140 Jahre Pestalozzischulhaus Aarau Viermal Bildungsgeschichte(n)
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140 Jahre Pestalozzischulhaus Aarau Viermal Bildungsgeschichte(n) Martin Pestalozzi Aarau 2014 HKV_Festschrift_Inhalt.indd 1 03.11.14 17:02
VORWORT Das Pestalozzischulhaus – 3 eine grosse Verpflichtung Johann Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827) ist ein Mythos. Aus der Ferne betrachtet war er ein grossherziger Almosenspender, ein sentimentaler Kinderfreund, ein ungeschickter Träumer, der es ökonomisch zu nichts gebracht hat. Bei genauerem Hinsehen findet man bei Pestalozzi jedoch einen erstaunlich umfangreichen literarischen Nachlass zu Themen wie Philosophie, Ökonomie, Soziologie und natürlich auch Erziehungs- wissenschaften. Alle aber wissen, dass Pestalozzi mit «Kopf, Herz und Hand» auf die Menschen zuging. Dieses Erbe ist unsterblich. Im Bewusstsein um den immensen Wert der ganzheitlichen Bildung sind wir stolz auf unser Schulhaus. Dessen Name erinnert uns als Pädagogen in den modernst eingerichteten Schulzimmern immer wieder an das absolut Wesent- liche unseres Auftrags – eine Herausforderung, die den Lehrerberuf anstrengend und gleichzeitig reichhaltig macht. Nicht zu vergessen die glänzenden Augen der Lernenden, welche uns die Freude am Lernen bestätigen. Erst beim Anblick strahlender Gesichter dürfen wir uns zufrieden geben. Dr. Erich Leutenegger Rektor Handelsschule KV Aarau HKV_Festschrift_Inhalt.indd 3 03.11.14 17:02
STATEMENTS « 4 140 Jahre jung «Das sanierte Pestalozzischulhaus mit seinem umgestalteten Aussenraum ist eine eindeutige städtebauliche Aufwertung des Gebietes zwischen Altstadt und Bahnhof. Ein weiteres Wahrzeichen unserer Wakkerstadt!» Jolanda Urech Stadtpräsidentin von Aarau «Als Bildungs- und Kulturminister gratuliere ich der Handelsschule KV Aarau herzlich zur gelungenen Restaurierung und Erneuerung ihres Schulgebäudes. Nicht nur wird hier Aus- und Weiterbildung nach zeitgemässen Ansprüchen angeboten, der Unterricht findet auch in einem denkmalgeschützten Gebäude und einst ersten zentralen Schulhaus Aaraus statt: Das historische Pestalozzischulhaus – ein Bijou an dominanter Lage an der Bahnhofstrasse im Ortsbild der wakkerpreisgekrönten Stadt Aarau.» Alex Hürzeler Regierungsrat, Departement Bildung, Kultur und Sport HKV_Festschrift_Inhalt.indd 4 03.11.14 17:03
STATEMENTS «Dank der umfangreichen Moderni- 5 sierung der Infrastruktur unserer Berufsschule profitieren wir Schüler von einem abwechslungsreicheren und interessanteren Unterricht, wo- «Jahrgang 1875 und immer noch attraktiv! Gelungener Umbau des durch wir uns das benötigte Wissen Pestalozzischulhauses. Die Voraus- viel leichter aneignen können.» setzungen für eine zeitgemässe und kompetente Berufsausbildung Saskia Boos Lernende als Detailhandelsfachfrau im 3. Lehrjahr ist damit weiter gesichert. Herzli- chen Dank an die Stadt Aarau für die wohlwollende Unterstützung und allen Beteiligten für die gros- se und engagierte Arbeit.» Daniel Vogler Präsident Schulvorstand Handelsschule KV Aarau «Möge das schöne Haus mit den neuen Räumlichkeiten weiterhin seinen Beitrag zur hohen Ausbil- dungsqualität der darin beheimate- ten Berufsfachschule leisten. Unsere Unternehmen sind darauf angewiesen.» Peter Lüscher «Durch die Renovation ist die Geschäftsleiter Aargauische Industrie- und Handelskammer AIHK, Aarau Schule noch moderner und über- sichtlicher geworden. Auch das Schulsystem ist sehr gut orga- nisiert und einfach aufgebaut.» Rafael Moriggl Lernender als Kaufmann im 3. Lehrjahr HKV_Festschrift_Inhalt.indd 5 03.11.14 17:03
STATEMENTS 6 «Als ich hier meine Stelle als Sportlehrerin antreten durfte, war ich voller Tatendrang und Motivation, Gutes für die Lernenden zu tun. Daran hat sich bis heute nichts geändert! Ich erlebte und erlebe Tag für Tag spannende und herausfordernde Momente, die ich um nichts in der Welt missen möchte.» «Was in den letzten Jahren in Zusammenarbeit mit der Stadt Aarau, der Schule und den Archi- Bettina Heiniger Hauptberufliche Lehrperson für Sport tekten entstanden ist, ist für mich als Denkmal- pfleger sehr erfreulich. Zusammen haben wir es geschafft, dem Schulhaus wieder etwas von seiner historischen Würde zurückzugeben, ohne die aktuellen Bedürfnisse zu vernachlässigen.» Reto Nussbaumer Denkmalpfleger Kanton Aargau «Das Pestalozzischulhaus erstrahlt nach dem Umbau wieder in altem Glanz. Unsere Absicht war, die Räume für einen zeitgemässen und zukünftigen Unterricht zu reaktivieren und gleichzeitig verloren gegangene innenräumliche Qualitäten zurückzugewinnen. Zu- sammen mit dem denkmalgeschützten, äusseren Er- scheinungsbild ist es uns gelungen, ein neues Ganzes zu erreichen.» Michel Rappaport B.E.R.G. Architekten HKV_Festschrift_Inhalt.indd 6 03.11.14 17:03
STATEMENTS «Das Pestalozzischulhaus liegt 7 direkt neben meinem Arbeits- platz bei der Aargauischen Kantonalbank. Neben der per- fekten Lage bietet mir die » Schule eine gute Basis für die Berufsmatur.» Patric Grill «Um erfolgreich unterrichten zu Lernender als Mediamatiker im 3. Lehrjahr können, sind neben den persönli- chen Fähigkeiten vor allem die Räumlichkeiten entscheidend, die eine angenehme Atmosphäre und moderne Hilfsmittel bieten. Das renovierte Pestalozzischulhaus hat dafür beste Voraussetzungen.» Thomas Baur Hauptberufliche Lehrperson für Geschichte und Deutsch «Ich gehe gerne in das Pestalozzi- schulhaus. Hier erfahre ich viel Wissenswertes über meinen Beruf.» Chantal Wiedemeier Lernende als Pharma-Assistentin im 3. Lehrjahr HKV_Festschrift_Inhalt.indd 7 03.11.14 17:03
I. PHASE 1875 – 1914 8 Bildung als Stärke – der Schweizerische Käufmän- nische Verband kommt Lehrlinge sind doch zum Arbeiten da. Untertags frei- geben, um Schulbänke zu drücken, welche Zumutung für einen Chef. Eine Revolution bahnt sich an! 1868/69 1875 1878 1891 Zwei Donatoren, Schon in der Einwei- Der Aarauer Verein Erste Bundesfeier und Chistoph Conrad und hungswoche wünscht Junger Kaufleute wird Jugendfest werden für Guido Hunziker, die Jungsektion des gegründet mit dem einmal zusammenge- schenken Aarau unab- KV, Zimmer für den Ziel: mehr Bildung. legt. Bundesfeierkre- hängig voneinander Sprachunterricht dit: 2500 Schweizer den halben Wert des nutzen zu dürfen. Franken. Arme Kinder dringend notwendigen erhalten Zuschüsse an Gemeinde- und Ober- die Kleidung. Kredit stufenschulhauses. wird von Frau Pfr. Zschokke verwaltet. Am 24. Juli um 8.30 Uhr hält Landammann Fahrländer die Festre- de, um 14 Uhr kostü- mierter Festumzug mit Auftritten von Wil- helm Tell, Dauer zwei Stunden. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 8 03.11.14 17:03
