AKRÜTZEL Jenas führende HochschulZeitung seit 1989 - Akrützel
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AKRÜTZEL Jenas führende HochschulZeitung seit 1989 HU R R A ! E N ! L I C H WA H L END - Mit Stulraage Wahlbei Nummer 410 I 17. Juni 2021 I 32. Jahrgang I www.akruetzel.de
2 / Editorial Liebe Leserinnen und Leser, Inhalt die universitären Gremienwahlen stehen an und die ganze Stadt freut sich wie Bolle. Auch in unsere kargen Redaktionsräume schwappt ein Hauch von Lebensfreude. Endlich muss der 04 DA HABEN WIR DIE BOLOGNESE Chefredakteur den Abend, bevor das Heft in den Druck geht, Die Bologna-Reform: Vollkatastrophe oder nicht mehr alleine vorm zu füllenden Editorial-Weißraum sitzen Erfüllung feuchter Akademikerträume? und kann die Textbausteine mit seinem aktiven, motivierten und engagierten Team zusammenklöppeln. „Schreib doch mal 07 UNI MIT ANHANG was zu den Gründern“, ruft Leo aus dem 90er-Jahre-Drehstuhl. Wie es sich mit Nachwuchs studiert. Gründen. Gründen. Gründen. Für 24 Euro am Tag kann man in Jena einen Schreibtisch mieten. Bei uns gibts für 23 Euro sogar 08 WAS MACHEN DIE EIGENTLICH? noch eine versiffte Couch dazu. Nur Erfolgsgeschichten haben Wie der Stura in der letzten Wahlperiode wir keine. Wir versprechen, auch wenn wir nicht gewählt gearbeitet hat. werden können: Ganz bald wird alles besser. Lukas stürmt in das neonlichtdurchflutete Büro: „Hast du das 10 REVOLUTION ODER mit dem Hundemörder gelesen? Ist ja echt wild!“ Stille. „Aber KONFORMISMUS Wahlen stehen an“, mahnt der Chefredakteur, der gern in Kommentar zur Wahl-Podiumsdiskussion. der dritten Person von sich schreibt: „Sie sind der Urankern unserer verfassten Studierendenschaft, sie sind der Holzstiel im Kaktuseis, sie sind der leicht verbrannte Croûton im Thüringer 12 WAHLBEILAGE Nicht unser Bier. Kloß.“ Ohne Wahlen gäbe es keinen Stura, und ohne Stura gäbe es niemanden, der den Campusmedien das Geld entziehen kann. Also ran an die Urne, ihr Freaks! 18 BOCK ZU GRÜNDEN? Manche meinen ja, der Stura wäre sinnlos, Kindergarten, ein Wer braucht schon Musik und Drogen, wenn er illegitim gewähltes Phantomgremium und bestünde nur auch gründen kann? aus Florian Rappen. Aber dem ist nicht so. Es gibt auch noch Rappens Freunde. 20 WEGEN DER PAAR AMEISEN Wenn ihr jetzt Bock habt, zu gründen: Wie wäre es mal mit Eine Alltagsbeobachtung. einer Stura-Liste? Die Redaktion 21 KLASSIKER Diesmal: Ukulele. Ihr habt heimlich 22 FISCHERMAN´S FRIENDS zwei Professoren auf Vorletzte kultige Ausgabe unserer neuen kessen Kultkolumne. Ibiza gefilmt, einen Leitz-Ordner mit den 24 ZU VINO SAG ICH Mit dem Studierendenwerk-Boss Ralf Schmidt- Paradies-Park-Papers Röh. oder wollt nur mal auf ein Coverfoto? Meldet euch unter: redaktion@akruetzel.de
/3 DIESES UND JENAS Gemütlich Erfolgreich Hygienisch Im Rahmen eines langfristigen Pro- Das chinesisch-ukrainische Team, das Seit kurzem werden ausgewählte Toi- jektes sollen ungenutzte Flächen in den für die Uni Jena bei der 20. Deutschspra- letten auf dem Unicampus versuchswei- Gebäuden der EAH umgestaltet und da- chigen Debattiermeisterschaft antrat, hat se mit Tampons und Binden ausgestat- durch aufgewertet werden. Dazu gehört den Wettbewerb im Bereich Deutsch als tet, die von der Universität kostenlos unter anderem auch der Raum vor dem Fremdsprache gewonnen. Bei Debatten zur Verfügung gestellt werden. Die Uni Stura-Büro, der bisher leer stand. Dafür um Themen wie personenbezogene Wis- Jena ist damit eine der ersten Univer- werden Gelder aus dem Haushalt der senschaftsförderung oder Effekte einer sitäten in Deutschland, die nach schot- Studierendenschaft und der Hochschu- Ampel-Koalition konnten sich Roman tischem Vorbild handelt und sich für le investiert. In einer Kooperation mit Wanusch, Jun Wang und Yang Zhu, die die Bereitstellung kostenfreier Damen- der Bauhausuni in Weimar wurde für regelmäßig in der Jenaer Debattierge- hygieneartikel einsetzt. Die Idee kam die Architekturstudiengänge ein Modul sellschaft an ihren Argumentationen fei- vom Studierendenrat und soll zur Ent- geschaffen, in dem sich die Studieren- len, gegen alle weiteren Teams durch- stigmatisierung der Menstruation bei- den mit der Umgestaltung ungenutzter setzen. Bereits in den Jahren 2017, 2018 tragen. Für die Universität ist der Mo- Flächen beschäftigen, sodass beide Sei- und 2020 konnten die Jenaer Teams die dellversuch ein weiterer Schritt zur ten davon profitieren. Das Projekt läuft Meisterschaft gewinnen. Es zahlt sich Geschlechtergerechtigkeit, die auch im noch, die Umgestaltung des Raumes vor also aus, dass die Mitglieder mehrmals neuen Leitbild verankert wurde. Wenn dem Stura-Büro wurde aber bereits fer- wöchentlich üben: montags auf Eng- es einen wertschätzenden Umgang mit tig geplant und soll bis zum nächsten Se- lisch, dienstags auf Deutsch und mitt- den Hygieneartikeln gibt, sollen sie dau- mester fertiggestellt werden. wochs für Deutsch als Fremdsprache. erhaft bereitgestellt werden. Physikalisch Alkoholisch Gegendarstellung zum Artikel: „Dann nehmen wir es halt von den Studierenden“ in Akrützel Nr. 409 des Goldene Zwanziger e.V. Anzumerken ist, dass das Ziel der Hauptwohnsitz- kampagne zu keinem Zeitpunkt war, viele Likes oder Follower zu generieren. Die Social-Media- Die Jenaer Innenstadt ist 2021 als Hi- Am 05. Juni wurde kurz nach Mitter- Kanäle dienten im letzten Jahr nur als unterstüt- storische Stätte der Physikgeschichte nacht ein E-Scooter-Fahrer angehalten zende Maßnahme, um zusätzliche Aufmerksam- ausgezeichnet worden. Die European und kontrolliert. Während der Kontrolle keit und Aufrufe der Hauptwohnsitz-Webseite zu Physical Society möchte damit die Auf- stellten die Beamten Alkoholgeruch bei erlangen. Und dass dies gut gelungen ist, zeigen merksamkeit auf die vielen historischen dem 21-jährigen fest. Daraufhin wurde die (unter anderem auf der Pressekonferenz im Gebäude und Einrichtungen im Stadt- ein Atemalkoholtest durchgeführt, der Dezember 2020) veröffentlichten Zahlen. Der Er- zentrum lenken, in denen zahlreiche be- einen Blutalkoholwert von 1,51 Promil- folgsindikator der Kampagne misst sich letztend- deutsame physikalische Entdeckungen le ergab. Die Weiterfahrt wurde unter- lich daran, wie viele Personen ihren Hauptwohn- gemacht wurden. Dass die Innenstadt bunden. Ähnlich erging es zwei Män- sitz angemeldet haben. Im Kampagnenzeitraum durch ihre Vergangenheit geprägt wurde, nern genau eine Woche später. Auch sie des letzten Jahres waren dies 1.656 Personen. Das zeigt sich am ehemaligen Zeiss-Haupt- wurden bei einer nächtlichen Fahrt mit ist, trotz der vielen pandemiebedingten Einschrän- werk, das heute als moderner Unicam- E-Scootern kontrolliert und einem Al- kungen, wie beispielsweise der weggefallenen drei- Piktogramme: Julia Keßler pus fungiert, genauso wie an den klei- koholtest unterzogen. Auch diese bei- wöchigen Campus-Promotion, der fehlenden Pla- nen Emaillegedenktäfelchen, die überall den wiesen zu hohe Blutalkoholwerte kate und Hauptwohnsitzparty sowie des deutlich verstreut über wichtige Persönlichkeiten auf. Die Polizei weist darauf hin, dass reduzierten Budgetumfangs im Vergleich zu den informieren. Bei einem Spaziergang E-Scooter Kraftfahrzeuge im Sinne des vorherigen Jahren, sehr gelungen. Um eine Ent- können Interessierte also an verschie- Straßenverkehrsgesetzes sind und des- wicklungsbilanz der Kampagne ziehen zu kön- densten Stellen so einiges über die Je- halb die gleichen Alkoholgrenzwerte gel- nen, sollten ebenfalls die Zahl der rückläufigen naer Physikgeschichte lernen. ten wie beim Führen eines PKW. Einwohnerentwicklung der Stadt, aber auch die besonderen Umstände des letzten Jahres, wie zum Julia Keßler Beispiel das durchgeführte Online-Semester und die fehlenden internationalen Studierenden be- rücksichtigt werden.
