Entgrenzte Freiheit Demokratisierung im ökologischen Notstand? - IGN Interventions Feb|2020 - Wirtschaftsuniversität Wien
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Entgrenzte Freiheit Demokratisierung im ökologischen Notstand? Ingolfur Blühdorn / Karoline Kalke IGN Interventions Feb|2020 Herausgegeben vom Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN) http://www.wu.ac.at/IGN/
2 Bitte zitieren als Ingolfur Blühdorn/Karoline Kalke: Entgrenzte Freiheit. Demokratisierung im ökologischen Not- stand?, IGN-Interventions Febr./2020, INSTITUT FÜR GESELLSCHAFTSWANDEL UND NACH- HALTIGKEIT (IGN), Wirtschaftsuniversität Wien, Austria. Weniger ausgearbeitete Versionen dieses Artikels sind erschienen als „Befreiung von der Mü(n)digkeit“ (Blühdorn und Kalke 2019) sowie in soziopolis unter https://www.soziopo- lis.de/beobachten/gesellschaft/artikel/entgrenzte-freiheit/. © Alle Rechte liegen bei den Autoren. Die Vervielfältigung und Verbreitung des Textes für ausschließlich wissen- schaftliche Zwecke ist erlaubt. Jede Form von Nachdruck, Übersetzung, oder anderweitige Nutzung in Medien jeglicher Art nur nach Rücksprache mit dem INSTITUT FÜR GESELLSCHAFTSWANDEL UND NACHHALTIGKEIT (IGN), Wirt- schaftsuniversität Wien, Austria. Titelfotos: The Fridays for Future climate demonstration on September 27 2019 in Stockholm. Copyright Owner: Frankie Fouganthin, License Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International, https://upload.wiki- media.org/wikipedia/commons/3/3d/Fridays_for_Future_in_Stockholm_2019.jpg; Kitesurfer. Copyright Owner: Stefan van der Kamp, License Creative Commons Attribution 3.0 Unported, https://upload.wikimedia.org/wik- ipedia/commons/a/ab/Kitesurf.jpg. Kontakt: Prof. Dr. Ingolfur Blühdorn, Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN), Wirtschaftsuniversität Wien, Welthandelsplatz 2, 1020 Wien, Österreich, https://www.wu.ac.at/IGN/; Email: IGN@wu.ac.at Entgrenzte Freiheit
Blühdorn|Kalke 3 Entgrenzte Freiheit. Demokratisierung im ökologischen Notstand? 1 Ingolfur Blühdorn / Karoline Kalke Zusammenfassung Die alten Thesen der Selbstzerstörung der Demokratie, des pervertierten Liberalismus und der Unverzichtbarkeit des autoritären Umweltstaates sind beunruhigend aktuell: In modernen Kon- sumgesellschaften entfalten sich grundlegende – gerade auch nachhaltigkeitspolitische – Zwei- fel an der Demokratie; ein demokratischer und ein ökologischer Notstand fallen zusammen, und forcieren eine Hinwendung zum Autoritären. Der vorliegende Artikel sucht nach Erklärun- gen für den doppelten Notstand und fragt, ob eine Demokratisierung der Demokratie noch ei- nen plausiblen Ausweg bietet. Eine wesentliche Ursache der beobachteten Tendenzen sieht er in der Entgrenzung von Freiheits- und Berechtigungsansprüchen, die er ihrerseits unmittelbar mit der Verabschiedung des aufklärerischen Ideals der Mündigkeit in Verbindung bringt. Beide zusammen, argumentiert er, entziehen sowohl der Demokratie als auch dem Projekt einer so- zial-ökologischen Transformation den Boden. Die digitale Revolution vollendet den Abschied von der Mündigkeit, beschleunigt die Entgrenzung der Freiheit und führt die Idee einer Demo- kratisierung der Demokratie ad absurdum. Stattdessen entfaltet sich die mehrheitsautoritäre und exklusionsdemokratische Sicherung der sozial-ökologischen Nicht-Nachhaltigkeit. 1 Wir danken den anonymen Gutachter*innen sowie Hauke Dannemann und Michael Deflorian für ihre konstruk- tiven Kommentare zu früheren Textfassungen. IGN Interventions Feb |2020
4 1. Einleitung Regierungen stellen offen die Prinzipien der Pressefreiheit, Gewaltenteilung, Rechtsstaat- Platon hatte gewarnt, dass die Demokratie „an lichkeit und die allgemeinen Menschenrechte dem unersättlichen Streben nach ihrem höchs- in Frage. David van Reybrouck stellt in einem ten Gut“, der Freiheit, letztlich zugrunde gehen Bestseller mit dem Verweis auf das „Recht auf und in die Tyrannis einmünden werde; denn kompetentes Regieren“ sogar das allgemeine „die Unersättlichkeit“ und „ein Übermaß von und gleiche Wahlrecht zur Diskussion (van Rey- Freiheit“ schlügen unvermeidlich in die „här- brouck 2016). Und in der umwelt- und klimapo- teste Knechtschaft“ um (Platon 1982, S. 389– litischen Literatur erleben autoritäre Ansätze 391). Karl Polanyi, dessen Werk für die jüngste ein auffälliges Comeback (z.B. Shearman und Literatur zur sozial-ökologischen Transforma- Smith 2007; Beeson 2010; Wainwright und tion zu einem wichtigen Bezugspunkt gewor- Mann 2013; Chen und Lees 2018). Denn die den ist, führte aus, dass die „liberale Philoso- moderne Demokratie „lebt davon, sich bestän- phie“ jeden Versuch der politischen Interven- dig und in ständig wachsendem Maße Natur tion und Begrenzung „als Unfreiheit denun- einzuverleiben“ (Lessenich 2019, S. 72), und ziert“ und „als Tarnung der Versklavung ver- demokratische Systeme erweisen sich zuneh- spottet“. Auf diese Weise sichere sie eine mend als unfähig, wirklich transformative Maß- „pervertierte Freiheit“ für wenige, die schließ- nahmen zu beschließen und durchzusetzen lich aber in die „völlige Vernichtung der Frei- (Hausknost 2020). Sie erscheinen als verbots- heit“ führen werde (Polanyi 1978, S. 336–340). und vor allem begrenzungsunfähig. Doch Und einige ökologische Vordenker, die sich be- Grenzziehung, Begrenzung und Grenzeinhal- reits in den 1970er Jahren tung – vom Club of Rome be- um die ökologische Apoka- Mündigkeit ist eine notwendige Be- reits Anfang der 1970er lypse und das Überleben der dingung für die Stabilisierung der Jahre angemahnt (Meadows Menschheit sorgten (z.B. Demokratie, für eine demokratische et al. 1972) – sind heute das Hardin 1968, 1977; Heilbro- Transformation zur Nachhaltigkeit unbedingte Gebot der ner 1974; Ophuls 1977), wa- und zur Verhinderung der Flucht ins Stunde – nicht nur für ren überzeugt, dass sich die Autoritäre. Rechtspopulisten. Wissen- ökologische Krise, die sich zu schaftler*innen verweisen ihrer Zeit erst andeutete, mit demokratischen mit höchster Dringlichkeit auf nicht verhandel- Mitteln nicht beherrschen lasse, sondern letzt- bare planetary boundaries (Rockström et al. lich einen starken, autoritären Staat unver- 2009; Biermann 2012). Aktivist*innen fordern zichtbar machen werde. Alle drei Thesen – die sofortige Verbote, die resolut durchzusetzen von der Selbstzerstörung der Demokratie, die seien (Langer 2019). Angesichts des Klimanot- vom pervertierten Liberalismus und die vom stands, den inzwischen auch das Europäische autoritären Umweltstaat – sind beunruhigend Parlament bestätigt hat (Europäisches Parla- aktuell; und ganz besonders beunruhigend ist ment 2019), setzen sie vor allem auf fachkun- ihre wechselseitige Verschränkung. dige Expert*innen und einen durchsetzungsfä- higen Umweltstaat. Dabei