Entgrenzte Freiheit Demokratisierung im ökologischen Notstand? - IGN Interventions Feb|2020 - Wirtschaftsuniversität Wien

 
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Entgrenzte Freiheit
Demokratisierung im ökologischen Notstand?

Ingolfur Blühdorn / Karoline Kalke

IGN Interventions Feb|2020

Herausgegeben vom
Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN)
http://www.wu.ac.at/IGN/
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    Bitte zitieren als
    Ingolfur Blühdorn/Karoline Kalke: Entgrenzte Freiheit. Demokratisierung im ökologischen Not-
    stand?, IGN-Interventions Febr./2020, INSTITUT FÜR GESELLSCHAFTSWANDEL UND NACH-
    HALTIGKEIT (IGN), Wirtschaftsuniversität Wien, Austria.

    Weniger ausgearbeitete Versionen dieses Artikels sind erschienen als „Befreiung von der
    Mü(n)digkeit“ (Blühdorn und Kalke 2019) sowie in soziopolis unter https://www.soziopo-
    lis.de/beobachten/gesellschaft/artikel/entgrenzte-freiheit/.

    © Alle Rechte liegen bei den Autoren. Die Vervielfältigung und Verbreitung des Textes für ausschließlich wissen-
    schaftliche Zwecke ist erlaubt. Jede Form von Nachdruck, Übersetzung, oder anderweitige Nutzung in Medien
    jeglicher Art nur nach Rücksprache mit dem INSTITUT FÜR GESELLSCHAFTSWANDEL UND NACHHALTIGKEIT (IGN), Wirt-
    schaftsuniversität Wien, Austria.

    Titelfotos: The Fridays for Future climate demonstration on September 27 2019 in Stockholm. Copyright Owner:
    Frankie Fouganthin, License Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International, https://upload.wiki-
    media.org/wikipedia/commons/3/3d/Fridays_for_Future_in_Stockholm_2019.jpg; Kitesurfer. Copyright Owner:
    Stefan van der Kamp, License Creative Commons Attribution 3.0 Unported, https://upload.wikimedia.org/wik-
    ipedia/commons/a/ab/Kitesurf.jpg.

      Kontakt: Prof. Dr. Ingolfur Blühdorn, Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit
      (IGN), Wirtschaftsuniversität Wien, Welthandelsplatz 2, 1020 Wien, Österreich,
      https://www.wu.ac.at/IGN/; Email: IGN@wu.ac.at

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Entgrenzte Freiheit.
Demokratisierung im ökologischen Notstand? 1
Ingolfur Blühdorn / Karoline Kalke

Zusammenfassung
                Die alten Thesen der Selbstzerstörung der Demokratie, des pervertierten Liberalismus und der
                Unverzichtbarkeit des autoritären Umweltstaates sind beunruhigend aktuell: In modernen Kon-
                sumgesellschaften entfalten sich grundlegende – gerade auch nachhaltigkeitspolitische – Zwei-
                fel an der Demokratie; ein demokratischer und ein ökologischer Notstand fallen zusammen,
                und forcieren eine Hinwendung zum Autoritären. Der vorliegende Artikel sucht nach Erklärun-
                gen für den doppelten Notstand und fragt, ob eine Demokratisierung der Demokratie noch ei-
                nen plausiblen Ausweg bietet. Eine wesentliche Ursache der beobachteten Tendenzen sieht er
                in der Entgrenzung von Freiheits- und Berechtigungsansprüchen, die er ihrerseits unmittelbar
                mit der Verabschiedung des aufklärerischen Ideals der Mündigkeit in Verbindung bringt. Beide
                zusammen, argumentiert er, entziehen sowohl der Demokratie als auch dem Projekt einer so-
                zial-ökologischen Transformation den Boden. Die digitale Revolution vollendet den Abschied
                von der Mündigkeit, beschleunigt die Entgrenzung der Freiheit und führt die Idee einer Demo-
                kratisierung der Demokratie ad absurdum. Stattdessen entfaltet sich die mehrheitsautoritäre
                und exklusionsdemokratische Sicherung der sozial-ökologischen Nicht-Nachhaltigkeit.

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  Wir danken den anonymen Gutachter*innen sowie Hauke Dannemann und Michael Deflorian für ihre konstruk-
tiven Kommentare zu früheren Textfassungen.

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    1. Einleitung                                               Regierungen stellen offen die Prinzipien der
                                                                Pressefreiheit, Gewaltenteilung, Rechtsstaat-
    Platon hatte gewarnt, dass die Demokratie „an               lichkeit und die allgemeinen Menschenrechte
    dem unersättlichen Streben nach ihrem höchs-                in Frage. David van Reybrouck stellt in einem
    ten Gut“, der Freiheit, letztlich zugrunde gehen            Bestseller mit dem Verweis auf das „Recht auf
    und in die Tyrannis einmünden werde; denn                   kompetentes Regieren“ sogar das allgemeine
    „die Unersättlichkeit“ und „ein Übermaß von                 und gleiche Wahlrecht zur Diskussion (van Rey-
    Freiheit“ schlügen unvermeidlich in die „här-               brouck 2016). Und in der umwelt- und klimapo-
    teste Knechtschaft“ um (Platon 1982, S. 389–                litischen Literatur erleben autoritäre Ansätze
    391). Karl Polanyi, dessen Werk für die jüngste             ein auffälliges Comeback (z.B. Shearman und
    Literatur zur sozial-ökologischen Transforma-               Smith 2007; Beeson 2010; Wainwright und
    tion zu einem wichtigen Bezugspunkt gewor-                  Mann 2013; Chen und Lees 2018). Denn die
    den ist, führte aus, dass die „liberale Philoso-            moderne Demokratie „lebt davon, sich bestän-
    phie“ jeden Versuch der politischen Interven-               dig und in ständig wachsendem Maße Natur
    tion und Begrenzung „als Unfreiheit denun-                  einzuverleiben“ (Lessenich 2019, S. 72), und
    ziert“ und „als Tarnung der Versklavung ver-                demokratische Systeme erweisen sich zuneh-
    spottet“. Auf diese Weise sichere sie eine                  mend als unfähig, wirklich transformative Maß-
    „pervertierte Freiheit“ für wenige, die schließ-            nahmen zu beschließen und durchzusetzen
    lich aber in die „völlige Vernichtung der Frei-             (Hausknost 2020). Sie erscheinen als verbots-
    heit“ führen werde (Polanyi 1978, S. 336–340).              und vor allem begrenzungsunfähig. Doch
    Und einige ökologische Vordenker, die sich be-              Grenzziehung, Begrenzung und Grenzeinhal-
    reits in den 1970er Jahren                                                       tung – vom Club of Rome be-
    um die ökologische Apoka-          Mündigkeit ist eine notwendige Be-            reits Anfang der 1970er
    lypse und das Überleben der        dingung  für die Stabilisierung   der         Jahre angemahnt (Meadows
    Menschheit sorgten (z.B.           Demokratie, für eine demokratische            et al. 1972) – sind heute das
    Hardin 1968, 1977; Heilbro-        Transformation zur Nachhaltigkeit             unbedingte       Gebot    der
    ner 1974; Ophuls 1977), wa-        und zur Verhinderung    der   Flucht ins      Stunde    –   nicht  nur  für
    ren überzeugt, dass sich die       Autoritäre.                                   Rechtspopulisten.     Wissen-
    ökologische Krise, die sich zu                                                   schaftler*innen verweisen
    ihrer Zeit erst andeutete, mit demokratischen               mit  höchster   Dringlichkeit auf nicht verhandel-
    Mitteln nicht beherrschen lasse, sondern letzt-             bare planetary boundaries (Rockström et al.
    lich einen starken, autoritären Staat unver-                2009; Biermann 2012). Aktivist*innen fordern
    zichtbar machen werde. Alle drei Thesen – die               sofortige Verbote, die resolut durchzusetzen
    von der Selbstzerstörung der Demokratie, die                seien (Langer 2019). Angesichts des Klimanot-
    vom pervertierten Liberalismus und die vom                  stands, den inzwischen auch das Europäische
    autoritären Umweltstaat – sind beunruhigend                 Parlament bestätigt hat (Europäisches Parla-
    aktuell; und ganz besonders beunruhigend ist                ment 2019), setzen sie vor allem auf fachkun-
    ihre wechselseitige Verschränkung.                          dige Expert*innen und einen durchsetzungsfä-
                                                                higen Umweltstaat. Dabei übergehen sie den
    Tatsächlich entfaltet sich in modernen Kon-                 grundsätzlich politischen Charakter aller Grenz-
    sumgesellschaften eine fundamentale Krise,                  ziehungen (Dietz und Wissen 2009) – und be-
    eine Erschöpfung, der Demokratie (Crouch                    stätigen auf ihre Weise die tiefe Skepsis gegen-
    2008; Mair 2013; Brennan 2018; Mounk 2018),                 über der Demokratie.
    die begleitet ist von einer Welle der Autokrati-
    sierung (Lührmann und Lindberg 2019) und ei-                In diesem demokratisch-ökologischen Doppel-
    ner Flucht ins Autoritäre (Decker und Brähler               notstand stellt sich die Frage: Was sind die Ur-
    2018). In der einschlägigen Literatur ist von der           sachen der demokratischen Ernüchterung?
    Entzauberung der Demokratie (Willke 2014) die               Lässt sich die Begrenzungsschwäche der Demo-
    Rede, einem democratic fatigue syndrome (van                kratie therapieren? Eröffnet eine Demokrati-
    Reybrouck 2016; Appadurai 2017), einem dis-                 sierung der Demokratie – eine alte Forderung,
    gust with democratic politics (Runciman 2018)               die weiterhin aktuell ist (Lessenich 2019; Asara
    oder sogar vom Hass der Demokratie (Rancière                2019) – Perspektiven für die Restabilisierung
    2011). Rechtspopulistische Bewegungen und

