GEGENWARTS-GESTRIGE Herausgeber*innenkollektiv des Gesprächskreises "Geschichte" - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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MATERIALIEN Herausgeber*innenkollektiv des Gesprächskreises «Geschichte» GEGENWARTS- GESTRIGE RECHTE GESCHICHTSPOLITIK HEUTE
INHALT Vorwort 2 Anke Hoffstadt und Michael Sturm Einleitung: Geschichte für Patrioten und Volksliedsänger 5 Historische Bezüge und Geschichtspolitik in den Strategien des völkisch-autoritären Populismus Yves Müller Preußen, das Kaiserreich, der Kolonialismus und die Rechten 15 Sehnsuchtsorte des deutschen Nationalismus Sebastian Bischoff und Anna Schiff (Niemals) Zurück in die 1950er Jahre 25 Gender und Sexualität in rechter Geschichtspolitik Das Prinzip Hoffnung 34 «Was tun mit der Geschichte?» Ein Austausch über linke Geschichtspolitik mit dem AK Loukanikos Wider den Strich 42 Linke Geschichtsschreibung gegen nationalistische Indienstnahme Zum Weiterlesen 51 Die Autor*innen 53
2 Vorwort VORWORT Der Gesprächskreis «Geschichte» der Ro- über hinaus auch in den gedruckten Medien, sa-Luxemburg-Stiftung arbeitet seit 2006. Bis- auf der Straße, in Gedenkstätten und in den lang konzentrierte er sich vorrangig auf die or- Kommentar-Kaskaden der sozialen Medien. ganisatorischen und ideellen Traditionen und 1935, im dritten Jahr der nationalsozialisti- Kontinuitäten in der Geschichte der Linken: schen Machtübernahme, sprach der mar- historische Kommunismusforschung, Ge- xistische Philosoph Ernst Bloch (1885–1977) schichte der Arbeiter*innenbewegung und ih- von einem tief sitzenden «Stachel» aus «Het- rer Parteien, Geschichte der neuen Linken und ze und Verwilderung». Gegen diese, so Bloch, der neuen sozialen Bewegungen. «wirkt das rote Mittel nur halb, meist noch Nachdem seit einigen Jahren immer häufiger gar nicht. Nazis sprechen betrügend, aber rechte Gewalt und eine gewalttätige und ras- zu Menschen, die Kommunisten völlig wahr, sistische Sprache eine zusehends massivere aber nur von Sachen.»1 Bloch tat richtig dar- autoritäre Formierung von Staat und Gesell- an, die Frage nach den Strategien im Umgang schaft begleiten, legt der Gesprächskreis «Ge- mit der Sprache der Rechten, der Form und schichte» mit dieser Publikation erste Beiträge ihren Inhalten, zu stellen. Hier dachte er wohl seiner Auseinandersetzung mit «rechter» und insbesondere an die Zuhörenden und ihre Er- «faschistischer Geschichtspolitik» vor. Diese reichbarkeit für rechte Mobilisierungen: an die Texte sind Resultat der Debatte darüber, ob es Frequenz des Gewohnten wie des Emotiona- für eine linke Geschichte, Geschichtsschrei- len, auf der gesendet wurde. An die Gratifika- bung und Geschichtspolitik angesichts dieser tion durch vermeintliche Anerkennung und Zuspitzungen (noch) ausreichend ist, sich mit Zugehörigkeit. So inszenieren sich rechte Er- der eigenen Tradition zu beschäftigen – ins- zählungen – auch aktuell – als zweierlei. Zum besondere dann, wenn sie rechte Hegemo- einen als das «Normale», das (wieder) herge- nien und deren Versuche, Deutungshoheiten stellt werden soll, als «Idealzustand» mit sei- zu etablieren, infrage stellen wollen. Oder ob nen Elementen Volk, starker Staat und Männ- es nicht viel eher darum gehen müsste, rech- lichkeit. Dieses letztlich rückwärtsgewandte te Vorstellungen gezielt von links anzugreifen, Versprechen zeigt Wirkung – auch oder ge- auch in der Betrachtung von Geschichte und rade weil es angesichts der Migrantisierung Geschichtspolitik. In dieser Publikation ge- der Gesellschaft mehr als aus der Zeit gefal- schieht das beispielhaft anhand der Themen len ist. Schließlich verfangen rechte Geschich- «Preußen» und «Geschlechterordnung», die in te und Geschichtspolitik vor allem dort, wo rechten Geschichtsbildern eine wichtige Rolle Restauration und der Wunsch «Wir sind wie- spielen. der wer» hoch im Kurs stehen. Sie fantasieren In ihnen werden die bisher gemeinhin als links eine rechte Gegenkultur herbei, die sich der wahrgenommenen Begriffe wie Freiheit, Wi- Gegenwart und ihren Realitäten durch immer derstand, Befreiung und sogar Revolution neue Rückgriffe auf längst vergangene, nun durch rechte Erzählungen bewusst umgedeu- idealisierte Zeitalter der deutschen Nationen tet. Einmütig stehen diese Verfremdungen und heiligen Reiche zu entziehen sucht. aktuell neben Mythen «deutscher Geschich- Darüber hinaus sind Geschichte und Vergan- te», die schon seit Längerem in rechten oder genheitspolitik für die Rechte – zweitens – rechtspopulistischen Sprech- und Diskursbla- auch Teil einer handfesten Kampfansage. sen zu finden sind. Sie wirken dort, aber dar- Wenn der Fraktionsvorsitzende der Alternati-
Vorwort 3 ve für Deutschland (AfD) im Bundestag, Ale die in ihrer gegenwartsbezogenen politischen xander Gauland, davon spricht, dass er sich Agenda durchaus verfängt – selbst dann, nicht nur «unser Land», sondern auch «unsere wenn sie einem Faktencheck in keinem Punkt Geschichte» zurückholen wolle, ist das wohl standhielte. als Bekenntnis zur Idee des Umsturzes zu ver- Die Linke, der es seit dem Scheitern der real stehen. Wenn er in anderem Zusammenhang sozialistischen Gesellschaftsentwürfe und von einem «Wir werden sie jagen!» spricht, dem Ende der sozialdemokratischen Reform- dann ist das ein klarer Aufruf zu offener Ge- politik an Utopien mangelt, sieht sich heute ei- walt. «Geschichte als Kulturkampf» meint in ner doppelten Herausforderung gegenüber: seinem Sinne und in der rechten Propaganda die rechten Erzählungen in ihre Schranken zu als Erstes: «Kampf» um das Ganze. weisen, sie zu kritisieren und zu demaskieren Hinzu kommt, dass die allermeisten der fa- einerseits, eine neue linke Geschichte zu ent- schistischen und rechtspopulistischen Er- wickeln andererseits. zählungen auf Sprache, Denkweisen und Zu- Doch ihre Situation ist im Grunde anders ge- kunftsvorstellungen bauen können, die der lagert: Die Linke blickt auf ein 20. Jahrhun- sogenannten Mitte nicht fremd sind. Mitunter dert zurück, das für sie voller Niederlagen und mögen die Vokabeln eines autoritär-nationa- Trauer war – Erster Weltkrieg, Novemberrevo- listischen Populismus schroffer sein, die Hal- lution, Nazismus und Völkermord, gescheiter- tungen dahinter aber ähneln sich, nicht erst te Reformen nach 1945, Erstarrung des so- heute. So sind etwa die gegenwärtig von der genannten Sozialismus, die Verbrechen des AfD und anderen erhobene Forderung nach Stalinismus. Die Liste des Scheiterns ist lang. einem Ende des «deutschen Schuldkults» und