EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE - EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY

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EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE - EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
EUROPAS
  INDUSTRIELLES
     ERBE – EINE
INTERNATIONALE
  ERFOLGSSTORY
EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE - EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Impressum

Europas industrielles Erbe – eine internationale Erfolgsstory

Diese Broschüre ist eine Publikation von ERIH,
dem touristischen Informationsnetzwerk zum industriellen Erbe in Europa

Text
Dr. Barrie Trinder, Olney, Buckinghamshire, GB
www.trinderhistory.co.uk

Textübersetzung in die deutsche Sprache
Lorenz Töpperwien, Köln, D
www.tt-textteam.de

Redaktion
Rainer Klenner, Kaarst, D

Layout
Volker Pecher, Essen, D

Fotos
Soweit nicht bei der jeweiligen Bildunterschrift anders angegeben, wurden die Fotos von den
vorgestellten Standorten, von Tourismusorganisationen oder von den Fotografen des ERIH e. V. mit
freundlicher Genehmigung zur Verwendung zur Verfügung gestellt

Copyright
Alle Rechte vorbehalten. Nachdrucke, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Film, Funk und
Fernsehen, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssystem jeglicher Art,
nur mit vorherigen schriftlichen Einwilligung des ERIH e. V.:

ERIH - Europäische Route der Industriekultur e. V.
Geschäftsstelle
concept & beratung
Christiane Baum
Am Striebruch 42, 40668 Meerbusch, Deutschland
Tel +49-2150-756496
Fax +49-2150-756497
Email info@erih.net
www.erih.net

Presserechtlich verantwortlich
Prof. Dr. Meinrad Maria Grewenig, Präsident ERIH e. V., Weltkulturerbe Völklinger Hütte

Die Erstellung dieser Broschüre ist durch das Förderprogramm „Kreatives Europa“ der Europäischen Union
unterstützt worden

1. Auflage 2017
© ERIH – European Route of Industrial Heritage e. V.
EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE - EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Inhalt

05   Europas industrielles Erbe – eine internationale Erfolgsstory: Einleitung
06   Wie Europa sich seines industriellen Erbes bewusst wird
08   Europa in vorindustrieller Zeit
10   Kleine Schiffe, große Distanzen: Der internationale Handel
12   Die Schätze unserer Erde
14   Traditionsreiche Industriezweige
16   Weißes Gold: Salz
18   Kohle & Dampf: Die Industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts
20   Veränderungen seit 1870
22   Schwarzes Gold: Der Aufstieg des Kohlebergbaus
24   Die Kohle triumphiert
26   Reichtum der Metalle
28   Das Glühen der Öfen und Schmiedefeuer: Eisenverarbeitung
30   Textilien: Die Arbeitsabläufe
32   Gewebte Magie: Seide
34   Vielfalt der Stoffe
40   Werkstätten der Welt: Maschinenbau
42   Schiffe für den Welthandel
44   Das Öl und der Kraftwagen
46   Aus den Tiefen dunkler Wälder
48   Unser Essen & Trinken
50   Luxus & Alltag: Keramik & Glas
52   Sicherer Hafen
54   Binnenschifffahrt
56   Der Fortschritt kommt auf eisernen Schienen
58   Fernstraßen
60   Flugmaschinen
62   Blaues Gold: Wasser – Wie Städte bewohnbar werden
64   Das Leben in Städten
66   Industrielles Erbe
68   Unser Platz in der Geschichte
70   Betrachtungen

     Zuordnung der Bildunterschriften:
     von links nach rechts und von oben nach unten
     ERIH-Ankerpunkt
EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE - EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
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EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE - EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Europas industrielles Erbe –
eine internationale Erfolgsstory
Einleitung

Die Industrialisierung war von Anfang an ein grenzüberschreitendes Ereignis, keine nationale
Entwicklung. Neue Technologien und Produktionsformen verbreiteten sich in Europa seit der
Mitte des 18. Jahrhunderts in großem Tempo über Landes- und Kulturgrenzen hinweg. Fabri-
kanten errichteten ihre Werkshallen in verschiedenen Ländern, Legionen von Arbeitskräften
machten sich auf den Weg in die aufstrebenden Industrieregionen. In ganz Europa erkämpf-
ten Gewerkschaften nach und nach die Errungenschaften des europäischen Sozialstaats. Die
Basis unseres modernen Europas mit seinem hohen Wohlstand und den hohen sozialen und
medizinischen Versorgungsstandards wurde gelegt.
    Jedes Industriedenkmal, jede Stadt, jede Arbeitersiedlung war und ist Teil dieser zunächst
europäischen und später weltweiten Entwicklung. Nur erfährt der Besucher heute meist
nichts davon. Das eng miteinander verflochtene Netzwerk europäischer Industrieregionen, die
sich gegenseitig befruchten und verstärken – für die Mehrzahl heutiger Industriekultur-Stand-
orte ist das bisher kein Thema.
    Das muss sich ändern. Das ERIH-Netzwerk macht die europäischen Zusammenhänge der
Industrialisierung sichtbar und bietet damit gemeinsame europäische Geschichte zum Anfas-
sen. An über 1.500 Standorten in allen europäischen Ländern erleben Besucher die ganze
Vielfalt, die sich hinter dem Begriff Industriekultur verbirgt. 100 Ankerpunkte, 20 regionale
Routen und 13 Themenrouten fügen das europäische Erbe der Industrialisierung wie in einem
Mosaikbild zusammen. Ziel ist es, dass in Zukunft jeder einzelne ERIH-Standort verstärkt
dieses Mosaikbild aufgreift und seinen Besuchern eine Vorstellung von den vielfältigen
europäischen Verflechtungen vermittelt. Unterstützung erhält ERIH dabei vom Europäischen
Förderprogramm „Creative Europe“. Als anerkanntes Netzwerk für Industriekultur in Europa
wird ERIH seit 2014 gefördert.
    Im Rahmen dieser Netzwerkförderung ist auch die vorliegende Broschüre entstanden. Sie
soll ERIH-Standorten einen ersten Anstoß dafür geben, wie sie die europäischen Zusammen-
hänge aufzeigen und erklären können. Ähnlich den ERIH-Themenrouten skizziert sie die Ge-
schichte der einzelnen Industriezweige als spannendes europäisches Schauspiel. Dabei kann
und will sie nicht alle Bereiche abdecken. Vielmehr will sie dazu anregen, sich detaillierter mit
der internationalen Seite der europäischen Industriekultur zu beschäftigen, um dadurch auch
Impulse für die museale Umsetzung im eigenen Haus zu vermitteln.
    Der Zeitpunkt ist günstig: Die EU hat das Jahr 2018 zum Europäischen Kulturerbejahr
ausgerufen. Im Blickpunkt steht das Verbindende der gemeinsamen kulturellen Wurzeln und
zugleich die kulturelle Vielfalt des Kontinents. In der europäischen Industriekultur, dem spezi-
fischen kulturellen Erbe eines Europas der Regionen, fließt beides beispielhaft zusammen.
    Die Broschüre ist eine erste Annäherung an das umfangreiche Thema. Wir freuen uns
über Ergänzungen und Ideen, um diese spannende Geschichte fortzuschreiben.
EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE - EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Wie Europa sich seines
industriellen Erbes bewusst wird