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der Demokratie und für das Projekt einer so-         Autoritäre. Sie ist unverzichtbar für das Projekt
zial-ökologischen Transformation zur Nachhal-        der demokratischen Selbstbegrenzung.
tigkeit? Im Folgenden gehen wir der These
nach, dass eine wesentliche Ursache für die –        Der folgende Abschnitt konzentriert sich zu-
gerade auch nachhaltigkeitspolitische – Er-          nächst auf die Idee des mündigen, selbstbe-
schöpfung der Demokratie in der Entgrenzung          stimmten Subjekts, die seit den 1970er Jahren
von Freiheits- und Berechtigungsansprüchen           gerade auch für umweltpolitische Vorden-
liegt, die wir ihrerseits unmittelbar mit der Ver-   ker*innen im Mittelpunkt des Versuches stand,
abschiedung des aufklärerischen Ideals der           die ökologische Krise durch eine Erneuerung
Mündigkeit (Blühdorn 2018; Blühdorn und              der Demokratie in den Griff zu bekommen. Ab-
Kalke 2019; Blühdorn 2020a) verknüpfen.              schnitt drei beleuchtet einen Werte- und Kul-
Beide zusammen entziehen sowohl der Demo-            turwandel, infolge dessen die in der aufkläreri-
kratie als auch dem Projekt einer sozial-ökolo-      schen Idee des Vernunftsubjekts impliziten
gischen Transformation den Boden. Mit diesem         Vorstellungen von Mündigkeit, Verantwortlich-
Ansatz wollen wir nicht eine erschöpfende Be-        keit und Autonomie seit den 1990er Jahren zu-
antwortung unserer Fragen bieten.                    nehmend als einengend oder gar als „Zumu-
                                                     tung“ (Baatz 2019) wahrgenommen werden.
Vielmehr wollen wir gezielt eine Denklinie ver-      Abschnitt vier erkundet die Bedeutung der di-
folgen, die sich komplementär zu all jenen An-       gitalen Revolution, die hier insofern relevant
sätzen verhält, die in herrschaftskritischer Ab-     ist, als sie von der technologischen Seite her
sicht vor allem die Unterdrückung und Be-gren-       den Abschied von der Mündigkeit vollendet
zung von Freiheitsansprüchen ins Zentrum stel-       und vielleicht unumkehrbar macht. Abschlie-
len. Nachhaltigkeitspolitisch ist nämlich die        ßend bewerten wir die Perspektiven für eine
Ent-grenzung solcher Ansprüche kein geringe-         Erneuerung und Demokratisierung der Demo-
res Problem. Wer aber von entgrenzter Freiheit       kratie und für das Projekt einer demokrati-
spricht, steht immer im Verdacht, nah an rech-       schen Transformation zur Nachhaltigkeit: An
ten und reaktionären Diskursen zu sein. Doch         der Schwelle zur digitalen Moderne scheint
die Idee der Mündigkeit, die wir hier stark ma-      beides immer weniger aussichtsreich. Empi-
chen wollen, und die der Freiheit die Regel ge-      risch entfaltet sich vielmehr das Szenario einer
ben soll, ist ein genuin emanzipatorisches Ideal.    mehrheitsautoritären Verwaltung der Nicht-
Und die Fähigkeit und Bereitschaft zur Mündig-       Nachhaltigkeit, die einer Minderheit auch im
keit – daran wollen wir erinnern – ist eine not-     ökologischen Notstand ihre entgrenzte Freiheit
wendige Bedingung für eine Stabilisierung der        sichert.
Demokratie, für eine demokratische Transfor-
mation zur Nachhaltigkeit und zur Verhinde-
rung der – auch umweltpolitischen – Flucht ins

2. Mündigkeit und Empowerment
Die aufklärerische Idee des freien, mündigen         politischen Gemeinschaften auf unterschiedli-
und selbstbestimmten Menschen, dessen                che Weise ausbuchstabiert und institutionali-
Würde unantastbar und der das Subjekt uni-           siert worden. Entsprechend begründet sie
versaler Menschenrechte ist, bildet den nor-         recht verschiedene Formen der Demokratie
mativen Kern der Demokratie und des demo-            (Held 2006; Schmidt 2008). Aber die Idee des
kratischen Projekts (Blühdorn 2013). Diese Idee      freien und mündigen Subjekts ist letztlich der
impliziert die Freiheit und Selbstbestimmung         normative Referenzpunkt jeder kritischen The-
des Individuums sowie die des kollektiven Sub-       orie der Gesellschaft, jeder emanzipatorischen
jekts, also die Souveränität des Volkes. Sie ist     Politik und aller Kriterien, an denen demokrati-
zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen         sche Institutionen und Systeme gemessen wer-

