Akuter Tinnitus Psychische Korrelate und Ausmaß der Belastung bei Patienten
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Originalien HNO 2004 · 52:599–603 R. D’Amelio1 · C. Archonti2 · S. Scholz1 · P. Falkai1 · P. K. Plinkert2 · W. Delb2 DOI 10.1007/s00106-003-0944-5 1 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätskliniken des Saarlandes,Homburg/Saar Online publiziert: 31.Januar 2004 2 Institut für Medizinische und Klinische Psychologie der Universitätskliniken des Saarlandes, © Springer-Verlag 2004 Homburg/Saar Redaktion H.P.Zenner,Tübingen Akuter Tinnitus Psychische Korrelate und Ausmaß der Belastung bei Patienten I n der Regel wird der akute Tinnitus heu- te als hörsturzäquivalente Innenohrfunk- lungsmaßnahmen liegt in der Abgren- zung zur Spontanremission, die von ver- den bestimmte Persönlichkeitsausprägun- gen wie erhöhtes Pflichtgefühl und Nei- tionsstörung gesehen und den entspre- schiedenen Autoren kontrovers diskutiert gung zur Vermeidung und Verdrängung in chenden Interventionsmöglichkeiten bei und mit Werten in Höhe von 30% bis zu Konfliktsituationen [2] beschrieben,doch „Hörsturz“ oder anderen Funktionsstö- 70% angegeben wird [4, 27, 37, 38]. Keller- können diese Eigenschaften noch nicht rungen des Innenohrs zugeführt [23, 24, hals [22] gibt zudem zu bedenken, dass als hinreichend untersucht gelten. Inwie- 25, 39]. Während in vielen europäischen möglicherweise weniger die medizinische weit dispositionelle Faktoren,Persönlich- Ländern und in den USA eine „Nullthe- Intervention als vielmehr die Interaktion, keitsvariablen und psychische Auffällig- rapie“ üblich ist, hat sich in Deutschland d. h. das Arzt-Patient-Verhältnis als ur- keiten einen Einfluss auf den Prozess der als Verfahren der ersten Wahl die hä- sächlicher Faktor oder gemeinsamer Nen- Symptomverarbeitung und späteren Er- morheologische Infusionstherapie durch- ner der Behandlungserfolge gesehen wer- krankungsverlauf nehmen können,muss gesetzt (Übersicht bei [26]). den könnte. noch geklärt werden [39]. Viele therapeutische Interventionen Hinsichtlich der Chronifizierung des bei akutem Tinnitus orientieren sich an Tinnitus stellt sich auch zu diesem frühen > Kann eine psychologische Inter- der Annahme, dass die Genese des aku- Zeitpunkt der Manifestation die Frage,in- vention im akuten Stadium eine ten Tinnitus am ehesten durch Nährstoff- wiefern sich Individuen in ihrer psychi- Chronifizierung oder Dekompen- mangel und den hierdurch eingeschränk- schen Belastung durch die Ohrgeräusche sation des Tinnitus verhindern? ten Funktionsstoffwechsel in der Kochlea differenzieren lassen.Nur vereinzelt wird zu erklären ist,wobei dafür noch kein hin- in neuerer Zeit über Studien berichtet,die Die Beantwortung dieser Fragen wäre reichender Nachweis erbracht werden sich mit psychischen Einflüssen auf die wichtig, um beispielsweise zu klären, ob konnte [33,40].Ebenso konnte bislang die Höhe der wahrgenommenen Tinnitusbe- eine psychologische Intervention im aku- Wirksamkeit der hämorheologischen In- lastung im akuten Stadium sowie auf den ten Stadium präventiv wirkten und eine fusionstherapie gegenüber einer Placebo- weiteren Verlauf nach der Erstmanifesta- Chronifizierung oder spätere Dekompen- therapie noch nicht ausreichend durch tion befassen [2]. Es ist unklar, inwiefern sation verhindern könnte. Studien belegt werden [28, 38]. Die An- sich beispielsweise Verarbeitungsmecha- wendung weiterer Verfahren und unter- nismen im akuten Stadium mit den psy- Fragestellung schiedlicher Therapiekonzepte (Überblick chopathogenetischen Modi bei chroni- bei [4, 9]) lässt die aktuell vorherrschen- schem Tinnitus (Übersicht bei [1]) ver- Die folgende Studie befasst sich mit der de therapeutische Polypragmasie erken- gleichen lassen. Klärung der folgenden Fragen: nen.Jedoch ist auch hier festzustellen,dass Die zentrale Überlegung ist, ob nicht bislang für keine der eingesetzten Verfah- dysfunktionale Mechanismen bereits zu ▂ Lassen sich bereits im akuten Stadi- ren eine therapeutische Überlegenheit diesem frühen Zeitpunkt einen Einfluss um der Tinnitusmanifestation Indi- nachzuweisen war [11, 22, 33]. auf das Tinnituserleben nehmen,ähnlich viduen mit unterschiedlicher Belas- Eine Einschränkung in der Beurteilung wie dies vom chronischen Tinnitus be- tung durch den Tinnitus differenzie- der Wirksamkeit durchgeführter Behand- kannt ist [3, 5, 6, 7, 10, 34].Vereinzelt wur- ren? HNO 7 · 2004 | 599