                                                                                      der Industriegeschichte für die Nach-
                                                                                      welt zu erhalten.
                                                                                          Es entbehrt nicht einer gewissen
                                                                                      Ironie, dass die gestiegene Popularität
                                                                                      der industriellen Hinterlassenschaften
                                                                                      einer international gesunkenen Bedeu-
                                                                                      tung Europas im Hinblick auf Bergbau
                                                                                      und produzierendes Gewerbe gegen-
                                                                                      übersteht. Die Industrie hat sehr alte
                                                                                      Wurzeln, trat ihren Siegeszug in den
                                                                                      meisten europäischen Ländern jedoch
                                                                                      erst im 18. Jahrhundert an. Im frühen
                                                                                      21. Jahrhundert erleben wir die Schlie-
                                                                                      ßung der letzten Steinkohlezechen
                                                                                      in Westeuropa, und die gewaltigen
                                                                                      Maschinen, die noch vor kurzem zum
                                                                                      Abbau von Braunkohle Verwendung
                                                                                      fanden, sind rasch überflüssig gewor-
                                                                                      den. Gezählt sind die Tage von riesigen
                                                                                      Werksanlagen, die scheinbar für die
                                                                                      Ewigkeit geschaffen waren, von Eisen-
                                                                                      hütten, Ölraffinerien und Autofabriken.
                                                                                      Selbst Standorte und Maschinen, die
                                                                                      scheinbar charakteristisch für das
                                                                                      späte 20. Jahrhundert waren, gehören
                                                                                      nun zum alten Eisen. Ungarn besitzt
                                                                                      ein Museum für Nuklearenergie, und
                                                                                      Museen in Frankreich und Großbritan-
                                                                                      nien zeigen Concorde-Überschallflug-
Im letzten halben Jahrhundert gibt es     aristokratischen Villen, historischen       zeuge. Da den Industriegesellschaften
für Familienausflüge und Bildungsreisen   Stadtkernen und faszinierenden Land-        unterschiedliche Entwicklungswege
ganz neue Ziele. Prächtigen Paläste       schaften als ein besonderes Erlebnis,       offenstehen, greifen sie bei der Suche
mit ihren Sammlungen alter Meister        das viele Menschen suchen.                  nach neuen Wachstumszielen gern auf
und feiner Möbel, elegante Parks und         Den Erhalt stillgelegter Fabrikgebäu-    das Erbe der Vergangenheit zurück. Die
Bergwasserfälle bekommen zunehmend        de und die Gründung von Industrie-          Europäische Route der Industriekultur
Konkurrenz durch Besucherbergwerke,       museen unterstützen und betreiben           will dazu beitragen, die bisherigen Er-
Dampfeisenbahnen, Ausflugsboote           viele: ehemalige Werksangestellte, na-      fahrungen in Bergbau und industrieller
auf Kanälen, funktionstüchtige Was-       tionale, regionale und lokale Behörden,     Produktion zu teilen und Herstellungs-
ser- und Windmühlen sowie ehemalige       Entscheidungsträger aller politischen       prozesse und Transportwege der jünge-
Textilfabriken als Veranstaltungsorte     Schattierungen, traditionsbewusste          ren Jahrhunderte zu veranschaulichen.
für Konzerte oder Ausstellungen. Das      Unternehmen, vor allem aber zahlreiche          Die ERIH-Website bietet praktische
industrielle Erbe ist kein Nischenmarkt   bürgerschaftliche Initiativen und Ver-      Unterstützung für Reisende. Überdies
mehr, sondern tritt in Wettbewerb mit     eine, denen es wichtig ist, Zeugnisse       ermöglicht sie es ihren Lesern, selbst

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                                EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE - EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Zeuge eines Feuerwerks in der Ei-
                                                                                     senhütte von Merthyr in Süd-Wales.
                                                                                     Friedrich Engels (1820–95) und Alexis
                                                                                     de Tocqueville (1805–59) verfassen die
                                                                                     mittlerweile klassischen Berichte über
                                                                                     „Klein-Irland“, damals die schlimmsten
                                                                                     Slums von Manchester, und Thomas
                                                                                     C. Banfield beschreibt 1848 ausführlich
                                                                                     die Landwirtschaft und die Manufaktu-
                                                                                     ren an den Ufern des Rheins.

die entferntesten Regionen Europas       Sturm auf die Bastille erfährt er, als er
virtuell zu erforschen. Besucher der     Straßburg erreicht) und prägt mit dem
Website folgen den Spuren von Reisen-    Motto „Dinge sind so viel aussagekräf-
den, deren Texte uns die industrielle    tiger als Worte“ eine archäologische
                                                                                               Essen (D)
Vergangenheit unmittelbar erschließen.   Binsenweisheit. Karl Friedrich Schinkel               Welterbe Kokerei Zollverein,
Der Schwede Reinhold Rücker Anger-       (1781–1841), der große preußische                     Illumination
stein (1718–60) etwa, der 1753–55        Architekt, berichtet 1826 aufgeregt                   Le Bourget (F)
England besucht, liefert die faszinie-   von seinem Besuch der Menai-Hänge-                    Luft- und Raumfahrtmuseum,
                                                                                               Concorde
rende Beschreibung eines Landes an       brücke und des Pontcysyllte-Aquä-
der Schwelle der Industriellen Revo-     dukts in Nord-Wales. An einem Abend                   Petite Rosselle (F)
                                                                                               La Mine
lution. Arthur Young (1741–1820), ein    im Jahr 1844 wird Carl Gustaf Carus
englischer Landwirt, beobachtet 1789     (1789–1869), Leibarzt König Friedrich                 Ostrau (CZ)
                                                                                               Hüttenwerk Vitkovice,
auf seiner Reise von Lothringen ins      Augusts II. von Sachsen, gemeinsam                    zur Multifunktionshalle umgenutzter
Elsass kulturelle Veränderungen (vom     mit seinem königlichen Dienstherrn                    Gasometer
EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE - EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Europa in vorindustrieller Zeit

                                                                        des Römischen Reiches spiegeln sich in
                                                                        südfranzösischer oder rheinischer Terra-
                                                                        Sigillata-Keramik wider, die in Großbri-
                                                                        tannien ausgegraben wurde, oder in der
                                                                        Amphore, in der Wein und Olivenöl vom
                                                                        Mittelmeer nach Nordeuropa gelangten.
                                                                        Über viele Jahrhunderte hinweg prägten
                                                                        Erzabbau und Metallverarbeitung das
                                                                        Erzgebirge, den Harz und die Region
                                                                        bei Falun in Schweden. Im Mittelalter
                                                                        waren Wollstoffe und Salz begehrte
                                                                        Fernhandelsprodukte, und in der Folge
                                                                        der Entdeckungsreisen des 15. und
                                                                        16. Jahrhunderts strömten Seide, Kaf-
                                                                        fee, Kartoffeln, Porzellan und Gewürze
                                                                        nach Europa und bewirkten dort einen
                                                                        tiefgreifenden Wandel der Lebensweise.
                                                                        Dennoch sehen wir erst in der Industri-
                                                                        ellen Revolution des 18. Jahrhunderts
                                                                        die ersten Anzeichen der Globalisierung:
                                                                        Innovationen steigerten die Eisenpro-
                                                                        duktion, der Kohleabbau wuchs in
                                                                        großem Maßstab, mit der Dampfma-
                                                                        schine gab es eine neue Energiequelle,
                                                                        Fabriken zentralisierten die Textilher-
                                                                        stellung, und bessere Straßen, Kanäle
                                                                        und später auch Eisenbahnen erhöhten
                                                                        die Reisegeschwindigkeit und sorgten
                                                                        für erweiterte Kapazitäten des Waren-
                        Wir Europäer leben in einer Welt, in der        transports.
                        die meisten Haushaltsgeräte, die wir be-            Wie die Lebensbedingungen vor der
                        nutzen – die elektronischen Geräte, die         Industriellen Revolution tatsächlich
                        uns zur Unterhaltung und zum Austausch          aussahen, können wir am besten in den
                        mit Freunden dienen, die Kleidung, die wir      Freilichtmuseen Nordeuropas nach-
                        tragen, die Bücher, die wir lesen, ja oft so-   empfinden. Die großen Bauernhäuser
                        gar das Essen, das wir zu uns nehmen –          Westfalens in Detmold, jene aus Flan-
                        Fabrikware sind, die lange Transportwege        dern in Bokrijk, aus den Niederlanden
                        hinter sich hat. Es ist schwer, sich eine       in Arnhem, aus Galizien in Sanok oder
                        Welt vorzustellen, in der dies nicht so war.    die Höfe im Norwegischen Volkskunde-
                            Schon in prähistorischer Zeit gab           museum in Oslo oder in Maihaugen in
                        es Orte, die auf bestimmte, über große          Lillehammer – sie alle waren bewohnt
                        Entfernungen gehandelte Produkte spe-           von Familien, die sich größtenteils
                        zialisiert waren. Die Handelsbeziehungen        selbst versorgten. Viele dieser Häuser

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              EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE - EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
waren zweigeteilt: Auf der einen Seite       Müller in Wasser- oder Windmühlen zu
lagen die Wohnräume, auf der anderen         Mehl. Doch selbst in wohlhabenden
die Ställe für die Tiere. Aus der Kuhmilch   Gebieten mussten einige Familien mit
stellten die Bauern Käse und Butter her,     kleinen Bauernhäusern vorlieb nehmen.
das aus Gerste gewonnene Malz verar-         Sie lebten in baufälligen Hütten und
beiteten sie zu Bier und aus der Wolle       litten Hunger in Zeiten von Missernten.
ihrer Schafe oder aus dem Flachs und         Die Lebensverhältnisse in Südeuropa,
Hanf, die sie um ihre Gehöfte anbauten,      wo Familien Olivenöl anstelle von Butter
spannen sie Garn. Zusätzlich nahmen          gewannen und Wein kelterten, anstatt       Arnheim (NL)
sie die Dienste spezialisierter lokaler      Bier zu brauen, unterschieden sich         Freilichtmuseum
Handwerker in Anspruch: Weber webten         in mancher Hinsicht, doch auch hier        Lillehammer (N)
ihr Garn zu Stoffen, Schreiner zimmer-       waren die Menschen zum Teil Selbst-        Freilichtmuseum Maihaugen
ten ihre Möbel und Schmiede schmiede-        versorger.                                 Detmold (D)
ten ihre Werkzeuge. Ihr Getreide mahlten                                                LWL-Freilichtmuseum (LWL)
EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE - EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Kleine Schiffe, große Distanzen:
Der internationale Handel