übergehen sie den Tatsächlich entfaltet sich in modernen Kon- grundsätzlich politischen Charakter aller Grenz- sumgesellschaften eine fundamentale Krise, ziehungen (Dietz und Wissen 2009) – und be- eine Erschöpfung, der Demokratie (Crouch stätigen auf ihre Weise die tiefe Skepsis gegen- 2008; Mair 2013; Brennan 2018; Mounk 2018), über der Demokratie. die begleitet ist von einer Welle der Autokrati- sierung (Lührmann und Lindberg 2019) und ei- In diesem demokratisch-ökologischen Doppel- ner Flucht ins Autoritäre (Decker und Brähler notstand stellt sich die Frage: Was sind die Ur- 2018). In der einschlägigen Literatur ist von der sachen der demokratischen Ernüchterung? Entzauberung der Demokratie (Willke 2014) die Lässt sich die Begrenzungsschwäche der Demo- Rede, einem democratic fatigue syndrome (van kratie therapieren? Eröffnet eine Demokrati- Reybrouck 2016; Appadurai 2017), einem dis- sierung der Demokratie – eine alte Forderung, gust with democratic politics (Runciman 2018) die weiterhin aktuell ist (Lessenich 2019; Asara oder sogar vom Hass der Demokratie (Rancière 2019) – Perspektiven für die Restabilisierung 2011). Rechtspopulistische Bewegungen und Entgrenzte Freiheit
Blühdorn|Kalke 5 der Demokratie und für das Projekt einer so- Autoritäre. Sie ist unverzichtbar für das Projekt zial-ökologischen Transformation zur Nachhal- der demokratischen Selbstbegrenzung. tigkeit? Im Folgenden gehen wir der These nach, dass eine wesentliche Ursache für die – Der folgende Abschnitt konzentriert sich zu- gerade auch nachhaltigkeitspolitische – Er- nächst auf die Idee des mündigen, selbstbe- schöpfung der Demokratie in der Entgrenzung stimmten Subjekts, die seit den 1970er Jahren von Freiheits- und Berechtigungsansprüchen gerade auch für umweltpolitische Vorden- liegt, die wir ihrerseits unmittelbar mit der Ver- ker*innen im Mittelpunkt des Versuches stand, abschiedung des aufklärerischen Ideals der die ökologische Krise durch eine Erneuerung Mündigkeit (Blühdorn 2018; Blühdorn und der Demokratie in den Griff zu bekommen. Ab- Kalke 2019; Blühdorn 2020a) verknüpfen. schnitt drei beleuchtet einen Werte- und Kul- Beide zusammen entziehen sowohl der Demo- turwandel, infolge dessen die in der aufkläreri- kratie als auch dem Projekt einer sozial-ökolo- schen Idee des Vernunftsubjekts impliziten gischen Transformation den Boden. Mit diesem Vorstellungen von Mündigkeit, Verantwortlich- Ansatz wollen wir nicht eine erschöpfende Be- keit und Autonomie seit den 1990er Jahren zu- antwortung unserer Fragen bieten. nehmend als einengend oder gar als „Zumu- tung“ (Baatz 2019) wahrgenommen werden. Vielmehr wollen wir gezielt eine Denklinie ver- Abschnitt vier erkundet die Bedeutung der di- folgen, die sich komplementär zu all jenen An- gitalen Revolution, die hier insofern relevant sätzen verhält, die in herrschaftskritischer Ab- ist, als sie von der technologischen Seite her sicht vor allem die Unterdrückung und Be-gren- den Abschied von der Mündigkeit vollendet zung von Freiheitsansprüchen ins Zentrum stel- und vielleicht unumkehrbar macht. Abschlie- len. Nachhaltigkeitspolitisch ist nämlich die ßend bewerten wir die Perspektiven für eine Ent-grenzung solcher Ansprüche kein geringe- Erneuerung und Demokratisierung der Demo- res Problem. Wer aber von entgrenzter Freiheit kratie und für das Projekt einer demokrati- spricht, steht immer im Verdacht, nah an rech- schen Transformation zur Nachhaltigkeit: An ten und reaktionären Diskursen zu sein. Doch der Schwelle zur digitalen Moderne scheint die Idee der Mündigkeit, die wir hier stark ma- beides immer weniger aussichtsreich. Empi- chen wollen, und die der Freiheit die Regel ge- risch entfaltet sich vielmehr das Szenario einer ben soll, ist ein genuin emanzipatorisches Ideal. mehrheitsautoritären Verwaltung der Nicht- Und die Fähigkeit und Bereitschaft zur Mündig- Nachhaltigkeit, die einer Minderheit auch im keit – daran wollen wir erinnern – ist eine not- ökologischen Notstand ihre entgrenzte Freiheit wendige Bedingung für eine Stabilisierung der sichert. Demokratie, für eine demokratische Transfor- mation zur Nachhaltigkeit und zur Verhinde- rung der – auch umweltpolitischen – Flucht ins 2. Mündigkeit und Empowerment Die aufklärerische Idee des freien, mündigen politischen Gemeinschaften auf unterschiedli- und selbstbestimmten Menschen, dessen che Weise ausbuchstabiert und institutionali- Würde unantastbar und der das Subjekt uni- siert worden. Entsprechend begründet sie versaler Menschenrechte ist, bildet den nor- recht verschiedene Formen der Demokratie mativen Kern der Demokratie und des demo- (Held 2006; Schmidt 2008). Aber die Idee des kratischen Projekts (Blühdorn 2013). Diese Idee freien und mündigen Subjekts ist letztlich der impliziert die Freiheit und Selbstbestimmung normative Referenzpunkt jeder kritischen The- des Individuums sowie die des kollektiven Sub- orie der Gesellschaft, jeder emanzipatorischen jekts, also die Souveränität des Volkes. Sie ist Politik und aller Kriterien, an denen demokrati- zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen sche Institutionen und Systeme gemessen wer- IGN Interventions Feb |2020
6 den. Sie ist das Ziel, auf das demokratische Be- den 1970er Jahren Warnungen, dass der Ver- wegungen stets ausgerichtet waren. Solche Be- such, den normativen Begriff des autonomen wegungen werden als progressiv und emanzi- Subjekts zur zentralen Kategorie der Analyse patorisch bezeichnet, weil und insofern sie als moderner Gesellschaften und ihrer Probleme Vorkämpfer*innen dieser Norm auftreten – die zu machen, in die Irre gehe, weil die Besonder- freilich stets ein unerfülltes Ideal bleibt. heit dieser Gesellschaften sowie die Ursache ihrer Schwierigkeiten – auch der ökologischen Auch im Hinblick auf die sich entfaltende Um- – vielmehr in ihrer Ausdifferenzierung in weit- weltkrise und drohende ökologische Katastro- gehend autonome Funktionssysteme liege phen wurde der Mündigkeit bzw. dem*der (Luhmann 1971a, 1971b, 1984, 1986). Doch für mündigen Bürger*in seit den neuen sozialen die neuen sozialen Bewegungen stand die Idee Bewegungen erhebliche Bedeutung zugemes- des autonomen Subjekts und dessen demokra- sen. War noch Schumpeter mit seinem Modell tischer Selbstverwaltung nicht zur Disposition. der Demokratie als Methode zur Elitenauswahl Sie insistierten, dass moderne Bürger*innen davon ausgegangen, dass die auf dem von Kant vorgezeichneten Bürger*innen im umfassenden Weg des Auszuges aus der selbst Autonomie, Mündigkeit Sinne unmündig sind (Schumpe- verschuldeten Unmündigkeit (Kant und Selbstbestimmung ter 2008/1947), und hatten auch 1985/1783, S. 55) weit fortgeschrit- bedeuteten nicht die Ab- die liberalen, repräsentativen ten und zur Übernahme gesell- wesenheit von Herr- Demokratien der Nachkriegs- schaftlicher