DA HABEN WIR /4 DIE BOLOGNESE Der Bologna-Prozess erntet seit über 20 Jahren Gezetere und Kritik. War die Hochschul-Reform der Untergang des akademischen Abendlandes? Mhmm, schön billig. Foto: Tim Große
Uni & Stadt / 5 D ie italienische Universitätsstadt wie Andi erhöhen. In der Praxis ist jedoch Ende des Studiums stand eine Magister- Bologna kann Pasta. Die Lasagne nicht jeder Glanz gleich Gold und so dis- prüfung, die die Note des Studienabschlus- kommt von hier. Ebenso die Tor- kutieren zahlreiche Akteure auch 20 Jah- ses bestimmte. Vorteilhaft war, dass Birgit tellini, Tagliatelle und natürlich die Bo- re nach dem folgenreichen Treffen der mehr Zeit hatte, in das System hineinzu- lognese-Soße. Aber kann Bologna auch Bildungsminister:innen, wie sehr dieses wachsen. Jedoch wurde dieser Punkt auch Uni? Ziel erreicht wurde oder eben nicht. viel kritisiert, da es einen hohen punktu- Bologna ist komplex. Zum besseren Ver- Die Reform brachte den Studierenden zu- ellen Druck ausübte. Die zweite Seite der ständnis kämpfen sich in diesem Text zwei nächst eines: Unsicherheit. Das Internatio- Medaille war aber, dass Birgit im Magister Studierende durch den akademischen Re- nale Büro freute sich jedenfalls über zahl- höchstens vier Prüfungen pro Semester form-Dschungel: Birgit studierte noch in reiche Anfragen. Thomas Klose, stellvertre- ablegte - ein Pensum, das Andi auch mal der Prä-Bologna-Ära den Magister, Andi in tender Leiter der zentralen Studienbera- in einer Woche erbringen muss. der Bologna-Epoche Bachelor und Master. tung, bestätigt auch, dass durch die Reform Wir schreiben das Jahr 1988. Die Uni- Auslandsaufenthalte zunächst zurückge- versität Bologna feiert ihren 900. Ge- gangen sind - eine kontraproduktive Ent- burtstag. Zur Party kommen fast 400 wicklung. Ein Problem sei das Zeitempfin- Universitätspräsident:innen aus aller Welt den: Andi beschäftigt, wie er seinen Aus- „Das System war und unterschreiben die Magna Charta Uni- landsaufenthalt mit den neuen Regelstu- versitatum, welche die Freiheit und Ein- dienzeiten von sechs (Bachelor) oder vier insgesamt schwer zu heit von Lehre und Forschung betont. Die- se Charta sollte zu einem Ausgangspunkt (Master) statt neun Semestern vereinba- ren kann. Die Einteilung in Bachelor und verstehen.“ für den Bologna-Prozess werden. 11 Jahre Master bedeutet eine gefühlte Kürzung der später: diesmal ohne Party, dafür mit 29 verfügbaren Zeit, was Auslandsaufenthalte Das Leistungspunktesystem ECTS star- europäischen Bildungsminister:innen. Sie schwieriger planbar macht. Birgit musste tete an der FSU im Jahr 2005. Das Euro- unterzeichnen in der Aula Magna der älte- mit diesem Problem nicht kämpfen. Für pean Credit Transfer and Accumulation sten Universität Europas eine gemeinsame sie bot sich ein Auslandsaufenthalt meist System erleichtert für Andi die Vergleich- Erklärung zum europäischen Hochschul- nach der Zwischenprüfung an, da zu die- barkeit seiner Studienleistungen. Er leistet raum: Die Bologna-Reform war geboren. sem Zeitpunkt noch genügend Zeit für die seitdem im Normalfall 30 Leistungspunkte Doch: Was sollte das überhaupt? Zuerst Abschlussprüfung blieb. pro Semester, wobei Andi für jeden Lei- einmal bedeutete es die europaweite Har- stungspunkt - zumindest theoretisch - 30 monisierung der akademischen Ausbil- Es war nicht alles schlecht Arbeitsstunden ackern muss. Eine zentra- dung. Im Zuge der Reform wurden die le Umstellung für die FSU bedeutete auch, Magister- und Diplom-Studiengänge abge- Wie war sie denn, diese sagenumwobene dass seit Bologna die Studiengänge extern schafft und das Bachelor- und Master-Sys- Zeit vor Bologna? Nun, vor allem anders. begutachtet werden - Stichwort Qualitäts- tem eingeführt, nach dem heute gut 75 Pro- Technisch ausgerichtete Studiengänge management. Zuletzt hatte die Bologna-Er- zent der Studierenden ausgebildet werden. schlossen mit einem Diplom ab, während klärung das Ziel gesetzt, die Mobilität von Lediglich medizinische und rechtswissen- Studierende in den Geisteswissenschaften Studis wie Andi zu verbessern. schaftliche Studiengänge wurden bis heu- einen Magister erwarben. Sie wählten hier- Die FSU begann im Jahr 2005 - gestaffelt te nicht reformiert und bilden die Studie- für ein Hauptfach und zwei Nebenfächer. nach Fakultäten - mit der Modularisie- renden außerhalb des Systems aus. Das Je- Birgit genoss ihr Studium noch an einem rung der Studiengänge. Im Jahr 2010 wur- naer Modell der Lehrer:innenbildung ist Stück. Trotz einer Zwischenprüfung nach den die letzten Studiengänge akkreditiert auch auf die Reform zurückzuführen. Es dem Grundstudium erlangte sie ihren er- und die Umstellung damit abgeschlossen. wurde modular gestaltet, führt aber noch sten Hochschulabschluss also erst nach heute zum Staatsexamen - ein Sonderfall üblicherweise neun Semestern mit einer Keiner weiß mehr, wie es in der Studienorganisation. gewaltigen Abschlussprüfung. vorher war Während des Studiums musste Birgit fünf Leistungsnachweise erbringen, das konn- Andis Generation hat keinen Plan, wie das ten Hausarbeiten oder Referate während Studium vor Bologna war. Torsten Oppel- eines Seminars sein. Außerdem musste land hingegen lehrt seit 1993 an der FSU. Zur Party sie Teilnahmescheine erwerben, um zu Bei allen Umwälzungen durch die „Bolo- verdeutlichen, dass sie sich mit dem Stoff gna-Revolution“, wie manche die Reform kommen fast 400 während des Studiums auseinanderge- auch prätentiös betiteln, bemerkt der Di- Unipräsident:innen setzt hatte. Thomas Klose von der Studi- enberatung erinnert sich: „Der Stunden- rektor des Instituts für Politikwissenschaft jedoch kaum Auswirkungen auf seinen aus aller Welt. plan war immer ein großes Problem. Es Arbeitsalltag als Dozent. „Der wichtigste gab keine Musterstudienpläne und das Unterschied ist vielleicht der höhere Grad System war insgesamt schwer zu verste- an Standardisierung.“ Andi benötigt heute Durch die internationale Vergleichbar- hen. Im September und Oktober standen die Chance, Prüfungen in späteren Seme- keit der Studienleistungen sollte der Bo- die Leute bei uns Schlange.“ stern nachzuholen. Negativ bewertet der logna-Prozess einen einheitlichen euro- Die Note setzte sich damals - im Gegen- Professor vor allem den wachsenden Prü- päischen Hochschulraum schaffen und satz zum modularen System heute - nicht fungsdruck durch mehr Modulklausuren so die internationale Mobilität für Studis aus mehreren Leistungen zusammen. Am pro Semester. „Asche auf unsere Häupter