                                                                                        hierherbrachten. In Göteborg (S) liegt
                                                                                        der 1993 fertiggestellte Nachbau eines
                                                                                        historischen Schiffes der schwedischen
                                                                                        Ostindien-Kompanie, das den Namen
                                                                                        der Stadt trug und 1745 kurz vor der
                                                                                        Einfahrt in den Heimathafen sank. Das
                                                                                        Göteborger Stadtmuseum residiert in
                                                                                        Büros und Lagerhäusern, die zwischen
                                                                                        1747 und 1762 für ortsansässige
                                                                                        Handelsunternehmen errichtet wurden.
                                                                                        Gleich mehrere westeuropäische Länder
                                                                                        gründeten Unternehmen, die mit China
                                                                                        und anderen Partnern im Fernen Osten
                                                                                        Handelsbeziehungen anknüpften oder
                                                                                        dies zumindest versuchten. Frankreich
                                                                                        operierte dabei aus dem Hafen von
                                                                                        Brest, das Habsburger Reich aus Ant-
                                                                                        werpen und Großbritannien aus London.
                                                                                           Viele Häfen und Handelsstädte in
                                                                                        Europa standen mit der Hanse in Verbin-
                                                                                        dung, einer Vereinigung von Handelsgil-
                                                                                        den aus überwiegend deutschen Städ-
                                                                                        ten, die ihre Blütezeit zwischen dem 13.
                                                                                        und 15. Jahrhundert erlebte, mit dem
                                                                                        Aufstieg der holländischen Seemacht im
                                                                                        17. Jahrhundert jedoch zunehmend an
                                                                                        Einfluss verlor und deren Vertreter zum
                                                                                        letzten Mal 1669 gemeinsam tagten.
                                                                                        Die Hanse unterhielt einen Handels-
Harlingen ist ein kleiner niederländi-      der noch vorhandenen Beschriftungen         stützpunkt in Bergen (Norwegen). Dort,
scher Nordseehafen 10 km nordöstlich        mit Russland, Polen, Java und Sumatra       auf dem sogenannten Tysksebryggen
vom Abschlussdeichs des Ijsselmeeres        handelten. Verbindungen zwischen            (Deutschen Kai), lagerte sie geräucher-
und dient jetzt als Fährhafen für die       Europa und entfernten Erdteilen ver-        ten und getrockneten Fisch, Lebertran
Westfriesischen Inseln. Der Ort ist reich   rät auch die Sammlung historischer          und Fischrogen und verschiffte die
an Zeugnissen des internationalen           Schiffe im niederländischen Enkhuizen.      Waren im Austausch gegen Salz nach
Handels im 17. und 18. Jahrhundert. Zu      Ausgestellt werden sie im Peperhuis,        Südeuropa. In einem der ehemaligen
jener Zeit säumten Werften, Kalköfen,       einem Lagerhaus der niederländischen        Lagerhäuser residiert heute ein Hanse-
Töpfereien und Salzsiedepfannen das         Ostindien-Kompanie aus dem 17. Jahr-        Museum. Zu den deutschen Herstellern,
Hafenbecken und auch die Schiffe und        hundert. Die zahlreichen Windmühlen         die von der Hanse profitierten, gehörten
Trockenschuppen der örtlichen Fischer       von Zaanse Schans in Zaandam (NL)           unter anderem die Drahtzieher in Altena
lagen dort. Der bedeutendste Hinweis        wiederum verarbeiteten viele Rohstof-       im Sauerland, die in großem Maßstab
auf internationale Handelsbeziehungen       fe, die örtliche Schiffe nach langen        Metallbefestigungen nach Skandinavien
sind Warenlager von Kaufleuten, die laut    Handelsfahrten in den fernen Osten          exportierten.

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Viele Fernhandelsrouten existierten     Kolonialprodukte nach Europa verschob.
bereits vor der Industriellen Revolution   Für Hersteller in Europa lieferte der Fern-
des achtzehnten Jahrhunderts, etwa die     handel vor allem Rohstoffe. Zu Beginn
Verschiffung von Getreide und Nadelhöl-    des 18. Jahrhunderts wurden die euro-
zern nach Westeuropa aus Ostseehäfen       päischen Fernhandelshäfen zu Verar-
wie Danzig, Riga und Memel (Klaipėda).     beitungszentren für Zucker, Tee, Kaffee,
Fest etabliert war auch der Handel von     Tabak, Gewürze und Farbstoffe – Pro-
Wein und Olivenöl aus den Mittelmeer-      dukte, die den Alltag der Menschen in
ländern in den Norden. Das Museum          vielerlei Hinsicht veränderten.
der Sklaverei in Liverpool thematisiert
den berüchtigten Dreieckshandel, der                                                     Bergen (N)
Textilien und Metallprodukte nach West-                                                  Welterbe Deutsche Brücke
afrika, schwarze Sklaven nach Amerika                                                    Zaandam (NL)
und Zucker, Baumwolle und andere                                                         Zaanse Schans
Die Schätze unserer Erde

Besucher, die sich der großen Kupfermi-      nach bei und verfügt noch über zahlreiche    eine wichtige Rolle in der Münzprägung
ne bei Falun (Schweden) nähern, sehen        Gebäude und Anlagen des 18. und 19.          und als Material für Luxuswaren.
zuerst ein gewaltiges Loch – entstanden      Jahrhunderts. Erst im letzten Viertel des        Im Erzgebirge, das sich von Sachsen
durch das Absacken des Bodens im Jahr        20. Jahrhunderts kam der Kupferbergbau       bis in die heutige Tschechische Republik
1687. In dem Gebäude, das das Firmen-        zum Erliegen.                                erstreckt, gab es Bergwerke für Blei,
museum beherbergt, treffen sie anschlie-         Nichteisenmetalle dienten verschie-      Silber, Eisen, Zink, Zinn, Nickel, Kobalt
ßend auf eine am 16. Juni 1288 ausge-        denen Zwecken. Blei und Zinn waren die       und Uran. Bergarbeiter aus dem Harz
stellte Urkunde sowie Fundstücke aus         Bestandteile einer Legierung, aus der        begannen bereits 1168, im Erzgebirge
dem Bergbau, die noch älter sind. Das        in ganz Europa Zinnteller und anderes        Eisen- und Silbererze abzubauen. Einen
macht mehr als deutlich, dass die Indust-    Zinngeschirr hergestellt wurde. Messing,     Höhepunkt erreichte der Bergbau im
rialisierung nicht erst im 18. Jahrhundert   eine Kupfer-Zink-Legierung, war ebenfalls    Erzgebirge im 15. und 16. Jahrhundert.
begann. Wie andere alte Erzlagerstätten      Bestandteil der meisten Haushalte mit        Zu jener Zeit fand er Eingang in das
behielt Falun seine Bedeutung auch wäh-      Ausnahme besonders armer Familien.           Werk „De Re Metallica“ des Chemnitzer
rend der Industriellen Revolution und da-    Gold und Silber spielten, wie zu erwarten,   Arztes Georgius Agricola (1494–1555).
                                                                                          Das bedeutendste Bergbaumuseum
                                                                                          der Region besitzt Freiberg – jener
                                                                                          Ort, an dem 1765 eine der ältesten
                                                                                          Bergbau-Akademien gegründet wurde.
                                                                                          Bis heute feiern die Menschen hier
                                                                                          öffentliche Bergbaufeste und tragen zu
                                                                                          bestimmten Anlässen die traditionelle
                                                                                          Bergmannskluft. Einen großen Komplex
                                                                                          von Übertageanlagen anno 1839 vereint
                                                                                          der Abrahamschacht in Freiberg. Dazu
                                                                                          gehören auch Schuppen für die Erzauf-
                                                                                          bereitung. Die Schachtanlage Alte Eli-
                                                                                          sabeth ist ein geneigter Stollen aus den
                                                                                          1840er Jahren, dessen Förderbetrieb
                                                                                          eine 1848-49 installierte Dampfmaschi-
                                                                                          ne der Firma Constantin Pfaff in Chem-
                                                                                          nitz sicherstellte. Das Bergbaumuseum
                                                                                          in Altenberg residiert in einem Pochwerk,
                                                                                          das 1577 erstmals in den Urkunden
                                                                                          auftaucht und bis 1952 in Betrieb war.
                                                                                          Hier starten zugleich die Führungen
                                                                                          durch die Altenberger Pinge, einen vom
                                                                                          Bergbau hinterlassenen Einbruchkrater,
                                                                                          der bei einer Fläche von 12 Hektar einen
                                                                                          Durchmesser von bis zu 450 Metern
                                                                                          und eine Tiefe von 130 Metern erreicht.
                                                                                              Die Geschichte des Bergbaus im
                                                                                          Harz kommt am besten in den Zwillings-
                                                                                          städten Clausthal und Zellerfeld zum

