Aphasie und verwandte Gebiete et domaines associés - Ausgabe/édition 2/2012 VOL. 32
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ORIGINALBEITRAG – ARTICLE Ausgabe/édition 2/2012 VOL. 32 ISSN 1664-8595 Die Stimme für sprachlose Menschen. Donnons la parole à ceux qui l‘ont perdue. La voce di chi ha perso la parola. Aphasie und verwandte Gebiete et domaines associés Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012 ISSN 1664-8595 1
Inhalt / Table des matières ORIGINALBEITRÄGE – ARTICLES •G esten im Gespräch (Angelika Bauer, Peter Auer) • Etude de deux cas: la dénomination orale de verbes est-elle facilitée par la production de gestes dans l’aphasie globale? (Doris Verdecanna) Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012 ISSN 1664-8595 3
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE Gesten im Gespräch Gestes dans la conversation Angelika Bauer und Peter Auer Kurzfassung Im Fokus dieses Beitrages steht die alltägliche Praxis der Adaptation an Aphasie. Es geht um die Mittel, zu denen die Betroffenen greifen und die Strategien, die sie entwi- ckeln, um trotz Aphasie miteinander im Gespräch zu bleiben. Gesten sind eines dieser Mittel. Sie gelten – zu Recht – als eine der Ressourcen für die Adaptation an Aphasie. Wie Sprache gehört Gestik zu den natürlichen Ausdrucksmitteln des Menschen und vie- le Menschen mit Aphasie nutzen sie. Gestik kann Sprache nicht nur begleiten, sondern unter besonderen Umständen auch ersetzen. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, von welchen Faktoren der erfolgreiche Ein- satz von Gestik in aphasischen Gesprächen abhängt. Es werden Beispiele erfolgreichen und erfolglosen Gestengebrauchs analysiert, die aus informellen Gesprächen und ei- nem Interview mit einer Familie stammen, die mit der schweren Aphasie des Familien- vaters zurecht kommen muss. Wir untersuchen diese Gesprächsausschnitte mit dem Instrumentarium der konversationsanalytischen Sequenzanalyse. Anhand dieser Beispiele lässt sich zeigen, dass der Erfolg kompensatorischer Gesten nicht nur von der Qualität der Gestaltung und Ausführung dieser Gesten und von Kon- textfaktoren abhängig ist, sondern notwendig davon, dass die aphasischen ‹Sprecher› und ihre sprachgesunden Gesprächspartner ihre interaktionalen Praktiken der bedeu- tungstragenden Funktion der Gestik und den semiotischen Besonderheiten der visuel- len Modalität anpassen. Diese Beobachtungen unterstreichen einmal mehr den interaktionalen Charakter der Adaptation an Aphasie-im-Gespräch. Résumé Le focus de cet article vise la pratique quotidienne de l’adaptation à l’aphasie. Il s’agit des moyens utilisés par les patients présentant une aphasie et les stratégies qu’ils dé- veloppent dans le but de maintenir la communication avec leur entourage. Le geste est un de ces moyens et représente une des ressources de l’adaptation à l’aphasie. Tout comme le langage, le geste est un des outils naturels de la communication humaine et de nombreuses personnes aphasiques l’emploient. Le geste peut non seulement ac- compagner le langage mais même le remplacer dans certaines circonstances particu- lières. Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012 ISSN 1664-8595 5
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE La question qui nous intéresse est de comprendre de quels facteurs dépend l’usage effectif du geste dans des conversations aphasiques. Des exemples de gestes effectifs ou infructueux seront analysés. Ces exemples pro- viennent d’entretiens informels et d’une interview d’une famille qui doit maîtriser le quotidien avec un père de famille atteint d’une aphasie sévère. Nous observons ces phases d’entretien à l’aide d’un instrument d’analyse de séquences de conversation. A partir de ces exemples, nous montrons que le succès de gestes compensateurs ne dépend non seulement de la qualité du genre et de l’exécution de ces gestes et des facteurs contextuels, mais aussi du fait que les locuteurs aphasiques et leurs parte- naires adaptent leurs interactions à la fonction porteur de signifiant du geste et aux par- ticularités sémiotiques de la modalité visuelle. Ces observations soulignent une fois de plus le caractère interactif de l’adaptation à l’aphasie dans la conversation. Abstract Gestures are a natural resource people with aphasia may employ in order to compen- sate for the lack of language. This article focuses the adaptive practices of gesture use of a man suffering from severe aphasia, and his interlocutors. Aphasia left him virtually without words, but extensive and skilled employment of gestures enables him to par- ticipate in family conversations and other instances of (verbal) interaction whose verbal demands reach way beyond his linguistic abilities. However, his gestures are not easi- ly understood and sometimes they don’t work out all together. We will pursue the ques- tion how success and failure are brought about by the participants, and how they can be explained. The sequences are taken from family conversations and an interview and analysed us- ing the methodology of conversations analysis. It can be demonstrated that there are important differences in the use of gesture in ordinary talk and the compensatory use of gesture in aphasic conversations. Success and failure of gestures used to convey meaning in conversation, depends on a system of interactionally relevant components of which the quality of execution of the gesture itself is only one. The system includes contextual information and organizational factors as well as the participants, their knowl- edge and their linguistic abilities. Thus all participants have to adapt their interpretative and productive practices to the semiotic characteristics of communicative gestures and their particular functions in aphasic conversations in order to make these gestures work. This underlines once more the interactional character of adaptation to aphasia. 