APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE
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APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 12/2010 · 22. März 2010 Brasilien und Argentinien Peter Birle Zwischen Rivalität und Partnerschaft Claudia Zilla Politische Kultur in Argentinien und Brasilien Wolf Grabendorff Möglichkeiten und Grenzen regionaler und globaler Politik Imme Scholz Wachstum und ökologische Grenzen in Brasilien Kristina Hille Die empresas recuperadas in Argentinien Klaus Hart Vom Umgang mit der Diktaturvergangenheit
Editorial Brasilien hat in den vergangenen Jahren nicht nur einen bei- spiellosen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, sondern auch weltpolitisch erheblich an Gewicht gewonnen. Neben Russland, Indien und China zählt das mit Abstand größte Land Südame- rikas zu den sogenannten BRIC-Staaten, jenen aufstrebenden „Schwellenländern“, denen zugetraut wird, die traditionellen Industrieländer hinsichtlich ihrer Wirtschaftsleistung mittel- fristig zu überflügeln. Auch die globale Wirtschaftskrise seit 2008 hat es bisher vergleichsweise gut überstanden; internatio nal gilt Brasilien inzwischen als die Führungsmacht in Süd amerika. Ganz anders sind die Perspektiven in Argentinien, das im Mai dieses Jahres seine 200-jährige Unabhängigkeit, das Bicentena� rio, feiert: Das 20. Jahrhundert wird dort als „Zeitraum eines langsamen Abstiegs“ wahrgenommen (Michael Riekenberg). Dem verheerenden Zusammenbruch des Finanzsystems, der „Argentinienkrise“ 2001/2002, folgte zwar eine Erholung, doch wirtschaftlich und politisch hat das Land zuletzt an Bedeutung verloren. Einzig im Bereich der Aufarbeitung der Diktatur- vergangenheit scheint es seinem großen Nachbarn im Norden voraus zu sein: Während in Brasilien noch immer ein Amnes- tiegesetz gilt, kommt es in Argentinien immer wieder zu spek- takulären Prozessen gegen ehemalige Funktionsträger aus der Zeit der Militärdiktatur. Mit dem Aufstieg Brasiliens in die „erste Klasse“, wie Prä- sident Luiz Inácio Lula da Silva es ausdrückte, ist jedoch eine Frage verbunden, die den Rest der Welt in ganz anderer Wei- se betrifft: Wie lässt sich das wirtschaftliche Wachstum mit dem Schutz des Weltklimas vereinbaren? Wie viele alte Indus- triestaaten auch, sind die neuen Mächte kaum dazu bereit, ihre wirtschaftliche Entwicklung zu Gunsten des globalen Klima- schutzes zu bremsen. Ihre Verhandlungsposition dürfte sich in den kommenden Jahren indes eher noch verbessern. Johannes Piepenbrink
Peter Birle und endete gegen Ende der 1990er Jahre. Die Zusammenarbeit auf allen Ebenen verdich- Argentinien und tete sich in dieser Zeit, begünstigt nicht zu- letzt durch die Rückkehr zur Demokratie. Die fünfte Phase setzte Ende der 1990er Jah- Brasilien zwischen re ein. Während Brasilien ein erfolgreiches wirtschaftliches Wachstumsmodell zuneh- Rivalität und mend mit einer regionalen Führungsrolle in Südamerika und mit aktivem Engagement auf globaler Ebene verbindet, durchlebt Argenti- Partnerschaft nien 2001 eine der schwersten Krisen seiner neueren Geschichte und nimmt gegenüber dem großen Nachbarn Brasilien eine immer defensivere Haltung ein. Die Asymmetrien D as bilaterale Verhältnis zwischen Argen- tinien und Brasilien, den beiden größten Ländern Südamerikas, war lange Zeit durch zwischen beiden Ländern wachsen und dro- hen auch die oft beschworene „strategische Allianz“ zu einem bloßen Lippenbekenntnis Rivalitäten und Kon- werden zu lassen.