                                                              12 | 13
                                   EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Ausdruck. Dort haben sich umfangreiche        komotiven und das rekonstruierte Haus
Überreste von Wasserkraftanlagen des          eines Bergmanns. Wer mag, kann von
16. Jahrhunderts erhalten. Zudem steht        hier aus zu einer umfassenden geführten
dort noch eine Reihe von Übertageanla-        Tour durch ein Schaubergwerk starten.
gen, etwa auf dem Gelände der Grube               Die Silberminen bei Tarnowskie Góry
Dorothee anno 1713, und auch das              in der Nähe von Kattowitz (Polen) gehen
Oberharzer Bergbaumuseum hat dort             ebenfalls auf das Mittelalter zurück. Der
seinen Platz. Am Rammelsberg in Goslar        Betrieb endete im frühen 20. Jahrhun-
treffen Besucher auf bemerkenswert frü-       dert, seit den 1950er Jahren ist das
he Bergwerke. Dazu zählen neben dem           Gelände für die Öffentlichkeit zugänglich.
Rathstiefste Stollen (ca. 1140) und dem       Auf die Besucher wartet eine 1.700 Me-
Feuerzäher-Gewölbe (ca. 1360) auch            ter lange Tour durch ehemalige Stollen,
mit Bauschmuck versehene Eingänge zu          zu deren Highlights eine 270 Meter lange
später entstandenen Stollen sowie eine        Bootsfahrt auf einem unterirdischen
Erzaufbereitungsanlage aus den Jahren         Kanal gehört – ein Erlebnis, das kein
1936-38. Einen Überblick über die Ent-        anderes Bergbaumuseum bietet.
                                                                                           Eisenerz (A)
wicklung des Industriezweigs insgesamt            Der Erzberg in Österreich, manchmal      Erzberg
gibt das Museum und Besucherbergwerk          auch Steirischer Brotlaib genannt, war
                                                                                           Falun (S)
Rammelsberg.                                  spätestens im 12. Jahrhundert – wenn         Welterbe Bergwerk Falun
    Auf eine ganz ähnliche Geschichte         nicht schon seit dem ersten Erzfund im
                                                                                           Goslar (D)
blickt Banská Štiavnica in der heutigen       Jahr 712 – eine von Europas wichtigsten      Welterbe Rammelsberg,
Slowakei zurück. Schon im 13. Jahr-           Erzquellen. Das Museum in Eisenerz           Museum & Besucherbergwerk
hundert war der Ort als Fundstätte für        und die 40 Kilometer lange Steirische        Tarnowski Góry (PL)
Silber, Blei und Eisenerz bekannt. Ein Teil   Eisenstraße zu den Industriedenkmälern       Welterbe Historisches Silberbergwerk
des örtlichen Bergbaumuseums logiert          zwischen Leoben und Hieflau erzählen je-     Pendeen (GB)
im Kammerhof, in dem ehemals der              weils auf ihre Weise die lange Geschichte,   Welterbe Zinnbergwerk Geevor
Metallgehalt der Erze geprüft wurde. Ein      die die Region im Hinblick auf Eisenberg-    Rumelange (L)
Freilichtmuseum zeigt Fördertürme, Lo-        bau und -verhüttung vorweisen kann.          Nationales Bergbaumuseum
Traditionsreiche Industriezweige

                                                                                        entstanden, doch der Großteil der Ferti-
                                                                                        gung befindet sich bis heute in der Hand
                                                                                        kleiner Werkstätten. Solingen war der
                                                                                        weltweit größte Hersteller von Scheren,
                                                                                        dem Hauptprodukt der Gesenkschmie-
                                                                                        de Hendrichs, deren Werkshallen mit
                                                                                        33 Fallhämmern ausgestattet sind.
                                                                                        Heute steht die Fabrik, die zwischen
                                                                                        1886 und 1896 arbeitete, Besuchern
                                                                                        zur Besichtigung offen. Das Klingenmu-
                                                                                        seum, eingerichtet in einem ehemaligen
                                                                                        Augustinerkloster, präsentiert die ge-
                                                                                        samte, jahrhundertealte Produktpalette
                                                                                        der Solinger Metallindustrie: Schwerter,
                                                                                        Dolche, medizinische Instrumente,
                                                                                        Haushaltsbesteck und Messer für
                                                                                        Messerwerfer. Auch eine Zinnwerkstatt
                                                                                        befindet sich im Haus, und eines der
                                                                                        herausragenden Ausstellungsstücke ist
                                                                                        eine Zinnteekanne.
                                                                                           Steyr in Österreich war das wichtigs-
                                                                                        te Handelszentrum für die steirische
                                                                                        Eisenindustrie. Seit dem Mittelalter
                                                                                        fertigten örtliche Handwerker Schneid-
                                                                                        waren, Besteck und Nägel, und Kauf-
                                                                                        mannshäuser im gotischen, barocken
                                                                                        und klassischen Stil zeugen von dem
                                                                                        Wohlstand der Handelsstadt. Fabriken
                                                                                        erweiterten später das Repertoire der
Reiseschriftsteller im England des          Viele Städte spezialisierten sich auf die   Metallprodukte um Gleitlager, Fahrräder
18. Jahrhunderts erwähnten bei der          Herstellung von Textilien. Das konnten      und Kraftfahrzeuge.
Beschreibung von Städten gewöhnlich         Stoffe mit besonderen Eigenschaften            Für die englische Stadt Sheffield gilt
„Manufakturen”. Sie bezogen sich meist      sein oder Fertigprodukte wie Strumpf-       Ähnliches. Sie verfügte über reichlich
auf Waren, die dort hergestellt und lan-    waren, Teppiche oder Spitze. Andere         Wasserkraft und Kohle und importierte
desweit gehandelt oder sogar exportiert     fertigten Lederwaren, Handschuhe oder       Stahl aus Schweden. Im 19. Jahrhun-
wurden, im Gegensatz zum Austausch          Peitschen. Die ältesten Gewerbe jedoch      dert entstanden viele Besteckfabriken,
von Produkten auf lokaler Ebene. Die        hatten mit dem Schmieden von Werkzeu-       aber die kleinen Werkstätten existierten
meisten bedeutenderen Städte jener          gen und ähnlichen Gütern zu tun.            weiterhin. Dieses Gewerbe der Kleinen
Zeit trieben mit einigen Gütern Handel         Solingen in Deutschland galt im          Meister (“little mesters“), die sich auf
über größere Distanzen, und einige          Mittelalter als bedeutendes Zentrum für     die Herstellung bestimmter Messer-
darunter verfügten oder verfügen in         die Produktion von Waffen und Besteck.      typen spezialisierten, ist heute Gegen-
dieser Hinsicht über Traditionen, die       Im 19. Jahrhundert änderte sich der         stand des Kelham Island Museums.
mehrere Jahrhunderte zurückreichen.         Herstellungsprozess: Große Fabriken         Das Industriedorf Abbeydale (Abbeydale

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Industrial Hamlet), zu dem auch eine
Sensenwerkstatt gehört, veranschau-
licht das Verfahren zur Herstellung
von Tiegelgussstahl, das auf Benjamin
Huntsman (1704–76) aus Sheffield
zurückgeht, während das Shepherd-Rad
(Shepherd Wheel) für jene wasserge-
triebenen Schleifereien steht, in denen
die Kleinen Meister typischerweise ihre
Waren fertigten.
    In Birmingham und dem nahe gelege-
nen Schwarzen Land (Black Country) flo-
rierte die Metallwarenproduktion bereits
um 1700. Die Städte und Heidedörfer
des Schwarzen Landes produzierten Nä-
gel, Ketten, Schlösser und Metallwaren
für Sattler. Birminghams Handwerker
dagegen spezialisierten sich auf „Spiel-
zeug”, das heißt auf ausgewählte Metall-
waren höherer Qualität. Im restaurierten
Juwelierviertel in Birmingham, im Black
Country Living Museum in Dudley und
in der Industriesiedlung von Mushroom
Green in Brierley Hill wird die Welt des
traditionsreichen Kleineisengewerbes
wieder lebendig.
    Die Ursprünge der alteingesessenen
Industrie in Sheffield und Birmingham,
aber auch in der Steiermark (A) und
im Bergischen Land (D), liegen weit
zurück. Andere, in ihrer Art ähnliche und   Gebäude hinzu. 72 Handwerker, einige
ebenso langlebige Wirtschaftszweige         von ihnen aus Deutschland, stellten       Ulft (NL)
lassen sich dagegen präzise bis zu ihren    dort Schlösser, Nägel und Besteck her.    Innovations-Zentrum ICER
Anfängen zurückverfolgen. Eine sehr         Sechs Gebäude haben sich erhalten und     Birmingham (GB)
erfolgreiche Industrieansiedlung etwa       bilden heute einen Museumskomplex,        Museum of the
                                                                                      Jewellery Quarter
war die Gründung der Stadt Eskilstuna       der als Rademachers Schmieden be-
in Schweden, die Reinhold Radema-           kannt ist. Das Vermächtnis der Indust-    Sheffield (GB)
                                                                                      Kelham Island Museum
cher (1609–68) auf Veranlassung von         rieansiedlung des 17. Jahrhunderts lebt
König Carl Gustaf 1658–59 ins Werk          aber auch in den modernen Maschi-         Solingen (D)
                                                                                      LVR-Industriemuseum
setzte. Der Architekt Jean de la Vallée     nenbaufirmen fort, die nach wie vor in    Gesenkschmiede Hendrichs
(1624–96) ordnete zwanzig Schmieden         Eskilstuna blühen.
                                                                                      Dudley (GB)
aus Holz auf einem Straßenraster an.                                                  Freilichtmuseum des „Schwarzen
Innerhalb weniger Jahre kamen weitere                                                 Landes“
Weißes Gold: Salz