6 ISSN 1664-8595 Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE Einleitung & Goldenberg 2011) und auch wir wer- den uns dem Thema «Gestik und Apha- Der Einsatz von Gesten ist einer der sie» aus diesem Blickwinkel nähern Gründe dafür, dass manche Menschen (vgl. auch Auer & Bauer 2011, Bauer & mit Aphasie besser kommunizieren als Auer 2009). sie sprechen. Ihnen gelingt es, Gestik Im Fokus unseres Interesses steht die im Gespräch so zu nutzen, dass die feh- alltägliche Praxis der Adaptation an lenden sprachlichen Ausdrucksmöglich- Aphasie, d.h. die Mittel, zu denen die keiten zumindest partiell kompensiert Betroffenen im Gespräch miteinander werden können. Gesten können also greifen, und die Strategien, die sie ent- zu einer Ressource für die Adaptation wickeln, um trotz Aphasie miteinander an Aphasie werden. Nicht zuletzt des- zu kommunizieren (siehe Bauer & Auer halb befasst sich die Aphasieforschung 2009, Bauer 2009, 2010 und 2012). Wir sich seit langem und aus den verschie- betrachten Gesten in aphasischen Ge- densten Blickwinkeln mit den viel- sprächen als eines dieser Mittel, als schichtigen Beziehungen zwischen eine Ressource der Adaptation und hof- dem visuellen Zeichensystem Gestik fen mit unseren Untersuchungen der und Aphasie (vgl. Hogrefe & Golden- Praxis des Gestengebrauchs in Gesprä- berg 2010, Rose 2006). chen ein weiteres Puzzlesteinchen in Die Forschung konzentriert sich u.a. auf das bislang noch recht bruchstückhafte theoretisch und therapeutisch interes- Bild von den Zusammenhängen zwi- sante Themen wie den Einfluss der schen Aphasie, Gestik und Adaptation Apraxie auf die Gestik der Aphasiebe- an Aphasie einfügen zu können. troffenen (z.B. Hogrefe, Ziegler, Weidin- Im Folgenden werden wir uns mit dem ger & Goldenberg 2011) und die fazili- Einsatz von Gestik in so genannten di- tierende Wirkung, die Gesten für den rekten Gesprächen (face-to-face) eines lexikalischen Abruf haben können (Ha- Aphasikers (Herrn C) und seiner sprach- dar & Butterworth 1997, Krauss & Ha- gesunden Gesprächspartnerinnen (sei- dar 1999, Rose 2006, Rose & Douglas ner Frau und seiner Töchter) befassen. 2001 und 2003). Ein anderer Zweig be- Wir bezeichnen diese Gespräche als fasst sich mit der Frage, ob und wie aphasische Gespräche, weil die Apha- Menschen mit (schwerer) Aphasie Ges- sie die Rahmenbedingungen der Kom- ten nutzen können (vgl. z.B. Damico, munikation nicht nur für den unmittel- Wilson, Simmons-Mackie & Tetnowski bar Betroffenen verändert, sondern 2008, De Ruiter 2006, Feyereisen 1993, auch – in jedem Gespräch aufs Neue – Goodwin 1995 und 2000, Jakob, Bart- die Kommunikationsbedingungen sei- mann, Goldenberg, Ziegler & Hogrefe ner sprachgesunden Gesprächspartne- 2011, Wiesmayer, Hogrefe, Ziegler, rinnen. Familie C gehört zu den zehn Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012 ISSN 1664-8595 7
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE Familien, die sich im Rahmen eines For- sprächspartner mit seinen Gesten schungsprojektes bereit erklärt haben, meint (Damico et al. 2008, Goodwin in einem Zeitraum von 1,5 Jahren zu 2000, 2003, 2006). Erschwert wird die- Hause Gespräche auf Video aufzuzeich- ser Prozess der Ko-Konstruktion von nen und die Aufnahmen dem Projekt Bedeutung – wie wir zeigen werden – zur Verfügung zu stellen. in vielen Fällen nicht durch die Wir haben Familie C für unsere Unter- mangelnde Qualität der Gesten der suchung der Gestik ausgewählt, weil aphasischen ‹Sprecher›, sondern viel- Herr C zu den Menschen mit Aphasie mehr ganz grundsätzlich durch die se- gehört, die Gestik extensiv und in vie- miotischen Eigenschaften der gesti- len Fällen sehr erfolgreich einsetzen. schen Modalität. Herr C kommuniziert deutlich besser Wir werden uns darauf konzentrieren als er spricht und wir haben uns darauf zu untersuchen, wie der semantisch konzentriert herauszufinden, wie er das ‹tragende› Gebrauch der visuellen Mo- macht, d.h. es geht uns auch darum, dalität (der sichtbaren Äusserung) die von der Praxis der Familie C zu lernen Gesten des Aphasikers prägt und alle (vgl. Bauer & Auer 2009). Aber obwohl Beteiligten zwingt, die organisatori- Herr C ein äusserst guter Gestennut- schen Strukturen der Interaktion an das zer ist, waren immer wieder Gesprächs- Fehlen der Sprache und an die Beson- situationen zu beobachten, in denen er derheiten der Gestik zu adaptieren. Die- sich mit seinen Gesten nicht verständ- se Praktiken sind kein Teil der norma- lich machen konnte bzw. in denen die- len Multimodalität sprachlicher Interak- se von seinen Gesprächspartnerinnen tion und ergeben sich auch nicht nicht verstanden wurden. Auch mit die- ‹automatisch› aus dieser, sie müssen sen Situationen werden wir uns befas- vielmehr neu gelernt werden. sen. Es liegt nahe anzunehmen, dass eine Prägt eine schwere Aphasie die Ge- Therapie, die auf Adaptation mit Hilfe sprächsbedingungen, stehen Gesten von Gestik ausgerichtet ist, diese Fak- weitgehend ohne Sprache da und sol- toren kennen und berücksichtigen soll- len die Funktionen der Sprache über- te. Unsere Beobachtungen sprechen nehmen. Diese Anforderung kann die dafür, dass der therapeutische Einbe- Gestik aber nicht ohne weiteres erfül- zug der Ressource ‹Gestik› nur dann im len. So führen Gesten in aphasischen Gesprächsalltag Erfolg versprechend Gesprächen oft zu ausgedehnten Se- sein kann, wenn die besonderen inter- quenzen der Verständigungssicherung, aktionalen Praktiken, die durch die neue in denen die sprachgesunden und die und ungewöhnliche sprachersetzende aphasischen Beteiligten ko-konstruie- Funktion der Gestik notwendig werden, ren müssen, was der aphasische Ge- mit in den Fokus der Therapie rücken. 8 ISSN 1664-8595 Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE Insbesondere stellt sich die Frage, ob, sich eines Instrumentes zu bedienen, wie und inwieweit (welche Gesten?) das wir – im Unterschied z.B. zu Kom- Gestik so ‹umfunktionalisiert› werden munikationstafeln (vgl. Glindemann & kann, dass sie der Anforderung gerecht Krug 2012) oder dem Zeichnen (vgl. wird, sprachersetzend wirksam zu sein. Bauer & Urbach 2003) – auch norma- Bevor wir den kommunikativen Erfolg lerweise verwenden. Dies hat Vor- und bzw. Misserfolg der spontanen Gesten Nachteile. Einerseits sind alle Ge- eines Mannes analysieren, der sich trotz sprächspartner mit dem Medium Ges- einer schweren (unflüssigen) Aphasie tik vertraut und nutzen es selbst. zu verständigen sucht, werden wir zu- Andererseits verschleiert diese Ver- nächst einen Blick darauf werfen, wie trautheit mit der normalen Nutzung die Sprache und Gestik in der sprachgesun- wichtigen Unterschiede zwischen Funk- den Interaktion zusammenarbeiten. tion und Gebrauch von Gesten in sprachgesunder Interaktion und deren Funktionen und Gebrauch in aphasi- Sprache und Gestik in schen Gesprächen. Sie verschleiern v.a sprachgesunder Interaktion den Umstand, dass die meisten Prak- tiken des Gebrauchs von Gestik in Wie Sprache gehört Gestik zu den na- aphasischen Gesprächen Adaptations- türlichen Ausdrucksmitteln des Men- praktiken sind und von den Beteiligten schen und wie Sprache ist Gestik ein neu entwickelt bzw. erlernt werden Zeichensystem und Instrument der müssen, wenn die Ressource Gestik Kommunikation. Gesten werden früh von allen Beteiligten erfolgreich genutzt erworben und sind möglicherweise so- werden soll. gar als Vorläufer der Sprache (ontoge- In normaler sprachlicher Interaktion netisch wie phylogenetisch) zu betrach- (face-to-face) begleiten Gesten in der ten (vgl. hierzu z.B. Kendon 2004, Regel die Sprache und beeinflussen Streeck 2009, Tomasello 2008). Und: und unterstützen die Interpretation des Zumindest in Gesprächen von Ange- Gesagten (vgl. z.B. Müller, 1998). Nur sicht zu Angesicht werden Gestik und selten übernehmen Gesten die tragen- Sprache auch von Erwachsenen in en- de Rolle und noch seltener ersetzen sie ger Verbindung miteinander genutzt Sprache vollständig. All dies gilt natür- (vgl. z.B. Goodwin 1986, Heath 1982, lich für sog. situiertes Sprechen (Auer 1992, Meilinger & Levelt 2004, Müller 1988), d.h. wenn wir über Dinge in 1998). Gespräche sind also in aller Re- unserer physikalischen Umgebung gel multimodal. Gestik als Ressource sprechen, gemeinsam mit Objekten für die Adaptation an Aphasie zu nut- hantieren, uns gemeinsam im Raum zen bedeutet daher zunächst einmal, bewegen und gegenseitig sehen kön- Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012 ISSN 1664-8595 9