6 / Uni & Stadt – das hat auch etwas damit zu tun, dass es erschwert eine studienfachübergreifen- lieber wie Birgit langes ruhiges Fahrwas- Lehrenden schwerfällt, die Prüfung im ei- de Orientierung – den berühmten Blick ser mit einem Tsunami und monatelanger genen Bereich für weniger wichtig oder über den Tellerrand.“ sozialer Schreibtisch-Isolation am Ende gar verzichtbar zu halten und abzuschaf- des Magister-Studiums? fen“, so Oppelland. Ist Bologna nun geglückt oder geschei- Der erste berufsqualifizierende Hoch- tert? Thomas Klose von der Studienbera- schulabschluss – auch Bachelor genannt tung möchte sich nicht festlegen: „Mit Bo- – bietet viel Licht und Schatten. Wenn die Während Andi schon logna gab es Träume, die sich erfüllt ha- Anglistik-Studentin erst im sechsten Se- ben, und solche, die sich nicht erfüllt ha- mester ihre Abneigung für Sprachen fest- im ersten Semester ben.“ Er empfiehlt, die Prä-Bologna-Ära stellt, kann sie bis zum ersten Abschluss noch die Zähne zusammenbeißen und Höchstleistungen auch weiterhin kritisch zu betrachten: „Es war nicht das gelobte Land.“ Zwar sei im Master zur Bioinformatik wechseln. erbringen muss, unklar, was denn nun der angestrebte ge- Für den Psychologie-Studenten bedeu- meinsame europäische Hochschulraum tet das Bachelor-Studium indessen einen konnte Birgit noch sei. Gleichzeitig ist der Wechsel des Stu- erbarmungslosen Notenkampf um einen diengangs - national wie international - Master-Platz. mit langen Nächten ohne Zweifel einfacher geworden. und einigen Sterni FSU-Präsident Walter Rosenthal relati- Lehre am Limit? viert die Kritik an Bologna ebenso: „Die im Para ins Studium Abschlüsse der deutschen Universitäten Aber welches System ist nun besser? Wie haben noch immer den gleichen hohen so oft sind die Änderungen durch Bologna reinwachsen. Stellenwert – im Inland wie im Ausland. eine Frage der Perspektive. Die Reform Stattdessen hat Bologna wichtige Impulse hat das Studium zumindest transparenter für die Weiterentwicklung der Hochschul- gemacht. Die Lernziele der Module sind Kritiker:innen monieren mit Bologna systeme in Europa gegeben und der In- nun ebenso klar wie die Inhalte und öf- den Abschied vom Bildungsideal Wilhelm ternationalisierung neue Möglichkeiten fentlich einsehbar. Im Rahmen der Qua- von Humboldts, in dem die ganzheitliche eröffnet.“ litätssicherung hat Andi zudem an Ein- Ausbildung und die Idee der Einheit von Um Bologna wird viel Drama gemacht. fluss gewonnen und kann sich mit seinen Forschung und Lehre im Vordergrund Rosenthal hält davon nichts: „Der Unter- Kommiliton:innen aktiv an der Evaluati- stehen. Der Bologna-Prozess zielte hinge- gang des Abendlandes, der mit der Über- on und Verbesserung seines Studiengangs gen darauf ab, möglichst schnell die „Ar- führung der Diplome in das angelsäch- beteiligen. „Die Umstellung auf Bachelor beitsmarkteignung” von Andi herzustel- sische Bachelor/Master-System ausgeru- und Master war anstrengend und wie alle len. Die geistige Entwicklung junger Men- fen wurde, hat nicht stattgefunden.“ Die Universitäten stöhnen auch wir über die schen wird damit von einem normativen Erfolge sind da, doch bleiben auch Pro- Anforderungen für die Systemakkreditie- Wert zur kapitalistischen Ware. bleme. Andi wird das Ende des Bologna- rung“, so Walter Rosenthal, Präsident der Der gewachsene Prüfungsdruck ist eine Prozesses während seines Studiums ver- FSU. Doch bringt die detailliertere Ord- Konsequenz von Bologna: Alle Noten zäh- mutlich nicht mehr erleben. Auch über 20 nung der Studiengänge für die Geschichts- len. Während Andi schon im ersten Se- Jahre nach dem Treffen in der Stadt der studentin mehr Orientierung oder mehr mester Höchstleistungen erbringen muss, Lasagne tut der Prozess, was ein Prozess Knebelung? Was für den Germanisten konnte Birgit noch mit langen Nächten eben tut: Er verändert. Der FSU-Präsident die helfenden Leitplanken auf dem Weg und einigen Sterni im Para ins Studium bestätigt: „Wir sind noch mittendrin.“ zum Abschluss sind, mögen für die Sozi- reinwachsen. Bevorzugt Andi seinen per- ologin der modularisierte Käfig des ei- manenten subtilen Leistungsdruck mit Lukas Hillmann und genen Studienfachs sein. Präsident Ro- mehreren Bugwellen über das gesamte Leonard Fischer senthal bestätigt: „Die Bologna-Reform Bologna-Studium hinweg? Oder hätte er Anzeige
Uni & Stadt / 7 UNI MIT ANHANG Lotte und Kids - sieht eigentlich ganz spaßig aus... Foto: Benjamin Fuchs Überforderung kennen wir Gesprächs passt ihre Schwester auf das leistungsstärkste Rechner mal heiß läuft, vermutlich alle. Doch wie Nesthäkchen, die eineinhalbjährige Ra- berichtet auch Charlotte von Momenten, in chel, auf. Ihre Familie stütze und fede- denen sie eigentlich mal gar nichts mehr ist es, wenn im eigenen noch re so einiges ab. Kinder im Studium zu machen wolle. ein anderes kleines Leben bekommen, sei eine bewusste Entschei- In Momenten, in denen „typische” Stu- unterzubringen ist? Zwei Stu- dung gewesen. „Ich wusste schon, was auf dierende sich vielleicht hinlegen oder auf mich zukommt.“ Mittlerweile streitet sie ein Bier mit Freunden treffen würden, dierende mit Kind erzählen sich manchmal sogar mit ihrem Partner, muss eben noch ein Vier-Mann-Haushalt davon. wer die Kleinen zum Mittagsschlaf bet- versorgt, bekocht und organisiert werden. ten dürfe. Charlottes Freundeskreis hat inzwischen jedoch auch größtenteils Nachwuchs und Es ist zehn Uhr morgens und während Wie finanziert sich so ein so treffen sie sich dann eben mit den Kin- sich typische Studierende gerade aus den Familienunternehmen? dern, zum Beispiel zu Spieleabenden da- Laken schälen, toben und rollen ein paar heim bei Charlotte und ihrem Mann. Die Hosenscheißer schon munter über den Weniger glatt lief die Finanzierung des Mütter, die Hannah in ihren Mutter-Kind- Spielplatz. Die dazugehörigen Eigentü- Baby-Projekts: Nach der Geburt von Han- Kursen kennenlernte, waren meist älter mer wirken teilweise etwas weniger en- nahs älterem Sohns beantragte sie ALG als sie und studierten auch nicht. Da habe ergiegeladen. Charlotte Fuchs hingegen 2 und musste bis vors Sozialgericht zie- es nicht so viele Berührungspunkte ge- kommt mir lächelnd mit einem Bündel hen, um ihr Recht geltend zu machen. Oft- geben. Vom typischen Studierendenle- am Oberkörper entgegen. Von selbigem mals habe man in den entsprechenden ben mit Freiheit, und Spontaneität ver- ist – oh Wunder! – während des ganzen Ämtern selbst nicht gewusst, wie ihr Fall abschiedete Hannah sich sehenden Auges. Gesprächs nicht ein Mucks zu hören. nun zu behandeln sei: „Wenn man Stu- Dass sie das zumindest vor der Schwan- Charlotte, 28, ist nicht nur zweifache Mut- dent ist, ist die Sozialhilfe nicht wirklich gerschaft mal ein paar Jahre lang hatte, ter und studiert, sondern war 2017/18 auch auf einen zugeschnitten.