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    den. Sie ist das Ziel, auf das demokratische Be-        den 1970er Jahren Warnungen, dass der Ver-
    wegungen stets ausgerichtet waren. Solche Be-           such, den normativen Begriff des autonomen
    wegungen werden als progressiv und emanzi-              Subjekts zur zentralen Kategorie der Analyse
    patorisch bezeichnet, weil und insofern sie als         moderner Gesellschaften und ihrer Probleme
    Vorkämpfer*innen dieser Norm auftreten – die            zu machen, in die Irre gehe, weil die Besonder-
    freilich stets ein unerfülltes Ideal bleibt.            heit dieser Gesellschaften sowie die Ursache
                                                            ihrer Schwierigkeiten – auch der ökologischen
    Auch im Hinblick auf die sich entfaltende Um-           – vielmehr in ihrer Ausdifferenzierung in weit-
    weltkrise und drohende ökologische Katastro-            gehend autonome Funktionssysteme liege
    phen wurde der Mündigkeit bzw. dem*der                  (Luhmann 1971a, 1971b, 1984, 1986). Doch für
    mündigen Bürger*in seit den neuen sozialen              die neuen sozialen Bewegungen stand die Idee
    Bewegungen erhebliche Bedeutung zugemes-                des autonomen Subjekts und dessen demokra-
    sen. War noch Schumpeter mit seinem Modell              tischer Selbstverwaltung nicht zur Disposition.
    der Demokratie als Methode zur Elitenauswahl            Sie insistierten, dass moderne Bürger*innen
    davon ausgegangen, dass die                                         auf dem von Kant vorgezeichneten
    Bürger*innen im umfassenden                                         Weg des Auszuges aus der selbst
                                          Autonomie, Mündigkeit
    Sinne unmündig sind (Schumpe-                                       verschuldeten Unmündigkeit (Kant
                                          und Selbstbestimmung
    ter 2008/1947), und hatten auch                                     1985/1783, S. 55) weit fortgeschrit-
                                          bedeuteten nicht die Ab-
    die liberalen, repräsentativen                                      ten und zur Übernahme gesell-
                                          wesenheit von Herr-
    Demokratien der Nachkriegs-                                         schaftlicher Verantwortung nun
                                          schaft, sondern Selbst-
    jahrzehnte ihren Bürger*innen                                       sehr viel besser in der Lage seien als
                                          beherrschung.
    nicht viel Mündigkeit zugetraut                                     die bis dato herrschenden politi-
    oder abverlangt, so insistierten                                    schen und ökonomischen Eliten.
    die neuen emanzipatorischen Bewegungen seit
    den 1970er Jahren vehement, dass den Bür-               Angesichts der technologischen und ökologi-
    ger*innen und der Zivilgesellschaft unverzüg-           schen Gefahren, die diese Eliten – und die in-
    lich ihre volle Mündigkeit und ihr volles Selbst-       dustrielle Moderne insgesamt – heraufbe-
    bestimmungsrecht zuzuerkennen sei. Die aus              schworen hatten, erhoben sie das Prinzip Ver-
    ihrer Sicht bestenfalls in formaler Hinsicht de-        antwortung (Jonas 2017/1979) zum Kernstück
    mokratische Ordnung sollte – gerade auch mit            einer neuen Umwelt- und Gesellschaftsethik
    Blick auf sich abzeichnende ökologische Kri-            mündiger Bürger*innen. Dieses Prinzip war ge-
    senerscheinungen – umfassend demokratisiert             wissermaßen die ökologische Übersetzung und
    und die Zivilgesellschaft gegenüber dem Staat           Verlängerung des kantischen Vernunftimpera-
    und der Wirtschaft umfassend ermächtigt wer-            tivs und der kantischen Pflichtethik. Autonomie
    den (Kaase 1982, 1984).                                 und Mündigkeit wurden verstanden als die Fä-
                                                            higkeit zum Gebrauch einer über die persönli-
    Zwar hatte die schon ältere Beobachtung, dass           chen Interessen der Gegenwart weit hinausrei-
    demokratische Systeme vor allem unter Bedin-            chenden gesamtgesellschaftlichen Vernunft,
    gungen der ökonomischen Sicherheit und des              und als die Habitualisierung von Selbstbeherr-
    materiellen Wohlstands besonders gedeihen               schung und Selbstbegrenzung nach Maßgabe
    (Tocqueville 1985/1834; Lipset 1959; Almond             einer übergeordneten Verpflichtung auf die
    und Verba 1963), einige Skeptiker zu dem Um-            Freiheit, Würde und Gleichberechtigung nicht
    kehrschluss geführt, dass unter Bedingungen             nur aller Teile der Gesellschaft, sondern auch
    der Knappheit und angesichts der Begrenztheit           der Natur. Autonomie und Selbstbestimmung
    des Planeten, die Demokratie keine aussichts-           bedeuteten in diesem Sinne nicht die Abwe-
    reiche und längerfristig haltbare Form der poli-        senheit von Herrschaft, sondern Selbstbeherr-
    tischen Organisation sei. Denn die ökologische          schung, die vernunftgeleitete Anerkennung der
    Krise erzwinge Maßnahmen, „die das Eigenin-             moralischen Pflicht, des kategorischen Impera-
    teresse der Betroffenen sich spontan nicht auf-         tives, der das persönliche Handeln und Streben
    erlegt hätte“ und, die „im demokratischen Pro-          stets unter die Regel des kollektiven Subjekts
    zess [nur] schwer zum Beschluss gebracht wer-           und des Gemeinwohls stellt. Das Ideal der
    den können“ (Jonas 2017/1979, S. 262). Auch             Mündigkeit bedeutete entsprechend die Meta-
    gab es von Seiten der Sozialtheorie bereits in

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   morphose der bloßen Privatperson in den Sta-        dem Prinzip der Freiheit Grenzen zu setzen, das
   tus des*der Bürger*in – als Teil einer Bürger-      Gemeinwohl zu schützen und auch die Integri-
   schaft, die Entwicklung der natürlichen Person      tät der Natur zu respektieren, wurde also da-
   in ein vernunftbestimmtes Subjekt, sowie die        hingehend entkräftet, dass nur die liberale De-
   Erkenntnis, dass Freiheit und Pflicht untrenn-      mokratie in eine Komplizenschaft mit der – und
   bar mit einander verbunden und zwei Seiten          Mitschuld für die – ökologische(n) Krise ver-
   der gleichen Medaille sind. Diese Mündigkeit        strickt sei (Dean 2009; Eckersley 2019). Partizi-
   war gleichzeitig die Voraussetzung und das Ziel     pative und deliberative Formen der Demokra-
   der wahren Demokratie. Sie war die Grundlage        tie hingegen sollten geeignet sein, die bloß for-
                                      dafür, dass      malen Verfahren der liberalen Demokratie an
Das Ideal der Mündigkeit bedeu-       die liberale     substanzielle Verständnisse des Gemeinwohls
tet, dass Freiheit und Pflicht un-     Demokratie      anzubinden, das bloß instrumentelle Verhältnis
trennbar mit einander verbunden       in eine par-     zur Demokratie in ein Verständnis von Demo-
und zwei Seiten der gleichen Me-          tizipative   kratie als Selbstzweck und Lebensform fortzu-
daille sind.                             (Pateman      entwickeln, und genau mit dieser alltäglichen
                                              1970;    Praxis der Demokratie einen grundlegenden
   Macpherson 1977) und deliberative (Habermas         Kulturwandel und eine gesamtgesellschaftliche
   1981; Dryzek 2000; Gutmann und Thompson             Transformation zu erreichen (Barry 1999). Die
   2004) fortentwickelt werden konnte; und in de-      Idee des*der mündigen Bürger*in wurde also
   ren Rahmen sollte die Mündigkeit weiter beför-      zum Zentralstück der demokratischen Bewälti-
   dert und befestigt werden.                          gung der ökologischen Krise. Eine partizipative
                                                       und deliberative Demokratisierung der Demo-
  Aus umweltpolitischer Perspektive ergab sich         kratie würde die Gesellschaft mündiger Bür-
  die Notwendigkeit, die Demokratie fortzuent-         ger*innen in die Lage versetzen, den Exzess zu
  wickeln unter anderem daraus, dass die libe-         vermeiden, vor dem bereits Platon gewarnt
  rale Demokratie den Schwerpunkt stets vor al-        hatte; den Umschlag in die totale Unfreiheit ab-
  lem auf individuelle Rechte und Freiheiten ge-       zuwenden, den auch Polanyi befürchtete; und
  legt hatte, die durch besondere institutionelle      als kollektive (konviviale) Selbstbegrenzung (Il-
  Arrangements (checks and balances) geschützt         lich 1998/1973) zu organisieren und durchzu-
  und vom Staat garantiert werden sollten. Für         setzen, was im Zeichen des ökologischen Not-
  den Schutz der Gemeingüter und des Gemein-           stands andernfalls von einem autoritären
  wohls ist die liberale Demokratie demgegen-          Knappheits- und Begrenzungsstaat erzwungen
  über sehr viel weniger gut aufgestellt. Zweitens     werden müsste. Der gesellschaftliche Werte-
  waren die neuen technologischen und kulturel-        wandel, den Ronald Inglehart schon in den
  len Unsicherheiten, die Ulrich Beck später als       1970er Jahren als die stille Revolution
  das unterscheidende Merkmal der Risikogesell-        (Inglehart 1977) beschrieb, schien den empiri-
  schaft (Beck 2003/1986) beschrieb, ein we-           schen Beweis dafür zu liefern, dass die Hoff-
  sentlicher Grund dafür, dass die Definition und      nung auf die mündige Zivilgesellschaft tatsäch-
  Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme und          lich begründet ist. Und bis in die Gegenwart
  Prioritäten nicht mehr den Eliten aus Politik,       halten verschiedene Beobachter*innen nicht
  Wirtschaft oder Wissenschaft überlassen blei-        nur an der These fest, dass der fortdauernde
  ben, sondern in die Hände mündiger Bür-              Bedeutungszuwachs emanzipatorischer Werte
  ger*innen und der Zivilgesellschaft übertragen       die Bedingungen für die Demokratie stetig wei-
  werden sollten. Und schließlich verlangte dies       ter verbessere (Inglehart 1998; Inglehart und
  auch das demokratische Prinzip der Kongruenz         Welzel 2005; Alexander et al. 2012; Inglehart
  zwischen denen, die politische Entscheidungen        2018), sondern auch, dass dieser Wertewandel
  treffen, und denen, die von ihnen betroffen          den Weg zu einem neuen Gesellschaftsvertrag
  sind.                                                für eine Große Transformation (WBGU 2011)
                                                       zur Nachhaltigkeit bereite.
  Der ältere, schon bei Platon besprochene Ver-
  dacht, dass die Demokratie per se unfähig sei,