9 Mit dreigliedriger Fassade 1875 eingeweiht, noch ohne Bäume, von Nordosten. Aarau war stolz! Im Schulhaus wohnten bis 1978 auch zahlreiche Abwartfamilien. Einer der ersten Abwarte hiess Fritz Wehrli. Als Zinnfigurengiesser hatte er 1887 seinen Betrieb schliessen müssen und verdiente hier sein Brot. Das Haus hatte von Anfang an schulische Untermieter, seit der ersten Stunde auch die Handelsschule KV Aarau. 1895 1896 1903 1914 Der Kaufmännische Die ersten Olympi- Erste KV-Lehrab- Im Ersten Weltkrieg Verein Zürich verlangt schen Spiele der schlussprüfungen, verlieren viele Wehr- das Verbot der Büro- Neuzeit werden in erster vollamtlicher männer zunächst den und Ladenarbeit an Athen durchgeführt. KV-Handelslehrer und Verdienst und bezie- Sonntagen. Kurz danach erste Rektor. Für das immer hen nur den Sold. Ihre zwei Französisch- noch rein freiwillige Familien leiden Not. Lehrerinnen am KV Engagement im Beruf Erst spät wird dem Aarau. bezahlt der KV sechs entgegengesteuert Schülern eine Prämie, und zu spät wird quasi als Rückerstat- rationiert. 1911 – 1953 tung für selbst bezahl- findet der Unterricht te Kurse. Von den der Handelsschule KV vierzehn Diplomanden Aarau im Bezirksschul- arbeiten die meisten haus statt. bei Banken, wenige in der Industrie der Umge- bung und bloss einer bei einer Handelsfirma. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 9 03.11.14 17:03
I. PHASE 1875 – 1914 10 Historismus und historische Vorbilder Kopisten, Kritiker und Originale Johann Heinrich Pestalozzi studierte beim Ge- schichtsprofessor Johann Jakob Bodmer, der ihn stark prägte und drei Arten von Historikern un- terschied: die Kopisten, die lediglich Stoffmas- sen anhäuften, die Kritiker, die ihre Dokumente auszuwählen wussten, und schliesslich die origi- nellen Köpfe, welche die Vergangenheit und den Villa Notar Lüscher gegen Westen, noch ohne die späte- Geist des Vaterlands heraufbeschworen. Pesta- ren Anbauten von Rudolf Zurlinden. Im grossen Garten lozzis Liebe galt der dritten Gruppe, obwohl er konnte Aarau dann Turnhallen und Büros unterbringen. sich selbst nie in dieser Art von Geschichte ver- suchte. Dies tat etwa Bruno Kaiser, der Schöpfer des Pestalozzikalenders, oder der Dichter Cäsar von Arx. Diesem gelang es, dass 1903 gut ein Fünftel aller Aargauer zu den Jubiläumsauffüh- rungen des Kantons auf die «Centenarmatte» kam. Sein Spiel brachte Schlüsselereignisse der Landesgeschichte auf die Bühne. Das war nötig, weil die Bundesfeier erst 1891 eingeführt wurde, welche die Geburtsstunde der Eidgenossen- schaft am Jahr 1291 festmachte. Geschichte wurde gefeiert Der Historismus war nicht bloss ein Baustil, son- dern auch eine populäre geschichtliche Sicht- weise jener Zeit. Er äusserte sich in der ganzen Schweiz, besonders vor 1914 in den sehr belieb- ten Festspielen, oft zu Kantonsjubiläen und Am Tag der ersten eidg. Bundesfeier traten auch Tell und die drei Eidgenossen auf. zu nationalen Schützenfesten. Die Schlacht von Die Bühne stand auf dem Aargauerplatz. Das Fest kam an, wurde aber erst später im Sempach von 1368 war das älteste Ereignis, Jahresturnus gefeiert. dessen man gedachte. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 10 03.11.14 17:03
I. PHASE 1875 – 1914 Ein Schulhaus dank zwei Hunzikers früh verstorbener Tochter Susanna. 11 generösen Schenkungen Er gab seinem Mündel Emil Guido den Rat, 1869 der Stadt ein Grundstück als Bauplatz für das Schulhaus anzubieten. Darum dürfen wir bei Legat von Christoph Conrad dieser Schenkung von zwei gleich gesinnten Der Unternehmer Carl Franz Bally vermerkte in Willensträgern und Erben von Oberst Hunziker seinem Tagebuch, dass der Kaufmann Christoph ausgehen. Conrad aus Effingen als Buchhalter in der Textil- firma der Gebrüder Herzog in Aarau arbeitete. Früher Einfluss von Pestalozzi in Aarau Vermutlich war er mit der Eigentümerfamilie Aarau führte 1802 als erste Gemeinde die Pes- Herzog verwandt. Die Firma wurde von Landam- talozzimethode ein. Die Familien Meyer und mann Johannes Herzog gegründet, sein Enkel Hunziker waren damals die wichtigsten Indust- Hans Herzog wurde 1870 General der Schweizer riellen. Die Meyers liessen ihre Kinder um 1800 Armee. Nach damaliger Gepflogenheit war zuerst zu Hause vom Pestalozzianer Moser Conrad wohl kein blosser Angestellter der Firma Herzog, sondern dürfte auch daran beteiligt gewesen sein. In den 1860er-Jahren zog er sich aber aus dem Geschäft nach Zürich zurück. Aus Dankbarkeit vermachte er den Grossteil seines Vermögens seiner Schulstadt Aarau, um dieser damit den Bau eines anständigen Schulhauses zu ermöglichen. Der Betrag von 180 000 Franken entspricht heute einem Millionengeschenk. Unsicher ist, ob der Stadtrat schon vorher über das zu erwartende Geschenk informiert war. Jedenfalls reagierte er umgehend und lud 1870 zu einem Wettbewerb ein. Schenkung von Emil Guido Hunziker Ein Sohn von Johann Georg Hunziker, dem legendären Obersten, Industriellen, Bankier und Stadtammann, spendete unerwartet ein idea- les Grundstück, den «Biergarten Ernst». Emil Guido Hunziker erkrankte während des Studi- ums. Er war eine Künstlernatur und lebte später Die Urzelle im «Biergarten Ernst» – einem Geschenk von auf Schloss Liebegg. Sein Vormund war sein Emil Guido Hunziker. Das ehemalige Fotoatelier Geiser Schwager August Oehler, Witwer von Oberst musste dem neuen Schulhaus weichen. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 11 03.11.14 17:03
I. PHASE 1875 – 1914 12 schulen, danach in Burgdorf direkt beim Meister Pestalozzi. Er selber verkehrte regelmässig in Aarau bei den Familien Meyer, Herzog und Hun- ziker. Auch Emil Guido lernte den Pädagogen noch kennen. Sein Vater kümmerte sich intensiv um Bildungsfragen und legte sich ab 1815 mit dem Kanton Aargau an. Die 1802 gegründete Kan- tonsschule hatte zuerst einen modernen Fächer- kanon, bis Rektor Evers – ein Hannoveraner – die Schule zu einem Gymnasium mit alten Sprachen umgestaltete. Hunziker und der Zementindust- Aarau wollte sich eine Aula leisten. Der Bau von Roth- pletz entstand vor dem Saalbau! In einer Aula konnten rielle Herosé führten und bezahlten daher eine Bildungsinhalte einer grösseren Hörerzahl vermittelt private Konkurrenzschule ohne Latein, bis sich werden – ohne Abgabe von Papier und Projektoren … der Kanton 1835 mit einem heute noch gültigen Vertrag dazu verpflichtete, auf alle Zeiten ein Realgymnasium zu führen, ohne Latein, aber mit Physik, Chemie und mindestens zwei modernen Sprachen. Danach fusionierten die beiden unter- schiedlichen Schulen. Als 1855 die ETH gegrün- det wurde, verlangte sie eine Matura, die weitge- hend dem Aarauer Unterricht, beziehungsweise der späteren Matura C, entsprach. Der Gemeinschaft verpflichtet Die Bürgeraktion von Hunziker und Herosé ist heute weitgehend unbekannt. Sie versteckt sich in den Akten hinter dem ganz anders zu verste- henden Namen «Gewerbeschule». Oberst Hunzi- ker schoss der Stadt bereits viel Geld für den Bau einer pfeilerlosen Kettenbrücke vor, die 1850 fertig wurde. Nun erhielt die Gemeinde 1869 sogar eine grosse Landschenkung. Eine Benen- nung als Hunziker-Schulhaus hätten sich die Schenkenden verbeten. Seit 1980 steht das So ländlich war es am Bahnhof: der Platz vor 1900 ein einziger grosser Krautgar- Gebäude ganz der Handelsschule KV zur Verfü- ten für den Vorstand und den «Gerber»-Wirt. Die Suhrentalbahn verschwand 1967, gung, was die Donatoren bestimmt ganz beson- links Fabrik Meyer/Kantonsschülerhaus, rechts Gewerbemuseum. ders gefreut hätte. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 12 03.11.14 17:03