Verantwortung nun schaft, sondern Selbst- jahrzehnte ihren Bürger*innen sehr viel besser in der Lage seien als beherrschung. nicht viel Mündigkeit zugetraut die bis dato herrschenden politi- oder abverlangt, so insistierten schen und ökonomischen Eliten. die neuen emanzipatorischen Bewegungen seit den 1970er Jahren vehement, dass den Bür- Angesichts der technologischen und ökologi- ger*innen und der Zivilgesellschaft unverzüg- schen Gefahren, die diese Eliten – und die in- lich ihre volle Mündigkeit und ihr volles Selbst- dustrielle Moderne insgesamt – heraufbe- bestimmungsrecht zuzuerkennen sei. Die aus schworen hatten, erhoben sie das Prinzip Ver- ihrer Sicht bestenfalls in formaler Hinsicht de- antwortung (Jonas 2017/1979) zum Kernstück mokratische Ordnung sollte – gerade auch mit einer neuen Umwelt- und Gesellschaftsethik Blick auf sich abzeichnende ökologische Kri- mündiger Bürger*innen. Dieses Prinzip war ge- senerscheinungen – umfassend demokratisiert wissermaßen die ökologische Übersetzung und und die Zivilgesellschaft gegenüber dem Staat Verlängerung des kantischen Vernunftimpera- und der Wirtschaft umfassend ermächtigt wer- tivs und der kantischen Pflichtethik. Autonomie den (Kaase 1982, 1984). und Mündigkeit wurden verstanden als die Fä- higkeit zum Gebrauch einer über die persönli- Zwar hatte die schon ältere Beobachtung, dass chen Interessen der Gegenwart weit hinausrei- demokratische Systeme vor allem unter Bedin- chenden gesamtgesellschaftlichen Vernunft, gungen der ökonomischen Sicherheit und des und als die Habitualisierung von Selbstbeherr- materiellen Wohlstands besonders gedeihen schung und Selbstbegrenzung nach Maßgabe (Tocqueville 1985/1834; Lipset 1959; Almond einer übergeordneten Verpflichtung auf die und Verba 1963), einige Skeptiker zu dem Um- Freiheit, Würde und Gleichberechtigung nicht kehrschluss geführt, dass unter Bedingungen nur aller Teile der Gesellschaft, sondern auch der Knappheit und angesichts der Begrenztheit der Natur. Autonomie und Selbstbestimmung des Planeten, die Demokratie keine aussichts- bedeuteten in diesem Sinne nicht die Abwe- reiche und längerfristig haltbare Form der poli- senheit von Herrschaft, sondern Selbstbeherr- tischen Organisation sei. Denn die ökologische schung, die vernunftgeleitete Anerkennung der Krise erzwinge Maßnahmen, „die das Eigenin- moralischen Pflicht, des kategorischen Impera- teresse der Betroffenen sich spontan nicht auf- tives, der das persönliche Handeln und Streben erlegt hätte“ und, die „im demokratischen Pro- stets unter die Regel des kollektiven Subjekts zess [nur] schwer zum Beschluss gebracht wer- und des Gemeinwohls stellt. Das Ideal der den können“ (Jonas 2017/1979, S. 262). Auch Mündigkeit bedeutete entsprechend die Meta- gab es von Seiten der Sozialtheorie bereits in Entgrenzte Freiheit
Blühdorn|Kalke 7 morphose der bloßen Privatperson in den Sta- dem Prinzip der Freiheit Grenzen zu setzen, das tus des*der Bürger*in – als Teil einer Bürger- Gemeinwohl zu schützen und auch die Integri- schaft, die Entwicklung der natürlichen Person tät der Natur zu respektieren, wurde also da- in ein vernunftbestimmtes Subjekt, sowie die hingehend entkräftet, dass nur die liberale De- Erkenntnis, dass Freiheit und Pflicht untrenn- mokratie in eine Komplizenschaft mit der – und bar mit einander verbunden und zwei Seiten Mitschuld für die – ökologische(n) Krise ver- der gleichen Medaille sind. Diese Mündigkeit strickt sei (Dean 2009; Eckersley 2019). Partizi- war gleichzeitig die Voraussetzung und das Ziel pative und deliberative Formen der Demokra- der wahren Demokratie. Sie war die Grundlage tie hingegen sollten geeignet sein, die bloß for- dafür, dass malen Verfahren der liberalen Demokratie an Das Ideal der Mündigkeit bedeu- die liberale substanzielle Verständnisse des Gemeinwohls tet, dass Freiheit und Pflicht un- Demokratie anzubinden, das bloß instrumentelle Verhältnis trennbar mit einander verbunden in eine par- zur Demokratie in ein Verständnis von Demo- und zwei Seiten der gleichen Me- tizipative kratie als Selbstzweck und Lebensform fortzu- daille sind. (Pateman entwickeln, und genau mit dieser alltäglichen 1970; Praxis der Demokratie einen grundlegenden Macpherson 1977) und deliberative (Habermas Kulturwandel und eine gesamtgesellschaftliche 1981; Dryzek 2000; Gutmann und Thompson Transformation zu erreichen (Barry 1999). Die 2004) fortentwickelt werden konnte; und in de- Idee des*der mündigen Bürger*in wurde also ren Rahmen sollte die Mündigkeit weiter beför- zum Zentralstück der demokratischen Bewälti- dert und befestigt werden. gung der ökologischen Krise. Eine partizipative und deliberative Demokratisierung der Demo- Aus umweltpolitischer Perspektive ergab sich kratie würde die Gesellschaft mündiger Bür- die Notwendigkeit, die Demokratie fortzuent- ger*innen in die Lage versetzen, den Exzess zu wickeln unter anderem daraus, dass die libe- vermeiden, vor dem bereits Platon gewarnt rale Demokratie den Schwerpunkt stets vor al- hatte; den Umschlag in die totale Unfreiheit ab- lem auf individuelle Rechte und Freiheiten ge- zuwenden, den auch Polanyi befürchtete; und legt hatte, die durch besondere institutionelle als kollektive (konviviale) Selbstbegrenzung (Il- Arrangements (checks and balances) geschützt lich 1998/1973) zu organisieren und durchzu- und vom Staat garantiert werden sollten. Für setzen, was im Zeichen des ökologischen Not- den Schutz der Gemeingüter und des Gemein- stands andernfalls von einem autoritären wohls ist die liberale Demokratie demgegen- Knappheits- und Begrenzungsstaat erzwungen über sehr viel weniger gut aufgestellt. Zweitens werden müsste. Der gesellschaftliche Werte- waren die neuen technologischen und kulturel- wandel, den Ronald Inglehart schon in den len Unsicherheiten, die Ulrich Beck später als 1970er Jahren als die stille Revolution das unterscheidende Merkmal der Risikogesell- (Inglehart 1977) beschrieb, schien den empiri- schaft (Beck 2003/1986) beschrieb, ein we- schen Beweis dafür zu liefern, dass die Hoff- sentlicher Grund dafür, dass die Definition und nung auf die mündige Zivilgesellschaft tatsäch- Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme und lich begründet ist. Und bis in die Gegenwart Prioritäten nicht mehr den Eliten aus Politik, halten verschiedene Beobachter*innen nicht Wirtschaft oder Wissenschaft überlassen blei- nur an der These fest, dass der fortdauernde ben, sondern in die Hände mündiger Bür- Bedeutungszuwachs emanzipatorischer Werte ger*innen und der Zivilgesellschaft übertragen die Bedingungen für die Demokratie stetig wei- werden sollten. Und schließlich verlangte dies ter verbessere (Inglehart 1998; Inglehart und auch das demokratische Prinzip der Kongruenz Welzel 2005; Alexander et al. 2012; Inglehart zwischen denen, die politische Entscheidungen 2018), sondern auch, dass dieser Wertewandel treffen, und denen, die von ihnen betroffen den Weg zu einem neuen Gesellschaftsvertrag sind. für eine Große Transformation (WBGU 2011) zur Nachhaltigkeit bereite. Der ältere, schon bei Platon besprochene Ver- dacht, dass die Demokratie per se unfähig sei, IGN Interventions Feb |2020
