschreitendes Ereignis, keine nationale Entwicklung. Neue Technologien und Produktionsformen verbreiteten sich in Europa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in großem Tempo über Landes- und Kulturgrenzen hinweg. Fabri- kanten errichteten ihre Werkshallen in verschiedenen Ländern, Legionen von Arbeitskräften machten sich auf den Weg in die aufstrebenden Industrieregionen. In ganz Europa erkämpf- ten Gewerkschaften nach und nach die Errungenschaften des europäischen Sozialstaats. Die Basis unseres modernen Europas mit seinem hohen Wohlstand und den hohen sozialen und medizinischen Versorgungsstandards wurde gelegt. Jedes Industriedenkmal, jede Stadt, jede Arbeitersiedlung war und ist Teil dieser zunächst europäischen und später weltweiten Entwicklung. Nur erfährt der Besucher heute meist nichts davon. Das eng miteinander verflochtene Netzwerk europäischer Industrieregionen, die sich gegenseitig befruchten und verstärken – für die Mehrzahl heutiger Industriekultur-Stand- orte ist das bisher kein Thema. Das muss sich ändern. Das ERIH-Netzwerk macht die europäischen Zusammenhänge der Industrialisierung sichtbar und bietet damit gemeinsame europäische Geschichte zum Anfas- sen. An über 1.500 Standorten in allen europäischen Ländern erleben Besucher die ganze Vielfalt, die sich hinter dem Begriff Industriekultur verbirgt. 100 Ankerpunkte, 20 regionale Routen und 13 Themenrouten fügen das europäische Erbe der Industrialisierung wie in einem Mosaikbild zusammen. Ziel ist es, dass in Zukunft jeder einzelne ERIH-Standort verstärkt dieses Mosaikbild aufgreift und seinen Besuchern eine Vorstellung von den vielfältigen europäischen Verflechtungen vermittelt. Unterstützung erhält ERIH dabei vom Europäischen Förderprogramm „Creative Europe“. Als anerkanntes Netzwerk für Industriekultur in Europa wird ERIH seit 2014 gefördert. Im Rahmen dieser Netzwerkförderung ist auch die vorliegende Broschüre entstanden. Sie soll ERIH-Standorten einen ersten Anstoß dafür geben, wie sie die europäischen Zusammen- hänge aufzeigen und erklären können. Ähnlich den ERIH-Themenrouten skizziert sie die Ge- schichte der einzelnen Industriezweige als spannendes europäisches Schauspiel. Dabei kann und will sie nicht alle Bereiche abdecken. Vielmehr will sie dazu anregen, sich detaillierter mit der internationalen Seite der europäischen Industriekultur zu beschäftigen, um dadurch auch Impulse für die museale Umsetzung im eigenen Haus zu vermitteln. Der Zeitpunkt ist günstig: Die EU hat das Jahr 2018 zum Europäischen Kulturerbejahr ausgerufen. Im Blickpunkt steht das Verbindende der gemeinsamen kulturellen Wurzeln und zugleich die kulturelle Vielfalt des Kontinents. In der europäischen Industriekultur, dem spezi- fischen kulturellen Erbe eines Europas der Regionen, fließt beides beispielhaft zusammen. Die Broschüre ist eine erste Annäherung an das umfangreiche Thema. Wir freuen uns über Ergänzungen und Ideen, um diese spannende Geschichte fortzuschreiben.
Wie Europa sich seines industriellen Erbes bewusst wird der Industriegeschichte für die Nach- welt zu erhalten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die gestiegene Popularität der industriellen Hinterlassenschaften einer international gesunkenen Bedeu- tung Europas im Hinblick auf Bergbau und produzierendes Gewerbe gegen- übersteht. Die Industrie hat sehr alte Wurzeln, trat ihren Siegeszug in den meisten europäischen Ländern jedoch erst im 18. Jahrhundert an. Im frühen 21. Jahrhundert erleben wir die Schlie- ßung der letzten Steinkohlezechen in Westeuropa, und die gewaltigen Maschinen, die noch vor kurzem zum Abbau von Braunkohle Verwendung fanden, sind rasch überflüssig gewor- den. Gezählt sind die Tage von riesigen Werksanlagen, die scheinbar für die Ewigkeit geschaffen waren, von Eisen- hütten, Ölraffinerien und Autofabriken. Selbst Standorte und Maschinen, die scheinbar charakteristisch für das späte 20. Jahrhundert waren, gehören nun zum alten Eisen. Ungarn besitzt ein Museum für Nuklearenergie, und Museen in Frankreich und Großbritan- nien zeigen Concorde-Überschallflug- Im letzten halben Jahrhundert gibt es aristokratischen Villen, historischen zeuge. Da den Industriegesellschaften für Familienausflüge und Bildungsreisen Stadtkernen und faszinierenden Land- unterschiedliche Entwicklungswege ganz neue Ziele. Prächtigen Paläste schaften als ein besonderes Erlebnis, offenstehen, greifen sie bei der Suche mit ihren Sammlungen alter Meister das viele Menschen suchen. nach neuen Wachstumszielen gern auf und feiner Möbel, elegante Parks und Den Erhalt stillgelegter Fabrikgebäu- das Erbe der Vergangenheit zurück. Die Bergwasserfälle bekommen zunehmend de und die Gründung von Industrie- Europäische Route der Industriekultur Konkurrenz durch Besucherbergwerke, museen unterstützen und betreiben will dazu beitragen, die bisherigen Er- Dampfeisenbahnen, Ausflugsboote viele: ehemalige Werksangestellte, na- fahrungen in Bergbau und industrieller auf Kanälen, funktionstüchtige Was- tionale, regionale und lokale Behörden, Produktion zu teilen und Herstellungs- ser- und Windmühlen sowie ehemalige Entscheidungsträger aller politischen prozesse und Transportwege der jünge- Textilfabriken als Veranstaltungsorte Schattierungen, traditionsbewusste ren Jahrhunderte zu veranschaulichen. für Konzerte oder Ausstellungen. Das Unternehmen, vor allem aber zahlreiche Die ERIH-Website bietet praktische industrielle Erbe ist kein Nischenmarkt bürgerschaftliche Initiativen und Ver- Unterstützung für Reisende. Überdies mehr, sondern tritt in Wettbewerb mit eine, denen es wichtig ist, Zeugnisse ermöglicht sie es ihren Lesern, selbst 06 | 07 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Zeuge eines Feuerwerks in der Ei- senhütte von Merthyr in Süd-Wales. Friedrich Engels (1820–95) und Alexis de Tocqueville (1805–59) verfassen die mittlerweile klassischen Berichte über „Klein-Irland“, damals die schlimmsten Slums von Manchester, und Thomas C. Banfield beschreibt 1848 ausführlich die Landwirtschaft und die Manufaktu- ren an den Ufern des Rheins. die entferntesten Regionen Europas Sturm auf die Bastille erfährt er, als er virtuell zu erforschen. Besucher