I. PHASE 1875 – 1914 Architekturstil Getrennte Geschlechter 13 und Repräsentation Alle Verfasser entschieden sich für strikte Ge- schlechtertrennung in zwei Flügeln, einen Bau mit geschlossener Hauptfront und Einbau einer Architekten-Wettbewerb Aula. Die Zimmergrösse ergab sich aus der Idee, Die Behörde liess 1870 rasch die Grundlagen für jeden Jahrgang nur mit einer Klasse pro Ge- einen Bauentschluss erarbeiten. Sie erhielt schlecht zu führen. Die Räume sahen sechzig zuerst 34 Entwürfe, die nur teilweise erhalten Sitzplätze vor, an der Bezirksschule vierzig, in geblieben sind. Drei Experten unter dem Zürcher den Handarbeiten und im Zeichnen dreissig. Gottfried Semper bewerteten sie. Aus fünf Projekten der ersten Wahl wurde dann ausge- Gemeinsamkeiten der Entwürfe wählt. Das Projekt des St. Galler Architekten und Mädchen wurden im West-, Knaben im Ostflügel ehemaligen Aarauer Kantonsschülers Felix Kubly untergebracht. Die Gebäudeteile unterschieden überzeugte die Politiker offenbar am meisten. sich durch die Platzierung der Höfe, Treppen- 1849 – 55 hatte er bereits die St. Galler Kantons- schule entworfen und umgesetzt. Zum Wettbe- werb eingeladen wurde auch der Solothurner Kantonsbaumeister Alfred Zschokke. Auch einige Architekten, die nicht explizit eingeladen wurden, bewarben sich. Alle Vorschläge hielten sich an historisierende Stilarten, einer in engli- scher Gotik, die übrigen in wuchtiger (Neo-) Renaissance. Repräsentieren für Aarau Wer den Entwürfen gerecht werden will, muss die Pläne in der beabsichtigten Ausrichtung mit der Hauptfassade nach Süden lesen. Alle Ent- würfe sahen Eingänge an den Seitenfassaden gegen West und Ost vor, zum Teil auch im Süden, Zschokke konsequenterweise keine an der Südfront, die für Schulzimmerfenster vorbehal- ten blieb. Alle Architekten zeichneten breite Türen im Norden zur Hauptader Bahnhofstrasse – für die Lehrerschaft. Die meisten Entwürfe Das Prachtswerk entstand mit nur zwei Obergeschossen. Alle Architekten empfahlen, sahen einen grossen offenen Hof mit Brunnen die Front nach Süden zu legen. Aber der Stadtrat verlangte aus rein repräsentativen vor, andere zwei geschlossene kleine Höfe. Gründen die Ausrichtung nach Norden gegen die Bahnhofstrasse hin. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 13 03.11.14 17:03
I. PHASE 1875 – 1914 14 Gartenpläne im Entwurf Koch. Projekt «Licht und Luft» mit zwei Innenhöfen. Im Garten der Villa Lüscher entstanden hundert Jahre später die Turnhallen. Diese erhaltene Fassadenzeichnung von Kantonsbaumeister Rothpletz zeigt den Osttrakt. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 14 03.11.14 17:03
I. PHASE 1875 – 1914 Eine Frontansicht des Projekts LEX aus dem Stadtarchiv fand sich gerahmt im Archivkeller, wohin es wohl anlässlich einer Renovation geraten ist. Das «Vestibule» des Projekts LEX sollte Lehrer, Schüler und Besucher be- Ein Entwurf von Adolf Schäfer betont mit sechs Dachfiguren den grüssen. Der Entwurf von 1870 ist zeittypisch. Statuen verkörpern Tugen- imposanten Mittelteil. den, zum Beispiel die Athena, Göttin der Wissenschaften. Auf die Statuen wurde aber verzichtet. Fassadenskizze von Adolf Schäfer, anders als alle andern Entwürfe in neugotischem Stil. Ein ähnlicher Entwurf in Neurenaissance liess den Stadtvätern die Auswahl. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 15 03.11.14 17:03
I. PHASE 1875 – 1914 16 häuser, Toiletten sowie die Anzahl und Breite Skizze, die andern Teilnehmer gingen leer aus. der Türen. Benötigt wurden drei Stockwerke und Kubly verstarb 1872, und die weitere Bearbei- ein Vollkeller. Beim Schmuck wurde gespart, tung wurde dem Kantonsbaumeister Carl Roth- sodass viele Konsolen, Ornamente und auch pletz übertragen. Er war damals gerade mit Statuen entfielen. Originell war die Idee des dem Bau der Anstalt Königsfelden beschäf- Architekten Schäfer für einen Aulatrakt in der tigt, was dem Aufgabenkatalog offenbar nahe- Mitte zwischen zwei Innenhöfen. Zschokke kam. wollte nur ein Obergeschoss, alle andern deren zwei. Klassizistischer Historismus war als Stil Schulzimmer mit sechzig Plätzen klar gegeben. Stadtrat und Baukommission waren sich nicht immer über alle Konsequenzen im Klaren. Wie Neuer Architekt nach Todesfall sollten in Zukunft in dieser wachsenden Stadt Der Wettbewerbsgewinner Felix Kubly erhielt alle Mädchen und Knaben von acht Jahrgängen magere hundert Franken Prämie für seine in je einem Klassenzimmer Platz finden? Man protokollierte Befürchtungen, dass sich die Lehrer bei Vollbesetzung mit bis zu sechzig Schülern in einem Raum kaum noch verständlich machen könnten! Mit zwei Reihen Viererbänken wollte man abhelfen und die Raumtiefe geringer halten. So verwundert es nicht, dass die Schul- pflegeakten des frühen zwanzigsten Jahrhun- derts bereits Fälle von Burnouts dokumentieren. Unterricht in Naturwissenschaften, Singen, Religion und Zeichnen gab es in Spezialzimmern für alle. Handarbeit war nur für Mädchen. Wer- ken fehlte noch ganz, anfangs auch eine Turn- halle, nicht aber eine Bibliothek. Prestige statt Licht Alle Grundrisse waren in der Entwurfsphase nach Süden ausgerichtet. Der Stadtrat folgte aber der Mode und dem damals geltenden Prestigeden- ken und beschloss einstimmig, den Grundriss um 180° zu drehen, damit die Hauptfront auf die Bahnhofplatz 1890. Bau des Hotels Gerber, heute Aarauerhof. Links die erste Aarauer wichtige Strasse blickt. Aarau erhielt nun einen Post von 1861, später AEW und Aargauische Kantonalbank. Hinten ist das Pestalozzi- grosszügigen Bau in U-Form, eher lichtarm: schulhaus zu sehen. Nach Süden schauen auf jedem Stockwerk nur HKV_Festschrift_Inhalt.indd 16 03.11.14 17:03