8 3. Befreiung aus der Mündigkeit Der gesellschaftliche Wertewandel seit den (Bertelsmann Stiftung 2014). Doch die vorherr- 1970er Jahren, die zunehmende Bedeutung schenden Vorstellungen von mehr Selbstbe- emanzipatorischer Werte, wurde also als eine stimmung, mehr Entwicklung in Richtung Mündigkeit und Ver- Partizipation und Demokratische Werte wie antwortlichkeit interpretiert, die der Entfal- der Weiterent- Gleichheit und Inklusion gera- tung einer wahren Demokratie und der gesell- wicklung der De- ten immer offener in Konflikt schaftlichen Bewältigung sozial-ökologischer mokratie haben mit den vorherrschenden Ver- Krisenlagen gleichermaßen zuträglich wäre. sich radikal ent- ständnissen von Freiheit und Gerade in den sich als kritisch verstehenden So- fernt von allem, einem guten Leben. zialwissenschaften wurde die von den sozialen was die sozial- Bewegungen vorangetriebene Demokratisie- ökologischen rung der Demokratie (Offe 2003) als die Befrei- Vordenker*innen der partizipativen und de- ung des authentischen Subjekts betrachtet, liberativen Demokratie sich unter Mündigkeit dessen wahres Wesen, Rechte und Würde von und empowerment vorgestellt hatten. den Macht- und Herrschaftsstrukturen des Ka- pitalismus bisher unterdrückt, kolonisiert und Tatsächlich haben (Beck 2003/1986, 1994), entfremdet worden waren, in dessen Emanzi- Schulze (1993), Giddens (1997), Sennett pation aber der zentrale Schlüssel zur Erfüllung (1999), Bauman (2000), Žižek (2010) und zu- des demokratischen Projekts sowie zur Über- letzt noch einmal Reckwitz (2017, 2019) sehr windung der sozial-ökologischen Krise moder- gründlich nachgezeichnet, wie die Freisetzung ner Gesellschaften liege. Bis in die Gegenwart des modernen Individuums aus den Zwängen wirken die entsprechenden Entfremdungs- und und Sicherheiten traditioneller Bindungen, die Befreiungsnarrative fort. Diese Interpretation Möglich- und Notwendigkeit der eigenverant- des Wertewandels und diese Narrative der kri- wortlichen Selbstkonstruktion, sowie die um- tischen Sozialwissenschaften lassen aber außer fassende Durchsetzung dessen, was Gerhard Acht, dass erstens seit jeher eine fundamentale Schulze (1993) einst als die Erlebnisgesellschaft Spannung bestanden hat, zwischen dem eman- bezeichnete, die vorherrschenden Verständ- zipatorischen Prinzip der Grenzüberschreitung nisse von Selbstbestimmung, Selbstverwirkli- und dem ökologischen Prinzip der Begrenzung chung und einem guten Leben grundlegend und Grenzeinhaltung, die emanzipatorisch- verändert haben. Gerade im Zeichen des Neo- ökologische Bewegungen und Parteien noch liberalismus einerseits und des Rechtspopulis- nie wirklich aufzulösen vermochten, obwohl sie mus andererseits haben sich die gängigen In- der Eigenlogik der Rationalisierung, des Wachs- terpretationen von Selbstbestimmung und tums und der Beschleunigung immer höchst Selbstverwirklichung weit entfernt von den kritisch gegenüber standen. Zweitens haben Verständnissen von Mündigkeit und Verant- sich die vorherrschenden Verständnisse von wortlichkeit, die für die neuen sozialen Bewe- Freiheit, Selbstverwirklichung und einem guten gungen bestimmend gewesen waren. Hatten Leben in modernen Gesellschaften grundle- die demokratisch-ökologischen Bewegungen gend verändert: Zwar gewinnen Werte der der 1980er Jahre das emanzipierte und selbst- Selbstbestim- bestimmte Subjekt, die mündige Bürger*in, Die Befreiung aus Verantwort- mung, Selbst- noch klar als das reflektive, besonnene, selbst- lichkeiten und Moralimperativen verwirklichung beherrschte und selbstbegrenzte Subjekt ver- verspricht neue Optionen der und Selbstarti- standen; waren für sie also Freiheit und Mün- Selbstverwirklichung und verbes- kulation tat- digkeit noch – ganz kantisch – untrennbar ge- serten Erfolg in der Wettbe- sächlich weiter bunden an die Verpflichtung auf den kategori- werbsgesellschaft. an Bedeutung, schen Imperativ (Kant 1985/1783) oder die und die An- kommunikative Vernunft (Habermas 1981), so sprüche und Erwartungen heutiger Bürger*in- gilt heute, im Zeitalter der Trennungen nen bezüglich der politischen Partizipation, Re- (Bauman und Jakubzik 2009, 51 ff.) die Befrei- präsentation und Responsivität steigen stetig ung aus genau diesen Verpflichtungen als we- Entgrenzte Freiheit
Blühdorn|Kalke 9 sentliche Bedingung des selbstbestimmten Le- nicht nur immer weniger geeignet, die zuneh- bens und der erfolgreichen Selbstverwirkli- mend komplexen und drängenden sachlichen chung. Als erstrebenswert, fortschrittlich – und Probleme moderner Gesellschaften zu bewälti- wettbewerbsfä- gen, sondern darüber hinaus geraten demokra- Wenn biophysische Grenzen hig – gelten in tische Werte wie Gleichheit, Partizipation und immer deutlicher sichtbar wer- modernen Ge- Inklusion immer offener in Konflikt mit den den, werden soziale Ungleich- sellschaften Fle- Verständnissen von Freiheit, Selbstbestim- xibilität, Mobili- mung und einem guten Leben, die zum gesell- heit und Ausgrenzung zum Er- tät, Vielseitigkeit schaftlich vorherrschenden Ideal geworden fordernis der entgrenzten und Einzigartig- sind. Selbstverwirklichung. keit. An die Stelle des konsistenten, Gerade wenn biophysische Grenzen immer stabilen und einheitlichen Subjekts tritt in der deutlicher sichtbar werden, werden soziale Un- flüchtigen Moderne (Bauman 2000) ein ebenso gleichheit und Ausgrenzung sogar zum unbe- flüchtiges Subjekt – das die hergebrachten Ide- dingten Erfordernis der entgrenzten Selbstver- ale der Mündigkeit – mit all ihren restriktiven wirklichung, die von wesentlichen Teilen der Elementen – weit hinter sich lässt. Denn für das Gesellschaft als unverhandelbarer Anspruch unternehmerische Selbst (Bröckling 2007) ver- und selbstverständliches Freiheitsrecht vertei- spricht die Befreiung aus den Pflichten, Verant- digt wird (Brand und Wissen 2017; Lessenich wortlichkeiten und Moralimperativen, die dem 2017). Und die Wahrnehmung dieser mehrfa- älteren Begriff der Mündigkeit einbeschrieben chen Dysfunktionalität der Demokratie (Blüh- sind, vielfältige neue Optionen der Selbstver- dorn 2018, 2019, 2020a) betrifft nicht mehr nur wirklichung und verbesserte Aussichten auf Er- die liberale Demokratie – die vielleicht sogar folg in der Wettbewerbsgesellschaft. am allerwenigsten – sondern auch und vor al- lem die egalitären, partizipativen und delibera- Für die Demokratie hingegen bedeutet dieser tiven Verständnisse von