“ Dass die Finan- war für Charlotte wichtig. Das würde ihr Chefredakteurin des Akrützel. Die frohe zierung eines Studiums mit Nachwuchs ansonsten heute fehlen. Botschaft, schwanger zu sein, überbrachte schwierig werden könnte, wussten sie Denkt man an Studierende mit Kind, fällt sie der Redaktion, passend zur Ausgabe und ihr Freund schon vorher. Dafür ist einem vielleicht ein quengelndes Balg in 377 mit dem Titelthema: „Projekt Baby“. sie zeitlich flexibler als Vollzeit-Berufstä- einem Vorlesungssaal ein, das bei hoch- Anfangs, erzählt sie, sei sie unsicher gewe- tige, findet Hannah. konzentrierten Studierenden wahlweise sen, ob ein Studium mit Kind zu schaffen Während viele Studierende schon mit ein „Ooooh, süß“ oder genervte Blicke aus- sei. Trotzdem nahm Charlotte das Aben- der Organisation ihres eigenen Lebens löst. Als Lotte die kleine Alva mit in die teuer Familie und ihre Studien (ja, richtig, manchmal überfordert sind, scheinen Uni nahm, reagierten ihre Dozierenden sie studiert zwei Studiengänge parallel) sowohl Charlotte als auch Hannah ih- hingegen verständnisvoll. Vielleicht ist so einfach in Angriff. Das habe echt gut ge- ren ganzen Trupp irgendwie zu wuppen ein Studium mit Kind doch viel weniger klappt. Natürlich fehle mit zwei Rabauken und trotzdem noch gute Laune zu haben. kompliziert, als man es sich als ungebun- manchmal die Ruhe zum Lernen. „Man Auf die enorme Verantwortung angespro- dener, in den Tag lebender Millennial so muss die Zeit, die man hat, aktiv nutzen“, chen, die so ein Kind mit sich bringt, re- vorstellt. Für Hannah, deren Tochter ich sagt Charlotte. agieren beide mit Pragmatismus: „Man manchmal im Hintergrund quieken höre, So geht es auch Hannah, 26, die mit ih- wächst rein“, meint Charlotte, und Han- ist es eine Frage der Perspektive: „Wenn ren zwei Sprösslingen in Erfurt wohnt und nah stört auch eine chaotische Wohnung man Kinder will, dann passt es auch.“ schon im Master studiert. Gerade lerne nicht, wenn sie dafür einen lustigen Tag sie hauptsächlich abends. Während des mit ihrem Rudel hatte. So wie selbst der Carolin Lehmann
8 / Titel WAS MACHEN DIE EIGENTLICH? Bis zum 23. Juni haben alle Studierenden die Möglichkeit, ihre Vertreter für Stura und Senat zu bestimmen. Wir fassen kurz zusammen, was die Aufgaben der verschiedenen Stura-Institutionen sind und kommentieren, wie sie diese in der letzten Wahlperiode erfüllt haben. Der STUDIERENDENRAT (Stura) ist das zentrale Gremium, das die Studierendenschaft vertritt und einmal im Jahr neu gewählt wird. Er tagt mindestens alle zwei Wochen und hat aktuell 35 gewählte Mitglieder aus allen Fakultäten. Zu den Aufgaben gehören Satzungs- und Ordnungs- änderungen, Finanzanträge, inhaltliche Positionierungen und Wahlen von Delegierten (zum Beispiel für den Corona-Krisenstab der Uni) und Angestellten (zum Beispiel für die Chefredaktion des Akrützel). Im letz- ten akademischen Jahr betrug die Anwesenheit der Mitglieder an Stu- ra-Sitzungen circa 75 %. Nach den vergangenen Wahlen existierte eine links-grüne Mehrheit. Ob diese nach den kommenden Wahlen erhal- ten bleibt, ist fraglich, da die Grüne Hochschulgruppe überhaupt keine Kandidierenden aufgestellt hat und die Emanzipatorische Linke Liste (Elli) nur noch an zwei Fakultäten antritt. Beide Listen begründen dies unter anderem mit einem unkollegialen Umgang der Alteingesessenen mit Neumitgliedern und fehlender Kapazitäten durch die Corona-Situa- tion. Die Liste mit den meisten Kandidierenden dieses Jahr ist der Ring Foto: Tim Große Christlich demokratischer Studenten (RCDS). Der STURA-VORSTAND wird vom Gremium gewählt, um Verwaltungsaufgaben zu übernehmen. Er besteht aus drei Personen, die in ihrer Funktion unpolitisch sein sollten und eine Aufwandsentschädigung von 200 Euro pro Monat erhalten. Sie sind unter anderem dafür verantwortlich, die Stura-Sitzungen zu leiten und Materialien im Vorhinein zur Verfügung zu stellen. Der Vorstand hat seit Herbst 2020 bereits 73 mal getagt. Da viele der Sitzungen nur eine Entscheidung bestätigen, sind sie häufiger auch sehr kurz (bis zu unter eine Minute), im Durchschnitt hat eine Vorstandssitzung im letzten Jahr 8 Minuten und 30 Sekunden gedauert. Das Ehrenamt ist zeit- und arbeitsintensiv, weshalb in der vergangenen Wahlperiode gleich zwei Vorstandsmitglieder nach kurzer Zeit zurückgetreten sind. Der aktuelle Vorstand ist unpolitischer als die vorherigen, was sich auch darin zeigt, dass kaum Pressemittei- lungen herausgegeben werden und die Außenwahrnehmung auf interne Probleme beschränkt bleibt. Die Vorstandsmitglieder Jil Diercks und Jan Böhmer bei ihrer Arbeit im Stura-Büro. Jens Lagemann war beim Fototermin leider unterwegs. Fotos: Tim Große
Titel / 9 Der aktuelle HHV Sebastian Wenig im Die FACHSCHAFTSRÄTE (FSRe) sind Ver- Finanzbüro. Foto: Tim Große tretungen für Studierende eines oder mehre- rer zusammenhängender Fachbereiche ge- genüber der Fakultät, Hochschule und dem Stura. Sie haben 3 bis 13 Sitze, jedoch sind diese nicht immer ausgefüllt, wenn zum Bei- spiel nicht genügend Personen aufgestellt werden oder einige zurücktreten. Das kann sogar dazu führen, dass gar kein FSR Zustan- de kommt. Gleich vier Fachschaften können diesen Sommer keinen FSR wählen. Die Fach- schaftsräte sind in Thüringen nicht gesetz- lich vorgeschrieben, sondern über die Stura- Satzung legitimiert und haben auch eigene Geldmittel. Am bekanntesten sind sie wahr- scheinlich dafür, dass sie die Ersti-Tage und Fachschaftspartys veranstalten; ihr Engage- ment geht zumeist aber darüber hinaus. Als HAUSHALTSVERANTWORTLICHER (HHV) ist man beim Stura ange- stellt und Ansprechpartner für das Gremium, aber auch für die Fachschaftsräte, die FSR-Kom und Projekte, wie die Campusmedien. Der aktuelle HHV hat die Stelle bereits seit mehr als fünf Jahren inne, die Einarbeitung neuer Personen Der Sprecher der FSR Kom, Samuel Ritzkowski im Gruppenarbeitsraum. ist äußerst kompliziert. Die Stelle erfordert umfangreiches Wissen über Finanz- Foto: Tim Große ordnungen und Steuerrecht, weshalb es in der Vergangenheit immer wieder ge- richtliche Verfahren gab. Auch der Landesrechnungshof stellte erhebliche Män- gel in der Haushaltsführung fest. Der aktuelle Haushalt umfasst einen Etat von mehr als 400.000 Euro und setzt sich aus dem Stura-Anteil des Semesterbeitrags von derzeit 11 Euro zusammen. Die REFERATE existieren für einzelne Themenbereiche, wobei laut der Stu- ra-Webseite sechs von 16 Referaten unbesetzt sind. Derzeit existieren folgende Referate: interkultureller Austausch (unbesetzt), Gleichstellungsreferat, Refe- rat gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Hochschulpolitik (unbe- setzt), Inneres (unbesetzt), Informationstechnologie (unbesetzt), Kulturreferat, Lehrämter, Menschenrechte, Öffentlichkeitsarbeit, Promotionsstudierende (un- besetzt), Queer-Paradies, Soziales, Sportreferat, studierende Eltern (unbesetzt) und Umweltreferat. Coronabedingt blieb die Außenwahrnehmung der