GEGENWARTS-GESTRIGE Herausgeber*innenkollektiv des Gesprächskreises "Geschichte" - Rosa-Luxemburg-Stiftung

 
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Herausgeber*innenkollektiv
des Gesprächskreises «Geschichte»

GEGENWARTS-
GESTRIGE
RECHTE GESCHICHTSPOLITIK HEUTE
INHALT

Vorwort                                                            2

Anke Hoffstadt und Michael Sturm
Einleitung: Geschichte für Patrioten und ­Volksliedsänger          5
Historische Bezüge und Geschichtspolitik
in den ­Strategien des völkisch-autoritären Populismus

Yves Müller
Preußen, das Kaiserreich, der Kolonialismus und die Rechten       15
Sehnsuchtsorte des deutschen Nationalismus

Sebastian Bischoff und Anna Schiff
(Niemals) Zurück in die 1950er Jahre                              25
Gender und Sexualität in rechter Geschichtspolitik

Das Prinzip Hoffnung                                              34
«Was tun mit der Geschichte?»
Ein Austausch über linke Geschichtspolitik mit dem AK Loukanikos

Wider den Strich                                                  42
Linke Geschichtsschreibung gegen ­nationalistische Indienstnahme

Zum Weiterlesen                                                   51

Die Autor*innen                                                   53
2   Vorwort

VORWORT

Der Gesprächskreis «Geschichte» der Ro-            über hinaus auch in den gedruckten Medien,
sa-Luxemburg-Stiftung arbeitet seit 2006. Bis-     auf der Straße, in Gedenkstätten und in den
lang konzentrierte er sich vorrangig auf die or-   Kommentar-Kaskaden der sozialen Medien.
ganisatorischen und ideellen Traditionen und       1935, im dritten Jahr der nationalsozialisti-
Kontinuitäten in der Geschichte der Linken:        schen Machtübernahme, sprach der mar-
historische Kommunismusforschung, Ge-              xistische Philosoph Ernst Bloch (1885–1977)
schichte der Arbeiter*innenbewegung und ih-        von einem tief sitzenden «Stachel» aus «Het-
rer Parteien, Geschichte der neuen Linken und      ze und Verwilderung». Gegen diese, so Bloch,
der neuen sozialen Bewegungen.                     «wirkt das rote Mittel nur halb, meist noch
Nachdem seit einigen Jahren immer häufiger         gar nicht. Nazis sprechen betrügend, aber
rechte Gewalt und eine gewalttätige und ras-       zu Menschen, die Kommunisten völlig wahr,
sistische Sprache eine zusehends massivere         aber nur von Sachen.»1 Bloch tat richtig dar-
autoritäre Formierung von Staat und Gesell-        an, die Frage nach den Strategien im Umgang
schaft begleiten, legt der Gesprächskreis «Ge-     mit der Sprache der Rechten, der Form und
schichte» mit dieser Publikation erste Beiträge    ihren Inhalten, zu stellen. Hier dachte er wohl
seiner Auseinandersetzung mit «rechter» und        insbesondere an die Zuhörenden und ihre Er-
«faschistischer Geschichtspolitik» vor. Diese      reichbarkeit für rechte Mobilisierungen: an die
Texte sind Resultat der Debatte darüber, ob es     Frequenz des Gewohnten wie des Emotiona-
für eine linke Geschichte, Geschichtsschrei-       len, auf der gesendet wurde. An die Gratifika-
bung und Geschichtspolitik angesichts dieser       tion durch vermeintliche Anerkennung und
Zuspitzungen (noch) ausreichend ist, sich mit      Zugehörigkeit. So inszenieren sich rechte Er-
der eigenen Tradition zu beschäftigen – ins-       zählungen – auch aktuell – als zweierlei. Zum
besondere dann, wenn sie rechte Hegemo-            einen als das «Normale», das (wieder) herge-
nien und deren Versuche, Deutungshoheiten          stellt werden soll, als «Idealzustand» mit sei-
zu etablieren, infrage stellen wollen. Oder ob     nen Elementen Volk, starker Staat und Männ-
es nicht viel eher darum gehen müsste, rech-       lichkeit. Dieses letztlich rückwärtsgewandte
te Vorstellungen gezielt von links anzugreifen,    Versprechen zeigt Wirkung – auch oder ge-
auch in der Betrachtung von Geschichte und         rade weil es angesichts der Migrantisierung
Geschichtspolitik. In dieser Publikation ge-       der Gesellschaft mehr als aus der Zeit gefal-
schieht das beispielhaft anhand der Themen         len ist. Schließlich verfangen rechte Geschich-
«Preußen» und «Geschlechterordnung», die in        te und Geschichtspolitik vor allem dort, wo
rechten Geschichtsbildern eine wichtige Rolle      Res­tauration und der Wunsch «Wir sind wie-
spielen.                                           der wer» hoch im Kurs stehen. Sie fantasieren
In ihnen werden die bisher gemeinhin als links     eine rechte Gegenkultur herbei, die sich der
wahrgenommenen Begriffe wie Freiheit, Wi-          Gegenwart und ihren Realitäten durch immer
derstand, Befreiung und sogar Revolution           neue Rückgriffe auf längst vergangene, nun
durch rechte Erzählungen bewusst umgedeu-          idealisierte Zeitalter der deutschen Nationen
tet. Einmütig stehen diese Verfremdungen           und heiligen Reiche zu entziehen sucht.
aktuell neben Mythen «deutscher Geschich-          Darüber hinaus sind Geschichte und Vergan-
te», die schon seit Längerem in rechten oder       genheitspolitik für die Rechte – zweitens –
rechtspopulistischen Sprech- und Diskursbla-       auch Teil einer handfesten Kampfansage.
sen zu finden sind. Sie wirken dort, aber dar-     Wenn der Fraktionsvorsitzende der Alternati-
Vorwort    3