Demokratie, die die Werte- und Kulturwandel, diese Befreiung aus ökologisch-emanzipatorischen Bewegungen der Mündigkeit, eine erhebliche Herausforde- noch vehement eingefordert und als Königs- rung, schon weil hergebrachte Formen der de- weg zu einer sozial und ökologisch befriedeten mokratischen Organisation, Partizipation, Re- Gesellschaft gesehen hatten. Nach der Befrei- präsentation und Legitimation davon ausge- ung aus der Mündigkeit, die in der neoliberalen hen, dass mündige Bürger*innen halbwegs Wettbewerbsgesellschaft als signifikanter Ge- konsistente Werte und beständige Interessen winn erscheint, werden gerade diese Verständ- haben, die sich mit einer Stimme angemessen nisse von Demokratie besonders als dysfunkti- artikulieren lassen. In der flüchtigen Moderne onal und – genau so, wie Polanyi es der „libera- und für heutige Subjektivitätsverständnisse ist len Philosophie“ angekreidet hatte – als frei- das aber weniger denn je der Fall. Entspre- heitsberaubende „Zumutung“ (Baatz 2019) chend ist kaum verwunderlich, dass sich in mo- wahrgenommen. Umgekehrt erscheinen die dernen Gesellschaften höchst ambivalente Hal- entgrenzten Freiheits- und Berechtigungsan- tungen gegenüber der Demokratie herausbil- sprüche, die keineswegs nur in den obersten den (Dahl 1994; Dalton 2004). Hatte Russel Dal- Teilen der ton (2008) noch von einer Verschiebung im Gesellschaft Nach der Befreiung aus der Mündig- Verständnis von Bürgerschaft von „duty-based umgesetzt citizenship“ hin zu „engaged citizenship“ ge- und bedin- keit werden egalitäre Verständnisse sprochen, bezeugt heute gerade der Rechtspo- gungslos von Demokratie als freiheitsberau- pulismus ein hohes Maß an disengagement verteidigt bende „Zumutung“ wahrgenommen. und was Bauman als die Sezession der Erfolg- werden, reichen (Bauman und Jakubzik 2009, 63 ff.) be- nicht nur denen als Zumutung, die aufgrund schreibt, illustriert dieselbe Tendenz. Demo- mangelnder Ausstattung mit den entsprechen- kratische Verfahren und Institutionen erschei- den Kapitalien von den geltenden Idealen des nen den verschiedensten gesellschaftlichen guten Lebens ausgeschlossen bleiben, sondern Gruppen – aus je verschiedenen Gründen – auch denen, die in den entsprechenden Le- bensstilen eine fundamentale Bedrohung für IGN Interventions Feb |2020
10 das globale Klima, für ihre eigene Zukunft und weit entfernt haben. Sie entfaltet eine Dyna- für das Überleben der Menschheit sehen. mik, in der das democratic fatigue syndrome (van Reybrouck 2016; Appadurai 2017), die So führt die Befreiung aus der nachhaltige Nicht-Nachhaltig- Mündigkeit zu einer Politisierung Die Befreiung aus der Mün- keit (Blühdorn 2007, 2011, und Polarisierung be-grenzter digkeit führt zu einer Politi- 2020b) und die Zuflucht ins Auto- und ent-grenzter Lebensweisen, sierung und Polarisierung ritäre (Decker und Brähler 2018) die sich im gegenwärtigen Kon- be-grenzter und ent-grenzter sich wechselseitig verstärken flikt zwischen Rechtspopulismus Lebensweisen. und weiter verfestigen. Und die und neuer Klimabewegung un- digitale Revolution, die von nati- übersehbar niederschlägt. Auf beiden Seiten onalen Regierungen allenthalben als Prioritäts- provoziert sie autoritäre Reaktionen und nährt projekt vorangetrieben wird, setzt den Ab- einen politischen Diskurs und eine politische schied von der Mündigkeit mit all seinen Folgen Kultur, die sich von den Idealvorstellungen der nicht nur in radikalisierter Weise fort, sondern partizipativen und deliberativen Demokratie macht sie womöglich endgültig unumkehrbar. 4. Digitale Revolution Die digitale Revolution wird oftmals als umfas- ten, spezialisierten Interessen sowie den knap- sende Modernisierung von Politik und öffentli- pen Zeit- und Energieressourcen moderner cher Verwaltung präsentiert (Bernhard et al. Bürger*innen besser entsprechen als die etab- 2019). Ähnlich wie in den 1970er Jahren die lierten Institutionen und Verfahren der Demo- partizipatorische und Anfang der 1990er die kratie (Hoff 2010; Kalff 2017). Neue civic tech- kommunikationstechnologische Revolution nologies sollen auch in der individualisierten mit großen Hoffnungen für die Demokratisie- und beschleunigten Gesellschaft Möglichkei- rung der Demokratie verbunden waren, wird ten zur Interaktion und Kooperation bieten, die heute auch die digitale Revolution verbreitet „Transaktionskosten“ (Zittel 2007) für politi- als Möglichkeit zur Erneuerung der ermüdeten sche Beteiligung senken, und dem eine Stimme Demokratie betrachtet. Während traditionelle zu geben, was einige als die „digitale Willens- politische Organisationen wie Parteien oder nation“ bezeichnen (Graf und Stern 2018). Da- Gewerkschaften kontinuierlich an Bedeutung bei gelten der individuelle Zugang zu Informa- verlieren (Dalton 2008; Butzlaff tionen, Kommunikation und un- et al. 2011; Wiesendahl 2013), Wesentliche Teile der Filter- hierarchischer Bildung über ent- und auch neue politische Ak- blasen- und Echokammern- sprechende Online-Angebote teure wie soziale Bewegungen kommunikation lassen sich und Social Media als wichtiger oft Schwierigkeiten haben, sich Schlüssel zur informierten und als post-rational, post-argu- über relativ begrenzte Protest- entscheidungswilligen Gemein- mentativ und insgesamt zyklen hinaus zu verstetigen und schaft der digital citizens (Maier- zum Subjekt politischer Transfor- post-deliberativ beschrei- Rabler et al. 2012; Atteneder und mationsprojekte zu werden ben. Maier-Rabler 2016). Gleichzeitig (Tarrow 2011/1994), wird neuen sollen gewählte Repräsen- Formen der Liquid-Democracy, E-Democracy tant*innen und die öffentliche Verwaltung und digitalen Demokratie mitunter erhebliches durch die digitale Revolution in die Lage ver- Potenzial für die Erneuerung und Revitalisie- setzt werden, die Bedürfnisse der Bürger*in- rung der Demokratie zugeschrieben. Verflüs- nen differenzierter als bisher zu erfassen und sigte Informations-, Koordinations- und Ent- abzubilden, schneller und zielsicherer zu rea- scheidungsstrukturen über interaktive Plattfor- gieren und also die demokratische Repräsenta- men, Bürger*innenbeteiligungsprojekte und tion und Responsivität deutlich zu verbessern Online-Wahlen sollen den komplexen Identitä- (Zittel 2010; Ulbricht 2019, 2020). Entgrenzte Freiheit