Referatsarbeit im vergange- nen Jahr gering. Das Öffentlichkeitsreferat hat mittlerweile Instagram entdeckt und konnte dort innerhalb kürzester Zeit respektable 1100 Follower gewinnen. Diese PR-Arbeit scheint aber zu Lasten traditioneller Aufgaben, wie der Kom- Die FSR-KOM, stand ursprünglich kurz für munikation mit Medien und der Herausgabe von Pressemitteilungen zu gehen. Fachschaftsräte-Kommunikation, ist die Ver- In den lokalen und regionalen Medien blieb die Stura-Arbeit weitgehend unter sammlung aller Fachschaftsräte der Universi- dem Wahrnehmungshorizont. Das Gleichstellungsreferat stach zuletzt mit sei- tät. Dabei hat jeder FSR eine Stimme, die durch nem Einsatz für kostenlose Menstruationsprodukte auf Unitoiletten durch, und eines oder mehrere Fachschaftsmitglieder das Queer-Paradies unterstützt immer wieder queere Veranstaltungen in ganz wahrgenommen wird. Die Entsandten tref- Thüringen, oft auch nur mit seinem Logo. Einige Referate sind zwar aktiv, teilen fen sich während der Vorlesungszeit einmal ihre Arbeit aber nicht auf der Website oder im Tätigkeitsbericht mit. im Monat, um sich untereinander auszutau- schen, aktuelle Probleme zu besprechen und gemeinsame Projekte zu planen. Die FSR-Kom verfügt auch über eigene Mittel und kann da- ARBEITSGRUPPEN sind einzelnen Referaten untergeordnet und beschäfti- raus zum Beispiel Materialien kaufen, die für gen sich mit einem konkreten Thema. Zurzeit gibt es drei: AG Haushalt, AG Haus FSR Veranstaltungen ausgeliehen werden kön- auf der Mauer und AG Semesterticket. Die AG Haushalt beschäftigt sich logischer- nen. Darunter unter anderem 19 Glühweinko- weise jedes Jahr, in Absprache mit dem Haushaltsverantwortlichen, damit, den cher, zwei Drohnen und eine (defekte) Hüpf- nächsten Haushalt vorzubereiten. Die AG Semesterticket besticht durch ihre burg. Die Kom verfügt jährlich über einen häufige Aktivität, wenn zum Beispiel das Semesterticket neu verhandelt wer- Mitteltopf von etwa 20.000 Euro. den muss, was fast jedes Jahr der Fall ist. Ariane Vosseler und Tim Große
10 / Titel REVOLUTION ODER Kommentar KONFORMISMUS? Verwaltungsorgan oder po- einer gemeinsamen, realpolitischen Lö- zu sprechen. Es stellte sich aber heraus, sung interessiert? Der Jungunternehmer- dass die meisten Fragenden nicht so un- litisches Gremium - Eine Po- geist des RCDS traf auf die linksemanzi- abhängig waren wie zunächst angenom- diumsdiskussion zur Stura- patorische Minirevolution der Ellis. Es men. Es wurden Fragen gestellt, die darauf Wahl zeigt, wie stark das war nicht völlig klar, wieso ausgerech- abzielten, Kandidierende aufgrund von oberste studentische Gremi- net bei dem Thema „digitale Uni“ nur die- Handlungen in der Vergangenheit zu dis- ser eine Streitpunkt identifizierbar war. qualifizieren. Fehlende Anwesenheit bei um in Jena gespalten ist. Man wurde jedoch das Gefühl nicht los, Stura-Sitzungen, unpassender Umgangs- dass dieser Konflikt historisch gewach- ton während der Sitzungen oder unfaire Hurra, endlich wieder Wahlen! Ein gan- sen und deshalb ohne Vorwissen nicht Verteilung von Redeanteilen sind nur ei- zes Jahr mussten wir warten. Ein ganzes zu verstehen ist. nige Beispiele von Vorwürfen, die man Jahr ohne spannende Uniwahlkämpfe. Das zweite Thema des Abends war ähn- sich jenseits von inhaltlicher Diskussion Ein ganzes Jahr ohne Wahlaufforderungs- lich emotional aufgeladen. Es wurden Ser- um die Ohren schmiss. mails, die man nur zur Kenntnis nimmt, viceleistungen des Sturas diskutiert. Auch Dieser Konflikt lässt sich zusammen- um sich zwei Wochen später darüber zu hier gab es einen breiten Konsens darü- fassen. Es gibt zwischen den verschie- wundern, dass sich auch dieses Jahr der ber, dass der Stura nahbar und für die denen Seiten des Sturas keinen Konsens Wahlzettel nicht von allein ausgefüllt hat Studierenden da sein müsse. Doch wie- mehr, innerhalb dessen man über Inhalte und die Wahlbeteiligung wieder unter der gab es einen Streitpunkt: Während sprechen könnte. Jeder Versuch, sich über 25% liegt. Zum Auftakt der diesjährigen der RCDS und die Liste AEM das Geld für konkrete Ziele oder Pläne auszutauschen, Wahlen wurde eine Podiumsdiskussion eine unabhängige Rechtsberatung für Stu- führt zu einer Grundsatzdebatte. Solche mit mehreren Kandidierenden verschie- dierende nicht aufwenden wollten, wa- Diskussionen über Herangehensweisen dener Listen veranstaltet. Wer diese nut- ren die Ellis davon überzeugt, dass die- sind wichtig, aber man sollte sich ihrer zen wollte, um sich das erste Mal mit The- se für eine autonome Studierendenschaft bewusst sein. Ob der Stura nur ein Ver- men und der Zusammensetzung des Sturas notwendig sei. Und wieder kommt es zu waltungsorgan oder ein politisches Gremi- zu beschäftigen, hat sich wahrscheinlich dem selben Konflikt zwischen aufmüp- um ist, geht der Diskussion nicht voraus, gefühlt, als würde er das Finale einer Se- figem Stura als politisches Gegengewicht sondern muss innerhalb des politischen rie schauen, ohne die ersten Staffeln ver- zu den restlichen Uniorganen oder dem Streits getroffen werden. Die jetzigen Stu- folgt zu haben. Stura als Verwaltungsorgan in Zusammen- ra-Anwärter:innen scheinen aber diesen arbeit mit der gesamten Universität. Aber Schritt überspringen zu wollen. Anstatt Foto: FSU Jungunternehmergeist trifft diesmal wird die historische Komponente sich explizit mit der Rolle des Sturas zu auf linksemanzipatorische klarer: Es gab bereits eine unabhängige beschäftigen, wird sie der Debatte voraus- Minirevolution vom Stura finanzierte Rechtsberatung, die gesetzt. Jedem, der nicht die eigene Vor- aber im letzten Jahr aufgrund von Haf- stellung des Sturas vertritt, wird somit die Am Donnerstagabend trafen sich sie- tungs- und Finanzierungsproblemen ein- Legitimation abgesprochen, überhaupt an ben Kandidaten, sogar eine Kandidatin gestellt wurde. Im Laufe der Zeit wurde der politischen Diskussion teilzunehmen. und ca. 30 weitere Menschen, die zu- selbst denjenigen, die in den letzten Jah- Wenn die andere Seite keine Legitimati- nächst schienen, als seien sie unabhän- re keine Stura-Sitzungen verfolgt haben, on hat, gibt es auch nichts mehr, worüber gige Zuschauer:innen. Neben der Eman- klar: Es geht hier nicht um Inhalte, son- man mit ihr diskutieren könnte und der zipatorischen Linken Liste (Ellis) und dem dern um Konfliktaufarbeitung. Innerhalb politische Konflikt wird zu einem emoti- Ring Christlich Demokratischer Studenten des Sturas gibt es emotional aufgeladene onalen Streit. Der Stura sollte sich seiner (RCDS), den zwei größten Listen, waren Unstimmigkeiten darüber, was der Stura unbestimmten Rolle bewusstwerden und auch Volt, die Liste 42, Aktiv, Engagiert sein sollte. Unstimmigkeiten, die inhalt- lernen, über sie zu reflektieren. & Motiviert (AEM) und der Rote Campus liche Diskussionen unmöglich machen. vertreten. Das erste Thema: Digitalisie- Johannes Vogt rung und Uni nach Corona. Nachdem alle Streit über die Rolle des Sturas verkündeten, dass man niemanden wäh- zulassen rend und nach der Coronakrise verges- sen dürfe und ausgerechnet man selbst Dieser Konflikt gipfelte gegen Ende diese Weitsicht hätte, kam es zur ersten der Podiumsdiskussion darin, dass die Kontroverse: Wie soll sich der Stura zum Zuschauer:innen Fragen stellen konn- Unipräsidium verhalten? Konsequent und ten. Eigentlich würde man denken, dass aufmüpfig, für die Interessen der Studie- gerade darin eine Möglichkeit läge, jen- renden oder komprommisssuchend an seits von Grabenkämpfen über Inhalte