                                                                                              Ländern wird Meerwasser in Lagunen
                                                                                              geleitet, wo es im Laufe der Zeit ver-
                                                                                              dampft und am Boden eine Salzschicht
                                                                                              zurücklässt. Reste dieser Methode der
                                                                                              Salzgewinnung – zum Teil auch noch in
                                                                                              Betrieb befindliche Anlagen – gibt es in
                                                                                              Figueira da Foz in Portugal, Las Salinas
                                                                                              de Imón in Spanien, Margherita de
                                                                                              Savoia an der italienischen Adriaküste –
                                                                                              dort wird Salz bis heute in großen Men-
                                                                                              gen hergestellt –, in Ettone e Enferosa
                                                                                              bei Marsala auf Sizilien, bei Mytilene auf
                                                                                              der griechischen Insel Lesbos, bei Piram
                                                                                              an der Adriaküste Sloweniens und bei
                                                                                              Pomorie in Bulgarien. Andernorts werden
                                                                                              Ablagerungen von Steinsalz abgebaut,
                                                                                              zum Teil seit prähistorischer Zeit wie
                                                                                              in Hallstatt (A). Eine dritte Methode
                                                                                              beruht darauf, Sole aus unterirdischen
                                                                                              Depots an die Oberfläche zu pumpen
                                                                                              und anschließend auszukochen, sodass
                                                                                              nur die Salzkristalle zurückbleiben. Dies
                                                                                              geschieht etwa auf der dänischen Insel
                                                                                              Laeso oder in den Lion Salt Works bei
                                                                                              Northwich in England. Die deutsche Stadt
                                                                                              Halle, seit 1680 zu Preußen gehörig,
                                                                                              erhielt auf Veranlassung König Friedrich
                                                                                              Wilhelms I. 1719 ein eigenes Salzwerk
                                                                                              auf einer Insel in der Saale. Braunkohle
Salz ist lebensnotwendig und diente seit        für getrockneten und gesalzenen Kabel-        lieferte den Brennstoff für die Salzsie-
prähistorischer Zeit als Konservierungs-        jau), Bacalhau (der portugiesische Begriff)   depfannen, 1865 wurde zusätzlich eine
mittel für Lebensmittel und zum Würzen          oder Klippfisch findet auf den Märkten        Dampfpumpe installiert, und erst 1964
von Speisen. Seine Besteuerung war eine         von Valencia in Spanien, Porto in Portugal    stellte das Werk den Betrieb ein. Heute
wichtige Einnahmequelle für Regierungen         und Piräus in Griechenland immer noch         beherbergt es das städtische Museum
aller Art, als Glasur ließ es sich leicht auf   viele Abnehmer. Salz machte Rindfleisch,      des Salzes und der Salzwerker. Alternativ
Keramik auftragen, und in einigen Gesell-       Schweinefleisch und Butter haltbar und        kann Sole auch, wie in Bad Dürrenberg
schaften übernahm es die Funktion einer         gab dem mehlhaltigen Haferschleim,            in Sachsen oder Ciechocinek in Polen,
Währung. Im Europa des 17. Jahrhunderts         von dem viele Menschen lebten, etwas          auf den Scheitelpunkt von Gradierwer-
war die Salzherstellung im katholischen         Geschmack. Einige Länder erklärten            ken gepumpt werden. Diese bestehen
Süden weit verbreitet und erwies sich als       seine Herstellung sogar zum königlichen       aus hoch aufgeschichteten Bündeln aus
willkommene Handelsware im Austausch            Monopol.                                      Schwarzdorn-Zweigen, über die die Sole
mit den Fischern des protestantischen               Salz wird im Wesentlichen auf vier ver-   herabrieselt und dabei Salzablagerungen
Nordens. Bacalao (der spanische Begriff         schiedene Arten hergestellt. In warmen        zurücklässt, die gesammelt werden.

                                                                  16 | 17
                                     EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY
Viele Orte mit salzhaltigen Quellen sind
heute Thermalbäder oder Kurorte, und
auch die besondere Zusammenset-
zung der Luft in Salzbergwerken gilt als
genesungsfördernd. So zieht etwa die
jodreiche Atmosphäre in Ciechocinek (PL)
immer noch Rekonvaleszenten an. Die
gesundheitliche Wirkung des Salzes
und der Maßstab einiger Salzbergwerke
haben zur Entstehung von unterirdischen
Skulpturen, Reliefs und sogar Kirchen
geführt. In Wieliczka bei Krakau (PL),
dessen Salzbergwerk zu den größten
Europas zählt und im sechzehnten
Jahrhundert tausend Arbeitskräfte be-
schäftigte, stellen die Kapelle St. Antonio
von 1689 und die Kapelle der Gesegne-
ten Könige eine Vielzahl an Salzreliefs
mit biblischen Szenen zur Schau. Die
Bedeutung der Salzgewinnung verrät sich
auch im Salzwerk von Arc-et-Senans im
französischen Département Jura, das
zwischen 1775 und 1779 nach Entwür-
fen von Claude-Nicolas Ledoux (1736–
1806) entstand. Die beiden Siedehäuser,
ein monumentales Eingangsportal und
24 Arbeiterhäuser, die in zwei Halbrotun-
den angeordnet sind, machen es zu
einem der spektakulärsten Industriekom-
plexe Europas.
   Im Zuge der industriellen Revolution       Chemiewerke entstehen: 1865 in Couillet
wurde Salz zu einem wichtigen Rohstoff        bei Charleroi (B), 1873 in Dombasle nicht
für die Herstellung von Schlüsselsub-         weit von Nancy (F), in den 1890er Jahren
stanzen. Dazu gehören insbesondere            in Bad Friedrichshall (D) im Neckartal
Salzsäure und Natriumcarbonat (oder           sowie 1874 in Northwich in Cheshire (GB).
Alkali), die bei der Herstellung von Glas     Das Museum in Solikamsk in Russland –
und anderen chemischen Prozessen              bis heute ein Zentrum der Kaliproduktion,
Verwendung fanden. Das von Ernest             das 11.000 Menschen beschäftigt – ver-      Krayenberggemeinde (D)
Solvay (1838–1922) entwickelte Ver-           fügt über die umfangreichste Sammlung       Erlebnisbergwerk Merkers
fahren zur Herstellung von Alkali ließ im     an Gebäuden und Objekten zur Salzge-        Halle / Saale (D)
späten 19. Jahrhundert an Orten, die          winnung, darunter aus Holz konstruierte     Saline
über Salzquellen oder Vorräte an Pott-        Gradierwerke, Siedepfannen, Salztruhen      Northwich (GB)
asche (Kaliumchlorid) verfügten, riesige      und Badehäuser.                             Lion Salt Works
Kohle & Dampf: Die industrielle Revolution
des 18. Jahrhunderts