ve für Deutschland (AfD) im Bundestag, Ale­       die in ihrer gegenwartsbezogenen politischen
xander Gauland, davon spricht, dass er sich       Agenda durchaus verfängt – selbst dann,
nicht nur «unser Land», sondern auch «unsere      wenn sie einem Faktencheck in keinem Punkt
Geschichte» zurückholen wolle, ist das wohl       standhielte.
als Bekenntnis zur Idee des Umsturzes zu ver-     Die Linke, der es seit dem Scheitern der real­
stehen. Wenn er in anderem Zusammenhang           sozialistischen Gesellschaftsentwürfe und
von einem «Wir werden sie jagen!» spricht,        dem Ende der sozialdemokratischen Reform-
dann ist das ein klarer Aufruf zu offener Ge-     politik an Utopien mangelt, sieht sich heute ei-
walt. «Geschichte als Kulturkampf» meint in       ner doppelten Herausforderung gegenüber:
seinem Sinne und in der rechten Propaganda        die rechten Erzählungen in ihre Schranken zu
als Erstes: «Kampf» um das Ganze.                 weisen, sie zu kritisieren und zu demaskieren
Hinzu kommt, dass die allermeisten der fa-        einerseits, eine neue linke Geschichte zu ent-
schistischen und rechtspopulistischen Er-         wickeln andererseits.
zählungen auf Sprache, Denkweisen und Zu-         Doch ihre Situation ist im Grunde anders ge-
kunftsvorstellungen bauen können, die der         lagert: Die Linke blickt auf ein 20. Jahrhun-
sogenannten Mitte nicht fremd sind. Mitunter      dert zurück, das für sie voller Niederlagen und
mögen die Vokabeln eines autoritär-nationa-       Trauer war – Erster Weltkrieg, Novemberrevo-
listischen Populismus schroffer sein, die Hal-    lution, Nazismus und Völkermord, gescheiter-
tungen dahinter aber ähneln sich, nicht erst      te Reformen nach 1945, Erstarrung des so-
heute. So sind etwa die gegenwärtig von der       genannten Sozialismus, die Verbrechen des
AfD und anderen erhobene Forderung nach           Stalinismus. Die Liste des Scheiterns ist lang.
einem Ende des «deutschen Schuldkults» und        Daraus auszubrechen und neue Perspektiven
Martin Walsers Buchpreis-Rede von 1998 mit        auf «eine andere Geschichte» zu entwickeln
dem Wort von der «Moralkeule Auschwitz»           fällt schwer, solange das Geschichteschrei-
nur auf den ersten Blick verschieden. Traditio­   ben sich nicht aus seiner eigenen Geschich-
nell sehr ähnlich «funktionieren» auch Anti­      te als Teil der Entstehung der modernen Na-
feminismus und Nationalismus hier wie dort –      tion in der Mitte des 19. Jahrhunderts heraus
sie schaffen Anschlussfähigkeiten bis nach        zu emanzipieren vermag.2 So tun wir gut dar-
ganz rechtsaußen, nicht selten verschränkt        an, auch ein «Erinnern als Widerstandspraxis»
im historischen Bild einer «Heimat», deren        neu zu entwickeln: international – und so die
Geschlechterordnung und Chauvinismus ver-         beengenden Grenzen nationaler Geschichte
lässlich vor dem beunruhigenden Wandel der        oder weißer, männlicher Perspektiven über-
Zeiten schützt. Sicherheit, so konstruiert oder   schreitend.3
erfindet die autoritär-nationalistische Erzäh-    Für unsere Konzepte und Kämpfe um Gleich-
lung von Geschichte, vermöge es da allein im      heit und (individuelle) Freiheit ist jede Anknüp-
Wiederaufleben eines exklusiven und zugleich      fung allerdings herausfordernd, solange sie
homogenen «Wir» zu geben, das im Wesent-          über die ausgrenzenden Begriffe etwa von
lichen durch die Ausgeschlossenen bestimmt        Nation, Geschlecht oder Klasse nicht produk-
wird. Dabei hilft die Vorstellung von einem ge-   tiv hinweggehen können, die es schwerma-
fährlichen «Anderen» der rechten Selbstver-       chen, gemeinsam und differenziert zugleich
gewisserung, stellt ihre neurechte Erzählung      zu sprechen, ein linkes «Wir» zu schaffen –
vom «großem Austausch» auf Dauer. Das sind        und auszuhalten. Ohne Ausschlüsse, ohne
die Versatzstücke, mit denen die Rechte ihre      Homogenisierung. Ohne die Sorge, vor lauter
historisch-fiktionale Gegenerzählung vervoll-     Gemeinschaft nicht mehr über den Tellerrand
ständigt. Eine Erzählung vom Historischen,        schauen zu können. Nicht zuletzt wird eine lin-
4   Vorwort

ke Geschichte auch die Kraft und die Bereit-   wie die ihrer kurzen Siege (Enzo Traverso).
schaft aufbringen müssen, in sozialen Bewe-    Die Bedingungen und die Kraft der vergan-
gungen darauf aufmerksam zu machen oder        genen Siege vor Augen ist auch die Zukunft
zu erstreiten, was in der Vergangenheit ab-    offen. Und gestaltbar. Dafür muss die plu-
handengekommen ist oder immer schon fehl-      rale gesellschaftliche Linke ihre Argumente
te. Wir Nachgeborenen haben hier die Chan-     schärfen. Wir hoffen sehr, mit dieser Publi-
ce, aus der Vergangenheit zu lernen – einmal   kation dazu einen kleinen Beitrag leisten zu
mehr und besonders für unsere emanzipatori-    können.
schen Kämpfe.
Schließlich ist und bleibt Geschichte im       Bernd Hüttner
Rückblick insofern offen, als dass unser ge-   Bremen, im Mai 2021
genwärtiger Fokus entscheidend ist für den
Ausschnitt an Erfahrungen, den wir mitneh-     1 Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit, Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt
                                               a. M. 1985, S. 152 f. 2 Vgl. Pernau, Margit: Transnationale Geschichte,
men in aktuelle Kämpfe. Das zeigt die lange    Göttingen 2011, S. 8–14. 3 Vgl. Brachman, Ines/Chmiel, Cornelia/Far-
                                               ber, Jennifer/Hecker, Jens/Hoffstadt, Anke/Schank, Lisa: Die Gedenk-
Geschichte der gescheiterten und unterlege-    stätten, eine unendliche deutsche Erfolgsgeschichte, in: Hinterland
nen Alternativen der Vergangenheit ebenso      Magazin 48, 2021, S. 53–57.
Einleitung: Geschichte für Patrioten und ­V olksliedsänger   5

Anke Hoffstadt und Michael Sturm

EINLEITUNG: GESCHICHTE FÜR
PATRIOTEN UND ­VOLKSLIEDSÄNGER
HISTORISCHE BEZÜGE UND GESCHICHTSPOLITIK IN
DEN ­STRATEGIEN DES VÖLKISCH-AUTORITÄREN POPULISMUS

Auf der Klaviatur identitätspolitischer Anwür-   Beiträge in diesem Band als Muster jener «po-
fe und Mythos-Szenarien von rechts sind sie      sitiven Beziehung» zur «deutschen Geschich-
die prägnantesten Noten und treten gern als      te», die extrem rechte Lautsprecher wie der
Akkord auf: Patriotismus, Nationalismus und      Vorsitzende der Alternative für Deutschland
(Leit-)Kultur. Die Melodie ist dabei bestän-     (AfD) in Thüringen, Björn Höcke, bemühen,
dig eine von gestern. Dass sich rechte und       wenn es ihnen um «deutsche Identität» und
radikalnationalistische Akteur*innen in ih-      ihre vermeintlich historische Herleitung geht.
rer «Wir»-Agenda, dem Kernelement rechter        Welche Deutungsmuster und strukturellen
Politik, auf Geschichte beziehen, gehört zum     Merkmale liegen den rechten Indienstnahmen
Alltag rechter Inszenierung, Propaganda und      von Geschichte dabei zugrunde? Wer sind die
Erzählung. Ihre Strukturelemente zu beschrei-    Adres­sat*innen, wer die Akteur*innen? Für
ben ist Anliegen dieses Beitrages. Gleich, ob    den Einstieg mag ein Beispiel hilfreich sein:
sie Symbole bemühen und sie als ideologi-        Am 11. Juli 2020 zeigte sich Tino Chrupalla,
sche Selbstbestätigung für «die Eigenen»         Bundessprecher der AfD, in einem Eintrag auf
bzw. als Markierung «der Anderen» aufstel-       seinem Facebook-Account begeistert. Unter
len oder ob sie damit realpolitische Forderun-   der in Großbuchstaben gesetzten Überschrift
gen und Konzepte zum Wohle des «Volkes» zu       «Hambacher Fest 2020!» jubelte er: «Ein toller
flankieren versuchen, setzen historische Be-     Tag für jeden Patrioten und Volksliedsänger.»
züge von rechts auf «historisch-fiktionale Ge-   Der Bundestagsabgeordnete war an diesem
generzählungen». Dies gilt für rechte Umdeu-     Tag zusammen mit etwa 70 weiteren Perso-
tungen der NS-Geschichte, für Forderungen        nen zahlender Gast des «Neuen Hambacher
nach einem Schlussstrich und einem Ende          Festes», auch 2020 trotz der Covid-19-Pande-
des sogenannten Schuldkultes ebenso wie für      mie zum wiederholten Male ausgerichtet von
offene Holocaust-Leugnung oder «Opa war in       Max Otte, Fondsmanager mit CDU-Parteibuch
Ordnung»-Erzählungen von einer vermeintlich      und offenen Sympathien für die AfD und ihr
«sauberen» Wehrmacht und den «deutschen          Umfeld.2
Opfern» des Nationalsozialismus.1                Otte und seine Gäste versuchen mit ihrer
Doch in geschichtspolitischen Strategien von     Veranstaltung – mit Festreden zum Zustand
rechts geht es auch um historisch-fiktiona-      deutscher Gegenwart, mit Banketten, Preis-
le Gegenerzählungen, die mit ihren Bezügen       verleihungen (2020 an Vera Lengsfeld), Wan-
auf Vergangenes als «positiver Geschichte»       derungen durch den Pfälzer Wald und Lieder-
gegenwartspolitische Ziele der Rechten sta-      abenden –, einen Erinnerungsort deutscher
bilisieren sollen. Ihre Chiffren: Preußen, die   Geschichte par excellence zu besetzen.3 Im
deutschen Kaiser, Gründung des Reiches und       Hambacher Schloss, jener «Wiege der De-
sein «Platz an der Sonne», Trümmerfrauen         mokratie», trafen sich vor knapp 190 Jahren,
und die deutsche Familie. Der Analyse dieser     zwischen dem 27. Mai und dem 1. Juni 1832,
rechten Geschichtssplitter widmen sich die       bis zu 30.000 Menschen zu einer mehrtägi-
6   Einleitung: Geschichte für Patrioten und ­V olksliedsänger