Daraus auszubrechen und neue Perspektiven Martin Walsers Buchpreis-Rede von 1998 mit auf «eine andere Geschichte» zu entwickeln dem Wort von der «Moralkeule Auschwitz» fällt schwer, solange das Geschichteschrei- nur auf den ersten Blick verschieden. Traditio ben sich nicht aus seiner eigenen Geschich- nell sehr ähnlich «funktionieren» auch Anti te als Teil der Entstehung der modernen Na- feminismus und Nationalismus hier wie dort – tion in der Mitte des 19. Jahrhunderts heraus sie schaffen Anschlussfähigkeiten bis nach zu emanzipieren vermag.2 So tun wir gut dar- ganz rechtsaußen, nicht selten verschränkt an, auch ein «Erinnern als Widerstandspraxis» im historischen Bild einer «Heimat», deren neu zu entwickeln: international – und so die Geschlechterordnung und Chauvinismus ver- beengenden Grenzen nationaler Geschichte lässlich vor dem beunruhigenden Wandel der oder weißer, männlicher Perspektiven über- Zeiten schützt. Sicherheit, so konstruiert oder schreitend.3 erfindet die autoritär-nationalistische Erzäh- Für unsere Konzepte und Kämpfe um Gleich- lung von Geschichte, vermöge es da allein im heit und (individuelle) Freiheit ist jede Anknüp- Wiederaufleben eines exklusiven und zugleich fung allerdings herausfordernd, solange sie homogenen «Wir» zu geben, das im Wesent- über die ausgrenzenden Begriffe etwa von lichen durch die Ausgeschlossenen bestimmt Nation, Geschlecht oder Klasse nicht produk- wird. Dabei hilft die Vorstellung von einem ge- tiv hinweggehen können, die es schwerma- fährlichen «Anderen» der rechten Selbstver- chen, gemeinsam und differenziert zugleich gewisserung, stellt ihre neurechte Erzählung zu sprechen, ein linkes «Wir» zu schaffen – vom «großem Austausch» auf Dauer. Das sind und auszuhalten. Ohne Ausschlüsse, ohne die Versatzstücke, mit denen die Rechte ihre Homogenisierung. Ohne die Sorge, vor lauter historisch-fiktionale Gegenerzählung vervoll- Gemeinschaft nicht mehr über den Tellerrand ständigt. Eine Erzählung vom Historischen, schauen zu können. Nicht zuletzt wird eine lin-
4 Vorwort ke Geschichte auch die Kraft und die Bereit- wie die ihrer kurzen Siege (Enzo Traverso). schaft aufbringen müssen, in sozialen Bewe- Die Bedingungen und die Kraft der vergan- gungen darauf aufmerksam zu machen oder genen Siege vor Augen ist auch die Zukunft zu erstreiten, was in der Vergangenheit ab- offen. Und gestaltbar. Dafür muss die plu- handengekommen ist oder immer schon fehl- rale gesellschaftliche Linke ihre Argumente te. Wir Nachgeborenen haben hier die Chan- schärfen. Wir hoffen sehr, mit dieser Publi- ce, aus der Vergangenheit zu lernen – einmal kation dazu einen kleinen Beitrag leisten zu mehr und besonders für unsere emanzipatori- können. schen Kämpfe. Schließlich ist und bleibt Geschichte im Bernd Hüttner Rückblick insofern offen, als dass unser ge- Bremen, im Mai 2021 genwärtiger Fokus entscheidend ist für den Ausschnitt an Erfahrungen, den wir mitneh- 1 Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit, Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1985, S. 152 f. 2 Vgl. Pernau, Margit: Transnationale Geschichte, men in aktuelle Kämpfe. Das zeigt die lange Göttingen 2011, S. 8–14. 3 Vgl. Brachman, Ines/Chmiel, Cornelia/Far- ber, Jennifer/Hecker, Jens/Hoffstadt, Anke/Schank, Lisa: Die Gedenk- Geschichte der gescheiterten und unterlege- stätten, eine unendliche deutsche Erfolgsgeschichte, in: Hinterland nen Alternativen der Vergangenheit ebenso Magazin 48, 2021, S. 53–57.
Einleitung: Geschichte für Patrioten und V olksliedsänger 5 Anke Hoffstadt und Michael Sturm EINLEITUNG: GESCHICHTE FÜR PATRIOTEN UND VOLKSLIEDSÄNGER HISTORISCHE BEZÜGE UND GESCHICHTSPOLITIK IN DEN STRATEGIEN DES VÖLKISCH-AUTORITÄREN POPULISMUS Auf der Klaviatur identitätspolitischer Anwür- Beiträge in diesem Band als Muster jener «po- fe und Mythos-Szenarien von rechts sind sie sitiven Beziehung» zur «deutschen Geschich- die prägnantesten Noten und treten gern als te», die extrem rechte Lautsprecher wie der Akkord auf: Patriotismus, Nationalismus und Vorsitzende der Alternative für Deutschland (Leit-)Kultur. Die Melodie ist dabei bestän- (AfD) in Thüringen, Björn Höcke, bemühen, dig eine von gestern. Dass sich rechte und wenn es ihnen um «deutsche Identität» und radikalnationalistische Akteur*innen in ih- ihre vermeintlich historische Herleitung geht. rer «Wir»-Agenda, dem Kernelement rechter Welche Deutungsmuster und strukturellen Politik, auf Geschichte beziehen, gehört zum Merkmale liegen den rechten Indienstnahmen Alltag rechter Inszenierung, Propaganda und von Geschichte dabei zugrunde? Wer sind die Erzählung. Ihre Strukturelemente zu beschrei- Adressat*innen, wer die Akteur*innen? Für ben ist Anliegen dieses Beitrages. Gleich, ob den Einstieg mag ein Beispiel hilfreich sein: sie Symbole bemühen und sie als ideologi- Am 11. Juli 2020 zeigte sich Tino Chrupalla, sche Selbstbestätigung für «die Eigenen» Bundessprecher der AfD, in einem Eintrag auf bzw. als Markierung «der Anderen» aufstel- seinem Facebook-Account begeistert. Unter len oder ob sie damit realpolitische Forderun- der in Großbuchstaben gesetzten Überschrift gen und Konzepte zum Wohle des «Volkes» zu «Hambacher Fest 2020!» jubelte er: «Ein toller flankieren versuchen, setzen historische Be- Tag für jeden Patrioten und Volksliedsänger.» züge von rechts auf «historisch-fiktionale Ge- Der Bundestagsabgeordnete war an diesem generzählungen». Dies gilt für rechte Umdeu- Tag zusammen mit etwa 70 weiteren Perso- tungen der NS-Geschichte, für Forderungen nen zahlender Gast des «Neuen Hambacher nach einem Schlussstrich und einem Ende Festes», auch 2020 trotz der Covid-19-Pande- des sogenannten Schuldkultes ebenso wie für mie zum wiederholten Male ausgerichtet von offene Holocaust-Leugnung oder «Opa war in Max Otte, Fondsmanager mit CDU-Parteibuch Ordnung»-Erzählungen von einer vermeintlich und offenen Sympathien für die AfD und ihr «sauberen» Wehrmacht und den «deutschen Umfeld.2 Opfern» des Nationalsozialismus.1 Otte und seine Gäste versuchen mit ihrer Doch in geschichtspolitischen Strategien von Veranstaltung – mit Festreden zum Zustand rechts geht es auch um historisch-fiktiona- deutscher Gegenwart, mit Banketten, Preis- le Gegenerzählungen, die mit ihren Bezügen verleihungen (2020 an Vera Lengsfeld), Wan- auf Vergangenes als «positiver Geschichte» derungen durch den Pfälzer Wald und Lieder- gegenwartspolitische Ziele der Rechten sta- abenden –, einen Erinnerungsort deutscher bilisieren sollen. Ihre Chiffren: Preußen, die Geschichte par excellence zu besetzen.3 Im deutschen Kaiser, Gründung des Reiches und Hambacher Schloss, jener «Wiege der De- sein «Platz an der Sonne», Trümmerfrauen mokratie», trafen sich vor knapp 190 Jahren, und die deutsche Familie. Der Analyse dieser zwischen dem 27. Mai und dem 1. Juni 1832, rechten Geschichtssplitter widmen sich die bis zu 30.000 Menschen zu einer mehrtägi-