der Straßburg erreicht) und prägt mit dem Website folgen den Spuren von Reisen- Motto „Dinge sind so viel aussagekräf- den, deren Texte uns die industrielle tiger als Worte“ eine archäologische Essen (D) Vergangenheit unmittelbar erschließen. Binsenweisheit. Karl Friedrich Schinkel Welterbe Kokerei Zollverein, Der Schwede Reinhold Rücker Anger- (1781–1841), der große preußische Illumination stein (1718–60) etwa, der 1753–55 Architekt, berichtet 1826 aufgeregt Le Bourget (F) England besucht, liefert die faszinie- von seinem Besuch der Menai-Hänge- Luft- und Raumfahrtmuseum, Concorde rende Beschreibung eines Landes an brücke und des Pontcysyllte-Aquä- der Schwelle der Industriellen Revo- dukts in Nord-Wales. An einem Abend Petite Rosselle (F) La Mine lution. Arthur Young (1741–1820), ein im Jahr 1844 wird Carl Gustaf Carus englischer Landwirt, beobachtet 1789 (1789–1869), Leibarzt König Friedrich Ostrau (CZ) Hüttenwerk Vitkovice, auf seiner Reise von Lothringen ins Augusts II. von Sachsen, gemeinsam zur Multifunktionshalle umgenutzter Elsass kulturelle Veränderungen (vom mit seinem königlichen Dienstherrn Gasometer
Europa in vorindustrieller Zeit des Römischen Reiches spiegeln sich in südfranzösischer oder rheinischer Terra- Sigillata-Keramik wider, die in Großbri- tannien ausgegraben wurde, oder in der Amphore, in der Wein und Olivenöl vom Mittelmeer nach Nordeuropa gelangten. Über viele Jahrhunderte hinweg prägten Erzabbau und Metallverarbeitung das Erzgebirge, den Harz und die Region bei Falun in Schweden. Im Mittelalter waren Wollstoffe und Salz begehrte Fernhandelsprodukte, und in der Folge der Entdeckungsreisen des 15. und 16. Jahrhunderts strömten Seide, Kaf- fee, Kartoffeln, Porzellan und Gewürze nach Europa und bewirkten dort einen tiefgreifenden Wandel der Lebensweise. Dennoch sehen wir erst in der Industri- ellen Revolution des 18. Jahrhunderts die ersten Anzeichen der Globalisierung: Innovationen steigerten die Eisenpro- duktion, der Kohleabbau wuchs in großem Maßstab, mit der Dampfma- schine gab es eine neue Energiequelle, Fabriken zentralisierten die Textilher- stellung, und bessere Straßen, Kanäle und später auch Eisenbahnen erhöhten die Reisegeschwindigkeit und sorgten für erweiterte Kapazitäten des Waren- Wir Europäer leben in einer Welt, in der transports. die meisten Haushaltsgeräte, die wir be- Wie die Lebensbedingungen vor der nutzen – die elektronischen Geräte, die Industriellen Revolution tatsächlich uns zur Unterhaltung und zum Austausch aussahen, können wir am besten in den mit Freunden dienen, die Kleidung, die wir Freilichtmuseen Nordeuropas nach- tragen, die Bücher, die wir lesen, ja oft so- empfinden. Die großen Bauernhäuser gar das Essen, das wir zu uns nehmen – Westfalens in Detmold, jene aus Flan- Fabrikware sind, die lange Transportwege dern in Bokrijk, aus den Niederlanden hinter sich hat. Es ist schwer, sich eine in Arnhem, aus Galizien in Sanok oder Welt vorzustellen, in der dies nicht so war. die Höfe im Norwegischen Volkskunde- Schon in prähistorischer Zeit gab museum in Oslo oder in Maihaugen in es Orte, die auf bestimmte, über große Lillehammer – sie alle waren bewohnt Entfernungen gehandelte Produkte spe- von Familien, die sich größtenteils zialisiert waren. Die Handelsbeziehungen selbst versorgten. Viele dieser Häuser 08 | 09 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
waren zweigeteilt: Auf der einen Seite Müller in Wasser- oder Windmühlen zu lagen die Wohnräume, auf der anderen Mehl. Doch selbst in wohlhabenden die Ställe für die Tiere. Aus der Kuhmilch Gebieten mussten einige Familien mit stellten die Bauern Käse und Butter her, kleinen Bauernhäusern vorlieb nehmen. das aus Gerste gewonnene Malz verar- Sie lebten in baufälligen Hütten und beiteten sie zu Bier und aus der Wolle litten Hunger in Zeiten von Missernten. ihrer Schafe oder aus dem Flachs und Die Lebensverhältnisse in Südeuropa, Hanf, die sie um ihre Gehöfte anbauten, wo Familien Olivenöl anstelle von Butter spannen sie Garn. Zusätzlich nahmen gewannen und Wein kelterten, anstatt Arnheim (NL) sie die Dienste spezialisierter lokaler Bier zu brauen, unterschieden sich Freilichtmuseum Handwerker in Anspruch: Weber webten in mancher Hinsicht, doch auch hier Lillehammer (N) ihr Garn zu Stoffen, Schreiner zimmer- waren die Menschen zum Teil Selbst- Freilichtmuseum Maihaugen ten ihre Möbel und Schmiede schmiede- versorger. Detmold (D) ten ihre Werkzeuge. Ihr Getreide mahlten LWL-Freilichtmuseum (LWL)
Kleine Schiffe, große Distanzen: Der internationale Handel hierherbrachten. In Göteborg (S) liegt der 1993 fertiggestellte Nachbau eines historischen Schiffes der schwedischen Ostindien-Kompanie, das den Namen der Stadt trug und 1745 kurz vor der Einfahrt in den Heimathafen sank. Das Göteborger Stadtmuseum residiert in Büros und Lagerhäusern, die zwischen 1747 und 1762 für ortsansässige Handelsunternehmen errichtet wurden. Gleich mehrere westeuropäische Länder gründeten Unternehmen, die mit China und anderen Partnern im Fernen Osten Handelsbeziehungen anknüpften oder dies zumindest versuchten. Frankreich operierte dabei aus dem Hafen von Brest, das Habsburger Reich aus Ant- werpen und Großbritannien aus London. Viele Häfen und Handelsstädte in Europa standen mit der Hanse in Verbin- dung, einer Vereinigung von Handelsgil- den aus überwiegend deutschen Städ- ten, die ihre Blütezeit zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert erlebte, mit dem Aufstieg der holländischen Seemacht im 17. Jahrhundert jedoch zunehmend an Einfluss verlor und deren Vertreter zum letzten Mal 1669 gemeinsam tagten. Die Hanse unterhielt einen Handels- Harlingen ist ein kleiner niederländi- der noch vorhandenen Beschriftungen stützpunkt in Bergen (Norwegen). Dort, scher Nordseehafen 10 km nordöstlich mit Russland, Polen, Java und Sumatra auf dem sogenannten Tysksebryggen vom Abschlussdeichs des Ijsselmeeres handelten. Verbindungen zwischen (Deutschen Kai), lagerte sie geräucher- und dient jetzt als Fährhafen für die Europa und entfernten Erdteilen ver- ten und getrockneten Fisch, Lebertran Westfriesischen Inseln. Der Ort ist reich rät auch die Sammlung historischer und Fischrogen