gen Versammlung, die sich heute unter dem          entlehnen Themen und schildern Kräftever-
Namen «Hambacher Fest» in jedem Schul-             hältnisse gerade so, wie sie ihnen für eine
buch zur deutschen Geschichte findet. Schü-        gegenwartsbezogene Selbstdarstellung von
ler*innen ab der 8. oder 9. Klasse lernen im       Nutzen sein können. Ihr Konzept der Helden-
Unterricht, dass Zehntausende Menschen             verweise, der Bezugnahmen auf eine positi-
damals zusammenkamen, um gegen die au-             ve Nationalgeschichte, auf Befreiungs- und
tokratisch-restaurativen Verhältnisse in den       Freiheitserzählungen «deutscher» Geschich-
deutschen Kleinstaaten zu protestieren und         te stellt insbesondere auf die Stärke des «klei-
sich für Presse- und Versammlungsfreiheit,         nen Mannes» ab. Es besetzt die Figur des Frei-
für Bürger*innenrechte und nationale Einheit       heitskämpfers ebenso wie die des sich selbst
stark zu machen.                                   bemächtigenden Untertanen, der im Rebel-
Otte und die Teilnehmer*innen des «Neuen           lentum zu kritischer Masse aufläuft und ein
Hambacher Festes» wollen sich in die Tradi-        System mindestens zu stören, vielleicht gar
tion der damaligen Protagonist*innen stellen       zu stürzen vermag. Selbst dort, wo solche
und deren historische «Aura» für ihre gegen-       Bezugnahmen auf Geschichte einem Fakten-
wartsbezogene politische Agenda nutzen.            check nicht standhalten, wo also eine kritische
So zeigte sich etwa schon im Mai 2018 Timo         Überprüfung ihres historisch nicht-­fiktionalen
Böhme, Vorsitzender der AfD-Landtagsfrak-          Gehalts die schiefen Bezüge sichtbar macht,
tion in Rheinland-Pfalz, in seinem Rückblick       liefern Heldenepen wie diese die nötige Kohä-
auf das erste «Neue Hambacher Fest» begeis-        renz, um glaubhaft und anschlussfähig zu er-
tert: «Was für ein herrliches Fest der Freiheit    scheinen.
und der klugen Worte!», hieß es auf der Inter-     Gleichzeitig bilden sie einen stabilen Kitt zwi-
netseite der AfD-Landtagsfraktion am 7. Mai        schen sonst sehr verschiedenen rechten Ak-
2018. Böhme ergänzte pathetisch, ihm sei           teur*innen und ihren unterschiedlichsten
deutlich geworden, «dass die Hoffnung auf          Politikfeldern. Sie binden zusammen, was So-
eine Rettung unseres schönen Vaterlandes           zial- und Politikwissenschaftler*innen in ihren
lebendig ist». Dabei stellte er direkte Analogi-   Analysen rechter Strukturen, Interessen- und
en zur Ära der Restauration infolge der Karls­     Personenkreise (in allen Bereichen ihrer poli-
bader Beschlüsse und der Gegenwart her:            tischen Praxis) seit spätestens Ende 2014 als
«In Deutschland herrscht mittlerweile wieder       eine politische Strömung beobachten, die als
Zensur, vergleichbar mit dem Jahr des Ham-         «neue soziale Bewegung von rechts» bezeich-
bacher Festes 1832 und den Zeiten des Vor-         net werden kann.4
märzes.»                                           «Sozial» ist in diesem Fall nicht sozialpoli-
                                                   tisch gemeint, sondern im Sinne einer ge-
Nützliche Traditionslinien:                        sellschaftlichen Verankerung. So gründet die
für wen, von wem?                                  neue soziale Bewegung von rechts nicht auf
Mit solchen und ähnlichen Anknüpfungsver-          den klassischen extrem rechten Organisatio-
suchen offenbaren rechte Akteur*innen den          nen und Parteien wie etwa der NPD, der – heu-
Kern ihrer Strategien zur Inszenierung, In-        te ihrerseits historischen – Bürgerbewegung
dienstnahme und Vernutzung von Geschich-           Pro NRW oder dem militant neonazistischen
te: Sie stellen sich in eine Linie von Sinn- und   Spektrum der sogenannten Freien Kamerad-
Traditionsstiftungen (wie hier etwa die der Be-    schaften (und ihrer vom Parteiengesetz ge-
freiungskämpfe und der Kämpfe für Volks-           schützten Nachfolgeorganisationen wie den
souveränität des Vormärz), schaffen schiefe        Parteien Die Rechte oder Der III. Weg) – also
Bezüge zu historischen Zusammenhängen,             einer bestimmten Szene oder einem (extrem)
Einleitung: Geschichte für Patrioten und ­V olksliedsänger   7

rechten Milieu. Eher wurzelt sie und findet sie    Zusammengeschlossen etwa in der gemein-
ihren Ausdruck in einer Reihe von Netzwer-         samen Erzählung von einer vorgeblichen «Co-
ken, Zeitschriftenprojekten, Internetportalen,     rona-Diktatur» bringen Anhänger*innen und
mal losen, mal fester organisierten Gruppie-       Aktive dieser Misch-Szene mit den Begriffen
rungen, die in ihren oftmals diffusen program-     Freiheit, Widerstand oder Souveränität Fah-
matischen Ausrichtungen durchaus unter-            nenwörter – buchstäblich – auf die Straße,
schiedliche Schwerpunkte setzen. Im Kern           hinter denen sich milieuübergreifend Perso-
jedoch vertreten sie ähnliche Positionen und       nen aus der organisierten militanten Neona-
gleichen sich insbesondere in ihrem verbalra-      zi-Szene, Esoteriker*innen, besorgte Eltern,
dikalen, aggressiven politischen Stil. Zu dieser   Impfgegner*innen oder Reichsbürger*innen
neuen sozialen Bewegung von rechts ist die         umstandslos einreihen können.5

Ihr Konzept der Heldenverweise, der Bezugnahmen auf
eine positive Nationalgeschichte, auf Befreiungs- und
Freiheitserzählungen «deutscher» Geschichte stellt
insbesondere auf die Stärke des «kleinen Mannes» ab.