Originalien Tabelle 1 Tabelle 2 Übersicht über die verwendeten psychometrischen Verfahren Infusionsschema bei akutem Tinnitus nach dem Homburger Bezugsdimension Verwendete Testverfahren Modell Soziodemographische Daten; Lautheit, Lokalisation und Eingangsfragebogen (EF) Verdeckbarkeit des Tinnitus, subjektive Krankheitstheorie Hämorheologische Infusionstherapie Tinnitusbezogene Beeinträchtigung Tinnitusfragebogen (TF) Pentoxifyllin i.v. (300 mg in 500 ml Allgemeines Befinden und globale psychische und Symptomcheckliste (SCL-90-R) Ringerlösung über 10 Tage) somatische Beeinträchtigung HAES 6% 250 ml für 10 Tage Depressivität Beck-Depressionsinventar (BDI) Kortison (Prednisolon) mit 250 mg i.v. Stressverarbeitungsstrategien Stressverarbeitungsfragebogen (SVF) beginnend in absteigender Dosis ▂ Haben Verarbeitungsmechanismen renzierten Messung der Belastung und durchschnitt von M=42 Jahre (SD=10,97), im akuten Stadium der Tinnitusma- des Schweregrades bei chronischem Tin- davon N=10 Frauen und N=10 Männer, nifestation einen Einfluss auf das nitus [15]. Des Weiteren ist eine Unter- die sich hinsichtlich soziodemographi- Symptomerleben? scheidung von emotionalen und kogniti- scher Variablen (Alter,Schulbildung) nicht ven Belastungsfaktoren, psychoakusti- voneinander unterscheiden. Die Patien- Methodik und Studiendesign schen Beschwerden sowie der subjektiv ten wiesen überwiegend ein mittleres Bil- erlebten Penetranz des Tinnitus möglich. dungsniveau auf. An der Untersuchung teilgenommen ha- Das Beck-Depressionsinventar (BDI) ben insgesamt N=20 Patienten,die wegen dient der Erfassung des Ausmaßes der De- Tinnitusbezogene eines akuten Tinnitus unterschiedlicher pressivität. Dieser Test fragt u. a. nach Gesamtbeeinträchtigung Genese an der Homburger Universitäts- Stimmungslage, Versagen, Unzufrieden- HNO-Klinik sowie in einer HNO-Praxis heit, Selbstanklage, Suizidgedanken und Legt man die Klassifikation zugrunde,die versorgt wurden.In die Studie aufgenom- nach sozialer Isolierung [17]. Die Symp- beim chronischen Tinnitus zur Einschät- men wurden alle Patienten ohne vorheri- tomcheckliste (SCL-90-R) ermöglicht zung der psychischen Sekundärsympto- ge medizinische,psychologische oder sog. die Quantifizierung eines breiten Spekt- matik angewandt wird [4], lässt sich in „alternative“ Behandlungsmaßnahmen, rums von subjektiver Beeinträchtigung der Gesamtstichprobe mittels TF [14, 15] deren Ohrgeräusch seit maximal einer durch psychische und körperliche Symp- bereits im Stadium des akuten Tinnitus Woche bestand. Zusätzlich wurde eine tome [12] und krankheitsbedingtem psy- im Durchschnitt eine mittelgradige testpsychologische Untersuchung durch- chischen Leidensdruck. Der Stressverar- (M=36,10 und SD=19,51) tinnitusbezoge- geführt, die relevante Daten hinsichtlich beitungsfragebogen (SVF) dient zur Er- ne Belästigung feststellen. Bei genauerer der erlebten Belastung durch den Tinni- fassung von kognitiven, wie auch verhal- Untersuchung der Stichprobe zeigt sich, tus,der globalen Belastung durch körper- tensorientierten Stressverarbeitungsstra- dass bereits in diesem frühen Stadium, liche und psychische Symptome, der De- tegien,die der Proband in bestimmten Be- analog zum chronischen Tinnitus, inter- pressivität und der Stress- und Krank- lastungssituationen zeigt, um diesen Zu- individuelle Unterschiede im Schwere- heitsverarbeitung erfassen sollte.Zur psy- stand zu vermindern bzw. zu beenden grad der psychosomatischen und psycho- chologischen Datenerhebungen wurden [19]. Diese Stressverarbeitungsmaßnah- sozialen Tinnitusbelastung festzustellen die in ⊡ Tabelle 1 genannten psychome- men werden als habituelle Persönlich- sind. trischen Verfahren eingesetzt. keitsmerkmale angesehen, d. h. sie blei- Der Eingangsfragebogen (EF) ist eine ben relativ stabil über die Zeit und gelten > Bereits im frühen Stadium des auf den akuten Tinnitus adaptierte Ver- als relativ unabhängig von der Art der Be- Tinnitus bestehen interindi- sion des Fragebogens,der von Frenzel [13] lastungssituation. viduelle Unterschiede in der