Titel / 11 Titel / 11 STURA-BINGO STURABINGO Bühne frei für das Kasperletheater der Hochschulpolitik! Vergesst Politikkabarett und gebt euch eine Wir haben Dröhnung euchWir Stura! diehaben besten Phrasen einige aus Phrasen ausden der vergangenen Sitzungen letzten Sitzung für zusammengetragen. euch zusammengetragen, die ga- Schautimmer rantiert selbstwiederkehren. vorbei, wenn ihr vorbei, Schaut die Nerven habt: wenn ihr Zweiwöchentlich Nerven dienstags habt: Dienstag, 13. 18:15 Februar um 18:15Uhr. Uhr im Seminarraum 114 am Campus; in der Vorlesungszeit alle zwei Wochen. „Ich habe ehrlich ge- „Paragraf zwei besagt sagt keinerlei Ahnung. „Wir verschwenden „Ich sowas mahne,wie:dieDie Daten- Ich habe mich mit dem hier sinnlos Zeit!“ schutzbestimmungen Studierendenschaft – Thema nicht auseinan- einzuhalten!“ Ja, das ist es im weite- dergesetzt.“ ren Sinne.“ „Also ich sag mal so: „Das‘38 Von ist,bis mit‘45 Verlaub, haben „Keine Nazivergleiche „Mal sehen, welches der dümmste auch Antrag viele nichts „Hört man bitte!“mich?“ „Bitte nichtKind kleine in den Chat eher aller Zeiten““ gesehen.“ schreiben!“ gewinnt.“ „Die Lösung ist offen- „Ich hab ja auch mal „Ich weiß nicht, worü- sichtlich, ich versteh vier Semester Jura ber wir abstimmen.“ die Diskussion nicht!“ studiert...“ „Sorg doch mal für „Ich fechte die Ent- „Dann würde ich an der „Wurdest du gerade Ruhe!“ „Jetzt wiederder scheidung zur Stelle eine Gegenrede überfahren?“ sachlichen Sache“ Sitzungsleitung an!““ einlegen.“ „Wer ist jetzt dafür, dass wir die Abstim- „Dann „Ich kommen würde wir ganz kurz „Ich geh jetzt, ich kann mung abbrechen und zurumAbstimmung ein Time-Outüber nicht mehr, ich hab zurück in die Debatte die Abstimmung bitten.“ zum Kopfschmerzen.“ springen?“ Änderungsantrag““ Schweineillustration: Martin Emberger Zeichnung: Martin Emberger „Ich würde euch bitten, „Bitte nur MdStura ab- den Tagesordnungs- „Ich beantrage die punktstimmen!“ zu vertagen, Feststellung der „Ich finde das traurig!“ dann kann ich beruhigt Beschlussfähigkeit.“ nach Hause gehen.“ Erstellt von Martin Erstellt vonEmberger, Tim Große Martin Emberger und Lukas Hillmann Fo- tos: Alexej Kosin
FÜR DEN INHALT DIESER WAHLBEILAGE IST DER
ER FSU-STURA VERANTWORTLICH, NICHT WIR!
IMMER DIE BESTE WAHL AKRÜTZEL
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20 / Uni & Stadt BOCK ZU GRÜNDEN? Das ist Benny Beyer. Einfach zu jenkultig. Foto: Tabea Volz 40 Prozent mehr Studieren- Dienstleister-Unternehmen boostcamp Möglichkeit für sich selbst sieht, das zu ma- hat sich darauf spezialisiert, Start-ups chen.“ Die hätten ihr bis zu dem Zeitpunkt de haben sich 2020 mit einer zu helfen, die vertriebliche Aufgaben gefehlt. Auch wenn es an der Uni viele An- Gründungsidee an den Grün- als Dienstleistungen auf Honorarbasis gebote zur Gründungsunterstützung und derservice K1 gewandt. Viele vergeben möchten. Diese definierten dem Themenkomplex Start-up gibt, habe Projekte werden dann dem boostcamp- sie diese zuvor nie wirklich wahrgenom- Studierende träumen von Netzwerk, das vor allem aus Studierenden men, da sie noch nicht richtig im Thema Selbstständigkeit und davon, besteht, zur Verfügung gestellt. Diese gesteckt habe. „Solche Angebote sollten ihre Geschäftsideen zu ver- können laut den Gründer:innen bei den einfach präsenter sein.“ Sich nebenberuf- Projekten für die Start-ups Praxiserfahrung lich in einem Start-up selbst zu verwirkli- wirklichen. Wie kann es gelin- im Verkauf sammeln und einen Einblick chen, sei eine Chance für viele Menschen. gen, während des Studiums zu in die Selbstständigkeit erhaschen. Während des Gründungsprozesses und in gründen? Für Sofie war der Schritt von der Idee den ersten Monaten danach haben sich bei bis zur Gründung spannend, da sie selbst dem jungen Start-up auch einige Probleme nicht genau wusste, wie der Prozess ab- aufgetan, die oft dazu gehören. „Die Kom- Wie es aussehen kann, wenn man sich läuft und damit zuvor nicht wirklich Be- munikation mit diversen Behörden ist et- traut, ein Start-up aufzubauen, zeigen rührungspunkte hatte. Auch eine Grün- was schwierig. Man kann nicht davon aus- Sofie und Jan, die gemeinsam the dung zog sie erst in Betracht, nachdem gehen, dass E-Mails tatsächlich beantwor- boostcamp gegründet haben. Sofie ist sie Jan, der die Idee mitbrachte, kennen- tet werden.” Momentan suchen die zwei Konstrukteurin im Sondermaschinenbau lernte. „Meistens braucht es diese exter- noch nach einer Person, die das Team er- und Jan studiert BWL an der EAH. Das nen Impulse, damit man überhaupt eine weitert, da sich der dritte Mitgründer aus
Uni & Stadt / 21 persönlichen Gründen vor kurzem zu- zweiter Stelle. „Wenn wir beraten, wol- staltung der Räumlichkeiten mitgewirkt, rückgezogen hat. len wir zunächst die Idee verstehen und wodurch eine besondere Wertschätzung Hilfe bei der Gründung haben Sofie die Motive und Ziele der Gründer:innen entstanden sei. Eine Community-Mitglied- und Jan bei dem Netzwerk JenConnect kennenlernen“, sagt Schindek. Er emp- schaft kostet 24 Euro pro Monat. Um ei- bekommen. Das ist eine Plattform von fiehlt, sich schon während des Studiums nen Arbeitsplatz nutzen zu können, be- Gründer:innen für Gründer:innen, um mit der Gründungsthematik auseinander- nötigt man zusätzlich eine Tageskarte für diese bei Problemen und Anliegen zu un- zusetzen, um die Chancen und Perspekti- 24 Euro. Diese beinhaltet auch Getränke, terstützen. Das Ziel ist die Vernetzung von ven der Selbstständigkeit kennenzulernen. Internet und die Nutzung eines Druckers. jungen Gründer:innen, damit sich diese Dafür sei das Unternehmensgründungs- Für Studierende oder Start-ups werde ge- gegenseitig helfen und ergänzen können. Seminar von Professor Lutz Maicher hilf- rade noch an passenden Tarifen gearbei- Das Netzwerk wurde Ende 2020 von Ju- reich. Studierende können dort mit Men- tet. In Zukunft sollen sich Start-ups mit ei- stin Meißner und Jonas Schneider ent- schen, die eine Gründungsidee haben, in ner Idee beim Kombinat bewerben kön- wickelt. Diese hatten immer wieder fest- Kontakt kommen und in manchen Fäl- nen und dann temporär einen Arbeits- gestellt, dass sich geknüpfte Kontakte in len auch zu Mitgründer:innen werden. platz ermöglicht bekommen. der Szene schnell verlieren. „Obwohl man Durchschnittlich betreut der Gründer- sagt: Ja, wir bleiben in Kontakt – das pas- service 50 neue Gründungsvorhaben pro Co-Working als Katalysator siert nicht.