(vor allem in Dresden immer noch auftreten-        Einen bis in alle Ebenen der parlamentari-
de) Pegida-Bewegung ebenso zu rechnen wie          schen Politik handlungsmächtigen partei-
die Hooligans gegen Salafisten (Hogesa), die       politischen Ausdruck finden die derart viel-
Identitäre Bewegung, Gruppierungen und Ein-        gestaltigen, in ihren Stilmitteln aber ähnlich
zelpersonen aus dem Spektrum der Reichs-           auftretenden rechten Strömungen und Struk-
bürger, rassistische Hetzblogs wie political       turen in der AfD. Dabei ist die Alternative für
incorrect, Zeitschriften wie das Compact-Ma-       Deutschland nicht immer kritiklos als Reprä-
gazin sowie die zahllosen Social-Media-Sei-        sentantin anerkannt. Vor allem mit Blick auf
ten, auf und in denen Tag für Tag in verrohter     ihre parteiinternen Fliehkräfte und Macht-
Sprache gegen Flucht und Asyl, gegen den Is-       kämpfe zwischen einem wirtschaftsliberalen
lam, gegen die Spitzen der Bundespolitik, ge-      Rechtsaußenkurs und ihrem faschistisch, ex­
gen das «links-grün versiffte» Establishment       trem rechten (vormaligen) «Flügel» fehlt ihr
oder schlicht: gegen «die Gutmenschen» ge-         die ungeteilte Zustimmung.
hetzt wird.                                        Darüber hinaus koordiniert oder organisiert
Wie in einem Widerspruch zur rechten Abwer-        die AfD die einzelnen Teilströmungen keines-
tung von bürgerschaftlichem Engagement             wegs, wenngleich sie auch eine Reihe von
und menschenrechtsorientierter Politik sind        Grundpositionen und Ressentiments mit den
seit Beginn der Covid-19-«Krise» Pandemie-         anderen Protagonist*innen dieser neuen sozia­
leugner*innen hinzugekommen, lösen Ver-            len Bewegung von rechts teilt. Die AfD greift
wunderung aus, wo sich einzelne als «links»        aber immer wieder deren Rhetorik auf, spitzt
bezeichnen oder von «Herrschaftskritik» und        sie zu oder mildert sie ab – je nach Zielgrup-
«Nächstenliebe» sprechen. Allerdings treten        pe und Richtungsentscheidung im konkreten
sie in ihrer diversen Zusammensetzung zu-          Themenfeld. Wie ein Chamäleon tritt sie mal
gleich durchaus als Multiplikator*innen auf,       in Formation mit extrem rechten Akteur*innen
schaffen breite Schnittmengen und verbrei-         oder als deren Ergänzung auf, ein andermal
tern Kulissen und Sichtbarkeiten, auch für (ex-    gibt sie sich als parlamentarischer Lautspre-
trem) rechte Akteur*innen und Strukturen.          cher eines vermeintlich selbstverständlichen,
8   Einleitung: Geschichte für Patrioten und ­V olksliedsänger

aber unterdrückten Volkswillens, bieder wert-     etablierte Positionen lediglich zusätzlich oder
konservativ und vorgeblich «normal», je nach      radikaler zu bedienen brauchen, um als ge-
Adressat*innen und Inszenierungsstrategie.        setzt wahrgenommen zu werden: Dies wird in
In ihrer Gesamtheit stehen die Wegberei-          den folgenden Beiträgen dieses Bandes an ei-
ter*innen und Akteur*innen der neuen sozia­       nigen Beispielen aufgezeigt.
len Bewegung von rechts, stehen AfD und
Co. für einen völkisch-autoritären Populis-       Positive Geschichtssplitter:
mus. Dieser ist, so der Politikwissenschaftler    Restauration, Heldentum
Jan Werner Müller, dadurch gekennzeichnet,        und Leitkultur
dass seine Vertreter*innen einem imaginier-       Die Rechte nutzt Geschichte als Werkzeug,
ten «moralisch reinen, homogenen Volk stets       als Instrument der Mobilisierung wie der Le-
unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten      gitimation einer gegenwartsbezogenen poli-
gegenüberstellen – wobei diese Eliten eigent-     tischen Agenda. Ihre jeweilige Themenwahl
lich gar nicht wirklich zum Volk gehören».6       sagt dabei viel über die konkreten Funktio-
Rechtspopulist*innen und die (extreme) Rech-      nen aus, die Geschichte in rechten Strategi-
te als neue soziale Bewegung erheben für sich     en hat: Welche historischen Zusammenhän-
also nichts Geringeres als den moralischen        ge oder Ereignisse genau nimmt die Rechte
Anspruch, dass sie und nur sie das Volk ver-      in den Blick? Wer sind die historischen Figu-
treten, während alle anderen Repräsentant*in-     ren, die sie zu Heroen erklärt? Wie werden
nen der Bürger*innen auf die eine oder andere     Entwicklungen weichgezeichnet oder für ei-
Art illegitim seien.                              ne Bezugnahme in Dienst gesetzt? Welche
Im Rahmen dieser völkisch-autoritären An-         Themen reklamiert eine rechte Geschichte
sprache an ein exklusives «Wir» sowie in der      für sich? Welche dagegen lehnt sie ab, be-
Mobilisierung von Netzwerken und Akteur*in-       schweigt oder verleugnet sie? Wo macht sich
nen der sozialen Bewegung von rechts oder         völkisch-autoritärer Populismus die Mühe,
für eine virulente «Radikalisierung des Konser-   historische Zusammenhänge und Themen der
vatismus» (Felix Korsch) kommt dem Verweis        Geschichte wohlkalkuliert polemisch herabzu-
auf Geschichte nicht von ungefähr eine zen­       würdigen oder zu verhöhnen?
trale Rolle zu. Denn Geschichte, so ließe sich
vorwegnehmend zusammenfassen, wirkt in            NS-Geschichte ausschließen –
rechten Klangräumen (und darüber hinaus)          ­Vergangenheit zurückerobern
als Verstärker von Vergemeinschaftungspro-         Im September 2017 verlangte Alexander
zessen. Geschichte wird in Dienst genommen         Gauland, seinerzeit Parteisprecher und Bun-
zur Festigung eines Identitätsangebotes, die-      destagsfraktionsvorsitzender der Alternative
ses Kernelementes des völkisch-autoritären         für Deutschland, als Redner auf dem soge-
Populismus (wie der extremen Rechten). Der         nannten Kyffhäuser-Treffen des völkisch-na-
besitzergreifende Bezug auf Historisches wird      tionalistischen «Flügels» der AfD nach einem
sowohl als szenen- und milieuübergreifen-          Schlussstrich. Zusammen mit dieser Forde-
des Selbstvergewisserungselement als auch          rung, jede Auseinandersetzung mit der Ge-
als multifunktionaler und multidimensionaler       schichte des Nationalsozialismus ein für alle
Deutungsrahmen genutzt.                            Mal zu beenden, bilden insbesondere Björn
In welcher Weise Geschichte von einem völ-         Höckes gezielte geschichtspolitische Aus-
kisch-autoritären Populismus ausbuchstabiert       fälle7 die wohl bekanntesten Beispiele für die
wird, an welcher Stelle rechte Geschichtsdeu-     Strategie der Externalisierung des Nationalso-
tungen abholend sein können, wo sie bereits       zialismus aus der deutschen Geschichte. Zu-
Einleitung: Geschichte für Patrioten und ­V olksliedsänger   9