I. PHASE 1875 – 1914 17 Der Schulhof von Süden während einer Neunuhrpause anno 1880. Auf diesen Bahngleisen entgleiste ein Zug infolge Versagens des nicht mehr nüchternen Lokführers. Erst 1902 fusionierte der Bund die Nordostbahn mit der Central- bahn, die sich im Bahnhof Aarau trafen, zur SBB. Verkehrslärm war damals noch kein Thema. zwei Zimmer, dafür jede Menge Korridorfenster. Neuer Frauenberuf Als Kunstlicht hatte man Gasleuchter, vor deren Ende des neunzehnten Jahrhunderts kam der Zischen sich Schüler und Lehrer gleichermassen Frauenberuf der Stenodactylo auf. Die passive fürchteten. Tätigkeit führte zu einer Abstufung unter den Büroangestellten. Neben einer Kurzschrift Bäume im Norden, Osten und Westen beherrschten diese Damen das Schreibma- Das Gebäude hiess bis 1926 offiziell Zentral- schinenschreiben, setzten also den mündlich beziehungsweise Gemeindeschulhaus. Die für erhaltenen Text in ein Skript um. Der SKV hatte Figuren vorbildlicher Menschen eingebauten dringend empfohlen, bei der Wahl einer Ma- Nischen blieben leer, jedoch erhielt der Südhof schine solche mit ganzem Hebelsystem zu einen Brunnen. Mehrmals musste der im Norden wählen. Bei anderen Maschinen musste man mit und Westen gepflanzte Baumbestand ausgelich- einem Stift auf einer Platte Symbole anwählen. tet werden, wenn sich Lehrkräfte über zu wenig Diese erwiesen sich aber als störanfällig. Nach Licht beklagten. Ein Plan von 1919 wies im dem Ersten Weltkrieg ärgerten sich viele Männer Kellergeschoss neben einer neuen Kohlenhei- über die Konkurrenz der Frauen im Beruf. zung auch eine Volksküche und Speiseräume auf. Immerhin blieb dem Haus die Aufgabe Nach 42 Jahren zurück im Pestalozzi erspart, während der grossen Grippe-Epidemie Der Unterricht der Handelsschule KV Aarau fand von 1918 als Seuchenlazarett dienen zu müssen, ab 1911 im Bezirksschulhaus statt, ab 1953 dann was der Bezirksschule aufgebürdet wurde. wieder im Pestalozzischulhaus. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 17 03.11.14 17:03
II. PHASE 1914 – 1927 18 Bildungsidol Pestalozzi als Namensgeber für ein bestehendes Schulhaus Feste und die Landesausstellung halten die Schweiz zusam- men. Wetterleuchten in Deutschland. Börsenkrise bringt Rezession statt Aufträge. Berufslehren sind noch nicht für alle. 1918 1924 1927 Rationierung, Teue- Nationales Schützen- Das Adressbuch nennt Charles Lindbergh rung, Grippe-Epide- fest in Aarau. Festspiel explizit eine einzige gelingt der Direktflug mie, aber keine und historische Umzü- Aarauer Kaderfrau, über den Atlantik von Revolution im Land. ge zur Demonstration die Prokuristin einer New York nach Paris. Der um 1890 neue der einigen Schweiz. Lebensmittelhand- Ein deutscher Plan für Beruf der Stenodacty- «Vater Pestalozzi» lung. acht neue Armeen als lo wird als Konkurrenz tritt im Umzug auf. Werkzeuge für den empfunden. Die passi- Wer weiss schon, dass nächsten Weltkrieg ist ve Tätigkeit bewirkt die Nationalversamm- schon zwei Jahre alt. eine Abstufung unter lung in Paris 1793 Man ahnt mehr, als den kaufmännischen Pestalozzi und Schiller man weiss. Das Wort Der Kern des Komitees Angestellten. zu französischen «Revanche» erscheint für das Jubiläumsfest Ehrenbürgern beför- immer öfter in deut- der Schützen von 1924: dert hat? schen Zeitungen und Ständerat Dr. Gottfried verheisst nichts Gutes. Keller und Stadtammann Hans Hässig (vorne), Dr. Ernst Zschokke und Alfred Hasler (KV) HKV_Festschrift_Inhalt.indd 18 03.11.14 17:03
II. PHASE 1914 – 1927 19 Eidgenössisches Schützenfest von 1924: Im Umzug schritt eine Verkörperung von Pestalozzi mit. Taufe des 52 Jahre Aarau denkt an eine Alexander Isler, Volksschullehrer aus alten Zentral- oder Erweiterung des Saal- Winterthur, schreibt über Pestalozzi: Gemeindeschulhauses baus bis an die Lauren- «Keiner (...) hat den Namen der Schweiz auf den neuen Namen zentorgasse: im Süden Pestalozzischulhaus. ein neuer Theatersaal, und seiner Vaterstadt weiter über Für die Benennung im Norden der Ausstel- das Erdenrund getragen als Heinrich besinnt man sich auf lungssaal, in der Mitte Pestalozzi. Nicht als Feldherr, nicht das einheimische ein grosszügiges Ein- als Reicher dieser Welt, sondern in der Bildungsidol, weil das gangsgebäude für beliebte Schulhaus beides. Die Weltwirt- Liebe und Hingebung im Dienste der einen guten Namen schaftskrise beendet Kinder und Armen, der Unglücklichen braucht. diese Träume. hat Heinrich Pestalozzi gewirkt.» Pestalozzis Formel «mit Kopf, Herz und Hand» ist allgemein bekannt. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 19 03.11.14 17:03
II. PHASE 1914 – 1927 20 1896, 1927, 1946 – regierungen feierte am 11. und 12. Januar 1896 drei staatliche Schweizer fast jedes Schweizer Dorf Johann Heinrich Pestalozzi. Am Samstag wurde die Schuljugend Feste für Pestalozzi belehrt, und am Sonntag hörten die Erwachse- nen in Kirchen und Versammlungssälen von «Vater Pestalozzis» Bedeutung. Fast die ganze 1896 feierte die Schweiz Schweiz nahm an der Feier teil. Inwiefern hatte mit Pestalozzi sich selbst unser Erziehungsidol dazu Anlass gegeben? Es waren seine kurzen Formeln und Sätze, die seine Gedanken träfe zusammenfassten. «Kopf, Einleuchtende kurze Sätze Herz und Hand» – das leuchtete jedem Erziehen- Für einen Historiker ist es selten so einfach, das den ein. Den Satz «Anschauung ist das absolute strategische Handeln von Bund und Kantonen Fundament aller Erkenntnis» schrieb Pestalozzi Der Berner Kaufmann nachzuweisen wie bei der Bildungspolitik mit zuhanden aller Pädagogen. Auch diese Aussage Bruno Kaiser schuf den der Vorbildfigur Heinrich Pestalozzi. Auf Wei- erlangte grosses Gewicht und inspirierte damit Pestalozzikalender. sung des Bundesrats und der meisten Kantons- den Berner Kaufmann Bruno Kaiser dazu, eine Schüleragenda zu entwickeln, in der grosse Män- ner und Ereignisse der Geschichte vorgestellt wurden. Eine Aufgabe, die nie abgeschlossen sein wird. Bruno Kaiser schuf den Pestalozzikalender Er wolle «dazu beitragen, dem Vaterlande eine gesunde, tüchtige und fröhliche Generation zu erziehen» schrieb der Initiator Bruno Kaiser, als er 1908 den Pestalozzikalender (heute: Pestalozzi-Agenda) schuf. Damit dies gelinge, schauten den Kindern die sieben Bundesräte entgegen! Schon damals stritt man sich über Lehrpläne, über Formen und Inhalte des Schul- unterrichts. Vieles hat sich seither verändert, geblieben ist Pestalozzis guter Ruf. Die Zürcher Freitagszeitung fragte 1896 in ihrem Kellerplan von 1919 nach den Erfahrungen des Ersten Festartikel rhetorisch: «War er ein Konservati- Weltkrieges zum Einbau von Speiseräumen, Volksküche, ver, ein Freisinniger oder gar Sozialist?» Und Waschräumen, Kohleheizung, Schlackenräumen sie konnte sich dann eine Antwort geben, die HKV_Festschrift_Inhalt.indd 20 03.11.14 17:03