Blühdorn|Kalke 11 Diese Hoffnungen bzw. Erwartungen sind inso- kollektiven gesellschaftlichen Subjekt konstitu- fern nicht unbegründet, als soziale Bewegun- ieren und dessen innere Spannungen verhan- gen oder einzelne Akteur*innen die digitalen deln, zerlegt die digitale Revolution in fein aus- Medien in der Tat sehr erfolgreich als Mittel differenzierte und streng gegeneinander abge- der Information, Kommunikation, Koordination grenzte Diskursarenen (Ritzi 2019), in denen und Mobilisierung nutzen und damit eine er- die Komplexität der hebliche Reichweite haben können. Der „Rezo- Außenwelt jeweils Die civic technologies trei- Effekt“ während der deutschen Bundestags- radikal reduziert ben die Entzivilisierung wahl 2019 ist dafür ein aktuelles und sehr präg- wird, Information der Gesellschaft bedenk- nantes Beispiel. Erstens allerdings werden nur sehr selektiv Zu- lich voran. diese neuen Medien mindestens ebenso bzw. gang findet bzw. an- sogar noch effizient(er) von Akteuren genutzt, schlussfähig ist, und Sinnerzählungen produ- die völlig andere Verständnisse von Informa- ziert und gepflegt werden, die nur unter Bedin- tion, Demokratie und Beteiligung haben; und gungen hoher Komplexitätsreduktion und zweitens beziehen sich solche Hoffnungen auf strenger Abschottung von abweichenden Sicht- digitale Emanzipationsmöglichkeiten durch weisen Bestand haben. In diesen verengten civic technology letztlich auf Partizipation und Diskursräumen ist nicht ausschlaggebend, was Teilhabe im Verständnis des modernistischen einer sachlichen Überprüfung bzw. öffentli- Ideals des bürgerlichen Vernunftsubjekts und chen Rechtfertigung standhält, sondern was mündiger Bürger*innen. Die eigentliche Ursa- sich individuell und situationsbezogen richtig che der demokratischen Dysfunktionalität – anfühlt und Sinn macht (Fischer 2019). Öffent- den beschriebenen Werte- und Kulturwandel liche Medien hingegen, kritische Journalist*in- und den Abschied von der Mündigkeit – erfas- nen und Intellektuelle, sowie die Wissenschaf- sen diese Idealvorstellungen von der digital er- ten, die den integrierenden öffentlichen Raum neuerten Demokratie nicht. Vielmehr tun sie bespielen und eine möglichst gesamtgesell- so, als gehe es lediglich darum, demokrati- schaftliche Realitätswahrnehmung schaffen schen Bürger*innen neue Mittel an die Hand zu und vermitteln wollen, werden als Lügenpresse geben, um unter veränderten gesellschaftli- denunziert, als Volksfeinde diskreditiert oder chen Rahmenbedingungen demokratische schlicht ignoriert. Normen, Ansprüche und Erwartungen zu ver- wirklichen, die ihrerseits als weitgehend unver- In der Dimension individuumsbezogener Sinn- ändert und unproblematisch vorgestellt wer- bedürfnisse und Sinnverarbeitung ist dies die den. Zu der sowohl demokratie- als auch nach- Entsprechung zu der bei Luhmann beschriebe- haltigkeitspolitisch entscheidenden Entgren- nen Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen zungsdynamik bieten die neuen civic technolo- Funktionssystemen, die – als ebenfalls sinnver- gies keinerlei Gegengewicht. Tatsächlich thera- arbeitende Systeme – nach ihren je eigenen, piert die digitale Revolution an keiner Stelle die hochspezifischen und exklusiven Codes operie- Symptome der demokratischen Ernüchterung, ren (Luhmann 1984). In ganz ähnlicher Weise ganz zu schweigen von deren Ursachen. Im Ge- reduzieren auch digitale Filterblasen und genteil verstärkt Echokammern die Komplexität und installieren sie beides sogar Denkblockaden und Denkverbote, die die ge- In der digitalen Revolution radi- – nicht zuletzt, sellschaftliche Fragmentierung und Polarisie- kalisieren sich die Selbstbezüg- indem sie die rung befördern und den demokratischen Dis- lichkeit und die Entgrenzung ei- Ausdifferenzie- kurs ersticken. Nach der Vorstellung der Befür- gener Ansprüche auf Freiheit worter*innen der partizipatorisch-deliberati- rung der politi- und Selbstbestimmung. schen Öffent- ven Demokratisierung der Demokratie sollte es lichkeit erheb- in diesem demokratischen Diskurs eigentlich lich zuspitzt und die Qualität des politischen darum gehen, die Vielfältigkeit miteinander Diskurses grundlegend verändert. konfligierender, aber allemal unhintergehbarer Freiheits-, Selbstbestimmungs- und Gleichbe- Die demokratische Agora, den integrierenden rechtigungsansprüche von sich immer neu und öffentlichen Raum, in dem sich die vielfältigen verändert konstituierenden Subjektivitäten zu gesellschaftlichen Akteure – im Idealfalle – zum verhandeln und in einer Balance zu halten IGN Interventions Feb |2020
12 (Rancière 2011, S. 139). Dieser Diskurs sollte zumindest dem Anspruch nach selbstbestimm- auf den Prinzipien der Offenheit, der Gleich- ten und mündigen Subjekts werden im Zuge heit, des Zuhörens und gleichberechtigten der digitalen Revolution zunehmend Datenpro- Ernstnehmens (Dobson 2014), des wechselsei- file zum Bezugspunkt für administrative, öko- tigen Respekts, der Notwendigkeit der Begrün- nomische, medizinische und anderweitige Ent- dung und der Rechtfertigung am Maßstab des scheidungen (Ulbricht 2020). Nach Maßgabe Ideals einer öffentlichen Vernunft beruhen, der Interessen der jeweiligen Akteur*innen auch wenn letztlich kein besseres Argument werden diese Profile aus individuellen, grup- (Habermas 1992) den endgültigen Ausschlag penspezifischen oder gesamtgesellschaftlichen geben kann. In den Echokammern der digitalen Datenspuren zusammengestellt und genutzt, Kommunikation und sozialen Medien hat all ohne dass die Datengeber*innen davon ein Be- dies – also die unverzichtbaren Regeln der de- wusstsein oder darüber Kontrolle hätten. Zwar mokratischen Deliberation – aber nur noch we- wurden in der liberalen Verwaltungstechnik nig Bedeutung bzw. wird Bürger*innen seit lan- es gezielt außer Kraft ge- Die Digitalisierung nimmt der Demokratie gem in Datensätzen be- setzt (Froitzheim 2017). ihre emanzipatorisch-transformative Kraft. arbeitet, doch die Infor- Kriterien der Rationalität mationsverhältnisse Sie entzieht sie dem Projekt einer sozial- und Überprüfbarkeit ver- (Poster 1990) des digita- ökologischen Transformation den Boden. lieren ebenso ihre Gel- len Überwachungskapi- tung wie soziale Hemm- talismus (Zuboff 2018) schwellen der Moralität und gegenseitigen bedeuten insofern einen qualitativen Sprung, Achtung der Persönlichkeit. Stattdessen lassen als die überall hinterlassenen Datenspuren zu sich wesentliche Teile der Filterblasen- und warenhaften Vorhersageprodukten und die Echokammernkommunikation als eindeutig Bürger*innen zu Produzent*innen eines zur post-rational, post-argumentativ, post-faktisch Verwertung bereit stehenden Datenüberschus- und insgesamt post-deliberativ beschreiben. ses werden. „Digitales Verbundensein“ beför- Sie sind ausschließlich nach innen gerichtet und dert in diesem Szenario weder die demokrati- selbstreferenziell; und sie sind ausdrücklich sche noch die ökologische Mündigkeit, sondern nicht über Differenzierungsgrenzen hinweg im ist nun vor allem „anderen Leuten“ ein will- Habermasschen Sinne verständigungsorien- kommenes „Mittel zu“ ihren „geschäftlichen tiert. Auch weil die Aufmerksamkeitsökonomie Zielen“ (Zuboff 2018, S. 24). Die Verabschie- im Netz die stetige Tabuverletzung und Ver- dung der mündigen Bürger*in und des autono- schiebung jeweils geltender