6 Einleitung: Geschichte für Patrioten und V olksliedsänger gen Versammlung, die sich heute unter dem entlehnen Themen und schildern Kräftever- Namen «Hambacher Fest» in jedem Schul- hältnisse gerade so, wie sie ihnen für eine buch zur deutschen Geschichte findet. Schü- gegenwartsbezogene Selbstdarstellung von ler*innen ab der 8. oder 9. Klasse lernen im Nutzen sein können. Ihr Konzept der Helden- Unterricht, dass Zehntausende Menschen verweise, der Bezugnahmen auf eine positi- damals zusammenkamen, um gegen die au- ve Nationalgeschichte, auf Befreiungs- und tokratisch-restaurativen Verhältnisse in den Freiheitserzählungen «deutscher» Geschich- deutschen Kleinstaaten zu protestieren und te stellt insbesondere auf die Stärke des «klei- sich für Presse- und Versammlungsfreiheit, nen Mannes» ab. Es besetzt die Figur des Frei- für Bürger*innenrechte und nationale Einheit heitskämpfers ebenso wie die des sich selbst stark zu machen. bemächtigenden Untertanen, der im Rebel- Otte und die Teilnehmer*innen des «Neuen lentum zu kritischer Masse aufläuft und ein Hambacher Festes» wollen sich in die Tradi- System mindestens zu stören, vielleicht gar tion der damaligen Protagonist*innen stellen zu stürzen vermag. Selbst dort, wo solche und deren historische «Aura» für ihre gegen- Bezugnahmen auf Geschichte einem Fakten- wartsbezogene politische Agenda nutzen. check nicht standhalten, wo also eine kritische So zeigte sich etwa schon im Mai 2018 Timo Überprüfung ihres historisch nicht-fiktionalen Böhme, Vorsitzender der AfD-Landtagsfrak- Gehalts die schiefen Bezüge sichtbar macht, tion in Rheinland-Pfalz, in seinem Rückblick liefern Heldenepen wie diese die nötige Kohä- auf das erste «Neue Hambacher Fest» begeis- renz, um glaubhaft und anschlussfähig zu er- tert: «Was für ein herrliches Fest der Freiheit scheinen. und der klugen Worte!», hieß es auf der Inter- Gleichzeitig bilden sie einen stabilen Kitt zwi- netseite der AfD-Landtagsfraktion am 7. Mai schen sonst sehr verschiedenen rechten Ak- 2018. Böhme ergänzte pathetisch, ihm sei teur*innen und ihren unterschiedlichsten deutlich geworden, «dass die Hoffnung auf Politikfeldern. Sie binden zusammen, was So- eine Rettung unseres schönen Vaterlandes zial- und Politikwissenschaftler*innen in ihren lebendig ist». Dabei stellte er direkte Analogi- Analysen rechter Strukturen, Interessen- und en zur Ära der Restauration infolge der Karls Personenkreise (in allen Bereichen ihrer poli- bader Beschlüsse und der Gegenwart her: tischen Praxis) seit spätestens Ende 2014 als «In Deutschland herrscht mittlerweile wieder eine politische Strömung beobachten, die als Zensur, vergleichbar mit dem Jahr des Ham- «neue soziale Bewegung von rechts» bezeich- bacher Festes 1832 und den Zeiten des Vor- net werden kann.4 märzes.» «Sozial» ist in diesem Fall nicht sozialpoli- tisch gemeint, sondern im Sinne einer ge- Nützliche Traditionslinien: sellschaftlichen Verankerung. So gründet die für wen, von wem? neue soziale Bewegung von rechts nicht auf Mit solchen und ähnlichen Anknüpfungsver- den klassischen extrem rechten Organisatio- suchen offenbaren rechte Akteur*innen den nen und Parteien wie etwa der NPD, der – heu- Kern ihrer Strategien zur Inszenierung, In- te ihrerseits historischen – Bürgerbewegung dienstnahme und Vernutzung von Geschich- Pro NRW oder dem militant neonazistischen te: Sie stellen sich in eine Linie von Sinn- und Spektrum der sogenannten Freien Kamerad- Traditionsstiftungen (wie hier etwa die der Be- schaften (und ihrer vom Parteiengesetz ge- freiungskämpfe und der Kämpfe für Volks- schützten Nachfolgeorganisationen wie den souveränität des Vormärz), schaffen schiefe Parteien Die Rechte oder Der III. Weg) – also Bezüge zu historischen Zusammenhängen, einer bestimmten Szene oder einem (extrem)
Einleitung: Geschichte für Patrioten und V olksliedsänger 7 rechten Milieu. Eher wurzelt sie und findet sie Zusammengeschlossen etwa in der gemein- ihren Ausdruck in einer Reihe von Netzwer- samen Erzählung von einer vorgeblichen «Co- ken, Zeitschriftenprojekten, Internetportalen, rona-Diktatur» bringen Anhänger*innen und mal losen, mal fester organisierten Gruppie- Aktive dieser Misch-Szene mit den Begriffen rungen, die in ihren oftmals diffusen program- Freiheit, Widerstand oder Souveränität Fah- matischen Ausrichtungen durchaus unter- nenwörter – buchstäblich – auf die Straße, schiedliche Schwerpunkte setzen. Im Kern hinter denen sich milieuübergreifend Perso- jedoch vertreten sie ähnliche Positionen und nen aus der organisierten militanten Neona- gleichen sich insbesondere in ihrem verbalra- zi-Szene, Esoteriker*innen, besorgte Eltern, dikalen, aggressiven politischen Stil. Zu dieser Impfgegner*innen oder Reichsbürger*innen neuen sozialen Bewegung von rechts ist die umstandslos einreihen können.5 Ihr Konzept der Heldenverweise, der Bezugnahmen auf eine positive Nationalgeschichte, auf Befreiungs- und Freiheitserzählungen «deutscher» Geschichte stellt insbesondere auf die Stärke des «kleinen Mannes» ab. (vor allem in Dresden immer noch auftreten- Einen bis in alle Ebenen der parlamentari- de) Pegida-Bewegung ebenso zu rechnen wie schen Politik handlungsmächtigen partei- die Hooligans gegen Salafisten (Hogesa), die politischen Ausdruck finden die derart viel- Identitäre Bewegung, Gruppierungen und Ein- gestaltigen, in ihren Stilmitteln aber ähnlich zelpersonen aus dem Spektrum der Reichs- auftretenden rechten Strömungen und Struk- bürger, rassistische Hetzblogs wie political turen in der AfD. Dabei ist die Alternative für incorrect, Zeitschriften wie das Compact-Ma- Deutschland nicht immer kritiklos als Reprä- gazin sowie die zahllosen Social-Media-Sei- sentantin anerkannt. Vor allem mit Blick auf ten, auf und in denen Tag für Tag in verrohter ihre parteiinternen Fliehkräfte und Macht- Sprache gegen Flucht und Asyl, gegen den Is- kämpfe zwischen einem wirtschaftsliberalen lam, gegen die Spitzen der Bundespolitik, ge- Rechtsaußenkurs und ihrem faschistisch, ex gen das «links-grün versiffte» Establishment trem rechten (vormaligen) «Flügel» fehlt ihr oder schlicht: gegen «die Gutmenschen» ge- die ungeteilte