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE nen, was wir tun. In diesen Situationen Intentionen des Sprechers immer bei- (z.B. beim gemeinsamen Decken des de Systeme, das sprachliche und das Tisches) wirkt Sprache eingebettet in gestische System simultan aktivieren die materielle Umwelt und in unser und / oder dass das, was wir sprachlich nonverbales Handeln. Im situierten und / oder gestisch zum Ausdruck brin- Sprechen (Sprechen und Verstehen im gen, immer aus den selben mentalen Hier & Jetzt) können Gesten wie z.B. Konzeptualisierungs- und Planungsmo- das Zeigen eindeutige Informationen dulen stammt (McNeill & Duncan 2000, vermitteln (‹stell das doch da hin!›). Melinger & Levelt 2004). DeRuiters Multimodal bleiben sprachliche Interak- Sketch-Modell der Gesten- und Sprach- tionen aber auch, wenn wir über nicht produktion z.B. basiert auf Levelts anwesende Dinge oder Menschen Sprachproduktionsmodell (Levelt 1989) sprechen und mit Hilfe der Sprache das und verortet auch den Ursprung der Hier & Jetzt verlassen (sog. displaced Gesten im conceptualizer (DeRuiter speech). Wenn also über Nicht-Gegen- 2006). McNeills Theorie und auch das wärtiges gesprochen werden soll, wird Sketch-Modell sind mit der Mutually Information primär über Sprache ver- Adaptive Modalities Hypothese (Melin- mittelt, denn Gesten können viele der ger & Levelt, 2004) vereinbar. Dieses hierfür notwendigen Informationen Modell besagt, dass Sprecher die bei- nicht liefern. Dennoch hören wir nicht den Modalitäten Gestik und Sprache auf zu gestikulieren und der visuelle Ka- abhängig von den Rahmenbedingun- nal bleibt involviert. Die Rezipienten gen und im Hinblick auf die Effektivität behalten die Sprecher im Auge und der Kommunikation kombinieren und beziehen deren Blicke, die Mimik, die funktional gewichten (können). So wer- Hand- und Körperbewegungen in ihre den z.B. räumliche Informationen bei Interpretation des Gesagten ein. Um- visuellem Kontakt (und auch bei star- gekehrt beobachten auch die Sprecher ker Geräuschkulisse) eher gestisch und ihre Adressaten (Gardner 2001, Heath am Telefon eher mit sprachlichen Mit- 1982, Goodwin 1981). Es ist also anzu- teln gefasst. Sprecher gestikulieren nehmen, dass diese Gesten weiterhin auch weniger, wenn sie wissen, dass gewisse Funktionen erfüllen und dass sie nicht gesehen werden können und zwischen der sprachlichen (akusti- in Gesprächen anders als in Monologen schen) und der visuellen Modalität star- (Bavelas et al. 2008). Gesten werden ke und multifunktionale Verbindungen also beim Sprechen selten vollständig bestehen. unterdrückt und ihr kommunikativer Hinsichtlich der kognitiven Modellie- Gebrauch (quantitativ und qualitativ) rung dieser Verbindungen nehmen eine wird durch die Rahmenbedingungen ganze Reihe von Forschern an, dass die und Inhalte der (sprachlichen) Interak- 10 ISSN 1664-8595 Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE tion beeinflusst, in die sie eingebettet leiten oder einen Themenwechsel an- werden (Gerwing & Bavelas 2004). Im kündigen etc.) Folgenden werden wir uns weitgehend • referenziellen Gesten, die auf Objek- auf die Gesten der Hände konzentrie- te / Personen / Orte referieren. Zu diesen ren (wobei zuweilen Arme und die Kör- gehören die lokalisierenden Zeigeges- perhaltung involviert sind), die in der di- ten (deiktische Gesten) und repräsen- rekten sprachlichen Interaktion zu den tative Gesten, die eine Aktivität oder ein wichtigsten und sicher auch funktional Objekt darstellen. flexibelsten Artikulatoren der gesti- • pragmatischen Gesten, die sprachliche schen Kommunikation gehören. Die Handlungen wie die Aufforderungen Funktionen anderer Artikulatoren, wie ‹komm her› oder ‹bleib stehen› oder ei- z.B. die des Blicks, sind deutlich einge- nen Gruss zum Ausdruck bringen. schränkt. Der Blick spielt eine wichtige Rolle in der Organisation des Sprecher- Das aphasiologische Interesse gilt bis- wechsels (Wahl der Adressaten, der lang in erster Linie den Gesten mit re- nächsten Sprecher und Signalisierung ferenziellen Funktionen (Funktion 2), da des Zeitpunktes für den Sprecherwech- diese Gesten dazu dienen Informatio- sel) und kann referenzielle Funktionen nen ‹über die Welt› zu vermitteln. Auch erfüllen (auf jemanden oder etwas zei- wir werden uns im Folgenden auf die gen). Gesichtsausdruck und Körperhal- Gesten konzentrieren, die direkt oder tung können die Haltung eines Spre- indirekt referenzielle Funktionen erfül- chers oder eines Rezipienten zum Ge- len, da es diese Gesten sind, denen in sagten zum Ausdruck bringen (Skepsis, aphasischen Gesprächen eine zentrale Interesse, Freude) und die Ausrichtung Bedeutung zukommt. In aphasischen des Körpers sowie die Positionierung Gesprächen wird Gestik jedoch eben- der Körper im Raum (proxemics) spie- falls multifunktional, d.h. auch in den len eine entscheidende Rolle für die anderen oben genannten Funktionen, Gestaltung des gemeinsamen Interak- genutzt. tionsraumes. Wir legen folgende funktionale Diffe- Zunächst wollen wir uns die spezifi- renzierung der Handgesten zugrunde schen Beziehungen zwischen referen- und unterscheiden zwischen ziellen Handgesten und sprachlichen • interaktionsorganisatorischen Gesten Äusserungen, wie wir sie in sprachge- (auch Regulatoren genannt), die dazu sunder Interaktion normalerweise vor- dienen, die Interaktion zu organisieren finden, etwas genauer ansehen. (z.B. den Sprecherwechsel signalisie- Das Zeigen tritt in sprachgesunder In- ren und den nächsten Sprecher bestim- teraktion selten alleine, sondern meist men oder eine Themenbeendigung ein- simultan mit sprachlichen Äusserungen Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012 ISSN 1664-8595 11