gunsten einer (von ihm
selbst so bezeichneten)       Am Ende münden wohl alle rhetorischen
restaurativen «Wieder-        Muster in das keinesfalls neue Postulat,
verzauberung» der Welt,       einen Schlussstrich unter die
beschwört der thürin-         nationalsozialistische «Vergangenheit»
gische AfD-Vorsitzende        und deren Bewältigung ziehen zu wollen.
das positive Identitätsge-
fühl eines ungebrochenen Deutschtums, wie licher und fachjournalistischer Analysen zu
es etwa in dessen wortreichen und patheti- rechter Geschichtspolitik und der geschichts-
schen Verklärungen des 19. Jahrhunderts sei- bezogenen Praxis eines völkisch-autoritären
nen Ausdruck findet.                            Populismus. Sie helfen, schiefe Geschichtsbe-
Obgleich sich in allen Facetten des völ- züge, Leugnungen, Schlussstrich-Polemiken
kisch-autoritären Populismus ein teilweise und neurechte «Metapolitik»-Strategien zur
bizarres Spektrum von Geschichtsrevisio- Verknüpfung von Erinnerungspolitik und iden-
nist*innen tummelt, münden am Ende wohl titätsstiftenden Zugehörigkeitsangeboten im
alle rhetorischen Muster (etwa der Täter-Op- vorpolitischen Raum erkennen und auswerten
fer-Umkehr, der antimuslimischen, rassisti- zu können.9
schen Anwürfe zu Fragen des Antisemitis- Dringlich ist diese Sensibilisierung, da jüngst
mus, der floskelhaften Verwendung von «den Raumergreifungen (über Versuche der Ein-
zwölf Jahren») in das keinesfalls neue Postu- flussnahme etwa in kommunalen Gremien
lat, einen Schlussstrich unter die national­so­ und paritätisch besetzten Stiftungsräten oder
zia­lis­tische «Vergangenheit» und deren Be- über Anfragen und Anträge in parlamentari-
wältigung ziehen zu wollen. Was im Herbst schen Zusammenhängen), Störungen und
1998 mit Martin Walsers seinerzeit sowohl nicht zuletzt auch Angriffe an und gegen Ge-
goutier­ter wie problematisierter Buchpreis-­ denkorte – wie Gedenkstätten oder Bildungs-
Rede in der Frankfurter Paulskirche sichtbar einrichtungen an NS-Erinnerungs- oder Doku-
wurde, inszeniert Alexander Gauland beina- mentationsorten – zunehmen. Bildungs- und
he zwei Jahrzehnte später zuspitzend: Kein Beratungsexpert*innen beschreiben in Hand-
anderes Volk in Europa habe «so deutlich mit lungsempfehlungen und Broschüren, welche
einer falschen Vergangenheit aufgeräumt Möglichkeiten es gibt, einer «Geschichtspo-
wie das deutsche». Nun aber müsse man den litik als Kulturkampf von rechts» entschieden
Deutschen «diese zwölf Jahre jetzt nicht mehr entgegenzutreten.10
vorhalten!» Sie beträfen die deutsche Identi-
tät nicht länger. Darum, so Gauland, «haben Preußens Glanz und der Platz
wir auch das Recht, uns nicht nur unser Land, an der Sonne
sondern auch unsere Vergangenheit zurück- Um der deutschen Geschichte positive, iden-
zuholen».8                                      titätsstiftende Aspekte abzuringen und sie zur
Aus guten Gründen stehen rechte Umdeu- einigenden und harmonisierenden Masterer-
tungsstrategien und Versuche, die NS-Ge- zählung auf ein wünschenswert allgemeines
schichte zu relativieren, auszublenden oder Geschichtsbild auszurollen, setzt die Rechte
mit spektakulären Provokationen als Thema auf ausgewählte historische Bezugspunkte,
der geschichts-, gedenk- oder erinnerungs- die den Charakter von Gegenentwürfen haben
politischen und -kulturellen Gegenwart des und für Adressat*innen – für eine deutsche
postnationalsozialistischen Deutschlands zu Öffentlichkeit ebenso wie für die eigenen Rei-
diskreditieren, heute im Fokus wissenschaft- hen – normalisiert werden sollen: als seien sie
10 Einleitung: Geschichte für Patrioten und ­V olksliedsänger

als Erzählungen von Vergangenem in dieser dann in den Vordergrund, wenn es nach zwei
Form schon immer da gewesen.                    verlorenen Weltkriegen um Rückerstattungs-
Einer dieser Gegenentwürfe lässt sich unter ansprüche auf adlige Besitztümer und Nut-
dem Stichwort monolithisches Kulturverständ- zungsrechte geht, wie im Fall der machtvoll
nis fassen, mit dem nach völkisch-autoritärem bis in die Geschichtswissenschaft hinein in-
Weltbild Gemeinschaftsbindungen konstru- tervenierenden vormaligen Kaiser-Dynastie in
iert sind. Quer durch die verschiedensten Ak- der aktuellen «Hohenzollern-Debatte».
teurskreise der neuen sozialen Bewegung von Mit Blick auf diese Themen rund um «Glanz
rechts ist die Rede von einer «deutschen Leit- und Gloria» deutscher Geschichte von Bar-
kultur», die dem «Fortbestand der Nation als barossa bis Wilhelm II. lässt sich noch ein
kultureller Einheit» dienen solle. Geprägt sei weiteres Kernelement rechter Geschichte
sie durch eine gemeinsame Sprache, mehr ausmachen. Dass Gauland seine geschichts-
noch aber durch einen über alle historischen politische Polemik zur Wiedererringung deut-
Zäsuren hinweg bestehenden «Kernbestand» scher Vergangenheit durch das deutsche
an «Werthaltungen». «Die Kultur», die dem «Volk» 2017 ausgerechnet anlässlich des Kyff­
«Wir» einen unverwechselbaren und gleich- häuser-Treffens der AfD formulierte, mag die
sam überhistorischen Charakter verleihen soll, Kulisse des historischen Kontextes zwar noch
bildet neben «Volk» eine Schlüsselkategorie einmal betont in Szene gesetzt haben für den
für das Geschichts-
verständnis des Völ-
kisch-Autoritären. In      In der Logik völkisch-autoritärer Positionen
Verschränkung mit          ist die Semantik des Niedergangs nicht
der einzigartigen Ver-     weniger als der Marker für einen
fasstheit eines «Wir»      Endkampf: um Überleben oder Untergang.
bleibt «Kultur» dabei
stets im Singular, gemeint als «deutsche» oder positiven Bezug auf Kaisermythos und das
«abendländische» Eigenschaft und «Wesens- Wiedererwachen eines deutschen Reiches in
art». In diesem Sinne erweist sich der rechte Einheit von Volk, Nation und Herrscherkrone.
Kulturbegriff als statisch, monolithisch und Dabei versuchte er aber, seine Idealerzählung
äußerst selektiv.                               künftiger, reiner Geschichtsbetrachtung zu-
Wie Yves Müller in seinem Beitrag herausar- sätzlich dadurch aufzuwerten, dass er in glei-
beitet avancieren im Kulturkampf von rechts chem Atemzug das Feind-Schema des kultu-
gegenwärtig besonders drei Themenfelder zur rellen Niedergangs bemühte.
Arena rechter, neurechter und völkisch-autori- In einem rhetorisch kaum verhüllten Gewalt­
tärer Interpretationen: zum Ersten «Preußen» aufruf gegen Aydan Özoğuz, die damalige
und die imperiale Autorität des Wilhelminis- stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende,
mus; die – zweitens – durchaus als Verherrli- Staatsministerin und Integrationsbeauftrag-
chung zu bezeichnenden Kaiserreich-Epen ei- te der Bundesregierung, hetzte er gegen den
nes Interregnums, eines Zwischenreiches im offenen, weltbürgerlichen Kulturbegriff der
Zeitenlauf deutscher Geschichte auf dem Weg Bundestagsabgeordneten. Man solle sie ein-
zur Glorie der Reichseinheit; sowie schließlich mal ins Eichsfeld einladen, um ihr dort beizu-
die völkische Selbstaufwertung durch Kolo- bringen, «was spezifisch deutsche Kultur» sei,
nialismus und imperiale Großmachtpolitik im so Gauland in seiner bis ins letzte Wort viel-
Traum vom «Platz an der Sonne». Sie treten fach im Feuilleton dokumentierten und wie-
dabei mit unterschiedlichem Gewicht selbst derholten Rede 2017. «Danach kommt sie hier
Einleitung: Geschichte für Patrioten und ­V olksliedsänger 11