Zustimmung. hetzt wird. Darüber hinaus koordiniert oder organisiert Wie in einem Widerspruch zur rechten Abwer- die AfD die einzelnen Teilströmungen keines- tung von bürgerschaftlichem Engagement wegs, wenngleich sie auch eine Reihe von und menschenrechtsorientierter Politik sind Grundpositionen und Ressentiments mit den seit Beginn der Covid-19-«Krise» Pandemie- anderen Protagonist*innen dieser neuen sozia leugner*innen hinzugekommen, lösen Ver- len Bewegung von rechts teilt. Die AfD greift wunderung aus, wo sich einzelne als «links» aber immer wieder deren Rhetorik auf, spitzt bezeichnen oder von «Herrschaftskritik» und sie zu oder mildert sie ab – je nach Zielgrup- «Nächstenliebe» sprechen. Allerdings treten pe und Richtungsentscheidung im konkreten sie in ihrer diversen Zusammensetzung zu- Themenfeld. Wie ein Chamäleon tritt sie mal gleich durchaus als Multiplikator*innen auf, in Formation mit extrem rechten Akteur*innen schaffen breite Schnittmengen und verbrei- oder als deren Ergänzung auf, ein andermal tern Kulissen und Sichtbarkeiten, auch für (ex- gibt sie sich als parlamentarischer Lautspre- trem) rechte Akteur*innen und Strukturen. cher eines vermeintlich selbstverständlichen,
8 Einleitung: Geschichte für Patrioten und V olksliedsänger aber unterdrückten Volkswillens, bieder wert- etablierte Positionen lediglich zusätzlich oder konservativ und vorgeblich «normal», je nach radikaler zu bedienen brauchen, um als ge- Adressat*innen und Inszenierungsstrategie. setzt wahrgenommen zu werden: Dies wird in In ihrer Gesamtheit stehen die Wegberei- den folgenden Beiträgen dieses Bandes an ei- ter*innen und Akteur*innen der neuen sozia nigen Beispielen aufgezeigt. len Bewegung von rechts, stehen AfD und Co. für einen völkisch-autoritären Populis- Positive Geschichtssplitter: mus. Dieser ist, so der Politikwissenschaftler Restauration, Heldentum Jan Werner Müller, dadurch gekennzeichnet, und Leitkultur dass seine Vertreter*innen einem imaginier- Die Rechte nutzt Geschichte als Werkzeug, ten «moralisch reinen, homogenen Volk stets als Instrument der Mobilisierung wie der Le- unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gitimation einer gegenwartsbezogenen poli- gegenüberstellen – wobei diese Eliten eigent- tischen Agenda. Ihre jeweilige Themenwahl lich gar nicht wirklich zum Volk gehören».6 sagt dabei viel über die konkreten Funktio- Rechtspopulist*innen und die (extreme) Rech- nen aus, die Geschichte in rechten Strategi- te als neue soziale Bewegung erheben für sich en hat: Welche historischen Zusammenhän- also nichts Geringeres als den moralischen ge oder Ereignisse genau nimmt die Rechte Anspruch, dass sie und nur sie das Volk ver- in den Blick? Wer sind die historischen Figu- treten, während alle anderen Repräsentant*in- ren, die sie zu Heroen erklärt? Wie werden nen der Bürger*innen auf die eine oder andere Entwicklungen weichgezeichnet oder für ei- Art illegitim seien. ne Bezugnahme in Dienst gesetzt? Welche Im Rahmen dieser völkisch-autoritären An- Themen reklamiert eine rechte Geschichte sprache an ein exklusives «Wir» sowie in der für sich? Welche dagegen lehnt sie ab, be- Mobilisierung von Netzwerken und Akteur*in- schweigt oder verleugnet sie? Wo macht sich nen der sozialen Bewegung von rechts oder völkisch-autoritärer Populismus die Mühe, für eine virulente «Radikalisierung des Konser- historische Zusammenhänge und Themen der vatismus» (Felix Korsch) kommt dem Verweis Geschichte wohlkalkuliert polemisch herabzu- auf Geschichte nicht von ungefähr eine zen würdigen oder zu verhöhnen? trale Rolle zu. Denn Geschichte, so ließe sich vorwegnehmend zusammenfassen, wirkt in NS-Geschichte ausschließen – rechten Klangräumen (und darüber hinaus) Vergangenheit zurückerobern als Verstärker von Vergemeinschaftungspro- Im September 2017 verlangte Alexander zessen. Geschichte wird in Dienst genommen Gauland, seinerzeit Parteisprecher und Bun- zur Festigung eines Identitätsangebotes, die- destagsfraktionsvorsitzender der Alternative ses Kernelementes des völkisch-autoritären für Deutschland, als Redner auf dem soge- Populismus (wie der extremen Rechten). Der nannten Kyffhäuser-Treffen des völkisch-na- besitzergreifende Bezug auf Historisches wird tionalistischen «Flügels» der AfD nach einem sowohl als szenen- und milieuübergreifen- Schlussstrich. Zusammen mit dieser Forde- des Selbstvergewisserungselement als auch rung, jede Auseinandersetzung mit der Ge- als multifunktionaler und multidimensionaler schichte des Nationalsozialismus ein für alle Deutungsrahmen genutzt. Mal zu beenden, bilden insbesondere Björn In welcher Weise Geschichte von einem völ- Höckes gezielte geschichtspolitische Aus- kisch-autoritären Populismus ausbuchstabiert fälle7 die wohl bekanntesten Beispiele für die wird, an welcher Stelle rechte Geschichtsdeu- Strategie der Externalisierung des Nationalso- tungen abholend sein können, wo sie bereits zialismus aus der deutschen Geschichte. Zu-
Einleitung: Geschichte für Patrioten und V olksliedsänger 9 gunsten einer (von ihm selbst so bezeichneten) Am Ende münden wohl alle rhetorischen restaurativen «Wieder- Muster in das keinesfalls neue Postulat, verzauberung» der Welt, einen Schlussstrich unter die beschwört der thürin- nationalsozialistische «Vergangenheit» gische AfD-Vorsitzende und deren Bewältigung ziehen zu wollen. das positive Identitätsge- fühl eines ungebrochenen Deutschtums, wie licher und fachjournalistischer Analysen zu es etwa in dessen wortreichen und patheti- rechter Geschichtspolitik und der geschichts- schen Verklärungen des 19. Jahrhunderts sei- bezogenen Praxis eines völkisch-autoritären nen Ausdruck findet. Populismus. Sie helfen, schiefe Geschichtsbe- Obgleich sich in allen Facetten des völ- züge, Leugnungen, Schlussstrich-Polemiken kisch-autoritären Populismus ein teilweise und neurechte «Metapolitik»-Strategien zur bizarres Spektrum von Geschichtsrevisio- Verknüpfung von Erinnerungspolitik und iden- nist*innen tummelt, münden am Ende wohl titätsstiftenden Zugehörigkeitsangeboten im alle rhetorischen Muster (etwa der Täter-Op- vorpolitischen Raum erkennen und auswerten fer-Umkehr, der antimuslimischen, rassisti- zu können.9 schen Anwürfe zu Fragen des Antisemitis- Dringlich ist diese Sensibilisierung, da jüngst mus, der floskelhaften Verwendung von «den Raumergreifungen (über Versuche der Ein- zwölf Jahren») in das keinesfalls neue Postu- flussnahme etwa in kommunalen Gremien lat, einen Schlussstrich unter die nationalso und paritätisch besetzten Stiftungsräten