II. PHASE 1914 – 1927 Namensgeber mit 21 weltweitem Ansehen Nationales Schützenfest in Aarau 1924 verlief für Aarau höchst befriedigend. Die Organisatoren des Eidgenössischen Schützen- festes zelebrierten in grossem Mass den Schwei- zer Geist. Höhepunkt war ein Festumzug, bei dem auch eine Pestalozzifigur mitschritt. Namensgebung zum 100. Todesjahr Die Mode, ein Schulhaus anders als nach seinem Auch viele Auslandschweizer kamen zum Schützenfest Standort oder Zweck zu benennen, ist bei uns in ihre Heimat. Die Kostüme waren echt und die Kaser- recht neu. Im Ausland waren Personennamen nenstrasse war kaum wiederzuerkennen. für Schulen und Kasernen längst üblich. Dass bis heute gilt: «Keines von allem und alles in einem.» Noch wusste man nicht allzu viel über ihn: Ernest Correvon versuchte 1890 in Yverdon, Pestalozzi einprägsam zu schildern. Er verkörpe- re mit seinen Tessiner (!) Ahnen südländische Einbildungskraft, die Schärfe und Energie des deutschen Geistes und mit seinem Leben in Yverdon den gallischen Realismus. Das einzuwei- hende Standbild schwieg dazu. Gut so, denn Pestalozzis Vorfahre kam nicht aus dem Tessin, sondern aus dem bündnerischen Chiavenna. Doch Pestalozzis Fabeln erschienen seit jenem Festtag endlich in griffigen Bändchen. Eine vom Schweizerischen Lehrerverein herausgegebene Jugendfestschrift wurde mit finanzieller Unter- stützung von Bund und mehreren Kantonen in einer Auflage von gegen 400 000 Exemplaren Aarauer Kadetten trugen nach dem Ersten Weltkrieg Feldgrau. Hier am Schützenfest gedruckt und teilweise unentgeltlich an Volks- von 1924 spielten sie vor einer historisch dekorierten Festhalle auf. Die Schweiz be- schulen verteilt. hielt trotz «Nie-wieder-Krieg»-Parolen ihre Armee und steigerte ihre Wachsamkeit. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 21 03.11.14 17:03
II. PHASE 1914 – 1927 22 sich unser Johann Heinrich Pestalozzi als Na- Weshalb Pestalozzi scheiter- mensgeber für ein Schulhaus eignet, muss der Aarauer Lehrerschaft 1927 beim Fest zu seinem te, als er in der Schweiz seine hundertsten Todesjahr sinnvoll erschienen Methode populär machen sein. wollte Nur fünfmal Zu wenig Anerkennung Immerhin reichte der Ruf des Erziehers um die Mit über sechzig Jahren versuchte Pestalozzi Welt. So kam Aarau fünfzig Jahre nach der 1809, die hohe Politik der Schweiz als Lokomoti- Eröffnung auf den einprägsamen Namen. Im ve für die allgemeine Einführung seiner Metho- Schweizer Telefonbuch sind heute nur fünf de einzuspannen. Aber der Versuch, seine Schule Schulen mit diesem Namen eingetragen. Ganz in in Yverdon als nationales Vorbild zu verkaufen, der Tradition Tells steht Pestalozzi zudem seit misslang. Er strebte eine Art Methodenobliga- 1899 in Zürich auf dem Sockel, einst vor dem torium an – und das angesichts der kantonalen Linth-Escher-Schulhaus. Dieses ist aber 1968 Eigenheiten! Er bot Besuchern Angriffsflächen, dem Warenhaus Globus gewichen. hatte zu wenig schriftlich gefasste Regeln, konnte noch zu wenig Anerkennung aus dem Ausland vorweisen. Der grosse Zaren-Orden kam erst 1814, der Ehrendoktortitel der Univer- sität Breslau 1817, zu spät. Eine Kommission des Bundes drückte ihre Enttäuschung in ihrem Bericht aus. Es habe sich keine eindeutige Pa- tentmethode finden lassen. Das Institut in Yver- don sei ein Sonderfall, nicht das Vorbild, das man lehrbuchmässig hätte erfassen und durch- setzen können. Man vermisste besonders eine interne Hierarchie und klingende Titel. Historischer Umzug am nationalen Schützenfest von Jedes Kind kannte Pestalozzis Kopf, allge- 1924: Szene von 1802, Stecklikrieg, dann Mediation. genwärtig auf den 20-Franken-Noten und den Chefarzt Dr. Eugen Bircher spielte Napoleon. 20er-Briefmarken für das Inlandporto. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 22 03.11.14 17:03
ELISE HUNZIKER Englischlehrerin und 23 Orchideenmalerin Beruf, Zweitberuf und Berufung Elise Hunziker hatte ein Aargauer Lehrpatent erworben und anschliessend Unterricht erteilt. Als Gouvernante in guten englischen Familien lernte sie ein gepflegtes Englisch. In Karlsruhe steckte sie ihre Ersparnisse in ein Malereistudi- um. Sie war aber auch Lehrerin aus Berufung und unterrichtete 28 Jahre an unserer Schule. Ihr geliebter Zweitberuf war der einer wissen- schaftlichen Orchideenmalerin für den (Hobby-) Pflanzenkundler, Juristen und Ständerat Gott- fried Keller. Solche Persönlichkeiten von Lehre- rinnen waren ein Glücksfall für die Schule des SKV, die sich erst bewähren musste. In der noch jungen Handelsschule KV spielten auch Frauen eine Rolle – Elise Hunziker mit ihrer sehr guten, aber noch nicht standardisierten Ausbildung. Selbstporträt Orchidee für das Album von Ständerat Gottfried Keller von Elise Hunziker von Elise Hunziker, Englischlehrerin an der Handelsschule (1860 – 1935) KV Aarau von 1903 bis 1930 HKV_Festschrift_Inhalt.indd 23 03.11.14 17:03
III. PHASE 1936 – 1946 24 Schulhäuser für die Zukunft Jeder mietbare Raum wird zum Schulzimmer, der Man- gel drückt. Aarau plant mehr Schulen. 1945 hausen Flüchtlinge einen Monat lang im Haus, je 30 pro Zimmer. 1936 1939 Die SP Aargau kehrt Bei Kriegsausbruch ihrem pazifistischen werden Schulhäuser Flügel den Rücken und zeitweise ganz oder tritt wegen Divisionär teilweise vom Militär Dr. med. Eugen Bircher belegt. Krampfhafte für die Aufrüstung ein. Suche nach möglichen Der Bund regelt den Schulzimmern. Eine Erwerbsersatz der Sekundarklasse lernt Dienstleistenden neu. auf offener Tribüne im Brügglifeld. Plan zum Einbau der Gewerbeschule von 1944. Dabei wäre ein unbefriedigender Zwitter entstanden, weil Teile der Gemeindeschule hätten bleiben müssen. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 24 03.11.14 17:03
25 Fassade und Aufriss der Aula im Entwurf «Luft und Licht» von Alexander Koch, Zürich 1870. Die tempelförmige Aula widerspiegelt den überhöh- ten Stellenwert der Wissenschaften. 1944 1945/48 1946 Der Stadtrat plant Orwells «Animal Farm» Erste UN-Generalver- M. V. Wildes baut separate Primar-, erscheint, ein Manual sammlung in London. EDSAC, den ersten Gewerbe- und KV- einfacher, schultaugli- Die Resolution 377 Rechenautomaten Schulhäuser, der cher Argumente gegen «Vereint für den mit echter interner Kanton ein Leh- Diktaturen. Orwells Frieden» (Uniting for Speicherung. rerinnenseminar Prognose «1984» – ein Peace) ermöglicht Winston Churchill mit Töchterschule. Roman über einen Militärhilfe für das sieht für die Zukunft totalitären Überwa- angegriffene Südko- ein friedliches Europa chungsstaat – verwirk- rea. Der Koreakrieg im Mittelpunkt der licht sich glücklicher- stärkt die Weltwirt- Welt. weise nicht. schaft nachhaltig. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 25 03.11.14 17:03