und verschiffte die an Zeugnissen des internationalen Schiffe im niederländischen Enkhuizen. Waren im Austausch gegen Salz nach Handels im 17. und 18. Jahrhundert. Zu Ausgestellt werden sie im Peperhuis, Südeuropa. In einem der ehemaligen jener Zeit säumten Werften, Kalköfen, einem Lagerhaus der niederländischen Lagerhäuser residiert heute ein Hanse- Töpfereien und Salzsiedepfannen das Ostindien-Kompanie aus dem 17. Jahr- Museum. Zu den deutschen Herstellern, Hafenbecken und auch die Schiffe und hundert. Die zahlreichen Windmühlen die von der Hanse profitierten, gehörten Trockenschuppen der örtlichen Fischer von Zaanse Schans in Zaandam (NL) unter anderem die Drahtzieher in Altena lagen dort. Der bedeutendste Hinweis wiederum verarbeiteten viele Rohstof- im Sauerland, die in großem Maßstab auf internationale Handelsbeziehungen fe, die örtliche Schiffe nach langen Metallbefestigungen nach Skandinavien sind Warenlager von Kaufleuten, die laut Handelsfahrten in den fernen Osten exportierten. 10 | 11 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Viele Fernhandelsrouten existierten Kolonialprodukte nach Europa verschob. bereits vor der Industriellen Revolution Für Hersteller in Europa lieferte der Fern- des achtzehnten Jahrhunderts, etwa die handel vor allem Rohstoffe. Zu Beginn Verschiffung von Getreide und Nadelhöl- des 18. Jahrhunderts wurden die euro- zern nach Westeuropa aus Ostseehäfen päischen Fernhandelshäfen zu Verar- wie Danzig, Riga und Memel (Klaipėda). beitungszentren für Zucker, Tee, Kaffee, Fest etabliert war auch der Handel von Tabak, Gewürze und Farbstoffe – Pro- Wein und Olivenöl aus den Mittelmeer- dukte, die den Alltag der Menschen in ländern in den Norden. Das Museum vielerlei Hinsicht veränderten. der Sklaverei in Liverpool thematisiert den berüchtigten Dreieckshandel, der Bergen (N) Textilien und Metallprodukte nach West- Welterbe Deutsche Brücke afrika, schwarze Sklaven nach Amerika Zaandam (NL) und Zucker, Baumwolle und andere Zaanse Schans
Die Schätze unserer Erde Besucher, die sich der großen Kupfermi- nach bei und verfügt noch über zahlreiche eine wichtige Rolle in der Münzprägung ne bei Falun (Schweden) nähern, sehen Gebäude und Anlagen des 18. und 19. und als Material für Luxuswaren. zuerst ein gewaltiges Loch – entstanden Jahrhunderts. Erst im letzten Viertel des Im Erzgebirge, das sich von Sachsen durch das Absacken des Bodens im Jahr 20. Jahrhunderts kam der Kupferbergbau bis in die heutige Tschechische Republik 1687. In dem Gebäude, das das Firmen- zum Erliegen. erstreckt, gab es Bergwerke für Blei, museum beherbergt, treffen sie anschlie- Nichteisenmetalle dienten verschie- Silber, Eisen, Zink, Zinn, Nickel, Kobalt ßend auf eine am 16. Juni 1288 ausge- denen Zwecken. Blei und Zinn waren die und Uran. Bergarbeiter aus dem Harz stellte Urkunde sowie Fundstücke aus Bestandteile einer Legierung, aus der begannen bereits 1168, im Erzgebirge dem Bergbau, die noch älter sind. Das in ganz Europa Zinnteller und anderes Eisen- und Silbererze abzubauen. Einen macht mehr als deutlich, dass die Indust- Zinngeschirr hergestellt wurde. Messing, Höhepunkt erreichte der Bergbau im rialisierung nicht erst im 18. Jahrhundert eine Kupfer-Zink-Legierung, war ebenfalls Erzgebirge im 15. und 16. Jahrhundert. begann. Wie andere alte Erzlagerstätten Bestandteil der meisten Haushalte mit Zu jener Zeit fand er Eingang in das behielt Falun seine Bedeutung auch wäh- Ausnahme besonders armer Familien. Werk „De Re Metallica“ des Chemnitzer rend der Industriellen Revolution und da- Gold und Silber spielten, wie zu erwarten, Arztes Georgius Agricola (1494–1555). Das bedeutendste Bergbaumuseum der Region besitzt Freiberg – jener Ort, an dem 1765 eine der ältesten Bergbau-Akademien gegründet wurde. Bis heute feiern die Menschen hier öffentliche Bergbaufeste und tragen zu bestimmten Anlässen die traditionelle Bergmannskluft. Einen großen Komplex von Übertageanlagen anno 1839 vereint der Abrahamschacht in Freiberg. Dazu gehören auch Schuppen für die Erzauf- bereitung. Die Schachtanlage Alte Eli- sabeth ist ein geneigter Stollen aus den 1840er Jahren, dessen Förderbetrieb eine 1848-49 installierte Dampfmaschi- ne der Firma Constantin Pfaff in Chem- nitz sicherstellte. Das Bergbaumuseum in Altenberg residiert in einem Pochwerk, das 1577 erstmals in den Urkunden auftaucht und bis 1952 in Betrieb war. Hier starten zugleich die Führungen durch die Altenberger Pinge, einen vom Bergbau hinterlassenen Einbruchkrater, der bei einer Fläche von 12 Hektar einen Durchmesser von bis zu 450 Metern und eine Tiefe von 130 Metern erreicht. Die Geschichte des Bergbaus im Harz kommt am besten in den Zwillings- städten Clausthal und Zellerfeld zum 12 | 13 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Ausdruck. Dort haben sich umfangreiche komotiven und das rekonstruierte Haus Überreste von Wasserkraftanlagen des eines Bergmanns. Wer mag, kann von 16. Jahrhunderts erhalten. Zudem steht hier aus zu einer umfassenden geführten dort noch eine Reihe von Übertageanla- Tour durch ein Schaubergwerk starten. gen, etwa auf dem Gelände der Grube Die Silberminen bei Tarnowskie Góry Dorothee anno 1713, und auch das in der Nähe von Kattowitz (Polen) gehen Oberharzer Bergbaumuseum hat dort ebenfalls auf das Mittelalter zurück. Der seinen Platz. Am Rammelsberg in Goslar Betrieb endete im frühen 20. Jahrhun- treffen Besucher auf bemerkenswert frü- dert, seit den 1950er Jahren ist das he Bergwerke. Dazu zählen neben dem Gelände für die Öffentlichkeit zugänglich. Rathstiefste Stollen (ca. 1140) und dem Auf die Besucher wartet eine 1.700 Me- Feuerzäher-Gewölbe (ca. 1360) auch ter lange Tour durch ehemalige Stollen, mit Bauschmuck versehene Eingänge zu zu deren Highlights eine 270 Meter lange später entstandenen Stollen sowie eine Bootsfahrt auf einem unterirdischen Erzaufbereitungsanlage aus den Jahren Kanal gehört – ein Erlebnis, das kein 1936-38. Einen Überblick über die Ent- anderes Bergbaumuseum bietet. Eisenerz (A) wicklung des Industriezweigs insgesamt Der Erzberg in Österreich, manchmal Erzberg gibt das Museum und Besucherbergwerk auch Steirischer Brotlaib genannt, war Falun (S) Rammelsberg. spätestens im 12. Jahrhundert – wenn Welterbe Bergwerk Falun Auf eine ganz ähnliche Geschichte nicht schon seit dem ersten Erzfund im Goslar (D) blickt Banská Štiavnica in der heutigen Jahr 712 – eine von Europas wichtigsten Welterbe Rammelsberg, Slowakei zurück. Schon im 13. Jahr- Erzquellen. Das Museum in Eisenerz Museum & Besucherbergwerk hundert war der Ort als Fundstätte für und die 40 Kilometer lange Steirische Tarnowski Góry (PL) Silber, Blei und Eisenerz bekannt. Ein Teil Eisenstraße zu den Industriedenkmälern Welterbe Historisches Silberbergwerk des örtlichen Bergbaumuseums logiert zwischen Leoben und Hieflau erzählen je- Pendeen (GB) im Kammerhof, in dem ehemals der weils auf ihre Weise die lange Geschichte, Welterbe Zinnbergwerk Geevor Metallgehalt der Erze geprüft wurde. Ein die die Region im Hinblick auf Eisenberg- Rumelange (L) Freilichtmuseum zeigt Fördertürme, Lo- bau und -verhüttung vorweisen kann. Nationales Bergbaumuseum
Traditionsreiche Industriezweige entstanden, doch der Großteil der Ferti- gung befindet sich bis heute in der Hand kleiner Werkstätten. Solingen war der weltweit größte Hersteller von Scheren, dem Hauptprodukt der Gesenkschmie- de Hendrichs, deren Werkshallen mit 33 Fallhämmern ausgestattet sind. Heute steht die Fabrik, die zwischen 1886 und 1896 arbeitete, Besuchern zur Besichtigung offen. Das Klingenmu- seum, eingerichtet in einem ehemaligen Augustinerkloster, präsentiert die ge- samte, jahrhundertealte Produktpalette der Solinger Metallindustrie: Schwerter, Dolche, medizinische Instrumente, Haushaltsbesteck und Messer für Messerwerfer. Auch eine Zinnwerkstatt befindet sich im Haus, und eines der herausragenden Ausstellungsstücke ist eine Zinnteekanne. Steyr in Österreich war das wichtigs- te Handelszentrum für die steirische Eisenindustrie. Seit dem Mittelalter fertigten örtliche Handwerker Schneid- waren, Besteck und Nägel, und Kauf- mannshäuser im gotischen, barocken und klassischen Stil zeugen von dem Wohlstand der Handelsstadt. Fabriken erweiterten später das Repertoire der Reiseschriftsteller im England des Viele Städte spezialisierten sich auf die Metallprodukte um Gleitlager, Fahrräder 18. Jahrhunderts erwähnten bei der Herstellung von Textilien. Das konnten und Kraftfahrzeuge. Beschreibung von Städten gewöhnlich Stoffe mit besonderen Eigenschaften Für die englische Stadt Sheffield gilt „Manufakturen”. Sie bezogen sich meist sein oder Fertigprodukte wie Strumpf- Ähnliches. Sie verfügte über reichlich auf Waren, die dort hergestellt und lan- waren, Teppiche oder Spitze. Andere Wasserkraft und Kohle und importierte desweit gehandelt oder sogar exportiert fertigten Lederwaren, Handschuhe oder Stahl aus Schweden. Im 19. Jahrhun- wurden, im Gegensatz zum Austausch Peitschen. Die ältesten Gewerbe jedoch dert entstanden viele Besteckfabriken, von Produkten auf lokaler Ebene. Die hatten mit dem Schmieden von Werkzeu- aber die kleinen Werkstätten existierten meisten bedeutenderen Städte jener gen und ähnlichen Gütern zu tun. weiterhin. Dieses Gewerbe der Kleinen Zeit trieben mit einigen Gütern Handel Solingen in Deutschland galt im Meister (“little mesters“), die sich auf über größere Distanzen, und einige Mittelalter als bedeutendes Zentrum für die Herstellung bestimmter Messer- darunter verfügten oder verfügen in die Produktion von Waffen und Besteck. typen spezialisierten, ist heute Gegen- dieser Hinsicht über Traditionen, die Im 19. Jahrhundert änderte sich der stand des Kelham Island Museums. mehrere Jahrhunderte zurückreichen. Herstellungsprozess: Große Fabriken Das Industriedorf Abbeydale (Abbeydale 14 | 15 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Industrial Hamlet), zu dem auch eine Sensenwerkstatt gehört, veranschau- licht das Verfahren zur Herstellung von Tiegelgussstahl, das auf Benjamin Huntsman (1704–76) aus Sheffield zurückgeht, während das Shepherd-Rad (Shepherd Wheel) für jene wasserge- triebenen Schleifereien steht, in denen die Kleinen Meister typischerweise ihre Waren fertigten. In Birmingham und dem nahe gelege- nen Schwarzen Land (Black Country) flo- rierte die Metallwarenproduktion bereits um 1700. Die Städte und Heidedörfer des Schwarzen Landes produzierten Nä- gel, Ketten, Schlösser und Metallwaren für Sattler. Birminghams Handwerker dagegen spezialisierten sich auf „Spiel- zeug”, das heißt auf ausgewählte Metall- waren höherer Qualität. Im restaurierten Juwelierviertel in Birmingham, im Black Country Living Museum in Dudley und in der Industriesiedlung von Mushroom Green in Brierley Hill wird die Welt des traditionsreichen Kleineisengewerbes wieder lebendig. Die Ursprünge der alteingesessenen Industrie in Sheffield und Birmingham, aber auch in der Steiermark (A) und im Bergischen Land (D), liegen weit zurück. Andere, in ihrer Art ähnliche und Gebäude hinzu. 72 Handwerker, einige ebenso langlebige Wirtschaftszweige von ihnen aus Deutschland, stellten Ulft (NL) lassen sich dagegen präzise bis zu ihren dort Schlösser, Nägel und Besteck her. Innovations-Zentrum ICER Anfängen zurückverfolgen. Eine sehr Sechs Gebäude haben sich erhalten und Birmingham (GB) erfolgreiche Industrieansiedlung etwa bilden heute einen Museumskomplex, Museum of the Jewellery Quarter war die Gründung der Stadt Eskilstuna der als Rademachers Schmieden be- in Schweden, die Reinhold Radema- kannt ist. Das Vermächtnis der Indust- Sheffield (GB) Kelham Island Museum cher (1609–68) auf Veranlassung von rieansiedlung des 17. Jahrhunderts lebt König Carl Gustaf 1658–59 ins Werk aber auch in den modernen Maschi- Solingen (D) LVR-Industriemuseum setzte. Der Architekt Jean de la Vallée nenbaufirmen fort, die nach wie vor in Gesenkschmiede Hendrichs (1624–96) ordnete zwanzig Schmieden Eskilstuna blühen. Dudley (GB) aus Holz auf einem Straßenraster an. Freilichtmuseum des „Schwarzen Innerhalb weniger Jahre kamen weitere Landes“