                                                                   im Laufe dieses Jahrhunderts stieg die
                                                                   Produktion in Großbritannien stetig an
                                                                   und beschleunigte sich seit den 1780er
                                                                   Jahren rasant. Die bessere Verfügbarkeit
                                                                   von Kohle ermöglichte die Erweiterung
                                                                   der Eisenerzeugung, die Verhüttung von
                                                                   Nichteisenmetallen sowie die Ziegel-,
                                                                   Kalk-, Keramik- und Glasherstellung.
                                                                       Die Kohle führte auch zum Einsatz
                                                                   neuer Antriebsmaschinen. Während viele
                                                                   Textilfabriken und Eisenhütten des 18.
                                                                   Jahrhunderts mit Wasserkraft arbeiteten
                                                                   und die führenden Ingenieure jener Zeit
                                                                   viel Energie darauf verwandten, die Effi-
                                                                   zienz von Wasserrädern zu verbessern,
                                                                   verdankt sich die enorme Ausweitung
                                                                   und Steigerung der Produktion – beson-
                                                                   ders in der Zeit nach 1800 – der Dampf-
                                                                   maschine. Die erste effektive Dampf-
                                                                   maschine geht sehr wahrscheinlich
                                                                   auf Thomas Newcomen (1663–1729)
                                                                   zurück, der damit 1712 den Wasserab-
                                                                   fluss einer Zeche in Coneygre bei Dudley
                                                                   in den englischen Midlands regelte.
                                                                   Newcomens Maschine konnte nur zum
                                                                   Pumpen benutzt werden, aber sowohl für
                                                                   Kohlegruben als auch für Bergwerke, die
                                                                   Nichteisenmetalle abbauten, bedeutete
                                                                   das einen Fortschritt. Bis 1733 wurden
                       Die meisten Historiker stimmen darin        etwa 100 dieser Maschinen allein in
                       überein, dass Bergbau und industrielle      England installiert, einige nahmen auch
                       Produktion im Europa des 18. Jahrhun-       in anderen europäischen Ländern ihren
                       derts eine ganz neue Richtung einschlu-     Dienst auf. Mårten Triewald (1691–1747)
                       gen und dass dieser Wandel in Groß-         zum Beispiel setzte 1727 eine Dampfma-
                       britannien begann. Die Veränderungen        schine zur Entwässerung des berühmten
                       betrafen die gesamte Bandbreite der         Eisenerzbergwerks bei Dannemora in
                       Industrie. Die erste und grundlegends-      Schweden ein. Der Erfolg blieb zwar aus,
                       te Entwicklung war die massenhafte          aber das Motorhaus steht heute noch.
                       Verwendung von Kohle als Brennstoff.        1769 begann James Watt (1736–1819),
                       Lange vor dem 18. Jahrhundert diente        die Effizienz von Dampfmaschen zu
                       Kohle bereits als Heizmittel in Privat-     verbessern, unter anderem durch die
                       haushalten und spielte auch für einige      Verwendung von separaten Konden-
                       Herstellungsprozesse eine Rolle, aber       satoren. Er war es auch, der in den

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1780er Jahren gemeinsam mit anderen          18. Jahrhundert übernahmen auch an-
Methoden entwickelte, um maschinell          dere Industriezweige das Fabriksystem.
Drehbewegungen zu erzeugen und so            Herstellungsbetriebe wie Glaswerke und
andere Maschinen anzutreiben. Das war        Töpfereien wurden größer, und ihre Arbei-
die entscheidende Voraussetzung für die      ter führten zunehmend vereinfachte und
Einführung dampfgetriebener Walzwerke        spezialisierte Tätigkeiten aus. Trotzdem
oder Textilfabriken. Die seit den 1790er     blieb die Produktion von Alltagsartikeln
Jahren in Bergwerken einsetzende             wie Kleidung, Möbeln, Schuhen und Le-
Verbreitung billiger und einfacher Förder-   bensmitteln in den meisten europäischen
maschinen – für gewöhnlich auf Drehbe-       Ländern noch jahrzehntelang in der Hand
wegungen getrimmte Newcomen-Dampf-           einzelner lokaler Handwerker.
maschinen – trugen ihrerseits stark zur          Die Industrielle Revolution beschleu-
Erhöhung der Kohleproduktion bei.            nigte und vervielfachte überdies den
    Ein weiteres Merkmal der Industriel-     Warentransport. Kanäle, über die England
len Revolution war die Entstehung der        bereits seit den 1760er Jahren verfügte,
Fabrik, eines Ortes zentralisierter und      entstanden nun auch in Belgien, Deutsch-
maschineller Produktion. Die ersten Fa-      land, Frankreich und andernorts. Jedes
briken entstanden in der Textilbranche.      europäische Land übernahm zudem die
Die Seidenspinnerei der Gebrüder Lom-        Technologie des Eisenbahnfernverkehrs,      Telford (GB)
be (John: 1693–1722; Thomas: 1685–           die 1830 bei der Eröffnung der Strecke      Weltberbe Freilichtmuseum Blists Hill
                                                                                         Victorian Town
1739) in Derby (GB), die auf Technologien    Liverpool-Manchester ihren Einstand
ähnlicher Fabriken in Bologna (I) zurück-    feierte. Kennzeichnend für die Industri-    Chemnitz (D)
                                                                                         Sächsisches Industriemuseum,
griff, war sehr wahrscheinlich das Vorbild   elle Revolution war schließlich auch das    Industriemuseum Chemnitz
für die Baumwollspinnereien von Richard      Wachstum der großen Städte, deren größ-
                                                                                         Cromford (GB)
Arkwright (1732–92) in Cromford und für      te nicht nur Produktionszentren, sondern    Welterbe Cromford Mills
viele weitere Fabrikgründungen in Groß-      vor allem Handelsknotenpunkte waren –
                                                                                         Manchester (GB)
britannien und, kurz darauf, in vielen       „Durchgangsstationen“ für Menschen und      Wissenschafts- und Industriemuseum,
Teilen von Kontinentaleuropa. Im späten      Waren gleichermaßen.                        Bahnhofsgebäude
Veränderungen seit 1870

                                                                                         ten Munkfors zu sehen. Etwa zeitgleich
                                                                                         vermarktete der Franzose François
                                                                                         Hennebique (1842-1921) in ganz Europa
                                                                                         seine Betonbauweise, und bis 1917
                                                                                         hatten seine Vertreter 17.692 Verträge
                                                                                         abgeschlossen.
                                                                                             Abgesehen von Flussstahl wurden
                                                                                         nun auch Stahlsorten für andere
                                                                                         Verwendungszwecke entwickelt. 1882
                                                                                         erfand Sir Robert Hadfield (1858–1940)
                                                                                         Manganstahl, eine Legierung, die die
                                                                                         Elastizität des Metalls erhöhte und sie
                                                                                         für die Herstellung von Eisenbahnschie-
                                                                                         nen und den Bau von Zerkleinerungs-
                                                                                         anlagen geeignet machte. Ein anderer
                                                                                         Stahlproduzent aus Sheffield, Harry
                                                                                         Brearley (1871–1948), führte 1913 rost-
                                                                                         freien Stahl ein, der ursprünglich einen
                                                                                         Chromanteil von 12,5 Prozent aufwies
                                                                                         und in seinen vielen Varianten zu einem
                                                                                         der charakteristischen Materialien des
                                                                                         20. Jahrhunderts wurde.
                                                                                             Ein weiteres neues Material war
                                                                                         Aluminium. Der Franzose Paul Héroult
                                                                                         (1863–1914) und der Amerikaner
                                                                                         Charles Hall (1863–1914) stießen
                                                                                         um das Jahr 1886 zeitgleich auf eine
                                                                                         Methode, die es erlaubte, das Metall
                                                                                         durch Elektrolyse herzustellen, und zwar
In den 1870er Jahren erreicht die indus-     Baustoff 1890 anlässlich der Fertigstel-    mithilfe des Minerals Kryolith, dessen
trielle Entwicklung in Europa eine neue      lung der Eisenbahnbrücke über den Firth     wichtigster Fundort Grönland war. Der
Stufe. Zum Teil erklärt sich dies aus der    of Forth in Schottland mit ihren beiden     Produktionsprozess verbraucht große
Einführung neuer Materialien. An erster      riesigen, 521 Meter langen Ausleger-        Mengen an Strom, weshalb die meis-
Stelle steht hier Bau- oder Flussstahl,      bögen eindrucksvoll demonstriert. Im        ten Aluminiumschmelzen an Orten mit
den Henry Bessemer (1813–98) 1856            folgenden Jahrzehnt entwickelte sich die    ausreichenden Wasserkraft-Ressourcen
erstmals herstellte und der seit den         Verwendung von Stahl zum Standard für       entstanden, etwa in der französischen
1860er Jahren mithilfe des von Carl          den Bau von Textilfabriken, Hotels und      Alpenregion Dauphiné, wo ein Museum
Wilhelm Siemens (1823–83) entwickel-         Kaufhäusern. Bessemerbirnen sind heu-       in Vaujany die Geschichte der Wasser-
ten Siemens-Martin-Ofens im sogenann-        te in verschiedenen Museen zu sehen.        kraft veranschaulicht.
ten Herdfrischverfahren erzeugt wurde.       Gleich ein ganzes Bessemer-Werk hat             Mit den Eigenschaften elektrischer
In Großbritannien gilt Flussstahl seit       sich in Hagfors in Schweden erhalten und    Energie beschäftigten sich Wissen-
1877 offiziell als geeignetes Material für   eine Anlage mit mehreren Siemens-Mar-       schaftler wie Alessandro Volta (1745–
Brücken – eine Qualität, die der neue        tin-Öfen anno 1877 ist im 30 km entfern-    1817) und Michael Faraday (1791–