                                                                       IGN Interventions Feb |2020
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      3. Befreiung aus der Mündigkeit
      Der gesellschaftliche Wertewandel seit den           (Bertelsmann Stiftung 2014). Doch die vorherr-
      1970er Jahren, die zunehmende Bedeutung              schenden Vorstellungen von mehr Selbstbe-
      emanzipatorischer Werte, wurde also als eine         stimmung, mehr
      Entwicklung in Richtung Mündigkeit und Ver-          Partizipation und Demokratische Werte wie
      antwortlichkeit interpretiert, die der Entfal-       der Weiterent- Gleichheit und Inklusion gera-
      tung einer wahren Demokratie und der gesell-         wicklung der De- ten immer offener in Konflikt
      schaftlichen Bewältigung sozial-ökologischer         mokratie haben mit den vorherrschenden Ver-
      Krisenlagen gleichermaßen zuträglich wäre.           sich radikal ent- ständnissen von Freiheit und
      Gerade in den sich als kritisch verstehenden So-     fernt von allem,
                                                                               einem guten Leben.
      zialwissenschaften wurde die von den sozialen        was die sozial-
      Bewegungen vorangetriebene Demokratisie-             ökologischen
      rung der Demokratie (Offe 2003) als die Befrei-      Vordenker*innen der partizipativen und de-
      ung des authentischen Subjekts betrachtet,           liberativen Demokratie sich unter Mündigkeit
      dessen wahres Wesen, Rechte und Würde von            und empowerment vorgestellt hatten.
      den Macht- und Herrschaftsstrukturen des Ka-
      pitalismus bisher unterdrückt, kolonisiert und       Tatsächlich haben (Beck 2003/1986, 1994),
      entfremdet worden waren, in dessen Emanzi-           Schulze (1993), Giddens (1997), Sennett
      pation aber der zentrale Schlüssel zur Erfüllung     (1999), Bauman (2000), Žižek (2010) und zu-
      des demokratischen Projekts sowie zur Über-          letzt noch einmal Reckwitz (2017, 2019) sehr
      windung der sozial-ökologischen Krise moder-         gründlich nachgezeichnet, wie die Freisetzung
      ner Gesellschaften liege. Bis in die Gegenwart       des modernen Individuums aus den Zwängen
      wirken die entsprechenden Entfremdungs- und          und Sicherheiten traditioneller Bindungen, die
      Befreiungsnarrative fort. Diese Interpretation       Möglich- und Notwendigkeit der eigenverant-
      des Wertewandels und diese Narrative der kri-        wortlichen Selbstkonstruktion, sowie die um-
      tischen Sozialwissenschaften lassen aber außer       fassende Durchsetzung dessen, was Gerhard
      Acht, dass erstens seit jeher eine fundamentale      Schulze (1993) einst als die Erlebnisgesellschaft
      Spannung bestanden hat, zwischen dem eman-           bezeichnete, die vorherrschenden Verständ-
      zipatorischen Prinzip der Grenzüberschreitung        nisse von Selbstbestimmung, Selbstverwirkli-
      und dem ökologischen Prinzip der Begrenzung          chung und einem guten Leben grundlegend
      und Grenzeinhaltung, die emanzipatorisch-            verändert haben. Gerade im Zeichen des Neo-
      ökologische Bewegungen und Parteien noch             liberalismus einerseits und des Rechtspopulis-
      nie wirklich aufzulösen vermochten, obwohl sie       mus andererseits haben sich die gängigen In-
      der Eigenlogik der Rationalisierung, des Wachs-      terpretationen von Selbstbestimmung und
      tums und der Beschleunigung immer höchst             Selbstverwirklichung weit entfernt von den
      kritisch gegenüber standen. Zweitens haben           Verständnissen von Mündigkeit und Verant-
      sich die vorherrschenden Verständnisse von           wortlichkeit, die für die neuen sozialen Bewe-
      Freiheit, Selbstverwirklichung und einem guten       gungen bestimmend gewesen waren. Hatten
      Leben in modernen Gesellschaften grundle-            die demokratisch-ökologischen Bewegungen
      gend verändert: Zwar gewinnen Werte der              der 1980er Jahre das emanzipierte und selbst-
                                          Selbstbestim-    bestimmte Subjekt, die mündige Bürger*in,
Die Befreiung aus Verantwort-           mung,    Selbst-   noch klar als das reflektive, besonnene, selbst-
lichkeiten und Moralimperativen         verwirklichung     beherrschte und selbstbegrenzte Subjekt ver-
verspricht neue Optionen der            und Selbstarti-    standen; waren für sie also Freiheit und Mün-
Selbstverwirklichung und verbes-        kulation tat-      digkeit noch – ganz kantisch – untrennbar ge-
serten Erfolg in der Wettbe-            sächlich weiter    bunden an die Verpflichtung auf den kategori-
werbsgesellschaft.                      an Bedeutung,      schen Imperativ (Kant 1985/1783) oder die
                                        und die An-        kommunikative Vernunft (Habermas 1981), so
      sprüche und Erwartungen heutiger Bürger*in-          gilt heute, im Zeitalter der Trennungen
      nen bezüglich der politischen Partizipation, Re-     (Bauman und Jakubzik 2009, 51 ff.) die Befrei-
      präsentation und Responsivität steigen stetig        ung aus genau diesen Verpflichtungen als we-