Weißes Gold: Salz Ländern wird Meerwasser in Lagunen geleitet, wo es im Laufe der Zeit ver- dampft und am Boden eine Salzschicht zurücklässt. Reste dieser Methode der Salzgewinnung – zum Teil auch noch in Betrieb befindliche Anlagen – gibt es in Figueira da Foz in Portugal, Las Salinas de Imón in Spanien, Margherita de Savoia an der italienischen Adriaküste – dort wird Salz bis heute in großen Men- gen hergestellt –, in Ettone e Enferosa bei Marsala auf Sizilien, bei Mytilene auf der griechischen Insel Lesbos, bei Piram an der Adriaküste Sloweniens und bei Pomorie in Bulgarien. Andernorts werden Ablagerungen von Steinsalz abgebaut, zum Teil seit prähistorischer Zeit wie in Hallstatt (A). Eine dritte Methode beruht darauf, Sole aus unterirdischen Depots an die Oberfläche zu pumpen und anschließend auszukochen, sodass nur die Salzkristalle zurückbleiben. Dies geschieht etwa auf der dänischen Insel Laeso oder in den Lion Salt Works bei Northwich in England. Die deutsche Stadt Halle, seit 1680 zu Preußen gehörig, erhielt auf Veranlassung König Friedrich Wilhelms I. 1719 ein eigenes Salzwerk auf einer Insel in der Saale. Braunkohle Salz ist lebensnotwendig und diente seit für getrockneten und gesalzenen Kabel- lieferte den Brennstoff für die Salzsie- prähistorischer Zeit als Konservierungs- jau), Bacalhau (der portugiesische Begriff) depfannen, 1865 wurde zusätzlich eine mittel für Lebensmittel und zum Würzen oder Klippfisch findet auf den Märkten Dampfpumpe installiert, und erst 1964 von Speisen. Seine Besteuerung war eine von Valencia in Spanien, Porto in Portugal stellte das Werk den Betrieb ein. Heute wichtige Einnahmequelle für Regierungen und Piräus in Griechenland immer noch beherbergt es das städtische Museum aller Art, als Glasur ließ es sich leicht auf viele Abnehmer. Salz machte Rindfleisch, des Salzes und der Salzwerker. Alternativ Keramik auftragen, und in einigen Gesell- Schweinefleisch und Butter haltbar und kann Sole auch, wie in Bad Dürrenberg schaften übernahm es die Funktion einer gab dem mehlhaltigen Haferschleim, in Sachsen oder Ciechocinek in Polen, Währung. Im Europa des 17. Jahrhunderts von dem viele Menschen lebten, etwas auf den Scheitelpunkt von Gradierwer- war die Salzherstellung im katholischen Geschmack. Einige Länder erklärten ken gepumpt werden. Diese bestehen Süden weit verbreitet und erwies sich als seine Herstellung sogar zum königlichen aus hoch aufgeschichteten Bündeln aus willkommene Handelsware im Austausch Monopol. Schwarzdorn-Zweigen, über die die Sole mit den Fischern des protestantischen Salz wird im Wesentlichen auf vier ver- herabrieselt und dabei Salzablagerungen Nordens. Bacalao (der spanische Begriff schiedene Arten hergestellt. In warmen zurücklässt, die gesammelt werden. 16 | 17 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Viele Orte mit salzhaltigen Quellen sind heute Thermalbäder oder Kurorte, und auch die besondere Zusammenset- zung der Luft in Salzbergwerken gilt als genesungsfördernd. So zieht etwa die jodreiche Atmosphäre in Ciechocinek (PL) immer noch Rekonvaleszenten an. Die gesundheitliche Wirkung des Salzes und der Maßstab einiger Salzbergwerke haben zur Entstehung von unterirdischen Skulpturen, Reliefs und sogar Kirchen geführt. In Wieliczka bei Krakau (PL), dessen Salzbergwerk zu den größten Europas zählt und im sechzehnten Jahrhundert tausend Arbeitskräfte be- schäftigte, stellen die Kapelle St. Antonio von 1689 und die Kapelle der Gesegne- ten Könige eine Vielzahl an Salzreliefs mit biblischen Szenen zur Schau. Die Bedeutung der Salzgewinnung verrät sich auch im Salzwerk von Arc-et-Senans im französischen Département Jura, das zwischen 1775 und 1779 nach Entwür- fen von Claude-Nicolas Ledoux (1736– 1806) entstand. Die beiden Siedehäuser, ein monumentales Eingangsportal und 24 Arbeiterhäuser, die in zwei Halbrotun- den angeordnet sind, machen es zu einem der spektakulärsten Industriekom- plexe Europas. Im Zuge der industriellen Revolution Chemiewerke entstehen: 1865 in Couillet wurde Salz zu einem wichtigen Rohstoff bei Charleroi (B), 1873 in Dombasle nicht für die Herstellung von Schlüsselsub- weit von Nancy (F), in den 1890er Jahren stanzen. Dazu gehören insbesondere in Bad Friedrichshall (D) im Neckartal Salzsäure und Natriumcarbonat (oder sowie 1874 in Northwich in Cheshire (GB). Alkali), die bei der Herstellung von Glas Das Museum in Solikamsk in Russland – und anderen chemischen Prozessen bis heute ein Zentrum der Kaliproduktion, Verwendung fanden. Das von Ernest das 11.000 Menschen beschäftigt – ver- Krayenberggemeinde (D) Solvay (1838–1922) entwickelte Ver- fügt über die umfangreichste Sammlung Erlebnisbergwerk Merkers fahren zur Herstellung von Alkali ließ im an Gebäuden und Objekten zur Salzge- Halle / Saale (D) späten 19. Jahrhundert an Orten, die winnung, darunter aus Holz konstruierte Saline über Salzquellen oder Vorräte an Pott- Gradierwerke, Siedepfannen, Salztruhen Northwich (GB) asche (Kaliumchlorid) verfügten, riesige und Badehäuser. Lion Salt Works
Kohle & Dampf: Die industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts im Laufe dieses Jahrhunderts stieg die Produktion in Großbritannien stetig an und beschleunigte sich seit den 1780er Jahren rasant. Die bessere Verfügbarkeit von Kohle ermöglichte die Erweiterung der Eisenerzeugung, die Verhüttung von Nichteisenmetallen sowie die Ziegel-, Kalk-, Keramik- und Glasherstellung. Die Kohle führte auch zum Einsatz neuer Antriebsmaschinen. Während viele Textilfabriken und Eisenhütten des 18. Jahrhunderts mit Wasserkraft arbeiteten und die führenden Ingenieure jener Zeit viel Energie darauf verwandten, die Effi- zienz von Wasserrädern zu verbessern, verdankt sich die enorme Ausweitung und Steigerung der Produktion – beson- ders in der Zeit nach 1800 – der Dampf- maschine. Die erste effektive Dampf- maschine geht sehr wahrscheinlich auf Thomas Newcomen (1663–1729) zurück, der damit 1712 den Wasserab- fluss einer Zeche in Coneygre bei Dudley in den englischen Midlands regelte. Newcomens Maschine konnte nur zum Pumpen benutzt werden, aber sowohl für Kohlegruben als auch für Bergwerke, die Nichteisenmetalle abbauten, bedeutete das einen Fortschritt. Bis 1733 wurden Die meisten Historiker stimmen darin etwa 100 dieser Maschinen allein in überein, dass Bergbau und industrielle England installiert, einige nahmen auch Produktion im Europa des 18. Jahrhun- in anderen europäischen Ländern ihren derts eine ganz neue Richtung einschlu- Dienst auf. Mårten Triewald (1691–1747) gen und dass dieser Wandel in Groß- zum Beispiel setzte 1727 eine Dampfma- britannien begann. Die Veränderungen schine zur Entwässerung des berühmten betrafen die gesamte Bandbreite der Eisenerzbergwerks bei Dannemora in Industrie. Die erste und grundlegends- Schweden ein. Der Erfolg blieb zwar aus, te Entwicklung war die massenhafte aber das Motorhaus steht heute noch. Verwendung von Kohle als Brennstoff. 1769 begann James Watt (1736–1819), Lange vor dem 18. Jahrhundert diente die Effizienz von Dampfmaschen zu Kohle bereits als Heizmittel in Privat- verbessern, unter anderem durch die haushalten und spielte auch für einige Verwendung von separaten Konden- Herstellungsprozesse eine Rolle, aber satoren. Er war es auch, der in den 18 | 19 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