❙1 Peter Birle flikte geprägt. Zwar Dr. phil., geb. 1961; Politik- standen sie sich seit wissenschaftler, Leiter der dem Gewinn ihrer „Republikchen“ versus Forschungsabteilung des Unabhängigkeit von „Sklavenhalterstaat“ Ibero-Amerikanischen Instituts den Kolonialmächten in Berlin, Potsdamer Straße 37, Spanien und Portugal Die internationale Position Brasiliens war 10785 Berlin. nur einmal in einem während des 19. Jahrhunderts durch die Aus- birle@iai.spk-berlin.de Krieg gegenüber, aber richtung nach Europa, insbesondere nach bis ins letzte Drittel Portugal und Großbritannien, geprägt, wäh- des 20. Jahrhunderts gelang es nie, die bila- rend kaum Verbindungen mit den südame- teralen Beziehungen dauerhaft auf eine part- rikanischen Nachbarn bestanden. Die Un- nerschaftliche Grundlage zu stellen. Erst terschiede zu den hispano-amerikanischen seit Ende der 1970er Jahre wurde die Riva- Ländern waren beachtlich, und zwar nicht lität schrittweise überwunden, beide Länder nur deshalb, weil in Brasilien als einzigem la- schlossen zahlreiche bi- und multilaterale Ko- teinamerikanischen Land portugiesisch ge- operationsabkommen ab und erklärten sich sprochen wird. Während Brasilien seine Un- 1997 wechselseitig zu strategischen Partnern. abhängigkeit von Portugal 1822 ohne große Unruhen erlangte und sich in ein weitgehend Nachfolgend werde ich die Entwicklung der stabiles Kaiserreich verwandelte, zerfiel das bilateralen Beziehungen in fünf Phasen nach- spanische Kolonialreich in zahlreiche Repu- zeichnen. Die Zeit nach Erlangung der Unab- bliken, die nach den Unabhängigkeitskrie- hängigkeit bis zum Ende des brasilianischen gen oft lange Zeit mit inneren Konflikten zu Kaiserreichs 1889 war geprägt durch vielfäl- tun hatten. Auch das heutige Argentinien tige Konflikte bei einer geringen Dichte der war nach der Unabhängigkeitserklärung im Beziehungen. Die zweite Phase umfasste die Jahr 1810 über viele Jahrzehnte von internen Blütezeit der Agrarexportmodelle bis 1930 Konflikten und Bürgerkriegen geplagt. Erst und zeichnete sich durch Rivalität um die in den 1860er Jahren gelang eine Konsolidie- Vorherrschaft in Südamerika aus. Die drit- rung des Zentralstaates. Die politischen Eli- te Phase bis Ende der 1970er Jahre war durch einen Wandel der Entwicklungsstrategie in ❙1 Gute Einführungen in die Geschichte der bilatera- beiden Ländern, wachsende ökonomische len Beziehungen zwischen Argentinien und Brasilien Interdependenz und wiederholte Ansätze zu sowie in die wechselseitigen Wahrnehmungen bieten einer stärkeren bilateralen Zusammenarbeit zwei neuere Bücher, die jeweils in Zusammenarbeit charakterisiert, die jedoch immer wieder an zwischen Wissenschaftlern aus beiden Ländern ent- standen sind: Alejandro Grimson (Hrsg.), Pasiones innenpolitischen Umbrüchen und geopoliti- Nacionales. Política y cultura en Brasil y Argentina, schen Rivalitäten scheiterten. Die vierte Pha- Buenos Aires 2007; Fernando Devoto/Boris Fausto, se begann mit der Abkehr von bilateralen Be- Argentina-Brasil 1850–2000. Un ensayo de historia drohungsvorstellungen Ende der 1970er Jahre comparada, Buenos Aires 2008. APuZ 12/2010 3