Toleranzgrenzen men Subjekts wird damit radikal zugespitzt. Die erzwingt, treiben die civic technologies in der Datafizierung (Cukier und Mayer-Schoenberger Praxis die Entzivilisierung (Nachtwey 2017) der 2013) löst die Einheit der Person und ihrer Per- Gesellschaft bedenklich voran. Hier wiederholt sönlichkeit vollständig auf; sie dividuiert (De- und verstärkt sich noch einmal der Abschied leuze 1993) das als ganzheitliches vorgestellte aus der Mündigkeit und der Verantwortlich- Individuum, objektiviert das individuelle und keit. Hier radikalisieren sich die Selbstbezüg- kollektive Subjekt. Deren Anspruch auf Selbst- lichkeit und die Entgrenzung eigener Ansprü- bestimmung wird endgültig ausgesetzt bzw. che auf Freiheit und Selbstbestimmung, die so- wird seine Aktualisierung, soweit dieser An- wohl dem demokratischen Projekt als auch spruch überhaupt noch besteht, ausgelagert in dem der sozial-ökologischen Transformation Diskursarenen, die speziell auf die „recreatio- den Boden entzieht, und dem eingangs be- nal performance“ (Blühdorn 2019, S. 12) und schriebenen Doppelnotstand Vorschub leistet. das Erleben von Subjektivität und Selbstbe- stimmung ausgerichtet sind (Blühdorn 2006, Demokratietheoretisch gesehen – und in Bezug 2016; Deflorian 2020). auf eingangs formulierten Fragen – liegt das ei- gentlich Revolutionäre der digitalen Revolution Die Komplexität, Vielschichtigkeit und Wider- allerdings darin, dass sie das in der flüchtigen sprüchlichkeit von Individuen und Gesellschaft Moderne ohnehin schon höchst ambivalent ge- werden also immer weniger verhandelt son- wordene Ideal der mündigen Bürger*in noch dern nur noch kartiert und verwertet. Der freie viel weitreichender suspendiert. Anstelle des Entgrenzte Freiheit
Blühdorn|Kalke 13 Wille, die Würde, die Moralität des Individu- Demokratie verliert auf diese Weise ihren nor- ums, und sein fortgesetztes Ringen mit der Dis- mativen Kern, dessen Verteidigung trotz der krepanz zwischen normativem Wollen und fak- vielfältigen Warnungen vor der Datendiktatur tischem Handeln werden fortschreitend irrele- (Helbing et al. 2017), dem technologischen To- vant. Partizipation und Teilhabe bedeuten vor talitarismus (Schirrmacher 2015) und den Fän- allem noch das Bereitstellen möglichst viel- gen der Datenkraken (Schröder und Schwane- schichtiger Daten zur Verwendung und Ver- beck 2017) zunehmend aussichtslos erscheint. wertung durch Akteur*innen, von denen Re- Denn im Zeichen der digitalen Revolution ad- präsentation und Responsivität erwartet wird dieren und radikalisieren sich die systemtheo- (Blühdorn und Butzlaff 2020). Im radikalen Ge- retische These von der Marginalisierung des gensatz zu den Vorstellungen der partizipati- bürgerlichen Vernunftsubjekts und die subjekt- ven und deliberativen Demokratietheorie taugt theoretische These von dessen Befreiung aus die solchermaßen verstandene Partizipation der Mündigkeit zur vollständigen Ablösung des nur noch zur Legitimation und Reproduktion bürgerlichen Vernunftssubjekts durch Algorith- des Status Quo. Die Entwicklung neuer Vorstel- men und künstliche Intelligenz, die die Funk- lungen und emanzipatorischer Perspektiven tion der Mündigkeit übernehmen. Jenseits der hingegen wird ausgesetzt. Eine Demokratisie- Auflösung ihres alten normativen Kerns ent- rung der Demokratie kann die Digitalisierung steht derweil eine neue Form der Demokratie: darum kaum bewirken. Vielmehr nimmt sie der die simulative Demokratie (Blühdorn 2013). Demokratie ihre emanzipatorisch-transforma- Ihre Institutionen und Verfahren bedienen – tive Kraft. Und indem sie das autonome Subjekt soweit dafür ein Bedarf besteht – weiter das und die mündige Bürger*in als normativen Narrativ der Mündigkeit und Selbstbestim- Kontrapunkt zum bloß Faktischen vollständig mung. Ein transformatives Potential haben sie marginalisiert bzw. suspendiert, entzieht sie jedoch weder in politisch-sozialer noch in öko- dem Projekt einer sozial-ökologischen Trans- logischer Hinsicht. formation nicht nur den Boden, sondern be- schleunigt vielmehr noch die Entgrenzung der Freiheits- und Berechtigungsansprüche. 5. Das ausgeschlossene Dritte Ausgangspunkt dieses Artikels war die Aktuali- wollen, damit eine allein ausreichende Antwort tät und wechselseitige Verschränkung der al- zu geben, haben wir die These verfolgt, dass ten Thesen von der Selbstzerstörung der De- eine gemeinsame Ursache für die Erschöpfung mokratie, des pervertierten Liberalismus und der Demokratie und den ökologischen Not- der Unausweichlichkeit des au- stand in der Entgrenzung der toritären Umweltstaates. Wir Zugunsten von Lebensstilen und Freiheit liegt. Wir haben aus- haben gefragt, wie sich der Selbstverwirklichungsidealen geführt, dass unter Bedingun- Zerfall des Vertrauens in die haben verschiedenste Gesell- gen des Abschieds von der Demokratie – gerade auch mit Mündigkeit, der in ganz ver- schaftsgruppen das Prinzip der Blick auf den ökologischen schiedenen Teilen der Gesell- Selbstbegrenzung und Selbstbe- Notstand – erklären und viel- schaft vollzogen und von der herrschung nach außen gewen- leicht therapieren lässt. Insbe- det und in das Prinzip der sozia- digitalen Revolution radikali- sondere ging es uns auch um len Grenzziehung und Ausgren- siert und zementiert wird, eine die Frage, ob eine Demokrati- zung übersetzt. demokratische Bearbeitung sierung der Demokratie, wie des ökologischen Notstands sie bis in die Gegenwart hinein nicht sehr aussichtsreich ist, immer wieder gefordert wird, eine Aussicht auf sondern die Entgrenzung der Freiheits- und Be- eine Therapie für den demokratisch-ökologi- rechtigungsansprüche sich vielmehr weiter be- schen Notstand bietet. Ohne behaupten zu schleunigt. IGN Interventions Feb |2020
14 Uns war jederzeit klar, dass die Rede von der von Lebensstilen und Selbstverwirklichungs- entgrenzten Freiheit unvermeidlich in den Ver- idealen, von denen zwar unstrittig ist, dass sie dacht gerät, konservativ, anti-emanzipatorisch sich nicht generalisieren lassen, die gleichwohl oder gar reaktionär zu sein. Wir sind aber der aber von einer vielschichtigen Mehrheit als es- Ansicht, dass die hergebrachten herrschaftskri- senzielles Freiheitsrecht und unverhandelbarer tischen und emanzipatorischen Ansätze so- Berechtigungsanspruch mit aller Entschieden- wohl mit Blick auf den demokratischen als auch heit verteidigt werden, haben sie das dem Be- auf den ökologischen Notstand in eine Sack- griff der kantischen Mündigkeit inhärente Prin- gasse geraten sind. Und wir sind fern davon, zip der Selbstbegrenzung und Selbstbeherr- auch nur anzudeuten, dass eine autoritäre schung nach außen gewendet und übersetzt in Transformation zur Nachhaltigkeit aussichts- das Prinzip des othering, d.h. der sozialen reich, wahrscheinlich oder überhaupt möglich