      Entgrenzte Freiheit
Blühdorn|Kalke      9

      sentliche Bedingung des selbstbestimmten Le-       nicht nur immer weniger geeignet, die zuneh-
      bens und der erfolgreichen Selbstverwirkli-        mend komplexen und drängenden sachlichen
      chung. Als erstrebenswert, fortschrittlich – und   Probleme moderner Gesellschaften zu bewälti-
                                     wettbewerbsfä-      gen, sondern darüber hinaus geraten demokra-
Wenn biophysische Grenzen          hig   – gelten in     tische Werte wie Gleichheit, Partizipation und
immer deutlicher sichtbar wer-     modernen Ge-          Inklusion immer offener in Konflikt mit den
den, werden soziale Ungleich-      sellschaften Fle-     Verständnissen von Freiheit, Selbstbestim-
                                   xibilität, Mobili-    mung und einem guten Leben, die zum gesell-
heit und Ausgrenzung zum Er-
                                   tät, Vielseitigkeit   schaftlich vorherrschenden Ideal geworden
fordernis der entgrenzten
                                   und Einzigartig-      sind.
Selbstverwirklichung.              keit. An die Stelle
                                   des konsistenten,     Gerade wenn biophysische Grenzen immer
     stabilen und einheitlichen Subjekts tritt in der    deutlicher sichtbar werden, werden soziale Un-
     flüchtigen Moderne (Bauman 2000) ein ebenso         gleichheit und Ausgrenzung sogar zum unbe-
     flüchtiges Subjekt – das die hergebrachten Ide-     dingten Erfordernis der entgrenzten Selbstver-
     ale der Mündigkeit – mit all ihren restriktiven     wirklichung, die von wesentlichen Teilen der
     Elementen – weit hinter sich lässt. Denn für das    Gesellschaft als unverhandelbarer Anspruch
     unternehmerische Selbst (Bröckling 2007) ver-       und selbstverständliches Freiheitsrecht vertei-
     spricht die Befreiung aus den Pflichten, Verant-    digt wird (Brand und Wissen 2017; Lessenich
     wortlichkeiten und Moralimperativen, die dem        2017). Und die Wahrnehmung dieser mehrfa-
     älteren Begriff der Mündigkeit einbeschrieben       chen Dysfunktionalität der Demokratie (Blüh-
     sind, vielfältige neue Optionen der Selbstver-      dorn 2018, 2019, 2020a) betrifft nicht mehr nur
     wirklichung und verbesserte Aussichten auf Er-      die liberale Demokratie – die vielleicht sogar
     folg in der Wettbewerbsgesellschaft.                am allerwenigsten – sondern auch und vor al-
                                                         lem die egalitären, partizipativen und delibera-
     Für die Demokratie hingegen bedeutet dieser         tiven Verständnisse von Demokratie, die die
     Werte- und Kulturwandel, diese Befreiung aus        ökologisch-emanzipatorischen Bewegungen
     der Mündigkeit, eine erhebliche Herausforde-        noch vehement eingefordert und als Königs-
     rung, schon weil hergebrachte Formen der de-        weg zu einer sozial und ökologisch befriedeten
     mokratischen Organisation, Partizipation, Re-       Gesellschaft gesehen hatten. Nach der Befrei-
     präsentation und Legitimation davon ausge-          ung aus der Mündigkeit, die in der neoliberalen
     hen, dass mündige Bürger*innen halbwegs             Wettbewerbsgesellschaft als signifikanter Ge-
     konsistente Werte und beständige Interessen         winn erscheint, werden gerade diese Verständ-
     haben, die sich mit einer Stimme angemessen         nisse von Demokratie besonders als dysfunkti-
     artikulieren lassen. In der flüchtigen Moderne      onal und – genau so, wie Polanyi es der „libera-
     und für heutige Subjektivitätsverständnisse ist     len Philosophie“ angekreidet hatte – als frei-
     das aber weniger denn je der Fall. Entspre-         heitsberaubende „Zumutung“ (Baatz 2019)
     chend ist kaum verwunderlich, dass sich in mo-      wahrgenommen. Umgekehrt erscheinen die
     dernen Gesellschaften höchst ambivalente Hal-       entgrenzten Freiheits- und Berechtigungsan-
     tungen gegenüber der Demokratie herausbil-          sprüche, die keineswegs nur in den obersten
     den (Dahl 1994; Dalton 2004). Hatte Russel Dal-     Teilen der
     ton (2008) noch von einer Verschiebung im           Gesellschaft
                                                                          Nach der Befreiung aus der Mündig-
     Verständnis von Bürgerschaft von „duty-based        umgesetzt
     citizenship“ hin zu „engaged citizenship“ ge-       und bedin-       keit werden egalitäre Verständnisse
     sprochen, bezeugt heute gerade der Rechtspo-        gungslos         von Demokratie als freiheitsberau-
     pulismus ein hohes Maß an disengagement             verteidigt       bende „Zumutung“ wahrgenommen.
     und was Bauman als die Sezession der Erfolg-        werden,
     reichen (Bauman und Jakubzik 2009, 63 ff.) be-      nicht nur denen als Zumutung, die aufgrund
     schreibt, illustriert dieselbe Tendenz. Demo-       mangelnder Ausstattung mit den entsprechen-
     kratische Verfahren und Institutionen erschei-      den Kapitalien von den geltenden Idealen des
     nen den verschiedensten gesellschaftlichen          guten Lebens ausgeschlossen bleiben, sondern
     Gruppen – aus je verschiedenen Gründen –            auch denen, die in den entsprechenden Le-
                                                         bensstilen eine fundamentale Bedrohung für

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     das globale Klima, für ihre eigene Zukunft und     weit entfernt haben. Sie entfaltet eine Dyna-
     für das Überleben der Menschheit sehen.            mik, in der das democratic fatigue syndrome
                                                        (van Reybrouck 2016; Appadurai 2017), die
     So führt die Befreiung aus der                                    nachhaltige Nicht-Nachhaltig-
     Mündigkeit zu einer Politisierung Die Befreiung aus der Mün-      keit (Blühdorn 2007, 2011,
     und Polarisierung be-grenzter digkeit führt zu einer Politi-      2020b) und die Zuflucht ins Auto-
     und ent-grenzter Lebensweisen, sierung und Polarisierung          ritäre (Decker und Brähler 2018)
     die sich im gegenwärtigen Kon- be-grenzter und ent-grenzter       sich wechselseitig verstärken
     flikt zwischen Rechtspopulismus Lebensweisen.                     und weiter verfestigen. Und die
     und neuer Klimabewegung un-                                       digitale Revolution, die von nati-
     übersehbar niederschlägt. Auf beiden Seiten        onalen Regierungen allenthalben als Prioritäts-
     provoziert sie autoritäre Reaktionen und nährt     projekt vorangetrieben wird, setzt den Ab-
     einen politischen Diskurs und eine politische      schied von der Mündigkeit mit all seinen Folgen
     Kultur, die sich von den Idealvorstellungen der    nicht nur in radikalisierter Weise fort, sondern
     partizipativen und deliberativen Demokratie        macht sie womöglich endgültig unumkehrbar.

     4. Digitale Revolution
     Die digitale Revolution wird oftmals als umfas-         ten, spezialisierten Interessen sowie den knap-
     sende Modernisierung von Politik und öffentli-          pen Zeit- und Energieressourcen moderner
     cher Verwaltung präsentiert (Bernhard et al.            Bürger*innen besser entsprechen als die etab-
     2019). Ähnlich wie in den 1970er Jahren die             lierten Institutionen und Verfahren der Demo-
     partizipatorische und Anfang der 1990er die             kratie (Hoff 2010; Kalff 2017). Neue civic tech-
     kommunikationstechnologische        Revolution          nologies sollen auch in der individualisierten
     mit großen Hoffnungen für die Demokratisie-             und beschleunigten Gesellschaft Möglichkei-
     rung der Demokratie verbunden waren, wird               ten zur Interaktion und Kooperation bieten, die
     heute auch die digitale Revolution verbreitet           „Transaktionskosten“ (Zittel 2007) für politi-
     als Möglichkeit zur Erneuerung der ermüdeten            sche Beteiligung senken, und dem eine Stimme
     Demokratie betrachtet. Während traditionelle            zu geben, was einige als die „digitale Willens-
     politische Organisationen wie Parteien oder             nation“ bezeichnen (Graf und Stern 2018). Da-
     Gewerkschaften kontinuierlich an Bedeutung              bei gelten der individuelle Zugang zu Informa-
     verlieren (Dalton 2008; Butzlaff                                       tionen, Kommunikation und un-
     et al. 2011; Wiesendahl 2013), Wesentliche Teile der Filter-           hierarchischer Bildung über ent-
     und auch neue politische Ak- blasen- und Echokammern-                  sprechende       Online-Angebote
     teure wie soziale Bewegungen         kommunikation lassen sich         und  Social   Media   als wichtiger
     oft Schwierigkeiten haben, sich                                        Schlüssel zur informierten und
                                          als post-rational, post-argu-
     über relativ begrenzte Protest-                                        entscheidungswilligen Gemein-
                                          mentativ und insgesamt
     zyklen hinaus zu verstetigen und                                       schaft der digital citizens (Maier-
     zum Subjekt politischer Transfor- post-deliberativ beschrei-           Rabler et al. 2012; Atteneder und
     mationsprojekte zu werden            ben.                              Maier-Rabler 2016). Gleichzeitig
     (Tarrow 2011/1994), wird neuen                                          sollen    gewählte    Repräsen-
     Formen der Liquid-Democracy, E-Democracy                 tant*innen und die öffentliche Verwaltung
     und digitalen Demokratie mitunter erhebliches            durch die digitale Revolution in die Lage ver-
     Potenzial für die Erneuerung und Revitalisie-            setzt werden, die Bedürfnisse der Bürger*in-
     rung der Demokratie zugeschrieben. Verflüs-              nen differenzierter als bisher zu erfassen und
     sigte Informations-, Koordinations- und Ent-             abzubilden, schneller und zielsicherer zu rea-
     scheidungsstrukturen über interaktive Plattfor-          gieren und also die demokratische Repräsenta-
     men, Bürger*innenbeteiligungsprojekte und                tion und Responsivität deutlich zu verbessern
     Online-Wahlen sollen den komplexen Identitä-             (Zittel 2010; Ulbricht 2019, 2020).