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE auf. Die Interpretation sprachlicher Äus- mich an). Sie können zusammen mit serungen wie hier, da, dort etc. hängt dem entsprechenden sprachlichen Aus- z.B. davon ab, dass auch die zugleich druck, ohne diesen, also eigenständig, auftretenden Zeigegesten wahrgenom- oder zusammen mit einem anderen men und interpretiert werden (Müller sprachlichen Ausdruck verwendet wer- 1998, Stukenbrock 2009). Daher ste- den. Diese Gesten können also für sich hen diese Gesten im Fokus der visuel- stehen und daher sprachliche Ausdrü- len Aufmerksamkeit der Rezipienten cke vollständig ersetzen. Form, Bedeu- und werden vom Sprecher in aller Re- tung und Zahl dieser Handgesten vari- gel sehr bewusst im visuellen Feld des ieren von Kultur zu Kultur. Einige dieser Rezipienten ausgeführt. Andererseits konventionalisierten Gesten sind nicht wird die jeweilige Zeigegeste durch referenziell (Funktion 2) sondern prag- den ‹zugehörigen› sprachlichen Aus- matisch (z.B. den Daumen nach oben druck in die laufende Äusserung einge- für eine positive Bewertung eines Er- gliedert und mit Sinn gefüllt. Zeigeges- eignisses, Funktion 3) und können da- ten und sprachliche Ausdrucksmittel ar- her ebenfalls sprachliche Ausdrücke er- beiten einander zu: In der multimodalen setzen. Konventionalisierte Gesten Äusserung ‹stell die Vase doch hier [+ eignen sich also sehr gut als spracher- Zeigegeste] hin› zeigt das Zeigen, was setzendes Ausdrucksmittel, ihre Zahl mit ‹hier› gemeint ist, die Sprache ord- ist jedoch viel zu klein um als ‹Wort- net die Geste in den Handlungsrahmen schatz› für eine Erfolg versprechende ein, nennt, was (stellen) womit (Vase) Kommunikation auszureichen. getan werden soll. Die Zeigegeste wäre Die weit grössere Gruppe von reprä- ohne diese Einbindung in die sprachli- sentativen Handgesten mit referenziel- che Modalität (den sprachlich geliefer- ler Funktion, die sprachbegleitenden ten Kontext) kaum zu verstehen. Gesten oder Illustratoren, sind dadurch Zur grossen Gruppe der ebenfalls refe- gekennzeichnet, dass die Interpretati- renziellen, repräsentativen Gesten on dieser Gesten völlig vom verbalen (Kendon 2004) gehören die konventio- Kontext abhängt, in den sie eingebet- nalisierten Gesten und die sog. konver- tet sind. Meist beginnen diese Gesten sationellen oder redebegleitenden Ges- noch bevor die sprachliche Äusserung ten (auch Illustratoren genannt). beginnt und kündigen diese an, indem Konventionalisierte Gesten werden von sie die Gesprächspartner auf die Se- ihren Nutzern immer wieder in (annä- mantik der nachfolgenden sprachlichen hernd) derselben Form ausgeführt und Äusserung hin orientieren, ohne diese sind in ihrer Bedeutung weitgehend allzu eng zu spezifizieren (Schegloff festgelegt (z.B. die Geste für Telefon / 1984). Sprachbegleitende Illustratoren telefonieren / ich ruf dich an / du rufst können sehr konkret sein (wenn Zeige- 12 ISSN 1664-8595 Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE finger und Daumen das Wort ‹klein› an- bles Bedeutungspotential, aus dem he- kündigen), aber auch sehr abstrakt raus von Fall zu Fall bestimmt werden (wenn z.B. eine Handbewegung nach muss, was genau mit der Geste ge- unten Wörter wie hinunter, fallen, ge- meint ist (siehe hierzu unser Beispiel 3 schlossen etc. begleitet und dabei le- Themenwechsel). Diese sprachbeglei- diglich einen Aspekt der Semantik die- tenden Illustratoren sind im Hinter- ser Verben illustriert). grund wirksam. Sie werden von den Folgende Untertypen können hier un- Gesprächspartnern wahrgenommen terschieden werden (vgl. Kendon und genutzt / interpretiert und helfen ih- 2004:176ff): nen, die sprachlichen Äusserungen zu (a) Gesten, die z.B. verschiedene Arten kontextualisieren (was wie gemeint des Werfens oder Gehens darstellen ist). Die bewusste Aufmerksamkeit der und dadurch die Bedeutung der jewei- Beteiligten fokussiert allerdings in der ligen Verben spezifizieren oder mit ei- Regel eher die informationstragende, nem Objekt üblicherweise verbundene sprachliche Äusserungsschicht, an die Bewegungen darstellen, wobei das begleitenden Gesten erinnern wir uns entsprechende Wort geäussert wird nur selten. (z.B. trinken oder einschenken). (b) Gesten, die Merkmale eines Objek- Wenn wir also – entgegen dem Übli- tes als Beispiel für eine Kategorie von chen – Gesten ohne Sprache effizient Objekten beschreiben (wenn das Wort einsetzen wollen, stehen uns neben Schachtel von einer quadratischen Be- der kleinen Zahl stark konventionalisier- wegung beider Hände begleitet wird, ter Gesten nur zwei Möglichkeiten of- siehe Beispiel 2 Bügelwäsche). fen (vgl. Tomasello 2008): Entweder wir (c) Gesten, die Grösse, Form oder zeigen auf etwas / jemanden oder wir räumliche Merkmale eines schon ein- stellen das, worauf wir referieren wol- geführten Objektes zeigen und häufig len, mittels repräsentativer Gesten (v.a. mit einem deiktischen ‹so› / oder ‹so› + ikonischer Gesten) dar. Beide Vorge- ‹Adj› in der sprachlichen Äusserung hensweisen sind allerdings mit einer verankert sind. Reihe von Problemen behaftet: Diese Gesten sind weit weniger (oder Durch das Zeigen identifizieren wir ei- gar nicht) konventionalisiert (denken Sie nen Ort, was zur Identifikation eines z.B. an ein Wedeln mit der Hand, das Referenten führen kann. Dieses Vorge- je nach begleitender Äusserung die ver- hen kann sehr effizient sein, setzt aber schiedensten Bedeutungen ‹transpor- voraus, dass der Gesprächspartner den tieren› kann) und damit weder in ihrer Referenten kennt oder der Kontext die Form noch in ihrer Bedeutung spezifi- möglichen Referenten so stark ein- ziert. Sie haben vielmehr ein sehr flexi- schränkt, dass nur ein einziges Objekt, Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012 ISSN 1664-8595 13
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE eine einzige Person im visuellen Ein- an einer beschreibenden Geste für «Au- zugsbereich der Beteiligten in Frage tofahren» oder aber für «Reparieren» kommt. Die Sache wird noch schwieri- versuchen. Doch wie wird der Adres- ger, wenn durch Zeigen auf etwas re- sat diese Geste auswerten? Bezieht er feriert werden soll, das sich nicht im sie auf das Fahren als Aktivität, einen Sichtbereich der Beteiligten befindet. aktuellen Wunsch, jetzt zu fahren, auf In dieser Situation kann z.B. in die Rich- das Auto als Objekt, auf ein bestimm- tung gedeutet werden, in der sich das tes Auto oder das Auto-an-sich? Wäh- gemeinte Objekt befindet. Der Ge- rend Zeigegesten referieren ohne zu sprächspartner wird dieses Objekt je- beschreiben, liefern ikonische Gesten doch nur identifizieren können, wenn eine Beschreibung, aber keine eindeu- er weiss, was sich in dieser Richtung tige Referenz! befinden könnte. Dieses Zeigen kann Eine mögliche Lösung für dieses – für also nur funktionieren, wenn die Betei- das Medium Gestik spezifische – Pro- ligten eine ‹innere Landkarte› teilen: blem, könnte darin bestehen, Zeige- «when the context – the shared con- gesten mit beschreibenden / abbilden- ceptual ground – is set up in enough den ikonischen Gesten zu verbinden: detail, however that is done, a pointing In Richtung Garage deuten, dann die gesture can refer to situations as com- Geste für Autofahren, gefolgt von der plex as one wants» (Tomasello 2008: Geste für Reparieren. Unschwer zu er- 99). In diesem Fall kann eine einfache kennen, dass wir es nun mit Pantomi- Zeigegeste