für die Exploration bei Patienten mit chro- Die psychologische Datenerhebung er- Tinnitusbelastung, so dass von nischem Tinnitus entworfen wurde. Es folgte vor Durchführung medizinischer kompensierten und dekompen- handelt sich hierbei um ein nicht standar- Maßnahmen, anschließend wurden die sierten Tinnitusgraden gespro- disiertes Verfahren, das aus insgesamt 29 Patienten nach dem in ⊡ Tabelle 2 gezeig- chen werden könnte Items besteht, mit deren Hilfe Angaben ten Infusionsschema behandelt. über soziodemographische Daten, sub- Bei N=15 Patienten (N=8 Grad 1 und N=7 jektive Tinnitusmerkmale (Lokalisation, Ergebnisse Grad 2) entspricht die erlebte Belastung Lautheit,Verdeckbarkeit,Geräuschquali- den Kategorien des kompensierten Tin- tät) und die subjektiven Krankheitstheo- Soziodemographische Daten nitus mit einer durchschnittlichen tinni- rie des Patienten erfasst werden können. tusbezogenen Belastung im TF von Der Tinnitusfragebogen (TF) ist ein Test- In der untersuchten Stichprobe waren ins- M=27,40 (SD=12,89). Bei N=5 Patienten instrument zur quantifizierten und diffe- gesamt 20 Patienten mit einem Alters- ließe sich ein dekompensierter Tinnitus 600 | HNO 7 · 2004
Zusammenfassung · Abstract (N=2 Patienten Grad 3 und N=3 Patien- HNO 2004 · 52:599–603 ten Grad 4) mit einer durchschnittlichen DOI 10.1007/s00106-003-0944-5 © Springer-Verlag 2004 tinnitusbezogenen Belastung von M=62,20 (SD=9,60) diagnostizieren R. D’Amelio · C. Archonti · S. Scholz · P. Falkai · P. K. Plinkert · W. Delb (⊡ Abb. 1). Die Tinnitusbelastung (mittels TF) kor- Akuter Tinnitus. Psychische Korrelate und Ausmaß der Belastung reliert hoch (r=0,813,p=
Originalien Hinsichtlich der Differenzen in der subjektiven Tinnitusbelastung muss al- lerdings einschränkend hinzugefügt wer- den, dass die Symptommanifestation bei allen Patienten maximal eine Woche be- stand. Es kann zum gegenwärtigen Zeit- punkt nicht der Schluss gezogen werden, dass diese Unterschiede einen zeitstabi- len Verlauf zeigen und sich direkt im Abb. 1 Tinnitusbelastung bei Patienten mit akutem Chronifizierungsprozess abbilden lassen Tinnitus laut TF [15] werden.Die auffälligen Ergebnisse könn- ten auch als akute Belastungsreaktion in- chischen Belastung, gemessen an den Stadium,die kompensierten Tinnitusgra- terpretiert werden, was erklären könnte, Normwerten einer gesunden Population. de überwiegen [13, 29]. weshalb die psychischen Symptome bei Die Patienten mit geringer Tinnitusbelas- Es ist herauszustellen, dass bei belas- einem Teil der Patienten spontan remit- tung sind hierin als unauffällig einzustu- teten Patienten bereits zu diesem frühen tieren. fen,während die Patienten mit hoher sub- Stadium Verarbeitungs- und Reaktions- jektiver Belastung durch den Tinnitus aus- muster zu erkennen sind, die sich beim > Die auffälligen Ergebnisse könn- geprägte Werte aufweisen.Auch hinsicht- chronischen Tinnitus als dysfunktional ten auch als akute Belastungs- lich der Anzahl der psychischen Sympto- und somit störungserhaltend erwiesen reaktion interpretiert werden me unterscheiden sich diese beiden Pati- haben [3, 5, 7, 8, 32]. Durch den akuten entengruppen voneinander.Diese Ergeb- Tinnitus höher belastete Patienten schei- Weitere Verlaufsbeobachtungen werden nisse erreichen jedoch keine statistische nen eine ähnlich maladaptive Stressver- Aufschluss darüber geben können,ob bei Signifikanz. arbeitung anzuwenden, wie sie bereits Individuen, die bereits in der Akutphase bei Patienten mit chronischem dekom- maladaptive Verarbeitungsstrategien an- > Patienten mit hoher subjektiver pensierten Tinnitus identifiziert wurde wenden und unter psychischer Sekun- Tinnitusbelastung sind auch [6, 34]. Einen besonderen Augenmerk därsymptomatik leiden, die Belastung global psychisch hoch belastet könnte man auf die in dieser Patienten- persistiert bzw. chronifiziert. Es müsste gruppe erhobene unterschiedliche Aus- weiter geklärt werden, ob analog zum In belastenden Situationen (SVF) greifen prägung in der Reizbarkeit und aggres- chronischen Tinnitus, die subjektive Be- Patienten mit hoher subjektiver Tinnitus- siver Tendenzen lenken. Ein erhöhtes lastung beim akuten Tinnitus durch psy- belastung signifikant (p
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