III. PHASE 1936 – 1946 26 Auf die Wirtschaftskrise vom Volksmund in dieser harten Zeit «Halungge- folgte der Krieg Egge» genannt. Zum Glück hatte die Stadt dort bereits 1929 eine kostenlose Toilette erstellen lassen. Mobilmachung beseitigt Arbeitslosigkeit Der Krieg traf die Schweiz mitten im zehnten Mehr Disziplin auf engem Raum Jahr einer Wirtschaftskrise. Darauf war Aarau Im ersten Kriegsjahr beanspruchte das Militär besser vorbereitet als auf die Erwerbslosigkeit. während drei Wochen das ganze Schulhaus, Der Stadtrat schrieb 1939, die Mobilmachung nachher noch ein ganzes Jahr den Westflügel habe auch ihr Gutes. Weil es an Arbeitskräften und immer wieder einzelne Lokale. Eine Klasse nun erstmals mangelte, könnte man «die vielen genoss den Unterricht gar auf der offenen Tri- Hausierer endlich einem rechten Beruf zufüh- büne des Fussballplatzes Brügglifeld. Ersatz- ren». – Die meisten Arbeitslosen hatten ihren zimmer fand man im Vereins-, Genfer- und Job infolge der Krise und nicht durch eine unge- Oboussierhaus, in Kindergärten, im Kirchge- nügende Leistung verloren. Dennoch wurde meindehaus … Sieben Lehrer waren für längere ihr Versammlungsort am Fusse des Oberturms Zeit im Militärdienst. Aus Mangel an Zimmern und Lehrern wurden drei Jahrgänge zu Gross- klassen zusammengelegt. 45 – 55 Köpfe pro Raum galten zwar als unzumutbar, dennoch lobte die Schulpflege eine verbesserte Disziplin. Schulhaus als Flüchtlingslager Schülerinnen und Schüler hatten bei allerhand Sammelaktionen mitzuwirken, sei es für Altme- tall, gegen Maikäfer oder mit Briefmarkenver- käufen zugunsten von Pro Patria oder Pro Ju- ventute, aber das gehörte in ganz Europa zum Zeitbild. Die Turnhalle fiel für die tausend Schüler während zwei Jahren ganz aus. Dafür sorgten reduzierte, gesündere Rationen und auch die genannten Sammelaktionen für genü- gend Fitness. Auf der Oberstufe konnte man sich einem Kadettendienst, Pfadfindern oder dem Luftschutz anschliessen. In allen Schulen wur- Das Haus Oboussier mit seinen Anbauten verkörperte die Geschichte einer Textilhan- de das Verhalten bei Fliegeralarm geübt. Der dels- und Produktionsfirma aus dem 18. Jahrhundert. Zeitweise war dort das Sekreta- Angriff auf Schaffhausen schockte 1944 viele, riat des KV Aarau untergebracht. Vermutlich wurde in den Räumen auch unterrichtet. die sich bisher noch sicher gefühlt hatten. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 26 03.11.14 17:03
III. PHASE 1936 – 1946 Im letzten Kriegsjahr hatte das altehrwürdige 27 Pestalozzischulhaus mehrfach Überbelegungen zu erleiden. Für vier Wochen diente es als Flüchtlingslager. Jedem der 32 Zimmer wurden 30 Personen zugeteilt und der Unterricht fiel ganz aus. Wenigstens konnte immer geheizt werden, denn vorausschauend waren hier längst Elektroheizungen installiert worden. Das erspar- te die Fünftagewoche und bescherte den Elekt- rizitätswerken eine Hauptkundin. In der Turbi- nenhalle des Kraftwerks wurde auch Obst gedörrt und der Milchmann Haberstich betrieb im Keller eine Pasteurisieranlage, die Wärme spendete. Bis zum Kriegsende wurden täglich Schulmilch-Speisungen angeboten. Gemischte Schulklassen? Die Planer des Schulhauses hatten 1875 noch Schulreise auf Suworows Pfaden am Pragelpass 1945: Die Disziplin in dieser Klasse eine strikte Geschlechtertrennung vorgesehen. von Lehrer Vogt aus Aarau-Rohr ist offensichtlich. Der Stadtrat Bell plädierte gar für eine Trennung in zwei Gebäude, brachte dann aber doch keinen Antrag vor. Erst ab den 1930er-Jahren begann die hiesige Lehrerschaft öffentlich zu diskutie- ren, ob dies noch zeitgemäss sei. Die Berichte der städtischen Schulen verdeutlichen, dass die Schulpflege bis Mitte des Zweiten Weltkrieges jeden Wechsel ablehnte. Dennoch begannen andernorts allmählich gemischte Klassen zu entstehen. 1944 wurde der Bau des Gönhard- Schulhauses mit dieser Prämisse im Konzept beschlossen; ab 1951 wurde es bezogen. Von der Primar- zur Fortbildungsschule Am «Dreigemeindeneck» Aarau/Buchs/Rohr baute die Nach Kriegsende wollte man das frei werdende Garage Schmid 1948 Tankstelle, Werkstatt (Austinver- tretung), Verkaufs- und Wohnraum. Wer kann sich heute Pestalozzischulhaus für die Gewerbeschule vorstellen, dass damals die meisten Marken kaum oder nutzen. Der Plan zerschlug sich und nach dem gar nicht liefern konnten? Und wer ahnte, dass so man- Auszug der meisten Primarschulklassen begann che Gemeinde verschwinden würde, wie Rohr 2011? HKV_Festschrift_Inhalt.indd 27 03.11.14 17:03
III. PHASE 1936 – 1946 28 1951 eine dringend nötige Innenrenovation. Einzelne Klassen blieben vorerst im Haus, dazu die neue Fortbildungsschule. Diese war vor allem für angehende Lehrlinge nötig, die nach den acht obligatorischen Schuljahren noch nicht fünfzehn waren und somit auch noch nicht das gesetzliche Eintrittsalter für eine Lehre erreicht hatten. Dritter Pestalozzi-Festtag Im Januar 1946 fand in den Schweizer Schu- Genferhaus, Ecke Kasinostrasse. Auch dort hatte die len der dritte Pestalozzi-Festtag statt. Die Stadt im Zweiten Weltkrieg Schulräume gemietet. An- «Literarische Gesellschaft Aarau» hatte ihn schliessend das Kino Casino und die Aarauer Nachrich- hier zuerst selber durchführen wollen. Der ten. Heute ein Teil des City-Märts. Stadtrat wünschte ein Fest für die ganze Be- völkerung. Die Verstimmung im elitären Verein stieg aber, als der Rat verlangte, man müsse für die offizielle Feier einen «allgemein ver- ständlichen Redner» anfragen. Der Zweite Weltkrieg war überstanden, am Friedensmaien- zug (Kinderfest) von 1946 kam General Gui- san als Ehrengast nach Aarau und wurde um- jubelt. Nach dieser Wende wurde es Zeit für manche Neuausrichtung in Schule und Er- ziehung. Anekdote aus der Kriegszeit Der Lehrer Felix Wey berichtete eine lustige Episode aus der schweren Kriegszeit: Da Lehr- kräfte oft auch abends arbeiten, kehrte Fräu- lein Hunziker einmal abends im Dunkeln ins Schulzimmer zurück. Dabei musste sie eine Schildwache passieren, die ihr zunächst den Eintritt verweigern wollte. Auf die Rückfrage «Wissen Sie denn nicht, wer ich bin?» stammel- Tabelle der Schülerzahlen der obligatorischen acht Schuljahre, 1900 – 1944. te der an höchste Autoritäten gewöhnte, er- Aarau hatte bis zu 831 Schülerinnen und Schüler. Der stärkste Jahrgang war 1908. schrockene Soldat: «Jä, doch … Frau General.» HKV_Festschrift_Inhalt.indd 28 03.11.14 17:03