oder zialistische «Vergangenheit» und deren Be- über Anfragen und Anträge in parlamentari- wältigung ziehen zu wollen. Was im Herbst schen Zusammenhängen), Störungen und 1998 mit Martin Walsers seinerzeit sowohl nicht zuletzt auch Angriffe an und gegen Ge- goutierter wie problematisierter Buchpreis- denkorte – wie Gedenkstätten oder Bildungs- Rede in der Frankfurter Paulskirche sichtbar einrichtungen an NS-Erinnerungs- oder Doku- wurde, inszeniert Alexander Gauland beina- mentationsorten – zunehmen. Bildungs- und he zwei Jahrzehnte später zuspitzend: Kein Beratungsexpert*innen beschreiben in Hand- anderes Volk in Europa habe «so deutlich mit lungsempfehlungen und Broschüren, welche einer falschen Vergangenheit aufgeräumt Möglichkeiten es gibt, einer «Geschichtspo- wie das deutsche». Nun aber müsse man den litik als Kulturkampf von rechts» entschieden Deutschen «diese zwölf Jahre jetzt nicht mehr entgegenzutreten.10 vorhalten!» Sie beträfen die deutsche Identi- tät nicht länger. Darum, so Gauland, «haben Preußens Glanz und der Platz wir auch das Recht, uns nicht nur unser Land, an der Sonne sondern auch unsere Vergangenheit zurück- Um der deutschen Geschichte positive, iden- zuholen».8 titätsstiftende Aspekte abzuringen und sie zur Aus guten Gründen stehen rechte Umdeu- einigenden und harmonisierenden Masterer- tungsstrategien und Versuche, die NS-Ge- zählung auf ein wünschenswert allgemeines schichte zu relativieren, auszublenden oder Geschichtsbild auszurollen, setzt die Rechte mit spektakulären Provokationen als Thema auf ausgewählte historische Bezugspunkte, der geschichts-, gedenk- oder erinnerungs- die den Charakter von Gegenentwürfen haben politischen und -kulturellen Gegenwart des und für Adressat*innen – für eine deutsche postnationalsozialistischen Deutschlands zu Öffentlichkeit ebenso wie für die eigenen Rei- diskreditieren, heute im Fokus wissenschaft- hen – normalisiert werden sollen: als seien sie
10 Einleitung: Geschichte für Patrioten und V olksliedsänger als Erzählungen von Vergangenem in dieser dann in den Vordergrund, wenn es nach zwei Form schon immer da gewesen. verlorenen Weltkriegen um Rückerstattungs- Einer dieser Gegenentwürfe lässt sich unter ansprüche auf adlige Besitztümer und Nut- dem Stichwort monolithisches Kulturverständ- zungsrechte geht, wie im Fall der machtvoll nis fassen, mit dem nach völkisch-autoritärem bis in die Geschichtswissenschaft hinein in- Weltbild Gemeinschaftsbindungen konstru- tervenierenden vormaligen Kaiser-Dynastie in iert sind. Quer durch die verschiedensten Ak- der aktuellen «Hohenzollern-Debatte». teurskreise der neuen sozialen Bewegung von Mit Blick auf diese Themen rund um «Glanz rechts ist die Rede von einer «deutschen Leit- und Gloria» deutscher Geschichte von Bar- kultur», die dem «Fortbestand der Nation als barossa bis Wilhelm II. lässt sich noch ein kultureller Einheit» dienen solle. Geprägt sei weiteres Kernelement rechter Geschichte sie durch eine gemeinsame Sprache, mehr ausmachen. Dass Gauland seine geschichts- noch aber durch einen über alle historischen politische Polemik zur Wiedererringung deut- Zäsuren hinweg bestehenden «Kernbestand» scher Vergangenheit durch das deutsche an «Werthaltungen». «Die Kultur», die dem «Volk» 2017 ausgerechnet anlässlich des Kyff «Wir» einen unverwechselbaren und gleich- häuser-Treffens der AfD formulierte, mag die sam überhistorischen Charakter verleihen soll, Kulisse des historischen Kontextes zwar noch bildet neben «Volk» eine Schlüsselkategorie einmal betont in Szene gesetzt haben für den für das Geschichts- verständnis des Völ- kisch-Autoritären. In In der Logik völkisch-autoritärer Positionen Verschränkung mit ist die Semantik des Niedergangs nicht der einzigartigen Ver- weniger als der Marker für einen fasstheit eines «Wir» Endkampf: um Überleben oder Untergang. bleibt «Kultur» dabei stets im Singular, gemeint als «deutsche» oder positiven Bezug auf Kaisermythos und das «abendländische» Eigenschaft und «Wesens- Wiedererwachen eines deutschen Reiches in art». In diesem Sinne erweist sich der rechte Einheit von Volk, Nation und Herrscherkrone. Kulturbegriff als statisch, monolithisch und Dabei versuchte er aber, seine Idealerzählung äußerst selektiv. künftiger, reiner Geschichtsbetrachtung zu- Wie Yves Müller in seinem Beitrag herausar- sätzlich dadurch aufzuwerten, dass er in glei- beitet avancieren im Kulturkampf von rechts chem Atemzug das Feind-Schema des kultu- gegenwärtig besonders drei Themenfelder zur rellen Niedergangs bemühte. Arena rechter, neurechter und völkisch-autori- In einem rhetorisch kaum verhüllten Gewalt tärer Interpretationen: zum Ersten «Preußen» aufruf gegen Aydan Özoğuz, die damalige und die imperiale Autorität des Wilhelminis- stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende, mus; die – zweitens – durchaus als Verherrli- Staatsministerin und Integrationsbeauftrag- chung zu bezeichnenden Kaiserreich-Epen ei- te der Bundesregierung, hetzte er gegen den nes Interregnums, eines Zwischenreiches im offenen, weltbürgerlichen Kulturbegriff der Zeitenlauf deutscher Geschichte auf dem Weg Bundestagsabgeordneten. Man solle sie ein- zur Glorie der Reichseinheit; sowie schließlich mal ins Eichsfeld einladen, um ihr dort beizu- die völkische Selbstaufwertung durch Kolo- bringen, «was spezifisch deutsche Kultur» sei, nialismus und imperiale Großmachtpolitik im so Gauland in seiner bis ins letzte Wort viel- Traum vom «Platz an der Sonne». Sie treten fach im Feuilleton dokumentierten und wie- dabei mit unterschiedlichem Gewicht selbst derholten Rede 2017. «Danach kommt sie hier