“ Ihre Plattform will durch feste Jahr. In den letzten fünf Jahren sind da- Strukturen verhindern, dass dieser Kon- durch 51 Kapitalgesellschaften hervorge- Letztendlich sei der Co-Working-Space takt wegbricht und Austauschmöglich- gangen. 45 davon existieren heute noch. aber immer nur ein Katalysator, bis keiten für Mitglieder bieten. Schneider „Dies entspricht einer erfreulich hohen ein Unternehmen eine gewisse Größe und seine Kollegen organisieren wöchent- Überlebensquote von 88%.“, sagt Schindek. erreicht habe. Wenn ein Unterneh- lich Expertenvorträge über Themen wie men groß genug ist, gebe es in Jena Verkaufspsychologie, Finanzen und Ver- Wie wollen wir in Zukunft das Problem mangelnder Gewerbe- sicherungen. Außerdem findet einmal im arbeiten? flächen und zu wenig Wohnraum für Monat ein offenes Treffen statt, bei dem Mitarbeiter:innen. Gleichzeitig sei es Interessierte sich austauschen können. Unverputzte Wände, Samtsofas, Obstkör- das Ziel von Thüringen, „zu verhindern, Die Pandemie hat den beiden sogar ge- be und iMacs. Man muss nicht nach Ber- dass die guten Leute gehen“. Thüringen holfen zu gründen. Da die Events online lin-Mitte fahren, um das Start-up-Flair zu sei deutschlandweit abgehängt in Bezug organisiert wurden, mussten die Gründer spüren. Im Westbahnhof erstreckt sich auf Co-Working-Spaces. Beyer sieht Po- erst mal keine Location organisieren und auf 800 Quadratmetern ein „Co-Working- litik und Wirtschaft in der Verantwor- bezahlen. „Ich bin mir zu 100 Prozent si- Space“, also ein geteilter Arbeitsplatz. In tung, Co-Working zu fördern. Im Kombi- cher, wenn es den Lockdown nicht gege- der ehemaligen Wohnung des früheren nat soll demonstriert werden, dass das ben hätte, würde es JenConnect nicht ge- Bahnhofsvorstehers befindet sich heute gemeinschaftliche Arbeiten eine Stadt ben”, resümiert Schneider. das Kombinat 01. Freiberufler, Start-ups, bereichert und die Stadtentwicklung Vereine, aber auch etablierte Firmen kön- prägen kann. „Die Menschen haben die Starthilfe für Start-ups nen hier Arbeitsplätze oder Konferenzräu- Möglichkeit, an dem Ort zu arbeiten, wo me buchen. Benny Beyer, Geschäftsfüh- sie leben, oder an einem Ort zu arbeiten, Bis aus einer Idee ein Unternehmen wer- rer des Kombinats erklärt, dass Menschen an dem sie sich wohlfühlen.“ den kann, ist ein langer Weg zu gehen. aus allen Branchen willkommen seien, Doch wer schon mal eine gute Idee hat, da die „Vielfalt eigentlich erst Synergie- Die Angst überwinden kann sich an den K1-Gründerservice wen- Effekte schafft“. Dabei geht es aber nicht den. „Wir erwarten keine fertig ausge- nur um Vernetzung und den kooperativen In Deutschland haben zu viele Menschen arbeiteten Konzepte, sondern sprechen Austausch zwischen den Menschen, son- Angst, sich selbstständig zu machen und auch gerne mit Interessent:innen über dern auch um Gemeinschaft. „Co-Working zu scheitern. Für Beyer beginne das Pro- Ideen”, erklärt Ralf Schindek vom Grün- hat natürlich den Anspruch, nicht nur blem schon in der Schule, wo Kinder „per- derservice. Nicht nur Studierende der Arbeit zu sein.” Neben ergonomischen manent eigentlich nur das nachrechnen Uni Jena, sondern auch Mitarbeiter:innen Schreibtischen finden sich im K1 noch sollen, was schon längst bewiesen ist“. Au- oder Absolvent:innen können sich beim eine Gemeinschaftsküche, eine Bar und ßerdem werde in der Schule viel gelernt, Gründerservice beraten und unterstüt- ein geplanter Dachgarten mit Ausblick was sich nicht anwenden lasse. Beyer zen lassen. Die Angebote bestehen aus auf die Kernberge. In Zukunft sind Mu- wünscht sich, dass im Bildungssystem zu- Coachings und der Optimierung des Ge- sik- und Kulturveranstaltungen geplant. künftig mehr kultiviert wird, wie Ideen schäftsmodells. Die Gründer:innen kön- Für Beyer ist es wichtig, Arbeit neu zu verwirklicht werden können. Im Kombi- nen kostenlos Büroräume nutzen und definieren. Früher sei Arbeit und Frei- nat soll Hilfe zur Verfügung gestellt wer- bekommen Kontakte zu Investor:innen zeit streng voneinander getrennt wor- den, um Ideen zu realisieren. Durch den und Mentor:innen vermittelt. Im Rahmen den, heute müsse man dieses Verhältnis Austausch mit Gleichgesinnten, Coaches des „Next Step“-Programms können Start- überdenken. Wenn jemand wirklich mo- und Mentor:innen sollen Gründer:innen ups Anschubfinanzierungen mit bis zu tiviert an einem Projekt arbeite, gingen unterstützt werden. Es müsse mehr Un- 2.500 Euro Budget erhalten. Damit kön- die Grenzen von Arbeit und Freizeit flie- ternehmergeist in Deutschland gefördert nen dann Prototypen gebaut oder exter- ßend ineinander über. werden. Für Beyer lautet die Devise: “Bau ne Berater:innen hinzugezogen werden. Zwischen 60 und 70 Personen nutzen die doch mal was auf!” Allerdings komme die Finanzierung ei- Arbeitsplätze im K1 und sind regelmäßig ner Idee für den Gründerservice erst an vor Ort. Manche haben sogar bei der Ge- Tabea Volz und Janina Gerhardt
22 / Mehr WEGEN DER PAAR AMEISEN Wie es ist, wenn plötzlich Ameisen von draußen nach drinnen drängen? Sind die Voraussetzungen für ein fried- liches Zusammenleben schon geben? Leise und heimlich, kaum merklich schli- chen sie wohl nach drinnen. Bei einem Besuch in der Heimat erfuhr ich von ih- nen via Messenger: Wir haben eine Amei- seninvasion! Eine erste gründliche Säube- rung der Küche hatte schon stattgefunden, schrieb eine meiner Mitbewohnerinnen. Ob es zu einer erneuten Invasion komme, zeige die Zukunft. Durch den Einmarsch der Ameisen ließ sich die Zeit in ein amei- senloses Davor und ein Danach mit Amei- sen einteilen. Auch der Raum war verän- dert. Als ich zurück in die WG kam, wie- sen gleich zwei Haufen Backpulver, die als Barrikaden an den Ecken des Küchen- fensters dienten, darauf hin, dass die Kü- che jeden Moment wieder von Ameisen überrannt werden könnte. Auf ihrer Su- Wacht auf, Ameisen dieser Erde. Zeichnung: Jasmin Nestler che hat sie wohl der Duft des Zufalls zu uns gelockt. Mit Neugierde beobachtete ich die vereinzelt herumirrenden Ameisen hören in die Natur, nicht ins Haus! Ist es klärte Fragen drängen sich auf: Muss ich und war erstaunt, wenn sie die Barrikaden also womöglich die Störung der Ordnung, Ameisen töten, wenn ich es kann und soll aus Backpulver am Fenster überwunden die empfindliche Grenzüberschreitung, ich, wenn ich es darf? Oder ist ein fried- hatten