III. PHASE 1936 – 1946 29 «Let Europe arise!» Churchill nach seiner unerwartet optimistischen Rede 1946 an der Uni Zürich, mit Tochter Mary «Let Europe arise!» Arbeit für Frauen, Kochkurse für Männer Annie Wyss, legendäre Kochlehrerin der IBAarau, schrieb Männerkochkurse aus. Nie- Aufschwung nach dem Krieg mand kam, erst der Zusatz «für Zeiten der Krank- «Let Europe arise!», rief Winston Churchill nach heit der Hausfrau» bewirkte einen Zustrom. Als seiner unerwartet optimistischen Rede an der in den 1950er-Jahren verschiedene Aargauer Universität Zürich im Jahr 1946. Und so kam es Firmen Waschvollautomaten anboten, schwoll auch: Europa erstand wie der Phönix aus der der Zustrom von Frauen in Fabriken an. Viele Asche trotz Eisernem Vorhang bis 1989. Die hörten aber nach einem Jahr wieder auf, sie roten Diktaturen etablierten sich. Um eine hatten sich die für den Haushalt wichtigste neue mobile Panzerabwehrwaffe zu besitzen, kaufte Maschine leisten können. die Schweiz 1946/47 immerhin 158 tschechi- sche Panzerjäger G 13. Qualität bringt Wohlstand Die Schweiz erlebte eine Hochkonjunktur, nicht Freie Grenze zur Enklave wegen spektakulären Erfindungen, sondern 1946 bat das französisch besetzte Büsingen den dank grosser Produktqualität, besonders bei Schweizer Bundesrat, die Zollgrenze zur Enklave (fein-)mechanischen Erzeugnissen von der Uhr aufzuheben. Am 1. Januar 1947 wurde mit dem bis zur Grossturbine. Ab 1981 verbreiteten sich Einverständnis der Franzosen diesem Gesuch Computer in Büros und Schulen. Erst 1987 entsprochen. Seither wird die siebzehn Kilome- verschwand die Stenografie – der Steigbügel für ter lange Grenze zwischen Büsingen und der den Frauenberuf Stenodactylo – vom KV-Lehr- Schweiz als Erste nicht mehr kontrolliert. plan und wurde Freifach. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 29 03.11.14 17:03
IV. PHASE: 1954 – 2014 30 Können, Freizeit, Hoch- konjunktur, Bildungsdruck Die Jugend zu selbstständigen, verantwortungsvollen Bürgern erziehen, die ihre schöpferischen Kräfte zu entfalten vermögen und die mit der Welt des Wissens und der Arbeit vertraut sind. 1954 1968 1977/1987 Überfällige Einwei- Die im Zeichen von Die akademische Das Apple-Modell II hung des Lehrerinnen- 1968 geplante Aargau- Jugend revoltiert kostet 666 Dollar und seminars mit Töchter- er Universität kommt manchenorts. Der ist ein bürotauglicher schule südlich der nicht; es fehlt an Krieg ist längst Ge- PC. Stenografie wird Bezirksschule, wo Persönlichkeiten, die schichte. Sogar die im KV zum Freifach. auch die HKV Aarau das Projekt plausibel sechs Mondlandungen noch untergebracht machen können. 1969 – 72 bleiben ist. Noch ist keine Allgemeinbildung Episode; die Reduktion Rede davon, auch jedoch geniesst eine der Arbeitszeit macht Männer zuzulassen; sehr hohe Akzeptanz. den Weg frei für die diese müssen weiter- Freizeitgesellschaft. hin nach Wettingen Die Senkung des reisen. Erwachsenenalters auf achtzehn erhöht die Verantwortung der Jugendlichen. In den Firmen werden die Hierarchien flacher. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 30 03.11.14 17:03
31 Definitiv nur mit den Frauen einzuführen: So sah Büroautomation «vorelektronisch» aus. Heute müssen Programme praktisch sein und Geräte möglichst zierlich aussehen. 2014 Eine weitere Reno - Das Pestalozzischul- vation des Pestalozzi- haus wird nicht für alle schulhauses ist ab- Ewigkeit in der heuti- geschlossen. Abge- gen Form bestehen schlossen ist aber bleiben, neue Techni- nicht die Weiterent- ken werden in den wicklung des Bildungs- Schulzimmern Eingang wesens. Wir schauen finden, weitere Schul- heute weniger optimis- reformen werden für tisch in die Zukunft heftige Diskussionen als auch schon, viele sorgen, aber das wird Fragen werden kontro- die starken Funda- vers diskutiert. Das mente dieses Hauses ist das schlagende nicht erschüttern. Herz einer lebendigen Demokratie. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 31 03.11.14 17:03
IV. PHASE: 1954 – 2014 32 Abbruch für eine se. Dieses Konzept hätte den Geschäften in der Shoppingmall? Altstadt geschadet und manch etablierte Läden ausgeschlossen. Die teilnehmenden Geschäfte hingegen wären privilegiert worden. Anstatt Nähe zum Bahnhof Stück für Stück Bauten für Bauland zu kaufen, In den 70er-Jahren drohte dem Pestalozzischul- böte sich das Schulhaus an, das der öffentli- haus der Abbruch, so wie es dem «Linth-Escher- chen Hand gehört. Komplizierte Verhandlungen Schulhaus» in Zürich widerfuhr. Wirtschaftskrei- erübrigten sich, weil «nur» die Stimmbürger se wollten es abbrechen, um das Grundstück für hätten überzeugt werden müssen, den «alten eine Mall zu gewinnen – als paralleles zweites Kasten» herzugeben und abzureissen. Die Ver- Innenstadtzentrum nördlich der Bahnhofstras- lagerung des Wohnens an den Stadtrand hatte Die Allee nördlich des Pestalozzischulhauses wird 1962 für eine Strassenverbreiterung abgeholzt. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 32 03.11.14 17:03
IV. PHASE: 1954 – 2014 33 Eine urtümliche Bürowelt tut sich im Kundenlokal der Papeterie Käser auf. In der Welt der von Hand geschriebenen Geschäftsbücher und Korrespondenz war das der Ort, wo viele Familien die erste Füllfeder erstanden. Die Ge- schwister Käser betrieben hier auch eine nationale «Postkartenzentrale», wo Sammler eifrig Motive tauschten und kauften. Am Ort des 1967 abgerissenen Gebäudes mit Dachgaube, 200 Meter westlich des Schulhauses, entstand merkwürdigerweise im Nachfolgebau der Vorläufer von aarauinfo. längst eingesetzt. Deshalb entstanden bis Das einst «Zentralschulhaus» genannte «Pesta- 1964 drei Quartierschulhäuser. Das nun dezent- lozzi» blieb und firmiert seit 1980 als Handels- rale Schüleraufkommen hätte den Umzug ins schule KV Aarau. Wegen dem Bahnlärm ist es Grüne sachlich erklärbar gemacht. Aber es kam zentral belüftet. Turnhallen und moderne Geräte anders, weil nach der grossen Jugendrebellion ergänzen die reine Bildung. Heute loben die ein starker Zustrom der Jugend zu den Gewerbe- Wirtschaftskreise die Voraussicht der Einwoh- und Handelsschulen sowie zu den Gymnasien nergemeinde. Abseits liegende Campuslösungen einsetzte. Dazu kam der Bereich der Erwachse- passen nie gut zu den Lernprozessen während nenbildung. Weil auch der Schultag immer der Berufsausbildung. Der City-Märt wurde dann länger wurde, benötigte man kurze Wege, die unter Beteiligung der Grossverteiler Migros und Nähe zum Bahnhof wurde wieder wichtiger. Coop zwischen Igelweid und Kasinostrasse Grossstädte wie Zürich verfügen über mehrere erstellt. Das Herzstück bildet eine nach oben Bahnhöfe in den Quartieren. geschlossene, eher kleine Halle. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 33 03.11.14 17:03