Einleitung: Geschichte für Patrioten und V olksliedsänger 11 nie wieder her und wir werden sie dann auch, versuchen: Einerseits dienen die 1950er Jah- Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen kön- re – bzw. die diffus gefasste Zeit vor «1968» – nen.» Dass Aydan Özoğuz andernorts geäu- als nostalgische Folie für die gute, alte Zeit, ßert habe, neben der gemeinsamen Sprache positiv gekennzeichnet durch klare, vermeint- keine spezifische deutsche Kultur ausmachen lich natürliche Geschlechterrollen und ein zu können, apostrophierte Gauland im weite- beziehungs- oder vielmehr eheorientiertes ren Verlauf seiner Rede als Inbegriff undeut- Verständnis von Sexualität. Kurzum: als Aus- scher Dekadenz, die das deutsche Volk ver- druck einer sittlicheren Zeit, in der Ehe und rate. Genussvoll und brutal bediente Gauland Tradition – aber auch Eros statt König Sex – hier einmal mehr ein omnipräsentes Kennzei- herrschten. Entsprechend wird die «Trümmer- chen rechter Rhetorik: einen ausgeprägten frau» als eine Figuration idealer Weiblichkeit Kulturpessimismus. In Dauerschleife tritt der konstruiert und gegen «Neomarxistinnen» AfD-Mann gegen plurale Gesellschaftsent- und «Genderhistorikerinnen» ins Feld geführt. würfe an und kündet von einem vermeintlich Während die «sexuelle Revolution» im zeit- kulturellen Niedergang, Werteverfall und einer historischen Rückblick von rechts in der Re- fundamentalen Bedrohung für die Vorstellung gel als Ursache für den postulierten sittlichen vom «Volk» als exklusiver, homogener Ge- Verfall der Gegenwart behauptet wird, werden meinschaft. Frauenemanzipation und «sexuelle Revolu Marc Jongen, Bundestagsabgeordneter der tion» in Teilen rechter Rhetorik zugleich zu ei- AfD, benannte im Rahmen einer von der Frak- nem Ausweis deutscher bzw. europäischer Li- tion von Bündnis 90/Die Grünen beantragten beralität stilisiert und gegen Menschen, die als Aktuellen Stunde zu «Demokratie und Erinne- Muslim*innen markiert oder benannt werden, rungskultur angesichts rechtsextremistischer ins Feld geführt. Angriffe» am 15. Februar 2018 in aller Deut- Die geschichtspolitischen Rückwendungen lichkeit, worum es ihm und der AfD geht: «Wir und Verklärungen sind hier ambivalent, weil kämpfen für eine Alternative zur Abschaffung die völkisch-autoritäre Rechte in ihrem Blick dieses Landes als staatliche und kulturelle Ein- auf Geschlecht und Sexualität in historischer heit. […] Es geht also buchstäblich um alles.» Dimension in Teilen bemüht ist, nicht an At- In der Logik völkisch-autoritärer Positionen ist traktivität für die «Frau von heute» zu verlie- die Semantik des Niedergangs nicht weniger ren – auch in der Rechten wollen heute viele als der Marker für einen Endkampf: um Über- nicht unmodern wirken. Im Spagat zwischen leben oder Untergang. Herd und Karriere unterstützen in diesem Zu- sammenhang nicht zuletzt vermeintlich kapi- Heile Geschlechterwelten talismuskritische Anwürfe gegen die Moder- Drittes Kernelement rechter Geschichtsbe- ne rechte Geschichtsbilder. trachtungen, oftmals eingewoben in kultur- Reichweite erfahren sie durch ihre rassisti- pessimistische Vorstellungen oder ein ex- schen Bestandteile: Die durchaus als Quer- klusives, monochromes Kulturverständnis schnittsthema des völkisch-autoritären Popu- völkisch-autoritärer Wertezusammenhänge lismus erkennbare rassistische Propaganda ist ein martialisch-männliches Geschichts- von der so bezeichneten «Islamisierung» und bild als Heilsversprechen und Element der der vorgeblichen Übergriffigkeit «fremder», Kampfrhetorik. als noch nicht-sublimiert konzeptualisierten Anna Schiff und Sebastian Bischoff analysie- Sexualität ergänzt schließlich den Vergleich ren in ihrem Beitrag, wie rechte Geschichts- von damals und heute und bemüht einmal bilder Gender und Sexualität einzuhegen mehr das Bild sexuell bedrohter wie kulturell
12 Einleitung: Geschichte für Patrioten und V olksliedsänger und moralisch verführbarer, schutzloser Weib- «Volksgemeinschaft» – zu einer «exklusiven» lichkeit. Einheit. Ihre Konturen gewinnt sie vor allem gegenüber jenen, die als kulturell und eth- Zurück zum Freiheitskampf: nisch «anders» oder «fremd» konstruiert wer- für das «Volk» – und nur für den. Auf diesen Mechanismus, das «Eigene» das «Volk»? durch die Abgrenzung zum «Anderen» zu be- Mehr als andeutungsweise knüpfen rechte stimmen, hat schon früh der britische Kultur- Geschichtspolitiken und völkisch-autoritäre theoretiker Stuart Hall mit Blick auf Großbri- Geschichtsbetrachtungen in ihren Rückbe- tannien hingewiesen: «die [weißen] Engländer zügen auf ein vermeintlich goldenes Zeital- [seien] nicht deshalb rassistisch», weil sie «die ter (Karin Priester) schließlich an eine weitere Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne den Schlüsselkategorie rechten Geschichtsver- Schwarzen nicht wissen, wer sie sind».12 ständnisses an: an das in seiner Existenz an- In seiner Funktion der Abgrenzung rückt der geblich stets bedrohte «Volk». Dabei ist «Volk» Volksbegriff strukturell an eine zentrale Stel- mehr als eine Sammelbezeichnung für er- le rechter Geschichtsbetrachtung, denn die füllten Kinderreichtum «deutscher» Famili- Zuschreibungen von Zugehörigkeit und Aus- en. In stark personifizierter Rhetorik gilt das schluss erweisen sich als statisch, werden als rechte «Wir» vielmehr auch im übertragenen weitgehend unveränderbar gesetzt und wir- Sinne als Kollektivsubjekt mit gleichsam ein- ken gleichsam überhistorisch. Damit eignet heitlichen Wahrnehmungen, Interessen und sich der exklusive Volksbegriff als vierter The- Feindbildern. Die Vorstellung vom «Volk» als menaspekt, der sich in den historischen Be- «Organismus» oder als «Körper» firmiert auch zugnahmen rechter Geschichtsbilder identi- aktuell als zentraler Topos im Ensemble rech- fizieren lässt, nachgerade als «Whiteboard»: ter Grundpositionen. beliebig beschreibbar. Wer oder was dazu- Bemerkenswert ist, dass die grundlegende gehört oder ausgeschlossen ist, zu welchem Frage, wer denn nun eigentlich zum «Volk» Zeitpunkt wo die Grenzen von Zugehörig- gehören solle, in erster Linie damit beantwor- keit gesetzt werden, all das ist variabel, so- tet wird, wer dieser immer wieder beschwo- lange die Parameter des «Eigenen» und des renen Gemeinschaft nicht zuzurechnen sei. «Anderen» absolut sind. Die rechte Antwort steht dabei erwartungsge- Offen bleibt angesichts der aktuellen Entwick- mäß im Kontrast zu einem republikanischen lungen, ob und wie dieses «Wir», das «Volk» Verständnis von «Volk», das, so der Histori- als Schlüsselfigur in rechten Vergangenheits- ker Michael Wildt, einen «inklusiven» Charak- erzählungen, auch in Zukunft einen zentralen ter aufweist und als «Versammlung von glei- Platz einnehmen wird. Als mythischer Erinne- chen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern, rungsort gemeinschaftsstiftender nationalis- unabhängig von ihrer Hautfarbe, Geschlecht tisch-identitätspolitischer Vorstellungen von oder religiöse[m] Bekenntnis« beschreibbar rechts? Als Mobilisierungsmasse rechter Ge- sei.11 Nationalistisch-identitätspolitische Vor- genwartspolitik? Das Beispiel des Hambacher stellungen hingegen erheben das «Volk» – die Festes oder die Umdeutungen vergangener Wer oder was zu «Volk» dazugehört oder ausgeschlossen ist, zu welchem Zeitpunkt wo die Grenzen von Zugehörig keit gesetzt werden, all das ist variabel, solange die Parameter des «Eigenen» und des «Anderen» absolut sind.