nie wieder her und wir werden sie dann auch,       versuchen: Einerseits dienen die 1950er Jah-
Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen kön-         re – bzw. die diffus gefasste Zeit vor «1968» –
nen.» Dass Aydan Özoğuz andernorts geäu-           als nostalgische Folie für die gute, alte Zeit,
ßert habe, neben der gemeinsamen Sprache           positiv gekennzeichnet durch klare, vermeint-
keine spezifische deutsche Kultur ausmachen        lich natürliche Geschlechterrollen und ein
zu können, apostrophierte Gauland im weite-        beziehungs- oder vielmehr eheorientiertes
ren Verlauf seiner Rede als Inbegriff undeut-      Verständnis von Sexualität. Kurzum: als Aus-
scher Dekadenz, die das deutsche Volk ver-         druck einer sittlicheren Zeit, in der Ehe und
rate. Genussvoll und brutal bediente Gauland       Tradi­tion – aber auch Eros statt König Sex –
hier einmal mehr ein omnipräsentes Kennzei-        herrschten. Entsprechend wird die «Trümmer-
chen rechter Rhetorik: einen ausgeprägten          frau» als eine Figuration idealer Weiblichkeit
Kulturpessimismus. In Dauerschleife tritt der      konstruiert und gegen «Neomarxistinnen»
AfD-Mann gegen plurale Gesellschaftsent-           und «Genderhistorikerinnen» ins Feld geführt.
würfe an und kündet von einem vermeintlich         Während die «sexuelle Revolution» im zeit-
kulturellen Niedergang, Werteverfall und einer     historischen Rückblick von rechts in der Re-
fundamentalen Bedrohung für die Vorstellung        gel als Ursache für den postulierten sittlichen
vom «Volk» als exklusiver, homogener Ge-           Verfall der Gegenwart behauptet wird, werden
meinschaft.                                        Frauen­emanzipation und «sexuelle Revolu­
Marc Jongen, Bundestagsabgeordneter der            tion» in Teilen rechter Rhetorik zugleich zu ei-
AfD, benannte im Rahmen einer von der Frak-        nem Ausweis deutscher bzw. europäischer Li-
tion von Bündnis 90/Die Grünen beantragten         beralität stilisiert und gegen Menschen, die als
Aktuellen Stunde zu «Demokratie und Erinne-        Muslim*innen markiert oder benannt werden,
rungskultur angesichts rechtsextremistischer       ins Feld geführt.
Angriffe» am 15. Februar 2018 in aller Deut-       Die geschichtspolitischen Rückwendungen
lichkeit, worum es ihm und der AfD geht: «Wir      und Verklärungen sind hier ambivalent, weil
kämpfen für eine Alternative zur Abschaffung       die völkisch-autoritäre Rechte in ihrem Blick
dieses Landes als staatliche und kulturelle Ein-   auf Geschlecht und Sexualität in historischer
heit. […] Es geht also buchstäblich um alles.»     Dimension in Teilen bemüht ist, nicht an At-
In der Logik völkisch-autoritärer Positionen ist   traktivität für die «Frau von heute» zu verlie-
die Semantik des Niedergangs nicht weniger         ren – auch in der Rechten wollen heute viele
als der Marker für einen Endkampf: um Über-        nicht unmodern wirken. Im Spagat zwischen
leben oder Untergang.                              Herd und Karriere unterstützen in diesem Zu-
                                                   sammenhang nicht zuletzt vermeintlich kapi-
Heile Geschlechterwelten                           talismuskritische Anwürfe gegen die Moder-
Drittes Kernelement rechter Geschichtsbe-          ne rechte Geschichtsbilder.
trachtungen, oftmals eingewoben in kultur-         Reichweite erfahren sie durch ihre rassisti-
pessimistische Vorstellungen oder ein ex-          schen Bestandteile: Die durchaus als Quer-
klusives, monochromes Kulturverständnis            schnittsthema des völkisch-autoritären Popu-
völkisch-autoritärer Wertezusammenhänge            lismus erkennbare rassistische Propaganda
ist ein martialisch-männliches Geschichts-         von der so bezeichneten «Islamisierung» und
bild als Heilsversprechen und Element der          der vorgeblichen Übergriffigkeit «fremder»,
Kampfrhetorik.                                     als noch nicht-sublimiert konzeptualisierten
Anna Schiff und Sebastian Bischoff analysie-       Sexualität ergänzt schließlich den Vergleich
ren in ihrem Beitrag, wie rechte Geschichts-       von damals und heute und bemüht einmal
bilder Gender und Sexualität einzuhegen            mehr das Bild sexuell bedrohter wie kulturell
12 Einleitung: Geschichte für Patrioten und ­V olksliedsänger

und moralisch verführbarer, schutzloser Weib-      «Volksgemeinschaft» – zu einer «exklusiven»
lichkeit.                                          Einheit. Ihre Konturen gewinnt sie vor allem
                                                   gegenüber jenen, die als kulturell und eth-
Zurück zum Freiheitskampf:                         nisch «anders» oder «fremd» konstruiert wer-
für das «Volk» – und nur für                       den. Auf diesen Mechanismus, das «Eigene»
das «Volk»?                                        durch die Abgrenzung zum «Anderen» zu be-
Mehr als andeutungsweise knüpfen rechte            stimmen, hat schon früh der britische Kultur-
Geschichtspolitiken und völkisch-autoritäre        theoretiker Stuart Hall mit Blick auf Großbri-
Geschichtsbetrachtungen in ihren Rückbe-           tannien hingewiesen: «die [weißen] Engländer
zügen auf ein vermeintlich goldenes Zeital-        [seien] nicht deshalb rassistisch», weil sie «die
ter (Karin Priester) schließlich an eine weitere   Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne den
Schlüsselkategorie rechten Geschichtsver-          Schwarzen nicht wissen, wer sie sind».12
ständnisses an: an das in seiner Existenz an-      In seiner Funktion der Abgrenzung rückt der
geblich stets bedrohte «Volk». Dabei ist «Volk»    Volksbegriff strukturell an eine zentrale Stel-
mehr als eine Sammelbezeichnung für er-            le rechter Geschichtsbetrachtung, denn die
füllten Kinderreichtum «deutscher» Famili-         Zuschreibungen von Zugehörigkeit und Aus-
en. In stark personifizierter Rhetorik gilt das    schluss erweisen sich als statisch, werden als
rechte «Wir» vielmehr auch im übertragenen         weitgehend unveränderbar gesetzt und wir-
Sinne als Kollektivsubjekt mit gleichsam ein-      ken gleichsam überhistorisch. Damit eignet
heitlichen Wahrnehmungen, Interessen und           sich der exklusive Volksbegriff als vierter The-
Feindbildern. Die Vorstellung vom «Volk» als       menaspekt, der sich in den historischen Be-
«Organismus» oder als «Körper» firmiert auch       zugnahmen rechter Geschichtsbilder identi-
aktuell als zentraler Topos im Ensemble rech-      fizieren lässt, nachgerade als «Whiteboard»:
ter Grundpositionen.                               beliebig beschreibbar. Wer oder was dazu-
Bemerkenswert ist, dass die grundlegende           gehört oder ausgeschlossen ist, zu welchem
Frage, wer denn nun eigentlich zum «Volk»          Zeitpunkt wo die Grenzen von Zugehörig-
gehören solle, in erster Linie damit beantwor-     keit gesetzt werden, all das ist variabel, so-
tet wird, wer dieser immer wieder beschwo-         lange die Parameter des «Eigenen» und des
renen Gemeinschaft nicht zuzurechnen sei.          «Anderen» absolut sind.
Die rechte Antwort steht dabei erwartungsge-       Offen bleibt angesichts der aktuellen Entwick-
mäß im Kontrast zu einem republikanischen          lungen, ob und wie dieses «Wir», das «Volk»
Verständnis von «Volk», das, so der Histori-       als Schlüsselfigur in rechten Vergangenheits-
ker Michael Wildt, einen «inklusiven» Charak-      erzählungen, auch in Zukunft einen zentralen
ter aufweist und als «Versammlung von glei-        Platz einnehmen wird. Als mythischer Erinne-
chen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern,          rungsort gemeinschaftsstiftender nationalis-
unabhängig von ihrer Hautfarbe, Geschlecht         tisch-identitätspolitischer Vorstellungen von
oder religiöse[m] Bekenntnis« beschreibbar         rechts? Als Mobilisierungsmasse rechter Ge-
sei.11 Nationalistisch-identitätspolitische Vor-   genwartspolitik? Das Beispiel des Hambacher
stellungen hingegen erheben das «Volk» – die       Festes oder die Umdeutungen vergangener

Wer oder was zu «Volk» dazugehört oder ausgeschlossen
ist, zu welchem Zeitpunkt wo die Grenzen von Zugehörig­
keit gesetzt werden, all das ist variabel, solange die
Parameter des «Eigenen» und des «Anderen» absolut sind.
Einleitung: Geschichte für Patrioten und ­V olksliedsänger 13