1780er Jahren gemeinsam mit anderen 18. Jahrhundert übernahmen auch an- Methoden entwickelte, um maschinell dere Industriezweige das Fabriksystem. Drehbewegungen zu erzeugen und so Herstellungsbetriebe wie Glaswerke und andere Maschinen anzutreiben. Das war Töpfereien wurden größer, und ihre Arbei- die entscheidende Voraussetzung für die ter führten zunehmend vereinfachte und Einführung dampfgetriebener Walzwerke spezialisierte Tätigkeiten aus. Trotzdem oder Textilfabriken. Die seit den 1790er blieb die Produktion von Alltagsartikeln Jahren in Bergwerken einsetzende wie Kleidung, Möbeln, Schuhen und Le- Verbreitung billiger und einfacher Förder- bensmitteln in den meisten europäischen maschinen – für gewöhnlich auf Drehbe- Ländern noch jahrzehntelang in der Hand wegungen getrimmte Newcomen-Dampf- einzelner lokaler Handwerker. maschinen – trugen ihrerseits stark zur Die Industrielle Revolution beschleu- Erhöhung der Kohleproduktion bei. nigte und vervielfachte überdies den Ein weiteres Merkmal der Industriel- Warentransport. Kanäle, über die England len Revolution war die Entstehung der bereits seit den 1760er Jahren verfügte, Fabrik, eines Ortes zentralisierter und entstanden nun auch in Belgien, Deutsch- maschineller Produktion. Die ersten Fa- land, Frankreich und andernorts. Jedes briken entstanden in der Textilbranche. europäische Land übernahm zudem die Die Seidenspinnerei der Gebrüder Lom- Technologie des Eisenbahnfernverkehrs, Telford (GB) be (John: 1693–1722; Thomas: 1685– die 1830 bei der Eröffnung der Strecke Weltberbe Freilichtmuseum Blists Hill Victorian Town 1739) in Derby (GB), die auf Technologien Liverpool-Manchester ihren Einstand ähnlicher Fabriken in Bologna (I) zurück- feierte. Kennzeichnend für die Industri- Chemnitz (D) Sächsisches Industriemuseum, griff, war sehr wahrscheinlich das Vorbild elle Revolution war schließlich auch das Industriemuseum Chemnitz für die Baumwollspinnereien von Richard Wachstum der großen Städte, deren größ- Cromford (GB) Arkwright (1732–92) in Cromford und für te nicht nur Produktionszentren, sondern Welterbe Cromford Mills viele weitere Fabrikgründungen in Groß- vor allem Handelsknotenpunkte waren – Manchester (GB) britannien und, kurz darauf, in vielen „Durchgangsstationen“ für Menschen und Wissenschafts- und Industriemuseum, Teilen von Kontinentaleuropa. Im späten Waren gleichermaßen. Bahnhofsgebäude
Veränderungen seit 1870 ten Munkfors zu sehen. Etwa zeitgleich vermarktete der Franzose François Hennebique (1842-1921) in ganz Europa seine Betonbauweise, und bis 1917 hatten seine Vertreter 17.692 Verträge abgeschlossen. Abgesehen von Flussstahl wurden nun auch Stahlsorten für andere Verwendungszwecke entwickelt. 1882 erfand Sir Robert Hadfield (1858–1940) Manganstahl, eine Legierung, die die Elastizität des Metalls erhöhte und sie für die Herstellung von Eisenbahnschie- nen und den Bau von Zerkleinerungs- anlagen geeignet machte. Ein anderer Stahlproduzent aus Sheffield, Harry Brearley (1871–1948), führte 1913 rost- freien Stahl ein, der ursprünglich einen Chromanteil von 12,5 Prozent aufwies und in seinen vielen Varianten zu einem der charakteristischen Materialien des 20. Jahrhunderts wurde. Ein weiteres neues Material war Aluminium. Der Franzose Paul Héroult (1863–1914) und der Amerikaner Charles Hall (1863–1914) stießen um das Jahr 1886 zeitgleich auf eine Methode, die es erlaubte, das Metall durch Elektrolyse herzustellen, und zwar In den 1870er Jahren erreicht die indus- Baustoff 1890 anlässlich der Fertigstel- mithilfe des Minerals Kryolith, dessen trielle Entwicklung in Europa eine neue lung der Eisenbahnbrücke über den Firth wichtigster Fundort Grönland war. Der Stufe. Zum Teil erklärt sich dies aus der of Forth in Schottland mit ihren beiden Produktionsprozess verbraucht große Einführung neuer Materialien. An erster riesigen, 521 Meter langen Ausleger- Mengen an Strom, weshalb die meis- Stelle steht hier Bau- oder Flussstahl, bögen eindrucksvoll demonstriert. Im ten Aluminiumschmelzen an Orten mit den Henry Bessemer (1813–98) 1856 folgenden Jahrzehnt entwickelte sich die ausreichenden Wasserkraft-Ressourcen erstmals herstellte und der seit den Verwendung von Stahl zum Standard für entstanden, etwa in der französischen 1860er Jahren mithilfe des von Carl den Bau von Textilfabriken, Hotels und Alpenregion Dauphiné, wo ein Museum Wilhelm Siemens (1823–83) entwickel- Kaufhäusern. Bessemerbirnen sind heu- in Vaujany die Geschichte der Wasser- ten Siemens-Martin-Ofens im sogenann- te in verschiedenen Museen zu sehen. kraft veranschaulicht. ten Herdfrischverfahren erzeugt wurde. Gleich ein ganzes Bessemer-Werk hat Mit den Eigenschaften elektrischer In Großbritannien gilt Flussstahl seit sich in Hagfors in Schweden erhalten und Energie beschäftigten sich Wissen- 1877 offiziell als geeignetes Material für eine Anlage mit mehreren Siemens-Mar- schaftler wie Alessandro Volta (1745– Brücken – eine Qualität, die der neue tin-Öfen anno 1877 ist im 30 km entfern- 1817) und Michael Faraday (1791– 20 | 21 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