ten des Kaiserreichs Brasilien betrachteten auf und konnte damit den Entwicklungsvor- die Unruhen im übrigen Südamerika als Aus- sprung Brasiliens mehr als kompensieren. druck von Anarchie und Unordnung, wie sie Ohne die massive Einwanderung aus Europa typisch seien für die republikanische Staats- und ausländisches Kapital wäre der argenti- form. Entsprechend überlegen fühlten sie nische Staat nicht in der Lage gewesen, diese sich gegenüber den hispano-amerikanischen Entwicklungen in Gang zu setzen. Der Lö- „Republikchen“, mit denen sie möglichst we- wenanteil der ausländischen Investitionen nig zu tun haben wollten. Aber die Antipa- entfiel auf Großbritannien, das außerdem thie war durchaus wechselseitig: Die Eliten zum wichtigsten Abnehmer argentinischer der hispano-amerikanischen Länder kriti- Agrarprodukte und Lieferanten von Kon- sierten das brasilianische Kaiserreich wegen sumgütern avancierte. Während das atembe- seiner „rückständigen“ Institutionen und raubende Wachstum Argentiniens bei einem insbesondere, weil dort bis 1888 Sklaverei be- Teil seiner Eliten ein Gefühl der Überlegen- trieben wurde.❙2 heit gegenüber dem Rest der Region aufkom- men ließ, blieben die Wirtschafts- und Han- Zwischen Argentinien und Brasilien setz- delsbeziehungen mit den Nachbarländern ten sich nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit schwach ausgeprägt. Brasilien betrachtete Kontroversen fort, die bereits während der man in wirtschaftlicher Hinsicht mit Gleich- Kolonialzeit zwischen Spanien und Portu- gültigkeit, in kultureller Hinsicht als ein un- gal bestanden hatten. Dabei ging es vor allem terlegenes Land und in politischer Hinsicht um die Kontrolle der banda oriental („östli- als einen Rivalen beim Streben nach regio- cher Streifen“), dem Territorium des heutigen naler Vorherrschaft.❙3 Einig waren sich bei- Uruguay, das den Zugang zum La Plata-Be- de Länder interessanterweise in der Haltung, cken ermöglichte und damit für Handel und möglichst wenig mit dem übrigen Lateiname- Schifffahrt von großer Bedeutung war. In den rika zu tun haben zu wollen, dem man sich 1820er Jahren eskalierte dieser Konflikt in ei- wirtschaftlich, kulturell und politisch weit ner militärischen Auseinandersetzung. Erst überlegen fühlte. 1828 gelang unter Vermittlung Großbritanni- ens die Beilegung des Streits. Mit der „Repu- Brasilien folgte während der „Alten Repub- blik östlich des Uruguay“ entstand ein eigen- lik“ (1889–1930) wie Argentinien im Wesent- ständiger Staat. Argentinien und Brasilien lichen einem Agrarexportmodell, seine wirt- garantierten die Unabhängigkeit Uruguays schaftliche Entwicklung verlief im Vergleich und sicherten sich wechselseitig freie Schiff- mit der des südlichen Nachbarn allerdings fahrtsrechte auf dem Río de la Plata und sei- weniger dynamisch. Hauptabsatzmarkt des nen Nebenflüssen zu. Damit endete der ein- Kaffeeexporteurs Brasilien waren die USA. zige Krieg in der Geschichte der bilateralen Vor diesem Hintergrund ist auch die unter Beziehungen, die Konflikte rissen jedoch Außenminister Baron von Rio Branco zu auch in der Folgezeit nicht ab. Erst nach dem Beginn des 20. Jahrhunderts vorgenommene Ende des Kaiserreichs und der Etablierung Weichenstellung der brasilianischen Außen- eines republikanischen Staatswesens in Bra- politik zu verstehen. Rio Branco etablierte silien kam es ab 1889 vorübergehend zu einer ein mit wenigen Unterbrechungen bis in die Annäherung an den südlichen Nachbarn. 1970er Jahre gültiges außenpolitisches Para- digma, dessen zentrales Element eine „unge- schriebene Allianz“ mit den USA war.