Emanzipationsbewegungen werfen die Fra-               trioten» im generischen Maskulinum als ech-
ge auf, ob «Volk» oder «(Volks-)Gemeinschaft»         ten Mann zu sehen. Das Deutschsein lauthals
als wegweisende Bezugsgrößen rechter Ge-              zum Besten zu geben, über alles.
schichtsansprache nicht inzwischen mindes-
tens ergänzt, vielleicht in seiner Bedeutung          (Re-)Aktion, oder was?
sogar abgelöst werden durch die Bindungs-             Geschichte und Geschichtspolitiken folgen
kraft eines von rechts besetzten Freiheits-           Funktionslogiken und mitunter absichtsvollen
begriffes. Neuere Analysen und Überblicke             Setzungen. Wer Geschichte erzählt, schafft
zu rechten Rhetoriken, völkisch-autoritärem           Bezugsrahmen, die gemeinschaftsstiftend
Agenda-Setting und rechtspopulistischem               wirken können, schaffen sie doch – nach «in-
Politikstil unterstreichen durchaus die Rolle,        nen» – ein spezifisches, an einem geteilten
die «das Skript der ‹Befreiung›»,13 also eine         (Selbst-)Verständnis orientiertes Identifika­
Anrufung und Besetzung der Begriffe Freiheit          tionsangebot. Für eine rechte Geschichte und
und Widerstand für eine noch weitreichen-             Geschichtspolitik gilt aber, dass sie nach «au-
dere anschlussfähige Rechte zu gewinnen               ßen» Abgrenzungen und Feindbilder stärken,
scheint – auch in geschichtspolitischer Ab-           die in historischer Perspektive «immer schon
sicht. Denn gegenwartsbezogene Politikan-             so waren» oder als Abweichungen von einem
gebote, die aus rechten Geschichtsentwür-             «früher war alles besser» erscheinen.
fen heraus formuliert werden, haben stets das         Geschichte zur Bezugsgröße für das Heute
Ziel, mit dem Blick auf das Gestern überzeu-          heranzuziehen, erfüllt zugleich strategische
gend zu mobilisieren.                                 Zwecke. Wer den Rekurs auf «Geschichte» in
Nicht zuletzt im Zuge der bislang noch he-            dieser doppelten, die eigene Struktur stärken-
terogenen Pandemieleugnungs- und Ver-                 den und «das Andere» abwertenden Weise in
schwörungserzählungs-Bewegung, die in                 Dienst zu nehmen weiß, um eine gegenwarts-
Deutschland im August 2020 vor dem Reichs-            bezogene politische Agenda mit der Aura his-
tagsgebäude in Berlin und im Januar 2021 am           torischer Bedeutsamkeit zu versehen, hat ein
Washingtoner Capitol Hill, jeweils an der Sei-        starkes Argument auf seiner oder ihrer Seite.
te und mit Unterstützung der militanten ex­           Das Gesehene wirkt als Autorität an sich.
tremen Rechten, gewalttätig in Erscheinung            Schließlich stehen mit der Art der Erzählung
getreten ist, führten selbsternannte «Rebel-          auch die Inhalte, die in historischer Perspek-
len» den Freiheitsbegriff im Munde. Ihre Pa-          tive von rechts beleuchtet, ausgeblendet,
rolen könnten wortgleich auch in Verlautba-           beschwiegen, neu oder umformuliert, re-ak-
rungen oder auf den Bannern der Identitären           tualisiert oder dem Vergessen übergeben
Bewegung auftauchen, die mit ihrem Reden              werden, in einem weiteren funktionalen Zu-
von Widerstand, Freiheit und «Reconquista»            sammenhang: Dort, wo sie rechte Ziele un-
wiederum regelmäßig historische Bezüge auf-           terstützen, stabilisieren die Themen rechter
greift – nicht zuletzt die eingangs zitierte «Frei-   Geschichte Erinnerungspolitiken als Strategi-
heitsbewegung» des Vormärz rund um das                en, tragen dazu bei, «Politik durch Geschichte
Hambacher Fest von 1832.                              zu legitimieren» (Michael Kohlstruck). In ste-
Wenn Tino Chrupalla das «Neue Hambacher               ter Wiederholung und Dauerschleife ist ihnen
Fest» als Möglichkeitsraum für eine Bewe-             zuzutrauen, dass sie Normalisierungsprozes-
gung von «Patrioten und Volksliedsängern»             se anstoßen und komplexe Deutungszusam-
feiert, meint das womöglich auch «Freiheit»           menhänge nach rechts verschieben können.
in seinem Sinne: völkisch-national autoritär          Wenn zu befürchten ist, dass eine «Basiser-
sein zu können unter seinesgleichen. Den «Pa-         zählung», die «die beherrschende legitima­
14 Einleitung: Geschichte für Patrioten und ­V olksliedsänger