1867), und seit den 1870er Jahren, als ein Kraftwerk in Paris in Betrieb ging, begann der Einsatz elektrischen Stroms für praktische Zwecke wie die Beleuch- tung von Straßen und großen Gebäuden und – seit 1883 – auch von Straßenbah- nen. In der Folgezeit stellten auch Fabrik- maschinen, Walz- und Hammerwerke der Metall verarbeitenden Industrie sowie Eisenbahnlokomotiven ihren Antrieb auf elektrische Energie um. Seit den 1890er Jahren entstanden überall größere „zen- trale” (also für die öffentliche Versorgung zuständige) Kraftwerke, und Strom wur- de zu einer der Grundlagen des Lebens im 20. Jahrhundert. (GB), zeigt eine umfangreiche Palette an Auch in der chemischen Industrie gab Kunststoffen, während sich das Deut- es tiefgreifende Veränderungen. Der Bel- sche Chemie-Museum in Merseburg und gier Ernest Solvay (1838–1922) führte das Catalyst-Museum in Widnes (GB) der das Ammonium-Soda-Verfahren zur Her- breiteren Bedeutung der chemischen stellung von Alkali (Natriumcarbonat) ein. Industrie widmen. An mehreren Orten Europas, die über Eine weitere Innovation des späten Salzvorräte verfügten, entstanden große 19. Jahrhunderts war die Nähmaschi- Werke als Zentren für die Herstellung ne. Ihr Prototyp, 1830 erfunden von von zahlreichen industriellen Rohstoffen Barthélemy Thimonnier (1793-1857), und Haushaltsprodukten. Sprengstoffe, fand für die Produktion von Militäruni- Medikamente, Kunststoffe und eine gan- formen Verwendung. In den meisten ze Auswahl weiterer Materialien gingen europäischen Ländern eroberten die aus Experimenten von Sir William Perkin Nähmaschinen der US-amerikanischen (1838–1907) hervor, die als Resultat Ani- Firma Isaac Merit Singer (1811–75) linfarbstoffe lieferten und die Grundlage den Markt. Gemeinsam mit der Ver- für große, mit Koks oder später Öl betrie- fügbarkeit von kompakteren Antriebs- bene Chemiewerke bildeten. Kunststoffe, maschinen – Gasmotoren und später die charakteristischen Materialien des Elektromotoren – ermöglichten sie die 20. Jahrhunderts, kamen im späten 19. Gründung von Fabriken wie jenen in Jahrhundert allmählich auf. Eine bedeu- Colchester, Leeds und Northampton tende Neuerung in dieser Hinsicht war (alle GB), die Kleidung und Schuhe in South Queensferry (GB) die Patentierung von wärmehärtbaren Massenproduktion herstellten. Welterbe Forth Bridge Phenol-Formaldehyd-Harzen durch Leo Wien (A) Baekeland (1863–1944) im Jahr 1907 Technikmuseum, und die Errichtung einer Fabrik in der Bessemerbirne Nähe von Berlin zwei Jahre später. Das Merseburg (D) Bakelit-Museum in Williton, Somerset Deutsches Chemiemuseum
Schwarzes Gold: Der Aufstieg des Kohlebergbaus bei vielen Tagebauprojekten des 20. Jahrhunderts, und eine bemerkens- werte Bergbaulandschaft voller Glocken- schächte befindet sich in Clee Hills bei Ludlow (GB). Mehrere Bergbaumuseen bieten Zugang zu Stollen, die früher dem Kohleabbau dienten, zum Beispiel in Apedale (GB), wo die Abbautätigkeit erst in den 1980er Jahren eingestellt wurde. Andere Museen wie das in Beamish rekonstruieren Bergwerksstollen nach historischen Vorbildern. Besonders schwierige Abbaubedingungen spiegeln die unterirdischen Gänge zu den wenig ertragreichen Kohleflözen bei Arigna im County Roscommon in Irland. Den Arbeitsalltag des frühen Bergbaus veranschaulichen am besten größere Technikmuseen wie das Deutsche Berg- baumuseum in Bochum. Es präsentiert frühe Werkzeuge aus geschmiedetem Eisen, Drainagerohre aus ausgehöhlten Baumstämmen, Sicherheitslampen aus dem frühen 19. Jahrhundert, die ohne Methangas auskamen, oft von Kindern bediente Lüftungstüren, Leitern, mit denen die Bergleute in die Stollen herabstiegen, sowie Fahrzeuge und Schienen für den Transport der Kohle von den Abbaustellen Kohle war die treibende Kraft der In- oder Glockenschächten, bestehend aus zu den Schächten. Frühe Förderanlagen, dustriellen Revolution. Zwei eindrucksvoll einem bis zu zehn Meter tiefen Schacht ob von Hand oder mit Grubenpferden ange- große Brocken walisischer Kohle sind (auch Duckel genannt), von dessen Grund trieben, haben dagegen selten überlebt im Bedwellty Park in Tredegar zu sehen. aus kreisförmig nach Kohle gegraben und werden am besten durch Modelle Einer von ihnen wiegt 15 Tonnen und wurde, wodurch die Gestalt einer Glocke veranschaulicht. konnte deshalb nicht auf der Weltausstel- entstand. Sobald das Deckgebirge In einer typischen Zeche aus der lung von 1851 im Kristallpalast in London (Hangende) einzustürzen begann, gab Mitte des 19. Jahrhunderts entwässerten gezeigt werden. Der andere, zwei Tonnen man den Schacht auf und hob nebenan Pumpen das Bergwerk und Dampfma- schwer, bereicherte 1951 das Festival einen neuen aus, während die unterir- schinen beförderten die Kohle durch die von Großbritannien (Festival of Britain). dischen Kammern des alten Glocken- Schächte nach oben. Die Zeche von Elsecar Die frühesten Methoden des Kohleab- schachts allmählich zusammenfielen in Barnsley (GB) besitzt noch eine New- baus erfolgten mithilfe von Stollen – und an der Erdoberfläche eine teller- bis comen-Dampfmaschine aus den 1780er horizontal in Bergflanken getriebene Gän- trichterförmige Mulde (Pinge) hinterließen. Jahren. Big Pit im walisischen Blaenavon ge zur Erschließung von Kohleflözen – Reste von Glockenschächten zeigten sich und die Zeche Caphouse bei Wakefield (GB) 22 | 23 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
sind beide von einer Größe, die charak- teristisch für die Mitte des 19. Jahrhun- derts ist, doch blieben sie gleichermaßen bis weit in das 20. Jahrhundert in Betrieb und weisen entsprechend Merkmale späteren Datums auf. Umgekehrt verhält es sich mit der Grube Blégny in Belgien: Sie schloss erst 1980 ihre Pforten und war die letzte aktive Zeche in der Region Lüttich, gibt aber wegen ihrer langen Laufzeit von nicht weniger als 200 Jahren auch noch Hinweise auf frühere Zeiten. In einigen Teilen Europas war Torf von größerer Bedeutung als Kohle. In den Sumpfgebieten entlang der Ems nahe der deutsch-niederländischen Grenze widmen Energieversorgung auf Gas umgestellt, und Blégny (B) sich das Freilichtmuseum Veenpark (Torf- in den Großstädten gewannen Gaswerke Welterbe Bergwerk Blegny park) bei Baarger-Compascum (NL) und zunehmend an Bedeutung, unter anderem Wakefield (GB) das Elisabethfehn Moorland Museum in weil sie nebenher Ausgangsstoffe für die Staatliches Englisches Kohlebergbaumuseum Barßel (D) den Methoden des Torfabbaus. Chemieindustrie