ganze Szenarien (aus der men zu tun haben. Diese komplexe Vergangenheit, aus dem Weltwissen gestische Ausdrucksform hat allerdings der Beteiligten) aktivieren (siehe Bei- nur noch wenig mit der Multimodalität spiel 1 Baumarkt). Ist dies nicht ge- normaler Interaktion zu tun und ist in geben, bleiben Zeigegesten eng mit solcher auch nur selten zu beobachten. dem situierten Sprachgebrauch im Hier Aber selbst die komplexe Kombination & Jetzt verbunden und können nur von deiktischen und beschreibenden ganz unmittelbar für den Bezug auf Ob- Gesten ist mit denselben Interpretati- jekte, Personen und Geschehnisse im onsproblemen behaftet wie das Zeigen gemeinsamen Sichtbereich genutzt oder die ikonischen Gesten allein. Um werden. problemlos verständlich zu sein, müss- Bildhafte, ikonische Gesten liefern die ten auch diese Pantomimen mit Infor- Beschreibungskomponente, die dem mationen ergänzt werden, die sie zeit- Zeigen fehlt. Wenn jemand z.B. darauf lich verankern (was ist gemeint? jetzt? hinweisen will, dass das Auto zur Ins- gestern? morgen?) und deutlich wer- pektion muss, dann kann er Richtung den lassen, welche (sprachliche) Hand- Garage deuten (Zeigegeste) oder sich lung intendiert ist (eine Aufforderung, 14 ISSN 1664-8595 Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE eine Frage, eine Bitte?). Auch hierfür grenzt, die er mit Hilfe der Prosodie sind Lösungen vorstellbar. So kann multifunktional einsetzt, und die Gruss- man nachdrücklich auf die Person zei- formeln hallo und ade. Der initial domi- gen, die die intendierte Handlung aus- nante Automatismus «mogen» ist in führen soll oder mimisch eine Frage Rückbildung begriffen und ganz verein- ‹darstellen› (fragender Gesichtsaus- zelt gelingt es Herrn C auf – meist pho- druck) und für das Bitten gibt es einige nematisch entstellte, aber erkennbare übliche Gesten. Unsere Beispiele zei- – Wörter zuzugreifen. Herrn Cs Sprach- gen aber wie komplex und fehleranfäl- verständnis ist spürbar beeinträchtigt, lig sich die ‹Übersetzung› einfachster in reichhaltigen Kontexten in der Regel sprachlicher Aktivitäten in die gestische jedoch tragfähig. Lesen und Schreiben Modalität gestaltet. kann Herr C nicht. In Herrn Cs Sprach- therapie haben Gesten keine Rolle gespielt. Adaptation an Aphasie Um die Praktiken rekonstruieren zu mit Hilfe von Gestik können, mit denen es Herr C zusam- men mit seinen Gesprächspartnerinnen Die Beispiele, die wir untersuchen wer- in vielen – aber nicht allen – Situationen den, sind Gesprächen und Interviews gelingt, gegenseitige Verständigung zu entnommen, die im Rahmen unseres erreichen, haben wir die Methoden der Forschungsprojektes aufgezeichnet sequenziellen Analyse eingesetzt, die wurden. Da weder die Gespräche im von der Konversationsanalyse entwi- familiären Kreis – also mit vertrauten ckelt wurde (vgl. z.B. Bergmann 2001). Gesprächspartnerinnen – noch die In- Diese Methode impliziert die schritt- terviews, die in der Regel mit den Ehe- weise (chronologische) Rekonstruktion paaren geführt wurden, darauf ausge- des Vorgehens der Beteiligten bei der richtet waren, Gestik zu evozieren, ge- Ermittlung der Bedeutung einer Äusse- hen wir davon aus, dass sie uns rung. Da wir uns mit Gestik befassen, authentischen Gestengebrauch zeigen. muss sich die Analyse nicht nur auf das Herr C hat im Alter von 45 Jahren ei- Nacheinander (die Sequenzialität) der nen Schlaganfall (Mediainfarkt links) er- Handlungsschritte der Beteiligten kon- litten. Vor seiner Erkrankung war er in zentrieren, sondern auch auf das Ne- leitender Position in der Industrie tätig. beneinander (die Simultanität) der zu- Im ersten Jahr nach dem Schlaganfall gleich verwendeten Modalitäten (Spra- (in dem die untersuchten Beispiele auf- che und Gestik) (Bauer 2009). In diesem genommen wurden) sind Herrn Cs interaktionalen Paradigma betrachten sprachliche Fähigkeiten auf einige Par- wir Herrn Cs Gesten als kommunikati- tikel wie ja und nein, so, aha, he be- ve Gesten, d.h. als Gesten, die er für Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012 ISSN 1664-8595 15
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE seine Gesprächspartnerinnen produ- Multimodale Ko-Konstruk- ziert und die kommunikativ-interaktio- tion von Bedeutung 1: Ein nale Funktionen erfüllen. Ereignis wird durch Zeigen Wir haben Beispiele aus Gesprächen mit mehreren Teilnehmer / innen ausge- erfolgreich identifiziert wählt und Sequenzen, die inhaltlich nicht im Hier&Jetzt zu verorten sind. Wir wollen mit einem scheinbar einfa- Es wird also immer über Dinge gere- chen Beispiel beginnen, in dem es det, die sich nicht mit der laufenden Herrn C (HC) durch Zeigen gelingt, für (nonverbalen) Handlung oder der ma- seine Frau (FC) erkennbar auf einen Ort teriellen Umgebung befassen. Solche zu verweisen, so dass diese ihn dabei Gespräche fordern von Herrn C kom- unterstützen kann, eine sprachliche munikative Leistungen, die weit jen- Aufgabe zu lösen, die sich ihm im Rah- seits seiner sprachlichen Möglichkeiten men eines Interviews stellt. Das Bei- liegen. Dennoch gelingt es ihm zu par- spiel zeigt, dass das Zeigen – unter be- tizipieren und ihm und seinen Ge- stimmten Umständen – selbst in Situ- sprächspartnerinnen gemeinsam im- ationen effektiv sein kann, in denen das mer wieder gegenseitiges Verstehen Gezeigte für die Beteiligten nicht sicht- zu erreichen. bar ist. Wir werden folgende Aspekte dieser Interaktionen analysieren: • Für welche kommunikativ-interaktio- nalen Aufgaben Herr C Gesten einsetzt und • wie er diese Gesten gestaltet. • Wie an diesen Gesten gearbeitet wird (Umgestaltung), um Probleme ihrer In- terpretation zusammen mit den Ge- sprächspartnerinnen zu lösen. • Unter welchen Bedingungen dieser Gestengebrauch erfolgreich ist bzw. woran er scheitert. 16 ISSN 1664-8595 Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE Beispiel 1 Baumarkt Der Interviewer sitzt mit Frau C und Herrn C am Tisch. 01 Int: äh die NÄCHste frage > 02 klingt jetzt vielleicht ein bisschen merkwürdig 03 so in IHrem kontext oder in ihrem FALL, 04 wir würden mal gerne wissen wo sie die grössten schwierig keiten sozusagen sehen 05 wo ein PAtient sagt, also das=is genau das was mir am schwersten fällt. 06 im moment. 07 HC: oh [((richtet sich auf, skeptische Mimik, wiegt den Kopf auf und ab))] 08 Int: [also ich meine das=is jetzt in IHrem fall- ] 09 HC: äh ((blickt zu FC, dann in den Raum, nachdenkend)) 10 FC: ((beobachtet HC)) 11 HC: ((hebt die linke Hand, lässt sie wieder fallen)) 12 äh ((blickt nachdenkend in den Raum)) äh 13 ((wendet sich zu FC)) 14 FC"HC: [was SCHWIErig isch- ((zu HC)) 15 HC"FC: [so so so so äh so so äh so] 16 [((klopft FC auf den Arm: du weisst schon ] [nickt dabei mehrmals))] Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012 ISSN 1664-8595 17