Einleitung: Geschichte für Patrioten und V olksliedsänger 13 Emanzipationsbewegungen werfen die Fra- trioten» im generischen Maskulinum als ech- ge auf, ob «Volk» oder «(Volks-)Gemeinschaft» ten Mann zu sehen. Das Deutschsein lauthals als wegweisende Bezugsgrößen rechter Ge- zum Besten zu geben, über alles. schichtsansprache nicht inzwischen mindes- tens ergänzt, vielleicht in seiner Bedeutung (Re-)Aktion, oder was? sogar abgelöst werden durch die Bindungs- Geschichte und Geschichtspolitiken folgen kraft eines von rechts besetzten Freiheits- Funktionslogiken und mitunter absichtsvollen begriffes. Neuere Analysen und Überblicke Setzungen. Wer Geschichte erzählt, schafft zu rechten Rhetoriken, völkisch-autoritärem Bezugsrahmen, die gemeinschaftsstiftend Agenda-Setting und rechtspopulistischem wirken können, schaffen sie doch – nach «in- Politikstil unterstreichen durchaus die Rolle, nen» – ein spezifisches, an einem geteilten die «das Skript der ‹Befreiung›»,13 also eine (Selbst-)Verständnis orientiertes Identifika Anrufung und Besetzung der Begriffe Freiheit tionsangebot. Für eine rechte Geschichte und und Widerstand für eine noch weitreichen- Geschichtspolitik gilt aber, dass sie nach «au- dere anschlussfähige Rechte zu gewinnen ßen» Abgrenzungen und Feindbilder stärken, scheint – auch in geschichtspolitischer Ab- die in historischer Perspektive «immer schon sicht. Denn gegenwartsbezogene Politikan- so waren» oder als Abweichungen von einem gebote, die aus rechten Geschichtsentwür- «früher war alles besser» erscheinen. fen heraus formuliert werden, haben stets das Geschichte zur Bezugsgröße für das Heute Ziel, mit dem Blick auf das Gestern überzeu- heranzuziehen, erfüllt zugleich strategische gend zu mobilisieren. Zwecke. Wer den Rekurs auf «Geschichte» in Nicht zuletzt im Zuge der bislang noch he- dieser doppelten, die eigene Struktur stärken- terogenen Pandemieleugnungs- und Ver- den und «das Andere» abwertenden Weise in schwörungserzählungs-Bewegung, die in Dienst zu nehmen weiß, um eine gegenwarts- Deutschland im August 2020 vor dem Reichs- bezogene politische Agenda mit der Aura his- tagsgebäude in Berlin und im Januar 2021 am torischer Bedeutsamkeit zu versehen, hat ein Washingtoner Capitol Hill, jeweils an der Sei- starkes Argument auf seiner oder ihrer Seite. te und mit Unterstützung der militanten ex Das Gesehene wirkt als Autorität an sich. tremen Rechten, gewalttätig in Erscheinung Schließlich stehen mit der Art der Erzählung getreten ist, führten selbsternannte «Rebel- auch die Inhalte, die in historischer Perspek- len» den Freiheitsbegriff im Munde. Ihre Pa- tive von rechts beleuchtet, ausgeblendet, rolen könnten wortgleich auch in Verlautba- beschwiegen, neu oder umformuliert, re-ak- rungen oder auf den Bannern der Identitären tualisiert oder dem Vergessen übergeben Bewegung auftauchen, die mit ihrem Reden werden, in einem weiteren funktionalen Zu- von Widerstand, Freiheit und «Reconquista» sammenhang: Dort, wo sie rechte Ziele un- wiederum regelmäßig historische Bezüge auf- terstützen, stabilisieren die Themen rechter greift – nicht zuletzt die eingangs zitierte «Frei- Geschichte Erinnerungspolitiken als Strategi- heitsbewegung» des Vormärz rund um das en, tragen dazu bei, «Politik durch Geschichte Hambacher Fest von 1832. zu legitimieren» (Michael Kohlstruck). In ste- Wenn Tino Chrupalla das «Neue Hambacher ter Wiederholung und Dauerschleife ist ihnen Fest» als Möglichkeitsraum für eine Bewe- zuzutrauen, dass sie Normalisierungsprozes- gung von «Patrioten und Volksliedsängern» se anstoßen und komplexe Deutungszusam- feiert, meint das womöglich auch «Freiheit» menhänge nach rechts verschieben können. in seinem Sinne: völkisch-national autoritär Wenn zu befürchten ist, dass eine «Basiser- sein zu können unter seinesgleichen. Den «Pa- zählung», die «die beherrschende legitima
14 Einleitung: Geschichte für Patrioten und V olksliedsänger torische Konstruktion der Vergangenheit ent- Geschichte am Ende über ihr interventionis- hält», im rechten Geschichtsbild Verankerung tisches Anliegen, autoritär-nationalistische oder Verstärkung findet, wird es höchste Zeit, Geschichte und ihre Lautsprecher zu verun- diesen rechten Geschichtsraumaneignungen sichern und ihre Mythen, Erinnerungspraxen entgegenzutreten.14 Ob allerdings eine Ant- und Geschichtspolitik zu zerstören, hinauszu- wort, eine Reaktion oder gar der gezielte Kon- gehen die Kraft hat? Im Wissen darum, nicht ter gegen rechte Geschichte das richtige, das ad hoc einen definitiv angemessenen Um- strategisch kluge Mittel linker Politik und Ak- gang mit rechter Geschichte zu finden, bleibt tion sein kann? Auf welche Ressourcen, mo- wohl aber eine gute Portion positiver Skepsis, bilisierungsstarke eigene und selbstwirksame dass Geschichte und Erinnerung zwar immer Geschichtsbilder wird eine linke Geschichte in Spielball und Akteur politischer Machtkom- Praxis und Erzählung dabei zugleich zurück- munikation und Mobilisierungspotenziale greifen? Aus welchen Erfahrungen ihrer anti- sind, zugleich aber als Erzählungen von der faschistischen Geschichte heraus vermag sie Vergangenheit auch ein starker Bezugsrah- rechtes Erinnern zu stören? Worauf soll und men für die Utopien und Möglichkeiten einer kann sie bauen? Ob eine antifaschistische linken Gegenwart sein können. 1 Vgl. Botsch, Gideon: Die historisch-fiktionale Gegenerzählung des in: Mendel, Meron (Hrsg.): Wie die Rechten die Geschichte umdeuten. radikalen Nationalismus. Über den rechtsextremen Zugriff auf die Geschichtsrevisionismus und Antisemitismus, Frankfurt a. M. 2020, deutsche Geschichte, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 2/2011, S. 12. 9 Zum Einstieg vgl. die Beiträge in: Mendel: Wie die Rechten S. 27–40. 2 Von seiner Funktion als Kuratoriums-Vorsitzender der die Geschichte umdeuten; Killguss, Hans-Peter/Langebach, Martin AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung trat Otte im Januar 2021 zu- (Hrsg.): «Opa war in Ordnung!». Erinnerungspolitik der extremen rück, nach eigenem Bekunden via Twitter-Post (7.1.2021) in kritischer Rechten, Köln 2016; Langebach, Martin/Sturm, Michael (Hrsg.): Er- Auseinandersetzung mit der Rolle und Haltung des Parteivorsitzenden innerungsorte der extremen Rechten, Wiesbaden 2015. 10 Vgl. etwa Jörg Meuthen während des AfD-Bundesparteitages Ende November Verein für Demokratische Kultur in Berlin (VDK) e. V./Mobile Beratung 2020. Fortan wolle er sich nur mehr für die den Unionsparteien na- gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) (Hrsg.): Nur Schnee von ges- hestehende «WerteUnion» und die Belange des «Neuen Hambacher tern? Zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts in Gedenkstätten Festes» einsetzen. 