lieferten. Die Entdeckung William Murdock (1754–1839) führte von Erdgas führte seit den 1960er Jahren Barsnley (GB) Geschichtszentrum Elsecar 1792 die Eigenschaften von Kohlegas zu einem Rückgang der Kohlegasprodukti- vor. Er arbeitete für die Maschinenbaufir- on. Welche Rolle die Gasindustrie gespielt Blaenavon (GB) Welterbe Nationales Kohlemuseum ma Boulton & Watt, die seit 1805 daran hat, verdeutlichen erhaltene Kleinkraftwer- Big Pit arbeitete, mit einem Kraftwerk Gas für ke in Biggar, Fakenham und Carrickfergus Carbonia (I) Straßenbeleuchtung, Fabriken und zu (GB), Hobro (DK), Neustadt/Dosse (D) Italienisches Zentrum der gegebener Zeit auch Privatwohnungen zu und Paczków (PL). Umnutzungen erlebten Kohle-Kultur liefern. Bis 1850 hatten die meisten be- größere Werke in Piräus (GR), Augsburg (D), San Martín del Rey Aurelio (E) deutenderen Städte in Westeuropa ihre Budapest (H) und Warschau (PL). Bergwerk Pozo Sotón
Die Kohle triumphiert Seit Ende des 19. Jahrhunderts nahm seit 1900 gesetzlich vorgeschrieben wa- der Umfang der Kohleförderung zu. Die ren. Kurz darauf folgten Belgien und die Zechen wurden immer tiefer und einige Niederlande mit ähnlichen Gesetzen. In von ihnen beschäftigten mehrere tausend Großbritannien veranlasste der Bergbau- Bergleute. Hohe Fördertürme aus Stahl Wohlfahrtsausschuss (Miners’ Welfare oder Beton hievten die Kohle an die Ober- Committee) erst in den 1930er Jahren fläche und transportierten die Bergleute den Bau von Umkleide- und Waschräume. in Förderkörben an ihren Arbeitsplatz und Zu den Museen, die den jüngeren wieder zurück. Die Energie dafür lieferten Kohlebergbau veranschaulichen, gehö- Verbunddampfmaschinen und später ren jene in Ostrava in der Tschechischen elektrische Fördermaschinen. Mechani- Republik, Bexbach im Saarland, Carbonia sche Anlagen sortierten die Kohle nach in Sardinien, Cercs in Katalonien und ihrer Stückgröße und lenkten sie direkt El Entrego in Asturien. Das Limburger auf bereitstehende Eisenbahnwaggons, Revier an der belgisch-niederländischen auch wenn sich die Sortierung von Hand Grenze geht auf die letzten Jahre des 19. in manchen Zechen noch bis in die Zeit Jahrhunderts zurück und beschränkte sich in Essen, 1932 in Betrieb gegangen, nach 1950 hielt. Seit den 1880er Jahren auf eine geringe Zahl sehr großer Zechen. beschäftigte einst 5.000 Bergleute, trieben größere Zechen ihre Werkzeuge Dazu gehören das Bergwerk im belgischen förderte bis 1986 Kohle und ist ein her- mittels Druckluft aus obertägigen Ma- Beringen, in dem jetzt das Flämische vorragendes Beispiel für die Architektur schinenhäusern an. Das Schneiden und Bergbaumuseum residiert, und die Grube der Moderne. Einen weiteren Aspekt der der Transport der Kohle unter Tage Winterslag, umgenutzt zum Kulturzentrum Kohleindustrie im Ruhrgebiet repräsen- wurde – besonders nach 1950 – zuneh- C-mine bei Genk. tieren die monumentalen Gebäude der mend automatisiert. Die dafür entwickel- Die spektakulärsten Denkmäler des 1927 eröffneten und 1992 geschlosse- ten elektrischen Maschinen erhielten Kohlebergbaus im 20. Jahrhundert besitzt nen Kokerei Hansa in Dortmund. ihren Strom oft aus zecheneigenen das Ruhrgebiet. Der Maschinenraum der Nur wenige Zechen sind heute noch Kraftwerken. Ebenfalls in den 1880er Zeche Zollern in Dortmund anno 1904 ist zugänglich, doch erhalten Besucher Jahren führten deutsche Kohlebergwerke ein helles, leichtes, zeltartiges Gebäude mancherorts die Möglichkeit, ein Koh- Waschkauen ein, die in größeren Zechen im Jugendstil. Zeche Zollverein Schacht XII lebergwerk auch untertage zu erleben. 24 | 25 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Die verbesserten sich im 20. Jahrhundert deutlich, doch die Zunahme der Abbau- mengen zog im Fall von Grubenunglücken erschreckend hohe Opferzahlen nach sich. In Senghenydd in Süd-Wales steht ein Mahnmal für die 83 Bergleute, die bei einem Unfall im Jahre 1907 starben, sowie weitere 493 Todesopfer einer unter- irdischen Explosion am 14. Oktober 1913. Das Energeticon in Gebäuden der Grube Anna II in Alsdorf (D) gedenkt der 271 Bergarbeiter, die bei einem Unfall am 21. Oktober 1930 ums Leben kamen. 555 Meter unter der Oberfläche führt. Ein Merkmal der deutschen und polni- schen Kohleindustrie des 20. Jahr- hunderts war der Braunkohletagebau. Im hessischen Borken erinnert daran noch ein Braunkohlekraftwerk aus den Hoyerswerda (D) Jahren 1922–23, in Hoyerswerda eine Sächsisches Industriemuseum, Brikettfabrik und in Großräschen ein Energiefabrik Knappenrode Besucherzentrum an einem künstlichen Beringen (B) See, der bis 2018 einen riesigen Tagebau Flämisches Bergbaumuseum beMine geflutet haben wird. Herausragend ist die F60-Abraumförderbrücke in Lichterfeld, Lichterfeld (D) Besucherbergwerk F60 die 1991 fertiggestellt und kaum genutzt wurde. Sie besteht aus 11.000 Tonnen Essen (D) Welterbe Zeche Zollverein, Stahl, verläuft auf einer Höhe von 80 Me- Schacht XII Die Zeche Guido in Zabrze (PL), die ihren tern über dem Boden und konnte 29.000 Marcinelle (B) Namen Guido Henckel von Donnersmarck Kubikmeter Abraum pro Stunde bewegen. Welterbe Bois du Cazier (1830–1910) verdankt, erlaubt Besichti- Zwei weitere Merkmale des Kohleberg- Zabrze (PL) gungen in 320 Metern Tiefe. Die Anlage baus thematisiert die Europäische Route Bergwerk Guido der Grube Pozo Sotón zwischen Sotrondo der Industriekultur. Zechen waren immer Gräfenhainichen (D) und El Entrego (E) legte seit 1845 der ein Anziehungspunkt für Wanderarbeiter, Ferropolis – Stadt aus Eisen Engländer William Partington an. Mit dem und das Museum, das Marcel Maulini Grossouvre (F) Bau zweier 33 Meter hoher Förder- (1913–83), selbst als Sohn italienischer Kohlehalle türme ging zugleich eine Vertiefung des Eltern in den Vogesen geboren, in Ostrau (CZ) Bergwerks einher, das in dieser Form Ronchamps im Elsaß gründete, würdigt Bergwerk Michael bis 2014 in Betrieb war. Besucher, die die Rolle polnischer Arbeiter in den örtli- Dortmund (D) körperlich kräftig genug sind, können chen Gruben. Ein anderer Aspekt berührt LWL-Industriemuseum eine vierstündige Tour unternehmen, die die Sicherheitsvorkehrungen unter Tage. Zeche Zollern II/IV
Sie können auch lesen