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE 17 [so so äh so so 18 [((zeigt mit linken Arm nach links, blickt dabei kurz nach links dann wieder zurück 19 zu FC; der Arm bleibt ausgestreckt: Ort weiter weg)) 20 FC"HC: wie heute im BAUmarkt zum beispiel? ((blickt HC nachden kend an)) 21 HC"FC: so so ja so so ((nickt mehrmals bestätigend)) 22 FC"HC: ja. 18 ISSN 1664-8595 Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE Dieses Beispiel stammt aus einem der Sie sind also nicht als Antwortversuch Interviews, die im Rahmen des Projek- zu verstehen. tes mit Herrn und Frau C geführt wur- • Die Gesten liefern Frau C Hinweise den. Der Interviewer adressiert Herrn auf die (normalerweise sprachlich rea- C und fragt ihn nach seinen primären lisierte) Aktivität, die ihr Mann ausführt: sprachlichen Schwierigkeiten. Die Be- Er will ihr etwas ‹zeigen› (Z. 16–18). antwortung dieser Frage erfordert mehr • Die Gesten verweisen Frau C darauf, als ein Ja oder Nein und scheint weit dass Herr C für seine Antwort Inhalte jenseits der Möglichkeiten zu liegen, nutzen will, die beide kennen, d.h. ge- die Herrn C zur Verfügung stehen. Herr meinsames Wissen (Z. 15–16). C übernimmt die Rolle des Antworten- • Sie verweisen Frau C darauf, dass die- den dennoch (Z. 7–12) und damit die se Inhalte mit einem Ort verbunden Verpflichtung zu antworten. Er produ- sind, der in einer bestimmten Richtung ziert eine Reihe von Gesten mit inter- und weiter weg liegt (Z. 17–19). aktionsorganisatorischer Funktion, die Auf der Grundlage des sprachlich-inter- ihm das Rederecht sichern, da sie de- aktionalen Kontextes und dieser ges- monstrieren, dass er mit der Antwort tisch vermittelten Informationen befasst ist (nachdenklicher Blick, die schliesst Frau C, dass ihr Mann auf ein Partikel oh und äh, Kopfbewegungen Ereignis referieren will, das am selben und Handgesten). Dann blickt er zu sei- Tag in einem Baumarkt in der Nähe ner Frau, die ihn beobachtet, tippt auf stattgefunden hat; ein Ereignis, das die ihren Unterarm (Z. 16) und präsentiert Verständigungsschwierigkeiten, die ihr eine Zeigegeste, die in die weitere aufgrund der Aphasie entstehen, illus- Umgebung deutet (Goodwin 2006b). triert und damit als Antwort auf die Fra- Diese Serie von Gesten erfüllt – einge- ge des Interviewers fungieren kann. bettet in den sprachlich-interaktionalen Diese Interpretation wird von Herrn C Kontext (d.h. in die Aufgabe, eine Ant- bestätigt (Z. 21). wort auf die Frage des Interviewers zu Herrn Cs Zeigegeste kann nur erfolg- liefern) – eine ganze Reihe von Funkti- reich sein, weil er sie an die Person ad- onen: ressiert, die wissen kann, welchen Ort • Sie erweitern die Partizipationsstruk- er meint und im Folgenden den sprach- tur indem sie Frau C in diese Aufgabe lichen Interpretationsrahmen für die einbeziehen (via Blick und Zuwendung Geste liefert (Baumarkt Z. 20). Der In- des Körpers, Z. 9, 13); terviewer kann diese Geste nicht inter- • Für den Interviewer wird deutlich, pretieren. Ohne die Einbettung in den dass die visuell-gestischen Äusserun- Handlungszusammenhang (Antwort gen Herrn Cs nicht für ihn, sondern aus- auf eine Frage), in den sprachlichen schliesslich für Frau C bestimmt sind. Kontext (Antwort auf die Frage nach Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012 ISSN 1664-8595 19
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE aphasiebedingten Schwierigkeiten) und Multimodale Ko-Konstruk- ohne die Adressierung an eine vorinfor- tion von Bedeutung 2: Eine mierte Person (Frau C) kann diese Zei- Pantomime scheitert gegeste weder referieren noch eine Aussage ausdrücken, geschweige denn Im nun folgenden Beispiel scheitert die eine ganze Geschichte aktivieren, die Kommunikation (zunächst) trotz der äu- als Antwort auf die Frage des Intervie- sserst elaborierten Gestik (Pantomime) wers gelten kann. Während die Multi- Herrn Cs. Die Sequenz stammt aus ei- modalität in normalen Gesprächen si- nem Gespräch zwischen Herrn C, sei- multan und vom Sprecher alleine reali- ner Frau und einer seiner Töchter (T). siert wird, wird sie unter aphasischen Diese Drei und der kleine Sohn (S) sit- Bedingungen sukzessive und von zwei zen am Wohnzimmertisch und essen Beteiligten, also gemeinsam von Herrn Pizza. Die an die Tochter gerichtete vä- C (Gesten) und Frau C (Versprachli- terliche Aufforderung und Rüge, die chung des Gemeinten) hergestellt. Die Herr C im Folgenden in Angriff nimmt, Geschichte wird dann von Frau C er- liegt – als sprachliche Aktivität – wieder zählt. Sie wird von Herrn C als Spreche- jenseits der Möglichkeiten Herrn Cs. rin eingesetzt, so dass er derjenige bleibt, der die Antwort inhaltlich gestal- tet (vgl. Bauer 2009). Beispiel 2 Bügelwäsche (1) Die Tochter (T) ist dabei mit ihrem Freund zusammen zu ziehen. Sie erzählt, dass dieser in der neuen Wohnung das Parkett verlegt und überall Holzreste und Werk- zeug liegen lässt. 01 T: du i hab=es ihm gesagt also des kommt alles in de KEller; 02 ja wenn hier jemand reinkommt 03 die mün doch alle denke 04 du hasch da d WERKstatt [daheim]. 05 HC: [AH=h] 06 ((blickt zu FC, Blickkontakt + zeigt auf sie)) 07 FC: [((blickt zu HC))] 08 T: [((blickt zu HC))] 09 HC: [((blickt zu T)) ] 09 HC: [((blickt zu T)) ] 20 ISSN 1664-8595 Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE Die Klage der Tochter über den unor- im Ablauf des Gesprächs (Z. 05). Herr dentlichen Freund ist in erster Linie an C schaltet sich zu einem Zeitpunkt in Frau C adressiert. Herr C isst und hört das Gespräch ein, zu dem nichts dar- zu, bis er deutlich macht, dass er etwas auf hindeutet, dass seine Tochter mit sagen will (Z. 05). ihrer Erzählung zu einem Ende gekom- Er blickt dabei zu Frau C und zeigt auf men ist. Man würde daher normalerwei- sie. Diese Gesten können die Partizipa- se erwarten, dass er sich zu dieser Er- tionsstruktur reorganisieren und Frau C zählung äussern möchte. Diese Interpre- als Adressatin bestimmen. Die Zeige- tation wird zusätzlich dadurch unterstützt, geste könnte aber auch bedeuten, dass dass er sich – nach dem Blick und Finger- er etwas über Frau C sagen möchte zeig zu Frau C – der Tochter und (bislang) oder dass sie in irgendeiner Weise mit Erzählerin zuwendet (Z. 09). Sie wird im dem zu tun hat, was er sagen und tun Folgenden zu seiner Hauptadressatin möchte. Das Zeigen ist also auch hier und die Bedeutung des Blicks zu Frau C wieder so lange mehrdeutig, wie kein bleibt zunächst offen. klärender Kontext zur Verfügung steht. Herr C beginnt nun folgende Pantomi- Betrachten wir jedoch zunächst die Po- me mit Blick auf die Tochter: sitionierung der Wortmeldung Herrn Cs 10 ((sitzend: nimmt die Hände vor sich in Kniehöhe)) 11 ((pfeift einmal + zieht die Arme schulterbreit auseinander, die Hände greifen etwas)) 12 ((Darstellung: etwas Grösseres mit beiden Händen hochheben)) 13 T:
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE 22 HC:
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE kommen dieser Intention jedoch nicht wechsel oft explizit angekündigt (ach, einmal nahe und stehen in keinem un- da fällt mir etwas ein) oder spätestens mittelbaren Zusammenhang mit den dann nachvollziehbar, wenn gesagt ist, gestischen Darstellungen. Offensicht- was gesagt werden sollte. Herr C kann lich orientiert sich die Tochter in ihrem problemlos deutlich machen, dass er interpretativen Vorgehen nicht unmit- etwas sagen will, aber es ist nur telbar und ausschliesslich an Herrn Cs schwer möglich mit Gesten allein zu Gesten. Diese Pantomime beschreibt, vermitteln, dass damit ein Themen- dass etwas Rechteckiges hochgehoben wechsel verbunden ist. Dementspre- wird, es bleibt aber offen, was es ist. chend bleiben die Rezipienten der Ges- Hier fehlt eine eindeutige Referenz. tik im durchaus üblichen Interpretati- Diese Leerstelle versucht die Tochter onsmuster, das eine Äusserung auf die zu füllen, indem sie sich auf den bishe- vorausgegangene Äusserung bezieht. rigen sprachlichen Kontext bezieht, in Ein weiteres Problem besteht für Herrn dem u.a. auch von Holz und Parkett die C darin, dass seine Tochter nicht expli- Rede war. Sie schreibt den bisherigen zit macht (versprachlicht), welche As- Kontext fort und versucht die Pantomi- pekte der Pantomime sie wie interpre- me mit ihrer Geschichte zu verbinden. tiert. Damit fehlt ihm die Basis, die es Herr C reagiert auf diese falsche Inter- ihm ermöglichen würde, seine Gesten pretation und modifiziert seine Gesten. spezifisch auf den Stand des Interpre- Er wiederholt Teile seiner Pantomime tationsprozesses seiner Gesprächspart- (Z. 26, 28). Während seine Tochter sich nerin auszurichten (rezipientenspezifi- auf das konzentriert, was getragen wer- scher Zuschnitt). den soll, betont er die Aktivität des Tra- Das Problem der Signalisierung eines gens, aber ohne Erfolg. Es bleibt offen, Themenwechsels (das Sprachgesunde ob sie verstanden hat, dass sie – als einfach damit lösen, dass sie das The- Adressatin der Pantomime – etwas ma wechseln) ist ein Problem, das Fa- hochheben, wegtragen oder bringen milie C immer wieder beschäftigt. Und soll. so haben Herr und Frau C für dieses Die Ursache dafür, dass die Pantomi- Problem eine gestische Lösung verein- me nicht funktioniert, liegt hier nicht in bart und eine Geste in Form und Be- der Ausführung der Gestik, sondern zu- deutung für die familiäre Interaktions- nächst einmal darin, dass der Themen- gemeinschaft konventionalisiert. wechsel, den Herr C vornimmt, von sei- ner Tochter nicht erkannt wird. In nor- malen Gesprächen werden solche plötzlichen, eine laufende sprachliche Handlung unterbrechenden Themen- Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012 ISSN 1664-8595 23
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE Beispiel 3 Themenwechsel 36 FC"Int: und dann (.) manchmal wird auch dann(.) 37 (0.2) ((kurzer Blick zu HC, der ihr zuhört)) 38 für IHN isch was ABgeschlossen ((wieder zu Int)) 39 Aber für MICH aber eigentlich noch NET, 40 dann isch er beim NÄCHsten thema 41 und ich bin noch beim alten. (.) 42 und dann gibts CHAos. 43 ne, 44 HC"Int: so so so so so so so. ((Geste «Schluss» mit beiden Händen vor Oberkörper)) HC demonstriert die gestische Lösungsstrategie 45 FC"HC: ja. 46 FC"Int: darum hab ich auch scho zu ihm gesagt er soll sich Ange- wöhnen 47 wie zum beispiel der seBAStian des macht. 48 wenn dEr was nicht mehr wIll 49 denn macht er SO. ((Geste «Schluss» mit beiden Händen vor Oberkörper)) 50 HC"Int: so so so so so ((mehrmals Geste «Schluss» mit beiden Hän- den vor Oberkörper)) 51 FC: ne, 52 dass er vielleicht sich AUCH des angewöhnt, 53 dass ich weiss es geht um ein ganz neues THEma, 24 ISSN 1664-8595 Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE 54 weil sonst gibts da echt SCHWIErigkeiten. 55 sonst bin !ICH! noch bei der LAmpe, 56 und !ER! beim abendessen. Hier beschreibt Frau C zunächst das deutlich machen. Dementsprechend Problem des Themenwechsels (Z. 36- konnten Herr C und seine Tochter den 43) und Herr C zeigt, welche Lösung fa- nötigen gemeinsamen thematischen milienintern für dieses Problem gefun- Bezugsrahmen nicht etablieren und die den wurde (Z. 44). Dies veranlasst Frau Pantomime blieb – obwohl durchaus C die Entstehungsgeschichte dieser gut erkennbar ausgeführt – unverstan- «Schluss-Geste» zu erläutern. den. Betrachten wir diese Geste genauer: In Isolation trägt sie einen semanti- schen Gehalt der Negation oder des Multimodale Ko-Konstruk- Abschlusses, ist jedoch keineswegs tion von Bedeutung 3: Eine eindeutig. In sprachgesunder Interakti- Pantomime ist erfolgreich on kann diese Geste ein Gespräch be- enden (z.B. einen Streit), aber z.B. auch Der Fortgang der Sequenz Bügelwä- einen Vorschlag kommentieren (kommt sche zeigt, dass Frau C – im Unter- nicht in Frage). Um gesprächsorganisa- schied zu T – Praktiken entwickelt hat, torische Missverständnisse, die mit die spezifisch auf die Interpretation der verpassten Themenwechseln einherge- gestischen Beiträge ihres Mannes zu- hen, künftig zu vermeiden, hat Familie geschnitten sind und diesen zum Erfolg C diese Geste familienintern konventi- verhelfen. Die Strategie, die Frau C onalisiert. Diese Geste soll in Zukunft wählt, unterscheidet sich deutlich vom zur Transparenz der thematischen Or- Vorgehen der Tochter. Anstatt die Ges- ganisation beitragen. Nur aufgrund die- ten Herrn Cs bezogen auf den Kontext ser explizit vereinbarten Zuordnung ei- zu interpretieren, versucht sie zunächst ner Aufgabe kann diese Geste eine zu verstehen was genau die Gesten Funktion erfüllen, die Gestik normaler- darstellen. Die Beantwortung der Fra- weise nicht übernehmen kann, nämlich ge, was Herr C damit meint und/oder einen Themenwechsel ankündigen. will, wird in einen nächsten Klärungs- schritt verschoben. Zum Zeitpunkt unseres Beispiels Bü- gelwäsche gab es diese Vereinbarung jedoch noch nicht und Herr C konnte den intendierten Themenwechsel nicht Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012 ISSN 1664-8595 25
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE Beispiel 2 Bügelwäsche (2) Frau C hat die Szene zwischen Vater und Tochter essend beobachtet. Herr C blickt sie an (Z. 33) und sie initiiert die Wiederaufnahme seines Projektes mit einer Fra- ge (Z. 34). 31 FC: [((schiebt sich Pizza in den Mund, schaut HC an,] 32 ((leckt sich die Finger ab, legt etwas auf die Couch)) 33 HC: [((wendet Blick zu FC)) ] 34 FC: [was MACHSCH du? ((blickt HC an))] 35 HC:
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE 48 HC: J::A:- ((beugt Kopf einmal nach links, blickt weiter zu T)) 49 (1.2) 50 T: m:it (.) WAS ? 51 HC: ((schaut nach links auf die Couch))] 52
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE 1999). Herrn Cs Gesprächspartnerin- Informationen zu erhalten, die sie für nen müssen die Gesten nicht nur inter- die Versprachlichung benötigen (Z. 50, pretieren, sie stellen auch Fragen, um 60). die (ebenfalls gestisch übermittelten) 60 FC: was isch DRIN in der KISCHte; ((blickt HC an)) HC nützt die materielle Umgebung 61 HC:
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE Hier versucht er dies, indem er nach lingt, die Zeichen der Sequenz zusam- Gegenständen in der Umgebung sucht, men zu setzen und zu erschliessen, die den Inhalt der Kiste / des Kartons was Herr C meint (Z. 68). Das Behält- symbolisieren könnten. Nach einigem nis wird zum Wäschekorb, der Ärmel Suchen wird er fündig und greift nach des T-Shirts zur Bügelwäsche. Herr C dem Ärmel des T-Shirts seiner Frau begrüsst diese Interpretation nach- (Z.62). Damit macht er dieses Objekt drücklich und wendet sich dabei der (den Ärmel) zu einem Zeichen (für den Tochter zu (Z.70). Die Strategie sich da- Inhalt des Behältnisses) und ist damit rauf zu konzentrieren, zunächst den erfolgreich. Die Tochter schlägt «Klei- konkreten Referenten seiner Gesten zu der» vor (Z. 66) und diese Interpretati- finden, war erfolgreich, aber Herrn Cs on wird von Herrn C akzeptiert (Z. 67). Absichten gehen weiter. Was will er Dabei blickt er allerdings weiter zu sei- über die Wäsche sagen und welche ner Frau. Es ist Frau C, der es nun ge- sprachliche Aktivität will er realisieren? 70 HC: =
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE dem Frau C spricht und erklärt, das aber Sprachgesunde und auch den Blick ver- inhaltlich und als Handlung von Herrn wendet er extensiv. Er verwendet for- C, dem Vater, verantwortet bleibt (Go- mal unterschiedliche Gesten jeweils in ffman 1979, Goodwin 2006a). Dement- multiplen Funktionen. Manche dieser sprechend richtet die Tochter ihre Ver- Funktionen entsprechen dem Norma- teidigung auch an den Vater (Z. 76). len, z.B. dann, wenn er zum Zweck der Im Hinblick auf die Zusammenarbeit Partizipationsorganisation die Beteilig- von Sprache und Gestik, schafft dieses ten und Adressaten mittels Blick oder Duett, was Herr C alleine nicht leisten Fingerzeig ‹anspricht› (interaktionsor- kann: Es verbindet sprachliche und ges- ganisatorische Funktion deiktischer tische Äusserungen (wieder) zu einem Gesten) oder wenn er die sprachlichen Ganzen, bringt sie in das komplemen- Äusserungen seiner Frau durch (de- täre Verhältnis, in dem wir diese beiden skriptive) Gesten unterstreicht (siehe Systeme in Gesprächen normalerwei- die kontextualisierende Funktion der se vorfinden. Schlussgeste im Beispiel Themenwech- sel oder den «Berg» im Beispiel Bügel- wäsche). Andere Gesten (deiktische Diskussion und repräsentative Gesten mit referen- zieller Funktion) werden kompensato- Es ist also alles andere als normal und risch eingesetzt. Sie sollen ohne alles andere als einfach, sich aus- sprachliche Begleitung Inhalte übermit- schliesslich mit Gesten zu verständi- teln, auf Objekte, Personen, Ereignis- gen. Der kompensatorische Gebrauch se oder Orte referieren. von Gestik bedarf – um erfolgreich zu Herrn Cs Gesten sind gut ausgeführt. sein – besonderer Bedingungen. Die- Sie ziehen die Aufmerksamkeit der Ge- se müssen von den Beteiligten ge- sprächspartnerinnen auf sich, werden schaffen werden. Mit anderen Worten: deutlich vom anderen Geschehen ab- Die Gespräche müssen an die Beson- gesetzt und sind ausführlicher als derheiten der gestischen Modalität ad- sprachbegleitende Gestik (bis hin zur aptiert werden, damit die Gestik bedeu- Pantomime). Sie werden in Abhängig- tungstragende Funktionen überneh- keit von den Interpretationsschritten men kann. seiner Gesprächspartnerinnen modifi- Die genauere Betrachtung der gesti- ziert und damit ganz gezielt für die Ge- schen Äusserungen Herrn Cs zeigt sprächspartnerinnen gestaltet (rezipi- deutlich, dass sich sein Gestenge- entenspezifischer Zuschnitt). brauch vom normalen Gestengebrauch Dementsprechend können wir eine unterscheidet: Herr C setzt deutlich Reihe von adaptativen Veränderungen mehr Hand- und Kopfgesten ein als der Interaktionsstrukturen beobachten, 30 ISSN 1664-8595 Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012
ORIGINALBEITRAG – ARTICLE von denen der kommunikative Erfolg Anhieb verstanden. Da Gesten – z.B. der gestengetragenen Äusserungen Zeigegesten oder pragmatische Ges- Herrn Cs ganz entscheidend abhängt: ten – allenfalls im Hier&Jetzt eindeutig • Das Gespräch muss in einem gemein- auf etwas oder jemanden verweisen samen visuellen Raum stattfinden: Die oder eine sprachliche Handlung ausdrü- Gesprächspartner müssen einander se- cken (komm her!) können, liefern sie, hen können. sobald das Hier&Jetzt verlassen wer- • Die Partizipationsstrukturen werden den soll, lediglich Hinweise. Sie funkti- gezielt auf ein Miteinander angelegt, in onieren ähnlich wie ein Stichwort, das dem die Sprachgesunden Herrn C ihre beim Gesprächspartner Wissen akti- sprachlichen Mittel zur Verfügung stel- viert, und können – wie Stichworte – len und die sprachliche Ausformulie- nur erfolgreich sein, wenn der Ge- rung seiner Projekte übernehmen kön- sprächspartner über dieses (gemeinsa- nen. So betrachtet sind Herrn Cs Ges- me) Wissen verfügt. Wenn er z.B. ten meist nicht wirklich spracher- weiss, welches konkrete Objekt mit setzend. Sie liefern vielmehr inhaltliche dem skizzierten Objekt gemeint sein Hinweise, die es den sprachgesunden könnte oder welche Orte sich in der ge- Gesprächspartnerinnen ermöglichen, zeigten Richtung befinden und was der das zu versprachlichen, was Herr C ges- Zeigende mit diesen Orten verbinden tisch ‹skizziert›. Die für normale Gesprä- könnte (Wohnorte von Freunden, Orte, che so typische Verbindung von Ges- an denen Ereignisse stattgefunden ha- ten und Sprache in einer Äusserung (Si- ben, Orte, an denen sich normalerwei- multanität) wird aufgehoben und in se bestimmte Dinge oder Menschen verteilten ‹Rollen› und schrittweise wie- befinden etc.). Solche Gesten benöti- der hergestellt, wobei die Gesten die gen also wissende Adressaten, für Führung übernehmen. Aus sprachbe- Fremde und Unwissende müssen sie gleitender Gestik wird sprachbegleite- unverständlich bleiben. te Gestik, wobei Herr C die Gesten und • Aus Herrn Cs Gesten alleine lässt sich Frau C / die Tochter die Sprache liefern meist nicht ablesen, welche – norma- (siehe das multimodale Duett von lerweise sprachlich zu realisierenden – Herrn und Frau C im Beispiel Bügelwä- Aktivitäten er vorhat. So bleibt im Bei- sche oder auch ihre Teamarbeit im Bei- spiel Bügelwäsche lange verborgen, spiel Themenwechsel). dass das, was er seiner Tochter de- monstriert (Pantomime), als Aufforde- Es sind aber auch Grenzen deutlich ge- rung und Rüge zu verstehen ist. Ledig- worden: lich die Adressierung (= es geht um die • Herrn Cs Gesten sind gut ausgeführt, Tochter) und die Prosodie (ein sprachli- werden aber dennoch nicht immer auf ches Mittel!) geben Hinweise. Aphasie und verwandte Gebiete 2/2012 ISSN 1664-8595 31
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