und doch wieder aufgetaucht waren. die durch die Ameisen vollzogen wurde, liches, gar ein symbiotisches Miteinander die ins Bewusstsein rief, dass Kategorien möglich? Das Dazwischen ist ein Ort, der Ameisen gehören in die Natur wie Draußen und Drinnen nur durchläs- nicht abgeschlossen und endgültig ist, in sige Vorstellungen sind und alles, vor dem dem ersichtlich werden kann, dass alles Gleichzeitig war mir klar, dass die Ameisen man Schutz gesucht hatte, jeden Moment auch anders sein könnte. Also, wie sähe das nicht in eine Küche gehörten. Doch warum erneut zurückkehren kann? Dann könnte Zusammenwohnen mit den Ameisen aus, nicht? Ist es wegen der Hygiene und der wieder die gewaltsam animalische Natur wenn es keine zweite und diesmal vernicht- Angst vor den Krankheiten, die sie mög- über alles herrschen. Die kleinen Ameisen ende chemische Säuberung gegeben hätte? licherweise übertragen könnten? Beruht haben mit ihrem Einbruch in die Küche ein- Bei einem Gespräch über die Frage nach die Feindseligkeit gegenüber Ameisen im drücklich widerlegt, dass eine Wohnung einem gemeinschaftlichen Zusammenwoh- Haus auf der Scham, als unsauber zu gel- zwangsläufig und unbedingt ameisenfrei nen mit Ameisen meint meine zweite Mitbe- ten? Gehören Ameisen nicht in die Küche, sein muss und es nur in der Natur Ameisen wohnerinnen, dass wir sie dann vermensch- weil sie Lebensmittel befallen könnten und zu geben hat. Meine erste Forderung lau- lichen würden. Weshalb dann nicht genau- deshalb einen tiefen Ekel wecken? Sind sie tet deshalb: Die Kategorien sollen verdreht so mit Ameisen zusammenleben wie mit Konkurrentinnen um Nahrung? Oder stel- und verknotet werden, damit das Draußen Menschen? Von dieser vagen Vorstellung len Ameisen in der Wohnung einen Kontroll- und Drinnen sowie das Davor und Danach leite ich meine zweite Forderung ab: Amei- verlust dar und lassen deshalb an allerlei zum Dazwischen werden können. sen sollten wie Menschen behandelt wer- Bedrohungen erinnern? Liegt es womög- Im Dazwischen bin ich als Mensch in eine den. Ameisen sind arbeitsam, altruistisch, lich an der Trennung zwischen Draußen sonst verdrängt prekäre Lage zurückgewor- manchmal befremdlich und gewalttätig, und Drinnen, durch die es möglich ist, Ei- fen und werde an die Natur meiner Leib- genauso wie Menschen es auch sein kön- genschaften und Verbote dem Drinnen lichkeit erinnert. Menschen und Ameisen nen. Während wir weiter fabulieren, sind und Draußen zuzuordnen – Ameisen ge- stammen aus derselben Natur. Auch unge- wir uns schnell einig: Um gemeinsam in ei-
Klassiker / 23 Klassiker ner wenigstens erträglichen Koexistenz mit Ameisen zu wohnen, bedarf es wie unter Menschen einer Möglichkeit der Kommu- nikation. Die Kommunikation müsste dann über Duftstoffe stattfinden, weil Ameisen In dieser Serie widmen wir den vermeintlichen über Duftstoffe kommunizieren, sagt mei- und echten Meisterwerken ne Mitbewohnerin. unsere Liebeserklärungen und Hasstiraden. Diesmal: Ukulele. „Somewhere over the rainbow, way up high“ schwang mir in gitarren- ähnlichen Klängen entgegen, als ich zusammen mit meiner Mitbewoh- Muss ich Ameisen nerin im Park auf einer Decke vor mich hin döste. Ah, wieder mal Uku- lelen-Klänge, das hawaiianische Trend-Instrument der links-grünen töten, wenn ich es Studentenszene. Sofort dachte ich an typische Ukulelen-Lieder wie „Rip- kann und soll ich, tide“ von Vance Joy oder “I’m Yours” von Jason Mraz und bekam auf- grund dieser ausgelutschten Radio-Dauerbrenner innerlich das Gefühl wenn ich es darf? von Genervtheit. Dass die kleine Kastenhalslaute, die sich von der Gi- tarre durch ihre 4 Saiten unterscheidet, jedoch bereits seit den 1990ern in Deutschland an Popularität gewann und heute in allen Generationen Als wir die Duftstoff-Kommunikation wei- einen Kultstatus besitzt, erklärt mir meine Mitbewohnerin erst kurz da- ter durchdenken, stellen wir fest, dass wir rauf. „Wusstest du, dass Ukulele zu Deutsch „Hüpfender Floh“ heißt? We- an einer ungelösten Menschheitsfrage ange- gen der schnellen Griffwechsel der Finger.” Süß, denke ich mir, irgend- langt sind: Wie sollen wir mithilfe von Duft- wie ganz amüsant. stoffen mit Ameisen kommunizieren, so Der exotische, hohe Klang verursacht bei mir, soweit die Musiker:innen dass sie verstehen, was wir von ihnen wol- auch gesangstechnisch begabt sind, eine entspannte, harmonievolle Stim- len und umgekehrt? Vielleicht wäre eine mung. Aber dennoch bin ich hochsensibel gegenüber falsch gespielten Menschameise, also ein Hybrid aus Amei- Saiten und unstimmigen Gesangskünsten. Wie entstand die Faszinati- se und Mensch, hilfreich? Sie könnte dann on für dieses aus Holz (originalerweise hawaianisches Koaholz, wie mir als Dolmetscherin fungieren. Bis es aber meine Mitbewohnerin beipflichtete) und Nylonsaiten bestehende Zupf- Menschameisen gibt, könnte man auf die instrument? Ohne zu bestreiten, gilt: Die Ukulele ist unkompliziert zu schon lang erprobte Kultur des politischen erlernen, simpel zu transportieren, kostet verhältnismäßig wenig und Diskurses und Argumentierens zurückgrei- es gibt sie, je nach Fingerbreite und Geschicklichkeit, in verschiedenen fen. Zwar scheint mir, dass momentan noch Größen. Hab ich demzufolge Gegenargument, dem Hype der Ukulele die vernichtenden Argumente in unseren nicht auch zu verfallen? Händen liegen, doch in der Menschheitsge- Nach ein paar Stunden im Park mit den Klängen der Ukulele im Ohr und schichte konnten die Schwächeren schon den überzeugten Worten meiner Mitbewohnerin fühlte ich mich trotz so manchen Sieg erringen. Deshalb forde- anfänglicher starker Abneigung kreativ inspiriert und herausgefordert. re ich solidarisch: Wo Ameisen erscheinen, Ich bestellte mir eine Sopranukulele aus Mahagoniholz und startete mit sollten sie ihren Staat errichten können! dem leider doch sehr stereotypen Cover „Let it be“. Denn wie auch schon Erst wenn es den Ameisen auch möglich der verstorbene Beatle George Harrison sagte: „Everyone should have ist, ihre Präsenz offen und selbstbewusst and play a ‘UKE‘ […] it is one instrument you can’t play and not laugh!” in der Küche zu vertreten, kann ihre Stim- me gehört werden, denn der Küchentisch Elsa Worsch ist das Zentrum der Demokratie. Betrübt und doch erleichtert stelle ich fest, dass ich mich im entscheidenden Moment arbeitsam in meinem Zimmer befand und so mit meinem Nichteingreifen für die Säu- berung und gegen den Ameisenstaat in der Küche stimmte. Für ein gutes Zusammen- leben ist es manchmal klüger, etwas nicht zu politisieren, beschwichtige ich meine Zweifel. Dennoch plagt mich mein Gewis- sen: Wie werde ich mich nächstes Mal po- sitionieren? Wohl im Dazwischen. Collage: Elsa Worsch Lars Materne
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