3 Zum «Forschungsparadigma» des «Erinnerungs- und Museen, Berlin 2019; Bothe, Larissa/Wunnicke, Ruth: Handlungs- ortes» (lieux de mémoire) des liberal-konservativen französischen empfehlungen für den Umgang mit rechtspopulistischen Äußerun- Historikers Pierre Nora vgl. Siebeck, Cornelia: Erinnerungsorte, Lieux gen von Besucher*innen in Gedenkstätten und Erinnerungsorten. de Mémoire, in: Docupedia Zeitgeschichte, 2.3.2017, unter: https:// Eine Publikation von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., Berlin docupedia.de/zg/Siebeck_erinnerungsorte_v1_de_2017. 4 Vgl. etwa 2019. 11 Wildt, Michael: Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Hamburg Häusler, Alexander/Virchow, Fabian (Hrsg.): Neue soziale Bewegung 2017, S. 116 f. 12 Hall, Stuart: Ethnizität: Identität und Differenz, in: von rechts? Zukunftsängste, Abstieg der Mitte, Ressentiments, Ham- Engelmann, Jan: Die kleinen Unterschiede. Der Cultural-Studies-Rea- burg 2016. 5 Vgl. z. B. die aktuellen Einschätzungen im Schwerpunkt der, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 83–98, hier S. 93. 13 So et- «Demaskiert – Die Bewegung der Pandemie-Leugner*innen», in: wa Claudia C. Gatzka im Titel ihres Beitrages zu Machtstrategien LOTTA 81, 2020/21; darin z. B. Teidelbaum, Lucius: Die Corona-Wut- rechtspopulistischer Geschichtsumdeutungen am Beispiel von Ita- bürger*innen. Von «Regenbogenkriegern» und «Reichsbürgern», lien, in: Audretsch, Andreas/Gatzka, Claudia C. (Hrsg.): Schleichend S. 9–12. 6 Vgl. Müller, Jan Werner: Was ist Populismus? Ein Essay, an die Macht. Wie die Neue Rechte Geschichte instrumentalisiert, Frankfurt a. M. 2016, S. 42. Vgl. auch die Beiträge in: Häusler, Ale um Deutungshoheit über unsere Zukunft zu erlangen, Bonn 2020, xander (Hrsg.): Völkisch-autoritärer Populismus. Der Rechtsruck in S. 38–47. 14 Trotha, Trutz von: Politische Kultur, Fremdenfeindlichkeit Deutschland und die AfD, Hamburg 2018. 7 Vgl. z. B. Höckes Dresd- und rechtsradikale Gewalt. Notizen über die politische Erzeugung von ner Rede (2017) mit ihrem nach allen Regeln rechter Opfer-Rhetorik Fremdenfeindlichkeit und die Entstehung rechtsradikaler Gewalt in gesetzten Angriff auf das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden der Bundesrepublik Deutschland. Beitrag zur Tagung «No Justice – No Europas, die inzwischen vielfach analysiert worden ist, vgl. etwa be- Peace?», Penn State University 1993. Zur Basiserzählung vgl. Herz, reits wenige Tage nach der Rede Sabrow, Martin: Höcke und wir, in: Thomas: Die «Basiserzählung» und die NS-Vergangenheit. Zur Verän- Zeitgeschichte-online, 25.1.2017, unter: https://zeitgeschichte-on- derung der politischen Kultur in Deutschland, in: Clausen, Lars (Hrsg.): line.de/kommentar/hoecke-und-wir. 8 Am 2.9.2017 auf dem Kyffhäu- Gesellschaften im Umbruch. Verhandlungen des 27. Kongresses der ser-Treffen der AfD, zit. nach: Steinhagen, Martín: Identitätspolitik mit Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Halle an der Saale, Frankfurt dem «Vogelschiss». Über den Geschichtsrevisionismus bei der AfD, a. M. 1995, S. 91–109.
����������������������������������������������������������� 15 Yves Müller PREUSSEN, DAS KAISERREICH, DER KOLONIALISMUS UND DIE RECHTEN SEHNSUCHTSORTE DES DEUTSCHEN NATIONALISMUS In Phasen der Stagnation, Resignation oder dessen, was sie gern «deutsche Kultur» nen- gar der Krise suchen Gesellschaften immer nen. Diese Form der vergangenheitsbezo- wieder Orientierung in der Vergangenheit. Die genen Identitätspolitik ist gesellschaftlich Rechte sehnt derlei «Krisen» jeder Art gerade- anschlussfähig, weil sie aus der Mitte der Ge- zu herbei und malt die «Gemeinschaft» zer- sellschaft stammt. störende Horrorszenarien an die Wand. Die Von dem gegenwartsnahen Gehalt des bona- «Krise», sie wird gemacht. Und zwar in Dau- partistischen Vergangenheitsbezugs wusste erschleife, denn die Erfolge des autoritär-völ- schon Karl Marx zu berichten: «Die Tradition kischen Populismus zehren von der stetigen aller todten Geschlechter lastet wie ein Alp Reproduktion äußerer und innerer Bedrohun- auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie gen. «Früher war alles besser», so lautet das eben damit beschäftigt scheinen, sich und die krisenaffirmative Credo. Die Konstruktion der Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes «Krise» ist nötig, um eine identitätspolitische zu schaffen, gerade in solchen Epochen revo- Re-Souveränisierung des eigenen Kollektivs lutionärer Krise beschwören sie ängstlich die voranzutreiben und ein «goldenes Zeitalter» Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste zu imaginieren. Dieses «heartland» einer bes- herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtpa- seren Vergangenheit findet die Rechte in Volk role, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen und Nation.1 «Wir», und damit sind immer Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache «die Deutschen» gemeint, gegen die «bar- die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.»3 barischen Anderen».2 «Wir» sind wieder wer. In einem regelrechten Wunderglauben seh- «Wir» sind das Volk. nen sich die Menschen nach der Wiederkehr Die Anrufung einer glorreichen, aber unterge- der «guten alten Zeit» und nach der Auferste- gangenen Epoche soll helfen, die blasse Ge- hung des Helden – Weltgeschichte als Tragö- genwart in eine blühende Zukunft zu verwan- die und als Farce. deln. Die Zusammenhänge zwischen dem Erstarken eines völkisch-autoritären Populis- «Preußen» als deutscher mus und der Geschichtspolitik der Berliner Sehnsuchtsort Republik sollen am Beispiel des deutschen Preußen ist fester Bestandteil deutscher Ge- Sehnsuchtsortes «Preußen» – der zur Unter- schichte: Am 18. Januar 1701 krönte sich scheidung vom historischen Preußen mit An- der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. führungszeichen markiert werden soll – und eigenhändig, aber mit Gottes Gnaden zum seiner unheilvollen Wiederkehr aufgezeigt König – die Geburtsstunde Preußens. Auf werden. Dabei geht es den Rechten von der den Tag genau 170 Jahre später ließ sich der Partei Alternative für Deutschland (AfD) und preußische König Wilhelm I. im Spiegelsaal dem Institut für Staatspolitik (IfS), einem neu- von Versailles zum deutschen Kaiser krönen, rechten «Thinktank», nicht einfach um einen nicht jedoch ohne Gnaden der deutschen Umbau der etablierten Erinnerungskultur in Fürsten und einer ganz weltlichen Verfas- Deutschland, sondern um eine Verteidigung sung, die mit dem Jahreswechsel 1870/71
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