IV. PHASE: 1954 – 2014 34 Die Aarauer Bildungs- Engagement aus Bürgersinn geschichte entwickelt sich Ein Lokalpoet besang die Einweihung des «Zentralschulhauses» anno 1875 mit patheti- weiter schen Versen: «Grossart’ger Bau, du stolzer Tempel, du Denkmal ächten Bürgersinns …» Ein Name mit Verpflichtung Die Unternehmerfamilien haben eben diesen Das 140-jährige Pestalozzischulhaus trägt einen «ächten Bürgersinn» bewiesen, wenn es darum grossen Namen! Zwei Donatoren haben es er- ging, ihrem Staat mit Eigeninitiative beizu- möglicht, drei nationale Bildungsfesttage hat es springen, wenn sie es als nötig erachteten. erlebt. Vier grössere Erneuerungen – 1919, 1951, Wohlhabende Bürger schenkten 1868/69 Aarau 1979/81, 2012/14 – haben es frisch gehalten. Land und Geld im Wert des halben Investi- Die Zielsetzungen sind geblieben: mehr Bildung, tionsvolumens des Schulhauses. Schon bei der mehr Können und sogar mehr Spass. Gründung des Kantons 1798 hatten sich die Spitzen der Politik zusammengetan und auch 1802 bei der Eröffnung der Kantonsschule. Sie finanzierten den Betrieb selber und konnten das einstige Spital, nun Amthaus, als Gebäude dafür nutzen. Solid gebaut und fit für die Zukunft Der wuchtige Bau hat seit 1875 viele Schulen beherbergt, einige Renovationen über sich ergehen lassen, begeistert inszenierte oder vehement umstrittene Schulreformen erdul- det, und er steht nach wie vor da, gelassen in sich ruhend. Der Abschluss der neusten Re- novation fällt in eine Zeit der Verunsicherung: Wir pendeln zwischen der Angst, Vertrautes zu verlieren, und der Angst, den Schnellzug in die Zukunft zu verpassen. Das Pestalozzi- schulhaus sei uns ein Leuchtturm auf dem unsicheren Weg: Es erstrahlt im alten Glanz und beherbergt zugleich die modernste Technik. Das solid gebaute Alte birgt das Seminaristinnen vor der ersten Kantonsschule bzw. nun Seminargebäude um 1900. dynamische Neue. Hoffen wir, dass «ächter Das Amtshaus beherbergte zeitweise auch die Kantonsbibliothek und diverse andere Bürgersinn» weiterhin «Grossart’ges» ermög- Schulzimmer. liche! HKV_Festschrift_Inhalt.indd 34 03.11.14 17:03
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HANS STEPHANI – SCHÜLER UND LEHRER 36 Meine Erlebnisse im Pestalozzischulhaus In den 60er-Jahren war ich Schüler im Pestalozzi- schulhaus. Ein Jahrzehnt später kehrte ich als Lehrer zurück. Heute bleiben mir viele Erinnerungen. 1961 besuchte ich die dritte Klasse und erhielt gehen. Die Mäntel schützten die Kleider vor vom Schulzahnarzt Instruktionen zur Zahnpfle- Kreidestaub und machten Eindruck auf die ge. Ich blieb vom Bohrer, der noch mit Trans- Schüler. missionsriemen angetrieben wurde, verschont. Das Lehrerzimmer wurde nur für Konferenzen In der Aula baute Hans Holliger mit uns ein benutzt. Die Lehrer schritten in den Pausen den breites Liedrepertoire auf, sein Spiel auf dem Gang ab und diskutierten lokalpolitische Aktua- grossen Flügel packte selbst den Unbegabtes- litäten, schliesslich sassen Bretscher und Zim- ten. Jeden Morgen sangen wir stehend das Lied mermann im Einwohnerrat. Die beiden Kollegen «All Morgen ist ganz frisch und neu, des Herren kannten schon vor vierzig Jahren das Carsha- Gnad und grosse Treu …». ring, denn sie teilten sich zusammen ein Auto. Noldi Zimmermann war auch gleichzeitig Feuer- Die Bibliothek wurde vom Sekundarlehrer Bret- wehrkommandant. Ging beim Abwart ein Feuer- scher geführt, der wegen seiner lockeren Hand alarm ein, legte dieser sofort Zimmermanns auch unter dem Namen «Brätscher» gehandelt Ausrüstung bereit, während ihn eines seiner wurde. Wem die Ausleihfrist abgelaufen war, Kinder holen ging. hatte ziemlich Stress, so auch ich. Die Kleiderhaken waren in langen Reihen an den Vor genau vierzig Jahren, im Oktober 1974, Wänden im Gang angebracht. Die Schüler von kehrte ich nach einem Französischstudium von Turi Wernli hatten einmal herausgefunden, dass, Paris ins Pestalozzischulhaus zurück. Am ersten wenn sie auf dem Weg zum Schulzimmer ihren Morgen fragte mich Rektor Zimmermann nach eher kleinen Lehrer schubsten, dieser mit dem meinem weissen Mantel, den alle Lehrer trugen. Kopf gegen die harten Kleiderhaken schlug. In Da ich keinen hatte, musste ich einen kaufen seiner Not kehrte der ehemalige Offizier nach HKV_Festschrift_Inhalt.indd 36 03.11.14 17:03
der Pause nur noch mit seinem geöffneten «Eine Matrize ergab nicht mehr 37 Militärmesser in sein Zimmer zurück. als 25 lesbare Abzüge, bei 38 Beim Fussballspielen in der Pause landeten die Schülern bedeutete dies, alles Bälle oft auf dem Bahngeleise. Dann mussten zweimal zu schreiben.» sich die Schüler beim Stellwerkwärter melden. Während einer meiner ersten Pausenaufsichten flog der Ball auf die Schienen und schon kletter- Die technische Ausrüstung der 70er-Jahre war te ein Schüler über den Zaun, schnappte den Ball bescheiden. Im Abwartzimmer stand für alle ein und sah, wie ein Güterzug aus dem Tunnel auf gemeinsames Wandtelefon zur Verfügung. Im ihn zukam. Er rettete sich rechtzeitig auf den Schrank stand neben der Feuerwehrausrüstung von Kommandant Zimmermann eine Flasche Kirsch, mit dem ein älterer Lehrer regelmässig «Im Abwartzimmer stand für die Bakterien im Hals abtöten wollte. Im Ma- alle ein gemeinsames Wand- terialzimmer stand ein Matrizendrucker, des- sen Flüssigkeit nach Alkohol roch. Eine Matrize telefon zur Verfügung.» ergab nicht mehr als 25 lesbare Abzüge, bei 38 Schülern bedeutete dies, alles zweimal zu Pausenhof zurück, aber ich hatte vor Schreck schreiben. Als 1978 das neue Oberstufenschul- meine Lehrerkarriere bereits vorzeitig beendet haus geplant wurde, informierten wir die inter- gesehen und war ausserstande, dem ungehor- essierte Bevölkerung über die Vorteile des samen Jungen eine Ohrfeige zu verpassen. neuen Schulhauses, indem wir Hellraumprojek- toren als neue Errungenschaft hervorhoben. Im Zimmer des Sekundarlehrers Karl Keller standen hölzerne Schulbänke, deren schräge Vor fünfzig Jahren hatten wir vieles noch nicht: Schreibflächen aufgeklappt werden konnten und Kaffeemaschinen, Verpflegungsautomaten, deren Sitzbänke mit den Tischen mit eingelasse- Beamer, Visualizer, Computer, E-Mail, Internet, nen Tintenfässli verbunden waren. Fotokopierer, Handy, Facebook! Aber einer hat mit mir die ganze Zeit durchgehalten: In einer Wer im Handfertigkeitsunterricht in den Hobel- grossen Holzkiste für Elektroschrott im Keller bank sägte, fasste zur Strafe eine saftige Ohr- habe ich kürzlich neben defekten Computer- feige, so auch der Sohn eines Aarauer Gärtners, kabeln, Bildschirmen, Tastaturen und leeren dem die harten Züchtigungsmethoden die Fotokopierpatronen den alten blauen Matrizen- Freude am Sägen nicht verdriessen vermochten drucker entdeckt, und augenblicklich stehe und trotzdem in die Fussstapfen seines Vaters ich in Gedanken wieder im weissen Mantel vor trat und seit Jahren mit seiner Säge die Bäume 38 Schülern: «All Morgen ist ganz frisch und in meinem Garten pflegt. neu …». – Ja, es war eine schöne Zeit. HKV_Festschrift_Inhalt.indd 37 03.11.14 17:03
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