                                                              20 | 21
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1867), und seit den 1870er Jahren, als
ein Kraftwerk in Paris in Betrieb ging,
begann der Einsatz elektrischen Stroms
für praktische Zwecke wie die Beleuch-
tung von Straßen und großen Gebäuden
und – seit 1883 – auch von Straßenbah-
nen. In der Folgezeit stellten auch Fabrik-
maschinen, Walz- und Hammerwerke der
Metall verarbeitenden Industrie sowie
Eisenbahnlokomotiven ihren Antrieb auf
elektrische Energie um. Seit den 1890er
Jahren entstanden überall größere „zen-
trale” (also für die öffentliche Versorgung
zuständige) Kraftwerke, und Strom wur-
de zu einer der Grundlagen des Lebens
im 20. Jahrhundert.                           (GB), zeigt eine umfangreiche Palette an
    Auch in der chemischen Industrie gab      Kunststoffen, während sich das Deut-
es tiefgreifende Veränderungen. Der Bel-      sche Chemie-Museum in Merseburg und
gier Ernest Solvay (1838–1922) führte         das Catalyst-Museum in Widnes (GB) der
das Ammonium-Soda-Verfahren zur Her-          breiteren Bedeutung der chemischen
stellung von Alkali (Natriumcarbonat) ein.    Industrie widmen.
An mehreren Orten Europas, die über               Eine weitere Innovation des späten
Salzvorräte verfügten, entstanden große       19. Jahrhunderts war die Nähmaschi-
Werke als Zentren für die Herstellung         ne. Ihr Prototyp, 1830 erfunden von
von zahlreichen industriellen Rohstoffen      Barthélemy Thimonnier (1793-1857),
und Haushaltsprodukten. Sprengstoffe,         fand für die Produktion von Militäruni-
Medikamente, Kunststoffe und eine gan-        formen Verwendung. In den meisten
ze Auswahl weiterer Materialien gingen        europäischen Ländern eroberten die
aus Experimenten von Sir William Perkin       Nähmaschinen der US-amerikanischen
(1838–1907) hervor, die als Resultat Ani-     Firma Isaac Merit Singer (1811–75)
linfarbstoffe lieferten und die Grundlage     den Markt. Gemeinsam mit der Ver-
für große, mit Koks oder später Öl betrie-    fügbarkeit von kompakteren Antriebs-
bene Chemiewerke bildeten. Kunststoffe,       maschinen – Gasmotoren und später
die charakteristischen Materialien des        Elektromotoren – ermöglichten sie die
20. Jahrhunderts, kamen im späten 19.         Gründung von Fabriken wie jenen in
Jahrhundert allmählich auf. Eine bedeu-       Colchester, Leeds und Northampton
tende Neuerung in dieser Hinsicht war         (alle GB), die Kleidung und Schuhe in
                                                                                         South Queensferry (GB)
die Patentierung von wärmehärtbaren           Massenproduktion herstellten.              Welterbe Forth Bridge
Phenol-Formaldehyd-Harzen durch Leo
                                                                                         Wien (A)
Baekeland (1863–1944) im Jahr 1907                                                       Technikmuseum,
und die Errichtung einer Fabrik in der                                                   Bessemerbirne
Nähe von Berlin zwei Jahre später. Das                                                   Merseburg (D)
Bakelit-Museum in Williton, Somerset                                                     Deutsches Chemiemuseum
Schwarzes Gold:
Der Aufstieg des Kohlebergbaus

                                                                                           bei vielen Tagebauprojekten des
                                                                                           20. Jahrhunderts, und eine bemerkens-
                                                                                           werte Bergbaulandschaft voller Glocken-
                                                                                           schächte befindet sich in Clee Hills bei
                                                                                           Ludlow (GB). Mehrere Bergbaumuseen
                                                                                           bieten Zugang zu Stollen, die früher dem
                                                                                           Kohleabbau dienten, zum Beispiel in
                                                                                           Apedale (GB), wo die Abbautätigkeit erst in
                                                                                           den 1980er Jahren eingestellt wurde.
                                                                                               Andere Museen wie das in Beamish
                                                                                           rekonstruieren Bergwerksstollen nach
                                                                                           historischen Vorbildern. Besonders
                                                                                           schwierige Abbaubedingungen spiegeln
                                                                                           die unterirdischen Gänge zu den wenig
                                                                                           ertragreichen Kohleflözen bei Arigna im
                                                                                           County Roscommon in Irland.
                                                                                               Den Arbeitsalltag des frühen Bergbaus
                                                                                           veranschaulichen am besten größere
                                                                                           Technikmuseen wie das Deutsche Berg-
                                                                                           baumuseum in Bochum. Es präsentiert
                                                                                           frühe Werkzeuge aus geschmiedetem
                                                                                           Eisen, Drainagerohre aus ausgehöhlten
                                                                                           Baumstämmen, Sicherheitslampen aus
                                                                                           dem frühen 19. Jahrhundert, die ohne
                                                                                           Methangas auskamen, oft von Kindern
                                                                                           bediente Lüftungstüren, Leitern, mit denen
                                                                                           die Bergleute in die Stollen herabstiegen,
                                                                                           sowie Fahrzeuge und Schienen für den
                                                                                           Transport der Kohle von den Abbaustellen
Kohle war die treibende Kraft der In-        oder Glockenschächten, bestehend aus          zu den Schächten. Frühe Förderanlagen,
dustriellen Revolution. Zwei eindrucksvoll   einem bis zu zehn Meter tiefen Schacht        ob von Hand oder mit Grubenpferden ange-
große Brocken walisischer Kohle sind         (auch Duckel genannt), von dessen Grund       trieben, haben dagegen selten überlebt
im Bedwellty Park in Tredegar zu sehen.      aus kreisförmig nach Kohle gegraben           und werden am besten durch Modelle
Einer von ihnen wiegt 15 Tonnen und          wurde, wodurch die Gestalt einer Glocke       veranschaulicht.
konnte deshalb nicht auf der Weltausstel-    entstand. Sobald das Deckgebirge                  In einer typischen Zeche aus der
lung von 1851 im Kristallpalast in London    (Hangende) einzustürzen begann, gab           Mitte des 19. Jahrhunderts entwässerten
gezeigt werden. Der andere, zwei Tonnen      man den Schacht auf und hob nebenan           Pumpen das Bergwerk und Dampfma-
schwer, bereicherte 1951 das Festival        einen neuen aus, während die unterir-         schinen beförderten die Kohle durch die
von Großbritannien (Festival of Britain).    dischen Kammern des alten Glocken-            Schächte nach oben. Die Zeche von Elsecar
Die frühesten Methoden des Kohleab-          schachts allmählich zusammenfielen            in Barnsley (GB) besitzt noch eine New-
baus erfolgten mithilfe von Stollen –        und an der Erdoberfläche eine teller- bis     comen-Dampfmaschine aus den 1780er
horizontal in Bergflanken getriebene Gän-    trichterförmige Mulde (Pinge) hinterließen.   Jahren. Big Pit im walisischen Blaenavon
ge zur Erschließung von Kohleflözen –        Reste von Glockenschächten zeigten sich       und die Zeche Caphouse bei Wakefield (GB)