torische Konstruktion der Vergangenheit ent-                                Geschichte am Ende über ihr interventionis-
hält», im rechten Geschichtsbild Verankerung                                tisches Anliegen, autoritär-nationalistische
oder Verstärkung findet, wird es höchste Zeit,                              Geschichte und ihre Lautsprecher zu verun-
diesen rechten Geschichtsraumaneignungen                                    sichern und ihre Mythen, Erinnerungspraxen
entgegenzutreten.14 Ob allerdings eine Ant-                                 und Geschichtspolitik zu zerstören, hinauszu-
wort, eine Reaktion oder gar der gezielte Kon-                              gehen die Kraft hat? Im Wissen darum, nicht
ter gegen rechte Geschichte das richtige, das                               ad hoc einen definitiv angemessenen Um-
strategisch kluge Mittel linker Politik und Ak-                             gang mit rechter Geschichte zu finden, bleibt
tion sein kann? Auf welche Ressourcen, mo-                                  wohl aber eine gute Portion positiver Skepsis,
bilisierungsstarke eigene und selbstwirksame                                dass Geschichte und Erinnerung zwar immer
Geschichtsbilder wird eine linke Geschichte in                              Spielball und Akteur politischer Machtkom-
Praxis und Erzählung dabei zugleich zurück-                                 munikation und Mobilisierungspotenziale
greifen? Aus welchen Erfahrungen ihrer anti-                                sind, zugleich aber als Erzählungen von der
faschistischen Geschichte heraus vermag sie                                 Vergangenheit auch ein starker Bezugsrah-
rechtes Erinnern zu stören? Worauf soll und                                 men für die Utopien und Möglichkeiten einer
kann sie bauen? Ob eine antifaschistische                                   linken Gegenwart sein können.
1 Vgl. Botsch, Gideon: Die historisch-fiktionale Gegenerzählung des         in: Mendel, Meron (Hrsg.): Wie die Rechten die Geschichte umdeuten.
radikalen Nationalismus. Über den rechtsextremen Zugriff auf die            Geschichtsrevisionismus und Antisemitismus, Frankfurt a. M. 2020,
deutsche Geschichte, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 2/2011,        S. 12. 9 Zum Einstieg vgl. die Beiträge in: Mendel: Wie die Rechten
S. 27–40. 2 Von seiner Funktion als Kuratoriums-Vorsitzender der            die Geschichte umdeuten; Killguss, Hans-Peter/Langebach, Martin
AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung trat Otte im Januar 2021 zu-          (Hrsg.): «Opa war in Ordnung!». Erinnerungspolitik der extremen
rück, nach eigenem Bekunden via Twitter-Post (7.1.2021) in kritischer       Rechten, Köln 2016; Langebach, Martin/Sturm, Michael (Hrsg.): Er-
Auseinandersetzung mit der Rolle und Haltung des Parteivorsitzenden         innerungsorte der extremen Rechten, Wiesbaden 2015. 10 Vgl. etwa
Jörg Meuthen während des AfD-Bundesparteitages Ende November                Verein für Demokratische Kultur in Berlin (VDK) e. V./Mobile Beratung
2020. Fortan wolle er sich nur mehr für die den Unionsparteien na-          gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) (Hrsg.): Nur Schnee von ges-
hestehende «WerteUnion» und die Belange des «Neuen Hambacher                tern? Zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts in Gedenkstätten
Festes» einsetzen. 3 Zum «Forschungsparadigma» des «Erinnerungs-            und Museen, Berlin 2019; Bothe, Larissa/Wunnicke, Ruth: Handlungs-
ortes» (lieux de mémoire) des liberal-konservativen französischen           empfehlungen für den Umgang mit rechtspopulistischen Äußerun-
Historikers Pierre Nora vgl. Siebeck, Cornelia: Erinnerungsorte, Lieux      gen von Besucher*innen in Gedenkstätten und Erinnerungsorten.
de Mémoire, in: Docupedia Zeitgeschichte, 2.3.2017, unter: https://         Eine Publikation von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., Berlin
docupedia.de/zg/Siebeck_erinnerungsorte_v1_de_2017. 4 Vgl. etwa             2019. 11 Wildt, Michael: Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Hamburg
Häusler, Alexander/Virchow, Fabian (Hrsg.): Neue soziale Bewegung           2017, S. 116 f. 12 Hall, Stuart: Ethnizität: Identität und Differenz, in:
von rechts? Zukunftsängste, Abstieg der Mitte, Ressentiments, Ham-          Engelmann, Jan: Die kleinen Unterschiede. Der Cultural-Studies-Rea-
burg 2016. 5 Vgl. z. B. die aktuellen Einschätzungen im Schwerpunkt         der, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 83–98, hier S. 93. 13 So et-
«Demaskiert – Die Bewegung der Pandemie-Leugner*innen», in:                 wa Claudia C. Gatzka im Titel ihres Beitrages zu Machtstrategien
LOTTA 81, 2020/21; darin z. B. Teidelbaum, Lucius: Die Corona-Wut-          rechtspopulistischer Geschichtsumdeutungen am Beispiel von Ita-
bürger*innen. Von «Regenbogenkriegern» und «Reichsbürgern»,                 lien, in: Audretsch, Andreas/Gatzka, Claudia C. (Hrsg.): Schleichend
S. 9–12. 6 Vgl. Müller, Jan Werner: Was ist Populismus? Ein Essay,          an die Macht. Wie die Neue Rechte Geschichte instrumentalisiert,
Frankfurt a. M. 2016, S. 42. Vgl. auch die Beiträge in: Häusler, Ale­       um Deutungshoheit über unsere Zukunft zu erlangen, Bonn 2020,
xander (Hrsg.): Völkisch-autoritärer Populismus. Der Rechtsruck in          S. 38–47. 14 Trotha, Trutz von: Politische Kultur, Fremdenfeindlichkeit
Deutschland und die AfD, Hamburg 2018. 7 Vgl. z. B. Höckes Dresd-           und rechtsradikale Gewalt. Notizen über die politische Erzeugung von
ner Rede (2017) mit ihrem nach allen Regeln rechter Opfer-Rhetorik          Fremdenfeindlichkeit und die Entstehung rechtsradikaler Gewalt in
gesetzten Angriff auf das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden         der Bundesrepublik Deutschland. Beitrag zur Tagung «No Justice – No
Europas, die inzwischen vielfach analysiert worden ist, vgl. etwa be-       Peace?», Penn State University 1993. Zur Basiserzählung vgl. Herz,
reits wenige Tage nach der Rede Sabrow, Martin: Höcke und wir, in:          Thomas: Die «Basiserzählung» und die NS-Vergangenheit. Zur Verän-
Zeitgeschichte-online, 25.1.2017, unter: https://zeitgeschichte-on-         derung der politischen Kultur in Deutschland, in: Clausen, Lars (Hrsg.):
line.de/kommentar/hoecke-und-wir. 8 Am 2.9.2017 auf dem Kyffhäu-            Gesellschaften im Umbruch. Verhandlungen des 27. Kongresses der
ser-Treffen der AfD, zit. nach: Steinhagen, Martín: Identitätspolitik mit   Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Halle an der Saale, Frankfurt
dem «Vogelschiss». Über den Geschichtsrevisionismus bei der AfD,            a. M. 1995, S. 91–109.
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Yves Müller

PREUSSEN, DAS KAISERREICH,
DER KOLONIALISMUS UND DIE RECHTEN
SEHNSUCHTSORTE DES DEUTSCHEN NATIONALISMUS

In Phasen der Stagnation, Resignation oder         dessen, was sie gern «deutsche Kultur» nen-
gar der Krise suchen Gesellschaften immer          nen. Diese Form der vergangenheitsbezo-
wieder Orientierung in der Vergangenheit. Die      genen Identitätspolitik ist gesellschaftlich
Rechte sehnt derlei «Krisen» jeder Art gerade-     anschlussfähig, weil sie aus der Mitte der Ge-
zu herbei und malt die «Gemeinschaft» zer-         sellschaft stammt.
störende Horrorszenarien an die Wand. Die          Von dem gegenwartsnahen Gehalt des bona-
«Krise», sie wird gemacht. Und zwar in Dau-        partistischen Vergangenheitsbezugs wusste
erschleife, denn die Erfolge des autoritär-völ-    schon Karl Marx zu berichten: «Die Tradition
kischen Populismus zehren von der stetigen         aller todten Geschlechter lastet wie ein Alp
Reproduktion äußerer und innerer Bedrohun-         auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie
gen. «Früher war alles besser», so lautet das      eben damit beschäftigt scheinen, sich und die
krisenaffirmative Credo. Die Konstruktion der      Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes
«Krise» ist nötig, um eine identitätspolitische    zu schaffen, gerade in solchen Epochen revo-
Re-Souveränisierung des eigenen Kollektivs         lutionärer Krise beschwören sie ängstlich die
voranzutreiben und ein «goldenes Zeitalter»        Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste
zu imaginieren. Dieses «heartland» einer bes-      herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtpa-
seren Vergangenheit findet die Rechte in Volk      role, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen
und Nation.1 «Wir», und damit sind immer           Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache
«die Deutschen» gemeint, gegen die «bar-           die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.»3
barischen Anderen».2 «Wir» sind wieder wer.        In einem regelrechten Wunderglauben seh-
«Wir» sind das Volk.                               nen sich die Menschen nach der Wiederkehr
Die Anrufung einer glorreichen, aber unterge-      der «guten alten Zeit» und nach der Auferste-
gangenen Epoche soll helfen, die blasse Ge-        hung des Helden – Weltgeschichte als Tragö-
genwart in eine blühende Zukunft zu verwan-        die und als Farce.
deln. Die Zusammenhänge zwischen dem
Erstarken eines völkisch-autoritären Populis-      «Preußen» als deutscher
mus und der Geschichtspolitik der Berliner         Sehnsuchtsort
Republik sollen am Beispiel des deutschen          Preußen ist fester Bestandteil deutscher Ge-
Sehnsuchtsortes «Preußen» – der zur Unter-         schichte: Am 18. Januar 1701 krönte sich
scheidung vom historischen Preußen mit An-         der brandenburgische Kurfürst Friedrich III.
führungszeichen markiert werden soll – und         eigenhändig, aber mit Gottes Gnaden zum
seiner unheilvollen Wiederkehr aufgezeigt          König – die Geburtsstunde Preußens. Auf
werden. Dabei geht es den Rechten von der          den Tag genau 170 Jahre später ließ sich der
Partei Alternative für Deutschland (AfD) und       preußische König Wilhelm I. im Spiegelsaal
dem Institut für Staatspolitik (IfS), einem neu-   von Versailles zum deutschen Kaiser krönen,
rechten «Thinktank», nicht einfach um einen        nicht jedoch ohne Gnaden der deutschen
Umbau der etablierten Erinnerungskultur in         Fürsten und einer ganz weltlichen Verfas-
Deutschland, sondern um eine Verteidigung          sung, die mit dem Jahreswechsel 1870/71
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