Grenzziehung und Ausgrenzung – innergesell- wäre. Vorsichtig sind wir insbesondere gegen- schaftlich sowie über zwischenstaatliche Gren- über der gängigen Erzählung, die demokra- zen hinweg. Entsprechend wird nicht nur die li- tisch-ökologische Krise ließe sich durch eine berale, sondern mehr noch auch die partizipa- Rückeroberung der Demokratie durch all jene tive, egalitäre und deliberative Demokratie zu- therapieren, deren Selbstbestimmung und nehmend als dysfunktional und als „Zumu- Würde der Kapitalismus mit Füßen tritt (Crouch tung“ erfahren – ebenso wie eine effektive 2008; Dean 2009; Mouffe 2018). Nicht weniger Klimapolitik oder gar eine sozial-ökologische unzureichend erscheinen uns allerdings die Transformation der Gesellschaft zur Nachhal- Versuche, den Niedergang der Demokratie so- tigkeit. wie die geringe Handlungsfähigkeit der Klima- und Nachhaltigkeitspolitik vor allem den illibe- Wenn – und in dem Maße wie – die hier zentral ralen und klimawandelleugnenden Rechtspo- gemachte These von der Befreiung aus der pulisten anzulasten (Schaller und Carius 2019). Mündigkeit und der entgrenzten Freiheiten zu- Auch die neuerliche Behaup- treffend ist, hat die Vorstel- tung, das Problem liege pri- Angesichts der Befreiung aus der lung, man könne die Demo- mär bei der liberalen Demo- kratie mit ein paar nachbes- Mündigkeit ist die mehrheitsautori- kratie (z.B. Lessenich 2019; sernden Innovationen – etwa täre und exklusionsdemokratische Asara 2019; Langer 2019) durch den weiteren Ausbau Sicherung der Nicht-Nachhaltigkeit scheint uns angesichts des von Beteiligungsrechten (Nar- das wahrscheinlichste Szenario. Abschieds von der Mündig- val 2018), die Stärkung indivi- keit wenig plausibel. Wir ha- dueller Freiheitsrechte (Möl- ben den Verdacht: Auf ihre je eigene Weise tra- lers 2020) oder durch den Einsatz von neuen gen diese Ansätze – auch wenn sie alle eine ge- civic technologies (Graf und Stern 2018) repa- wisse Berechtigung haben – wohl mehr zur Si- rieren, etwas geradezu Groteskes. Ebenso gro- cherung als zur Überwindung der demokra- tesk ist die Ansicht, eine Demokratisierung der tisch-ökologischen Nicht-Nachhaltigkeit bei Demokratie könne eine sozial-ökologische (Blühdorn 2020b). Und alle gemeinsam verdun- Transformation befördern. Vielmehr bestätigt keln sie den entscheidenden Punkt, den wir sich die radikale Kritik von Jodi Dean: „The ap- hier beleuchten wollten: peal to democracy is […] an appeal to the status quo for more of the same“ (Dean 2009, S. 93). Auf der Suche nach mehr Freiheit und Selbst- Das Nachjustieren von Stellschrauben bei den bestimmung haben sich wesentliche, ideolo- vorhandenen Institutionen ist möglich und in gisch durchaus gegensätzlich orientierte Ge- vielerlei Hinsicht dringend wünschenswert. sellschaftsgruppen von dem Ideal der politi- Doch nach der Befreiung aus der Mündigkeit schen Mündigkeit verabschiedet, das nicht nur sind die Aussichten auf eine Erneuerung, eine eine unverzichtbare Grundlage der Demokratie Demokratisierung, der Demokratie und eine ist, sondern in dem emanzipatorische Bewe- demokratische Transformation zur Nachhaltig- gungen bis in die Gegenwart das entschei- keit weniger günstig denn je. Die digitale Revo- dende Korrektiv für die sozial-ökologische Krise lution, deren Neuerungen von gesellschaftli- moderner Gesellschaften und den Schlüssel zu chen Mehrheiten als Zugewinn an Bequemlich- einem guten Leben für Alle sehen. Zugunsten keit und Lebensqualität gern genutzt und klar Entgrenzte Freiheit
Blühdorn|Kalke 15 befürwortet werden, radikalisiert den Zweifel, Die Aussichten dafür sind, wie gesagt, nicht dass moderne Gesellschaften zukünftig noch günstig. Aber die Fokussierung auf die Befrei- die politisch-kulturellen Ressourcen zur Verfü- ung aus der Mündigkeit trägt nicht nur dazu gung haben werden, um die demokratisch-öko- bei, ein sehr viel differenzierteres Verständnis logische Krise in der Weise zu überwinden, wie der drei eingangs festgehaltenen Tendenzen die emanzipatorischen Bewegungen sich das und ihrer wechselseitigen Verschränkung zu vorgestellt hatten. Die Entwicklung in China schaffen. Sie wirft auch ein Schlaglicht auf eine veranschaulicht die durchdringende Datafizie- entscheidende Schwachstelle in der bisherigen rung der Bürger*innen im digitalen Panopti- Diskussion: In der einschlägigen Literatur wer- kum (Bauman und Lyon 2018), und es gibt we- den immer noch verbreitet die jeweiligen Vor- nig Grund zu der Annahme, dass die digitale Re- und Nachteile einer demokratischen Transfor- volution in Europa einen grundsätzlich anderen mation zur Nachhaltigkeit und ihrer „diktatori- Weg nehmen könnte. schen Alternative“ (Shearman und Smith 2007; Beeson 2010; Buchstein 2012) besprochen. Die Rede vom Abschied aus der Mündigkeit und Und immer wieder wird betont, moderne Ge- der entgrenzten Freiheit zielt also ausdrücklich sellschaften bzw. die Menschheit insgesamt nicht darauf, bestimmte gesellschaftliche hätten die Wahl zwischen kollektiver Selbstbe- Gruppen für unmündig zu erklären und sie ab- grenzung und kollektivem Selbstmord (Thun- schätzig zu disqualifizieren. Ebenso sind wir berg 2019). Solche Narrative zeugen von einer entfernt davon, die alte Kritik zu erneuern, mit sonderbaren Blindheit, denn angesichts der Be- der konservative und liberale Eliten seit jeher freiung aus der Mündigkeit und des pervertier- zur Sicherung ihrer eigenen Privilegien die ten Liberalismus ist ein drittes Szenario das bei Emanzipations- und Gleichberechtigungsan- weitem Realistischste: Die mehrheitsautoritäre sprüche anderer Gesellschaftsteile als exzessiv und exklusionsdemokratische Sicherung der und zerstörerisch denunziert haben. Die Befrei- Nicht-Nachhaltigkeit (Blühdorn 2019, 2020a). ung aus der Mündigkeit wird vielmehr, so un- Damit schließt sich der Kreis zu Platons Tyran- sere These, von den verschiedensten gesell- nis und zu den herrschaftskritischen Ansätzen, schaftlichen Gruppierungen auf ihre je eigene die wir in diesem Artikel bewusst in den Hinter- Weise vollzogen – insbesondere auch von sol- grund gestellt haben. Denn je weniger die de- chen, die in besonderem Maße ökologische mokratische Transformation zur Nachhaltigkeit und demokratische Mündigkeit für sich in An- noch als realistisches Projekt erscheint, desto spruch nehmen. Wenn aber eine demokrati- mehr wird der Kampf gegen dieses dritte Sze- sche Transformation zur Nachhaltigkeit über- nario zum zentralen Nachfolgeprojekt. haupt möglich sein soll, dann ist eine Rückbe- sinnung auf dieses aufklärerische Ideal eine un- verzichtbare Vorbedingung. Denn anders kön- nen die Neuverhandlung der entgrenzten Frei- heitsansprüche und eine kollektive Selbstbe- grenzung kaum gelingen. IGN Interventions Feb |2020
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