                                                               22 | 23
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sind beide von einer Größe, die charak-
teristisch für die Mitte des 19. Jahrhun-
derts ist, doch blieben sie gleichermaßen
bis weit in das 20. Jahrhundert in Betrieb
und weisen entsprechend Merkmale
späteren Datums auf. Umgekehrt verhält
es sich mit der Grube Blégny in Belgien:
Sie schloss erst 1980 ihre Pforten und
war die letzte aktive Zeche in der Region
Lüttich, gibt aber wegen ihrer langen
Laufzeit von nicht weniger als 200 Jahren
auch noch Hinweise auf frühere Zeiten.
    In einigen Teilen Europas war Torf von
größerer Bedeutung als Kohle. In den
Sumpfgebieten entlang der Ems nahe der
deutsch-niederländischen Grenze widmen       Energieversorgung auf Gas umgestellt, und     Blégny (B)
sich das Freilichtmuseum Veenpark (Torf-     in den Großstädten gewannen Gaswerke          Welterbe Bergwerk Blegny
park) bei Baarger-Compascum (NL) und         zunehmend an Bedeutung, unter anderem         Wakefield (GB)
das Elisabethfehn Moorland Museum in         weil sie nebenher Ausgangsstoffe für die      Staatliches Englisches
                                                                                           Kohlebergbaumuseum
Barßel (D) den Methoden des Torfabbaus.      Chemieindustrie lieferten. Die Entdeckung
    William Murdock (1754–1839) führte       von Erdgas führte seit den 1960er Jahren      Barsnley (GB)
                                                                                           Geschichtszentrum Elsecar
1792 die Eigenschaften von Kohlegas          zu einem Rückgang der Kohlegasprodukti-
vor. Er arbeitete für die Maschinenbaufir-   on. Welche Rolle die Gasindustrie gespielt    Blaenavon (GB)
                                                                                           Welterbe Nationales Kohlemuseum
ma Boulton & Watt, die seit 1805 daran       hat, verdeutlichen erhaltene Kleinkraftwer-   Big Pit
arbeitete, mit einem Kraftwerk Gas für       ke in Biggar, Fakenham und Carrickfergus
                                                                                           Carbonia (I)
Straßenbeleuchtung, Fabriken und zu          (GB), Hobro (DK), Neustadt/Dosse (D)          Italienisches Zentrum der
gegebener Zeit auch Privatwohnungen zu       und Paczków (PL). Umnutzungen erlebten        Kohle-Kultur
liefern. Bis 1850 hatten die meisten be-     größere Werke in Piräus (GR), Augsburg (D),   San Martín del Rey Aurelio (E)
deutenderen Städte in Westeuropa ihre        Budapest (H) und Warschau (PL).               Bergwerk Pozo Sotón
Die Kohle
triumphiert

Seit Ende des 19. Jahrhunderts nahm          seit 1900 gesetzlich vorgeschrieben wa-
der Umfang der Kohleförderung zu. Die        ren. Kurz darauf folgten Belgien und die
Zechen wurden immer tiefer und einige        Niederlande mit ähnlichen Gesetzen. In
von ihnen beschäftigten mehrere tausend      Großbritannien veranlasste der Bergbau-
Bergleute. Hohe Fördertürme aus Stahl        Wohlfahrtsausschuss (Miners’ Welfare
oder Beton hievten die Kohle an die Ober-    Committee) erst in den 1930er Jahren
fläche und transportierten die Bergleute     den Bau von Umkleide- und Waschräume.
in Förderkörben an ihren Arbeitsplatz und        Zu den Museen, die den jüngeren
wieder zurück. Die Energie dafür lieferten   Kohlebergbau veranschaulichen, gehö-
Verbunddampfmaschinen und später             ren jene in Ostrava in der Tschechischen
elektrische Fördermaschinen. Mechani-        Republik, Bexbach im Saarland, Carbonia
sche Anlagen sortierten die Kohle nach       in Sardinien, Cercs in Katalonien und
ihrer Stückgröße und lenkten sie direkt      El Entrego in Asturien. Das Limburger
auf bereitstehende Eisenbahnwaggons,         Revier an der belgisch-niederländischen
auch wenn sich die Sortierung von Hand       Grenze geht auf die letzten Jahre des 19.
in manchen Zechen noch bis in die Zeit       Jahrhunderts zurück und beschränkte sich      in Essen, 1932 in Betrieb gegangen,
nach 1950 hielt. Seit den 1880er Jahren      auf eine geringe Zahl sehr großer Zechen.     beschäftigte einst 5.000 Bergleute,
trieben größere Zechen ihre Werkzeuge        Dazu gehören das Bergwerk im belgischen       förderte bis 1986 Kohle und ist ein her-
mittels Druckluft aus obertägigen Ma-        Beringen, in dem jetzt das Flämische          vorragendes Beispiel für die Architektur
schinenhäusern an. Das Schneiden und         Bergbaumuseum residiert, und die Grube        der Moderne. Einen weiteren Aspekt der
der Transport der Kohle unter Tage           Winterslag, umgenutzt zum Kulturzentrum       Kohleindustrie im Ruhrgebiet repräsen-
wurde – besonders nach 1950 – zuneh-         C-mine bei Genk.                              tieren die monumentalen Gebäude der
mend automatisiert. Die dafür entwickel-         Die spektakulärsten Denkmäler des         1927 eröffneten und 1992 geschlosse-
ten elektrischen Maschinen erhielten         Kohlebergbaus im 20. Jahrhundert besitzt      nen Kokerei Hansa in Dortmund.
ihren Strom oft aus zecheneigenen            das Ruhrgebiet. Der Maschinenraum der             Nur wenige Zechen sind heute noch
Kraftwerken. Ebenfalls in den 1880er         Zeche Zollern in Dortmund anno 1904 ist       zugänglich, doch erhalten Besucher
Jahren führten deutsche Kohlebergwerke       ein helles, leichtes, zeltartiges Gebäude     mancherorts die Möglichkeit, ein Koh-
Waschkauen ein, die in größeren Zechen       im Jugendstil. Zeche Zollverein Schacht XII   lebergwerk auch untertage zu erleben.

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Die verbesserten sich im 20. Jahrhundert
                                                                                          deutlich, doch die Zunahme der Abbau-
                                                                                          mengen zog im Fall von Grubenunglücken
                                                                                          erschreckend hohe Opferzahlen nach
                                                                                          sich. In Senghenydd in Süd-Wales steht
                                                                                          ein Mahnmal für die 83 Bergleute, die bei
                                                                                          einem Unfall im Jahre 1907 starben,
                                                                                          sowie weitere 493 Todesopfer einer unter-
                                                                                          irdischen Explosion am 14. Oktober 1913.
                                                                                          Das Energeticon in Gebäuden der Grube
                                                                                          Anna II in Alsdorf (D) gedenkt der 271
                                                                                          Bergarbeiter, die bei einem Unfall am
                                                                                          21. Oktober 1930 ums Leben kamen.

                                            555 Meter unter der Oberfläche führt.
                                            Ein Merkmal der deutschen und polni-
                                            schen Kohleindustrie des 20. Jahr-
                                            hunderts war der Braunkohletagebau.
                                            Im hessischen Borken erinnert daran
                                            noch ein Braunkohlekraftwerk aus den
                                                                                                    Hoyerswerda (D)
                                            Jahren 1922–23, in Hoyerswerda eine                     Sächsisches Industriemuseum,
                                            Brikettfabrik und in Großräschen ein                    Energiefabrik Knappenrode

                                            Besucherzentrum an einem künstlichen                    Beringen (B)
                                            See, der bis 2018 einen riesigen Tagebau                Flämisches Bergbaumuseum
                                                                                                    beMine
                                            geflutet haben wird. Herausragend ist die
                                            F60-Abraumförderbrücke in Lichterfeld,                  Lichterfeld (D)
                                                                                                    Besucherbergwerk F60
                                            die 1991 fertiggestellt und kaum genutzt
                                            wurde. Sie besteht aus 11.000 Tonnen                    Essen (D)
                                                                                                    Welterbe Zeche Zollverein,
                                            Stahl, verläuft auf einer Höhe von 80 Me-               Schacht XII
Die Zeche Guido in Zabrze (PL), die ihren   tern über dem Boden und konnte 29.000
                                                                                                    Marcinelle (B)
Namen Guido Henckel von Donnersmarck        Kubikmeter Abraum pro Stunde bewegen.                   Welterbe Bois du Cazier
(1830–1910) verdankt, erlaubt Besichti-        Zwei weitere Merkmale des Kohleberg-
                                                                                                    Zabrze (PL)
gungen in 320 Metern Tiefe. Die Anlage      baus thematisiert die Europäische Route                 Bergwerk Guido
der Grube Pozo Sotón zwischen Sotrondo      der Industriekultur. Zechen waren immer
                                                                                                    Gräfenhainichen (D)
und El Entrego (E) legte seit 1845 der      ein Anziehungspunkt für Wanderarbeiter,                 Ferropolis – Stadt aus Eisen
Engländer William Partington an. Mit dem    und das Museum, das Marcel Maulini
                                                                                                    Grossouvre (F)
Bau zweier 33 Meter hoher Förder-           (1913–83), selbst als Sohn italienischer                Kohlehalle
türme ging zugleich eine Vertiefung des     Eltern in den Vogesen geboren, in
                                                                                                    Ostrau (CZ)
Bergwerks einher, das in dieser Form        Ronchamps im Elsaß gründete, würdigt                    Bergwerk Michael
bis 2014 in Betrieb war. Besucher, die      die Rolle polnischer Arbeiter in den örtli-
                                                                                                    Dortmund (D)
körperlich kräftig genug sind, können       chen Gruben. Ein anderer Aspekt berührt                 LWL-Industriemuseum
eine vierstündige Tour unternehmen, die     die Sicherheitsvorkehrungen unter Tage.                 Zeche Zollern II/IV
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