     Entgrenzte Freiheit
Blühdorn|Kalke       11

      Diese Hoffnungen bzw. Erwartungen sind inso-         kollektiven gesellschaftlichen Subjekt konstitu-
      fern nicht unbegründet, als soziale Bewegun-         ieren und dessen innere Spannungen verhan-
      gen oder einzelne Akteur*innen die digitalen         deln, zerlegt die digitale Revolution in fein aus-
      Medien in der Tat sehr erfolgreich als Mittel        differenzierte und streng gegeneinander abge-
      der Information, Kommunikation, Koordination         grenzte Diskursarenen (Ritzi 2019), in denen
      und Mobilisierung nutzen und damit eine er-          die Komplexität der
      hebliche Reichweite haben können. Der „Rezo-         Außenwelt jeweils Die civic technologies trei-
      Effekt“ während der deutschen Bundestags-            radikal     reduziert ben die Entzivilisierung
      wahl 2019 ist dafür ein aktuelles und sehr präg-     wird, Information der Gesellschaft bedenk-
      nantes Beispiel. Erstens allerdings werden           nur sehr selektiv Zu- lich voran.
      diese neuen Medien mindestens ebenso bzw.            gang findet bzw. an-
      sogar noch effizient(er) von Akteuren genutzt,       schlussfähig ist, und Sinnerzählungen produ-
      die völlig andere Verständnisse von Informa-         ziert und gepflegt werden, die nur unter Bedin-
      tion, Demokratie und Beteiligung haben; und          gungen hoher Komplexitätsreduktion und
      zweitens beziehen sich solche Hoffnungen auf         strenger Abschottung von abweichenden Sicht-
      digitale Emanzipationsmöglichkeiten durch            weisen Bestand haben. In diesen verengten
      civic technology letztlich auf Partizipation und     Diskursräumen ist nicht ausschlaggebend, was
      Teilhabe im Verständnis des modernistischen          einer sachlichen Überprüfung bzw. öffentli-
      Ideals des bürgerlichen Vernunftsubjekts und         chen Rechtfertigung standhält, sondern was
      mündiger Bürger*innen. Die eigentliche Ursa-         sich individuell und situationsbezogen richtig
      che der demokratischen Dysfunktionalität –           anfühlt und Sinn macht (Fischer 2019). Öffent-
      den beschriebenen Werte- und Kulturwandel            liche Medien hingegen, kritische Journalist*in-
      und den Abschied von der Mündigkeit – erfas-         nen und Intellektuelle, sowie die Wissenschaf-
      sen diese Idealvorstellungen von der digital er-     ten, die den integrierenden öffentlichen Raum
      neuerten Demokratie nicht. Vielmehr tun sie          bespielen und eine möglichst gesamtgesell-
      so, als gehe es lediglich darum, demokrati-          schaftliche Realitätswahrnehmung schaffen
      schen Bürger*innen neue Mittel an die Hand zu        und vermitteln wollen, werden als Lügenpresse
      geben, um unter veränderten gesellschaftli-          denunziert, als Volksfeinde diskreditiert oder
      chen Rahmenbedingungen demokratische                 schlicht ignoriert.
      Normen, Ansprüche und Erwartungen zu ver-
      wirklichen, die ihrerseits als weitgehend unver-     In der Dimension individuumsbezogener Sinn-
      ändert und unproblematisch vorgestellt wer-          bedürfnisse und Sinnverarbeitung ist dies die
      den. Zu der sowohl demokratie- als auch nach-        Entsprechung zu der bei Luhmann beschriebe-
      haltigkeitspolitisch entscheidenden Entgren-         nen Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen
      zungsdynamik bieten die neuen civic technolo-        Funktionssystemen, die – als ebenfalls sinnver-
      gies keinerlei Gegengewicht. Tatsächlich thera-      arbeitende Systeme – nach ihren je eigenen,
      piert die digitale Revolution an keiner Stelle die   hochspezifischen und exklusiven Codes operie-
      Symptome der demokratischen Ernüchterung,            ren (Luhmann 1984). In ganz ähnlicher Weise
      ganz zu schweigen von deren Ursachen. Im Ge-         reduzieren auch digitale Filterblasen und
                                      genteil verstärkt    Echokammern die Komplexität und installieren
                                      sie beides sogar     Denkblockaden und Denkverbote, die die ge-
In der digitalen Revolution radi-
                                      – nicht zuletzt,     sellschaftliche Fragmentierung und Polarisie-
kalisieren sich die Selbstbezüg-
                                      indem sie die        rung befördern und den demokratischen Dis-
lichkeit und die Entgrenzung ei-
                                         Ausdifferenzie-   kurs ersticken. Nach der Vorstellung der Befür-
gener Ansprüche auf Freiheit                               worter*innen der partizipatorisch-deliberati-
                                      rung der politi-
und Selbstbestimmung.                 schen      Öffent-   ven Demokratisierung der Demokratie sollte es
                                      lichkeit erheb-      in diesem demokratischen Diskurs eigentlich
      lich zuspitzt und die Qualität des politischen       darum gehen, die Vielfältigkeit miteinander
      Diskurses grundlegend verändert.                     konfligierender, aber allemal unhintergehbarer
                                                           Freiheits-, Selbstbestimmungs- und Gleichbe-
     Die demokratische Agora, den integrierenden           rechtigungsansprüche von sich immer neu und
     öffentlichen Raum, in dem sich die vielfältigen       verändert konstituierenden Subjektivitäten zu
     gesellschaftlichen Akteure – im Idealfalle – zum      verhandeln und in einer Balance zu halten

                                                                           IGN Interventions Feb |2020
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     (Rancière 2011, S. 139). Dieser Diskurs sollte         zumindest dem Anspruch nach selbstbestimm-
     auf den Prinzipien der Offenheit, der Gleich-          ten und mündigen Subjekts werden im Zuge
     heit, des Zuhörens und gleichberechtigten              der digitalen Revolution zunehmend Datenpro-
     Ernstnehmens (Dobson 2014), des wechselsei-            file zum Bezugspunkt für administrative, öko-
     tigen Respekts, der Notwendigkeit der Begrün-          nomische, medizinische und anderweitige Ent-
     dung und der Rechtfertigung am Maßstab des             scheidungen (Ulbricht 2020). Nach Maßgabe
     Ideals einer öffentlichen Vernunft beruhen,            der Interessen der jeweiligen Akteur*innen
     auch wenn letztlich kein besseres Argument             werden diese Profile aus individuellen, grup-
     (Habermas 1992) den endgültigen Ausschlag              penspezifischen oder gesamtgesellschaftlichen
     geben kann. In den Echokammern der digitalen           Datenspuren zusammengestellt und genutzt,
     Kommunikation und sozialen Medien hat all              ohne dass die Datengeber*innen davon ein Be-
     dies – also die unverzichtbaren Regeln der de-         wusstsein oder darüber Kontrolle hätten. Zwar
     mokratischen Deliberation – aber nur noch we-          wurden in der liberalen Verwaltungstechnik
     nig Bedeutung bzw. wird                                                       Bürger*innen seit lan-
     es gezielt außer Kraft ge- Die Digitalisierung nimmt der Demokratie           gem in Datensätzen be-
     setzt (Froitzheim 2017). ihre emanzipatorisch-transformative Kraft.           arbeitet, doch die Infor-
     Kriterien der Rationalität                                                          mationsverhältnisse
                                    Sie entzieht sie dem Projekt einer sozial-
     und Überprüfbarkeit ver-                                                      (Poster 1990) des digita-
                                    ökologischen Transformation den Boden.
     lieren ebenso ihre Gel-                                                       len Überwachungskapi-
     tung wie soziale Hemm-                                                        talismus (Zuboff 2018)
     schwellen der Moralität und gegenseitigen              bedeuten insofern einen qualitativen Sprung,
     Achtung der Persönlichkeit. Stattdessen lassen         als die überall hinterlassenen Datenspuren zu
     sich wesentliche Teile der Filterblasen- und           warenhaften Vorhersageprodukten und die
     Echokammernkommunikation als eindeutig                 Bürger*innen zu Produzent*innen eines zur
     post-rational, post-argumentativ, post-faktisch        Verwertung bereit stehenden Datenüberschus-
     und insgesamt post-deliberativ beschreiben.            ses werden. „Digitales Verbundensein“ beför-
     Sie sind ausschließlich nach innen gerichtet und       dert in diesem Szenario weder die demokrati-
     selbstreferenziell; und sie sind ausdrücklich          sche noch die ökologische Mündigkeit, sondern
     nicht über Differenzierungsgrenzen hinweg im           ist nun vor allem „anderen Leuten“ ein will-
     Habermasschen Sinne verständigungsorien-               kommenes „Mittel zu“ ihren „geschäftlichen
     tiert. Auch weil die Aufmerksamkeitsökonomie           Zielen“ (Zuboff 2018, S. 24). Die Verabschie-
     im Netz die stetige Tabuverletzung und Ver-            dung der mündigen Bürger*in und des autono-
     schiebung jeweils geltender Toleranzgrenzen            men Subjekts wird damit radikal zugespitzt. Die
     erzwingt, treiben die civic technologies in der        Datafizierung (Cukier und Mayer-Schoenberger
     Praxis die Entzivilisierung (Nachtwey 2017) der        2013) löst die Einheit der Person und ihrer Per-
     Gesellschaft bedenklich voran. Hier wiederholt         sönlichkeit vollständig auf; sie dividuiert (De-
     und verstärkt sich noch einmal der Abschied            leuze 1993) das als ganzheitliches vorgestellte
     aus der Mündigkeit und der Verantwortlich-             Individuum, objektiviert das individuelle und
     keit. Hier radikalisieren sich die Selbstbezüg-        kollektive Subjekt. Deren Anspruch auf Selbst-
     lichkeit und die Entgrenzung eigener Ansprü-           bestimmung wird endgültig ausgesetzt bzw.
     che auf Freiheit und Selbstbestimmung, die so-         wird seine Aktualisierung, soweit dieser An-
     wohl dem demokratischen Projekt als auch               spruch überhaupt noch besteht, ausgelagert in
     dem der sozial-ökologischen Transformation             Diskursarenen, die speziell auf die „recreatio-
     den Boden entzieht, und dem eingangs be-               nal performance“ (Blühdorn 2019, S. 12) und
     schriebenen Doppelnotstand Vorschub leistet.           das Erleben von Subjektivität und Selbstbe-
                                                            stimmung ausgerichtet sind (Blühdorn 2006,
     Demokratietheoretisch gesehen – und in Bezug           2016; Deflorian 2020).
     auf eingangs formulierten Fragen – liegt das ei-
     gentlich Revolutionäre der digitalen Revolution        Die Komplexität, Vielschichtigkeit und Wider-
     allerdings darin, dass sie das in der flüchtigen       sprüchlichkeit von Individuen und Gesellschaft
     Moderne ohnehin schon höchst ambivalent ge-            werden also immer weniger verhandelt son-
     wordene Ideal der mündigen Bürger*in noch              dern nur noch kartiert und verwertet. Der freie
     viel weitreichender suspendiert. Anstelle des

     Entgrenzte Freiheit
Blühdorn|Kalke       13

Wille, die Würde, die Moralität des Individu-         Demokratie verliert auf diese Weise ihren nor-
ums, und sein fortgesetztes Ringen mit der Dis-       mativen Kern, dessen Verteidigung trotz der
krepanz zwischen normativem Wollen und fak-           vielfältigen Warnungen vor der Datendiktatur
tischem Handeln werden fortschreitend irrele-         (Helbing et al. 2017), dem technologischen To-
vant. Partizipation und Teilhabe bedeuten vor         talitarismus (Schirrmacher 2015) und den Fän-
allem noch das Bereitstellen möglichst viel-          gen der Datenkraken (Schröder und Schwane-
schichtiger Daten zur Verwendung und Ver-             beck 2017) zunehmend aussichtslos erscheint.
wertung durch Akteur*innen, von denen Re-             Denn im Zeichen der digitalen Revolution ad-
präsentation und Responsivität erwartet wird          dieren und radikalisieren sich die systemtheo-
(Blühdorn und Butzlaff 2020). Im radikalen Ge-        retische These von der Marginalisierung des
gensatz zu den Vorstellungen der partizipati-         bürgerlichen Vernunftsubjekts und die subjekt-
ven und deliberativen Demokratietheorie taugt         theoretische These von dessen Befreiung aus
die solchermaßen verstandene Partizipation            der Mündigkeit zur vollständigen Ablösung des
nur noch zur Legitimation und Reproduktion            bürgerlichen Vernunftssubjekts durch Algorith-
des Status Quo. Die Entwicklung neuer Vorstel-        men und künstliche Intelligenz, die die Funk-
lungen und emanzipatorischer Perspektiven             tion der Mündigkeit übernehmen. Jenseits der
hingegen wird ausgesetzt. Eine Demokratisie-          Auflösung ihres alten normativen Kerns ent-
rung der Demokratie kann die Digitalisierung          steht derweil eine neue Form der Demokratie:
darum kaum bewirken. Vielmehr nimmt sie der           die simulative Demokratie (Blühdorn 2013).
Demokratie ihre emanzipatorisch-transforma-           Ihre Institutionen und Verfahren bedienen –
tive Kraft. Und indem sie das autonome Subjekt        soweit dafür ein Bedarf besteht – weiter das
und die mündige Bürger*in als normativen              Narrativ der Mündigkeit und Selbstbestim-
Kontrapunkt zum bloß Faktischen vollständig           mung. Ein transformatives Potential haben sie
marginalisiert bzw. suspendiert, entzieht sie         jedoch weder in politisch-sozialer noch in öko-
dem Projekt einer sozial-ökologischen Trans-          logischer Hinsicht.
formation nicht nur den Boden, sondern be-
schleunigt vielmehr noch die Entgrenzung der
Freiheits- und Berechtigungsansprüche.

5. Das ausgeschlossene Dritte
Ausgangspunkt dieses Artikels war die Aktuali-        wollen, damit eine allein ausreichende Antwort
tät und wechselseitige Verschränkung der al-          zu geben, haben wir die These verfolgt, dass
ten Thesen von der Selbstzerstörung der De-           eine gemeinsame Ursache für die Erschöpfung
mokratie, des pervertierten Liberalismus und          der Demokratie und den ökologischen Not-
der Unausweichlichkeit des au-                                        stand in der Entgrenzung der
toritären Umweltstaates. Wir Zugunsten von Lebensstilen und           Freiheit liegt. Wir haben aus-
haben gefragt, wie sich der Selbstverwirklichungsidealen              geführt, dass unter Bedingun-
Zerfall des Vertrauens in die    haben verschiedenste Gesell-
                                                                      gen des Abschieds von der
Demokratie – gerade auch mit                                          Mündigkeit, der in ganz ver-
                                 schaftsgruppen das Prinzip der
Blick auf den ökologischen                                            schiedenen Teilen der Gesell-
                                 Selbstbegrenzung und Selbstbe-
Notstand – erklären und viel-                                         schaft vollzogen und von der
                                 herrschung nach außen gewen-
leicht therapieren lässt. Insbe- det und in das Prinzip der sozia-
                                                                      digitalen Revolution radikali-
sondere ging es uns auch um      len Grenzziehung und Ausgren-
                                                                      siert und zementiert wird, eine
die Frage, ob eine Demokrati- zung übersetzt.                         demokratische Bearbeitung
sierung der Demokratie, wie                                           des ökologischen Notstands
sie bis in die Gegenwart hinein                                       nicht sehr aussichtsreich ist,
immer wieder gefordert wird, eine Aussicht auf        sondern die Entgrenzung der Freiheits- und Be-
eine Therapie für den demokratisch-ökologi-           rechtigungsansprüche sich vielmehr weiter be-
schen Notstand bietet. Ohne behaupten zu              schleunigt.

                                                                      IGN Interventions Feb |2020
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     Uns war jederzeit klar, dass die Rede von der          von Lebensstilen und Selbstverwirklichungs-
     entgrenzten Freiheit unvermeidlich in den Ver-         idealen, von denen zwar unstrittig ist, dass sie
     dacht gerät, konservativ, anti-emanzipatorisch         sich nicht generalisieren lassen, die gleichwohl
     oder gar reaktionär zu sein. Wir sind aber der         aber von einer vielschichtigen Mehrheit als es-
     Ansicht, dass die hergebrachten herrschaftskri-        senzielles Freiheitsrecht und unverhandelbarer
     tischen und emanzipatorischen Ansätze so-              Berechtigungsanspruch mit aller Entschieden-
     wohl mit Blick auf den demokratischen als auch         heit verteidigt werden, haben sie das dem Be-
     auf den ökologischen Notstand in eine Sack-            griff der kantischen Mündigkeit inhärente Prin-
     gasse geraten sind. Und wir sind fern davon,           zip der Selbstbegrenzung und Selbstbeherr-
     auch nur anzudeuten, dass eine autoritäre              schung nach außen gewendet und übersetzt in
     Transformation zur Nachhaltigkeit aussichts-           das Prinzip des othering, d.h. der sozialen
     reich, wahrscheinlich oder überhaupt möglich           Grenzziehung und Ausgrenzung – innergesell-
     wäre. Vorsichtig sind wir insbesondere gegen-          schaftlich sowie über zwischenstaatliche Gren-
     über der gängigen Erzählung, die demokra-              zen hinweg. Entsprechend wird nicht nur die li-
     tisch-ökologische Krise ließe sich durch eine          berale, sondern mehr noch auch die partizipa-
     Rückeroberung der Demokratie durch all jene            tive, egalitäre und deliberative Demokratie zu-
     therapieren, deren Selbstbestimmung und                nehmend als dysfunktional und als „Zumu-
     Würde der Kapitalismus mit Füßen tritt (Crouch         tung“ erfahren – ebenso wie eine effektive
     2008; Dean 2009; Mouffe 2018). Nicht weniger           Klimapolitik oder gar eine sozial-ökologische
     unzureichend erscheinen uns allerdings die             Transformation der Gesellschaft zur Nachhal-
     Versuche, den Niedergang der Demokratie so-            tigkeit.
     wie die geringe Handlungsfähigkeit der Klima-
     und Nachhaltigkeitspolitik vor allem den illibe-       Wenn – und in dem Maße wie – die hier zentral
     ralen und klimawandelleugnenden Rechtspo-              gemachte These von der Befreiung aus der
     pulisten anzulasten (Schaller und Carius 2019).        Mündigkeit und der entgrenzten Freiheiten zu-
     Auch die neuerliche Behaup-                                              treffend ist, hat die Vorstel-
     tung, das Problem liege pri- Angesichts der Befreiung aus der            lung, man könne die Demo-
     mär bei der liberalen Demo-                                              kratie mit ein paar nachbes-
                                      Mündigkeit ist die mehrheitsautori-
     kratie (z.B. Lessenich 2019;                                             sernden Innovationen – etwa
                                      täre und exklusionsdemokratische
     Asara 2019; Langer 2019)                                                 durch den weiteren Ausbau
                                      Sicherung der Nicht-Nachhaltigkeit
     scheint uns angesichts des                                               von Beteiligungsrechten (Nar-
                                      das wahrscheinlichste Szenario.
     Abschieds von der Mündig-                                                val 2018), die Stärkung indivi-
     keit wenig plausibel. Wir ha-                                            dueller Freiheitsrechte (Möl-
     ben den Verdacht: Auf ihre je eigene Weise tra-        lers  2020)  oder durch   den Einsatz von neuen
     gen diese Ansätze – auch wenn sie alle eine ge-        civic technologies (Graf und Stern 2018) repa-
     wisse Berechtigung haben – wohl mehr zur Si-           rieren, etwas geradezu Groteskes. Ebenso gro-
     cherung als zur Überwindung der demokra-               tesk ist die Ansicht, eine Demokratisierung der
     tisch-ökologischen Nicht-Nachhaltigkeit bei            Demokratie könne eine sozial-ökologische
     (Blühdorn 2020b). Und alle gemeinsam verdun-           Transformation befördern. Vielmehr bestätigt
     keln sie den entscheidenden Punkt, den wir             sich die radikale Kritik von Jodi Dean: „The ap-
     hier beleuchten wollten:                               peal to democracy is […] an appeal to the status
                                                            quo for more of the same“ (Dean 2009, S. 93).
     Auf der Suche nach mehr Freiheit und Selbst-           Das Nachjustieren von Stellschrauben bei den
     bestimmung haben sich wesentliche, ideolo-             vorhandenen Institutionen ist möglich und in
     gisch durchaus gegensätzlich orientierte Ge-           vielerlei Hinsicht dringend wünschenswert.
     sellschaftsgruppen von dem Ideal der politi-           Doch nach der Befreiung aus der Mündigkeit
     schen Mündigkeit verabschiedet, das nicht nur          sind die Aussichten auf eine Erneuerung, eine
     eine unverzichtbare Grundlage der Demokratie           Demokratisierung, der Demokratie und eine
     ist, sondern in dem emanzipatorische Bewe-             demokratische Transformation zur Nachhaltig-
     gungen bis in die Gegenwart das entschei-              keit weniger günstig denn je. Die digitale Revo-
     dende Korrektiv für die sozial-ökologische Krise       lution, deren Neuerungen von gesellschaftli-
     moderner Gesellschaften und den Schlüssel zu           chen Mehrheiten als Zugewinn an Bequemlich-
     einem guten Leben für Alle sehen. Zugunsten            keit und Lebensqualität gern genutzt und klar

     Entgrenzte Freiheit
Blühdorn|Kalke        15

befürwortet werden, radikalisiert den Zweifel,     Die Aussichten dafür sind, wie gesagt, nicht
dass moderne Gesellschaften zukünftig noch         günstig. Aber die Fokussierung auf die Befrei-
die politisch-kulturellen Ressourcen zur Verfü-    ung aus der Mündigkeit trägt nicht nur dazu
gung haben werden, um die demokratisch-öko-        bei, ein sehr viel differenzierteres Verständnis
logische Krise in der Weise zu überwinden, wie     der drei eingangs festgehaltenen Tendenzen
die emanzipatorischen Bewegungen sich das          und ihrer wechselseitigen Verschränkung zu
vorgestellt hatten. Die Entwicklung in China       schaffen. Sie wirft auch ein Schlaglicht auf eine
veranschaulicht die durchdringende Datafizie-      entscheidende Schwachstelle in der bisherigen
rung der Bürger*innen im digitalen Panopti-        Diskussion: In der einschlägigen Literatur wer-
kum (Bauman und Lyon 2018), und es gibt we-        den immer noch verbreitet die jeweiligen Vor-
nig Grund zu der Annahme, dass die digitale Re-    und Nachteile einer demokratischen Transfor-
volution in Europa einen grundsätzlich anderen     mation zur Nachhaltigkeit und ihrer „diktatori-
Weg nehmen könnte.                                 schen Alternative“ (Shearman und Smith 2007;
                                                   Beeson 2010; Buchstein 2012) besprochen.
Die Rede vom Abschied aus der Mündigkeit und       Und immer wieder wird betont, moderne Ge-
der entgrenzten Freiheit zielt also ausdrücklich   sellschaften bzw. die Menschheit insgesamt
nicht darauf, bestimmte gesellschaftliche          hätten die Wahl zwischen kollektiver Selbstbe-
Gruppen für unmündig zu erklären und sie ab-       grenzung und kollektivem Selbstmord (Thun-
schätzig zu disqualifizieren. Ebenso sind wir      berg 2019). Solche Narrative zeugen von einer
entfernt davon, die alte Kritik zu erneuern, mit   sonderbaren Blindheit, denn angesichts der Be-
der konservative und liberale Eliten seit jeher    freiung aus der Mündigkeit und des pervertier-
zur Sicherung ihrer eigenen Privilegien die        ten Liberalismus ist ein drittes Szenario das bei
Emanzipations- und Gleichberechtigungsan-          weitem Realistischste: Die mehrheitsautoritäre
sprüche anderer Gesellschaftsteile als exzessiv    und exklusionsdemokratische Sicherung der
und zerstörerisch denunziert haben. Die Befrei-    Nicht-Nachhaltigkeit (Blühdorn 2019, 2020a).
ung aus der Mündigkeit wird vielmehr, so un-       Damit schließt sich der Kreis zu Platons Tyran-
sere These, von den verschiedensten gesell-        nis und zu den herrschaftskritischen Ansätzen,
schaftlichen Gruppierungen auf ihre je eigene      die wir in diesem Artikel bewusst in den Hinter-
Weise vollzogen – insbesondere auch von sol-       grund gestellt haben. Denn je weniger die de-
chen, die in besonderem Maße ökologische           mokratische Transformation zur Nachhaltigkeit
und demokratische Mündigkeit für sich in An-       noch als realistisches Projekt erscheint, desto
spruch nehmen. Wenn aber eine demokrati-           mehr wird der Kampf gegen dieses dritte Sze-
sche Transformation zur Nachhaltigkeit über-       nario zum zentralen Nachfolgeprojekt.
haupt möglich sein soll, dann ist eine Rückbe-
sinnung auf dieses aufklärerische Ideal eine un-
verzichtbare Vorbedingung. Denn anders kön-
nen die Neuverhandlung der entgrenzten Frei-
heitsansprüche und eine kollektive Selbstbe-
grenzung kaum gelingen.

                                                                   IGN Interventions Feb |2020
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