❙4 Das Rivalitäten zwischen Bündnis mit den USA richtete sich zwar of- aufstrebenden Exportnationen fiziell nicht gegen einen spezifischen Gegner, sondern sollte die Verhandlungsmacht Brasi- Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stieg liens erhöhen, es war jedoch nicht zuletzt als Argentinien innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem der größten Agrarexporteure weltweit ❙3 Vgl. Roberto Russell/Juan Gabriel Tokatlian, O lugar do Brasil na política externa da Argentina: ❙2 Vgl. Maria Helena Capelato, O „gigante brasileiro“ A visão do outro, in: Novos Estudos CEBRAP, 65 na América Latina: ser ou não ser latino-americano, (2003), S. 71–90. in: Carlos Guilherme Mota (Hrsg.), Viagem incom- ❙4 Vgl. Bradford Burns, The Unwritten Alliance. pleta. A experiencia brasileira (1500–2000), A grande Rio-Branco and Brazilian-American Relations, New transação, São Paulo 2000, S. 285–316. York–London 1966. 4 APuZ 12/2010
Gegengewicht zum Einfluss Großbritanni- 1930er Jahren erstmals Ansätze einer stär- ens in Lateinamerika und zur Stützung der keren gegenseitigen Abhängigkeit. Auch brasilianischen Position gegenüber Argenti- politisch kam man sich näher. Die enge Al- nien gedacht.❙5 lianz zwischen Brasilien und den USA wäh- rend des Zweiten Weltkrieges und die Kon- Die argentinisch-brasilianischen Bezie- flikte zwischen Argentinien und den USA hungen verschlechterten sich zu Beginn des hinsichtlich der Haltung gegenüber den 20. Jahrhunderts erneut, zwischen beiden Län- Achsenmächten (Deutschland und seine dern setzte ein gewisser Rüstungswettlauf ein Verbündeten) wirkten sich jedoch auch auf und phasenweise kam es zu ernsthaften mili- die Beziehungen zwischen den beiden Nach- tärischen Spannungen. Allerdings basierte das barländern negativ aus. Nach dem Ende des jeweilige Streben nach Suprematie in Südame- Zweiten Weltkrieges waren die ideologi- rika weniger auf realen Interessen der beiden schen Gräben zwischen Argentinien und Länder in anderen Staaten der Region als auf Brasilien gewaltig. Während die Regierung ihren Selbst- und Fremdbildern. Dem argen- Perón für eine „dritte Position“ zwischen tinischen Selbstbild einer europäischen Nati- Kapitalismus und Sozialismus eintrat, re- on mit weißer und mit überlegenen Merkma- gierte in Brasilien die extrem auf die Ideolo- len ausgestatteten Bevölkerung inmitten eines gie des Kalten Krieges eingeschworene Re- mestizischen❙6 Südamerikas, eines privilegier- gierung von Präsident Enrico Gaspar Dutra. ten Partners der Weltmacht Großbritannien, Die seit Ende der 1940er Jahre unternomme- dessen offensichtliche Bestimmung die regio- nen Bemühungen der Regierung Perón um nale Hegemonie in Südamerika sei, stand der eine engere Zusammenarbeit innerhalb Süd- brasilianische Mythos eines physischen Ko- amerikas stießen auf wenig Gegenliebe in losses, eines riesigen Landes mit großartiger Brasilien. Die brasilianischen Regierungen Natur, dem notwendigerweise auch ein groß- sahen darin nicht nur ein Streben des Nach- artiges Schicksal bestimmt sei, gegenüber. barlandes nach regionaler Suprematie, son- dern sie fürchteten auch, dadurch könnten ihre besonderen Beziehungen zu den USA Zwischen Annäherung gefährdet werden. und Distanzierung Ende der 1950er Jahre kam es erneut zu ei- Die grundlegende Veränderung der Welt- ner vorübergehenden Annäherung, da die wirtschaft nach der Wirtschaftskrise von Regierungen beider Länder auf eine stärke- 1929/30 entzog dem Agrarexportmodell, auf re Rolle des Staates im wirtschaftlichen Ent- dem der argentinische Wohlstand basierte, wicklungsprozess setzten. Mit den Staats- nach und nach die Grundlage. Unter Präsi- streichen in Argentinien (1962, 1966 und 1976) dent Juan Perón begann in den 1940er Jah- und der 1964 erfolgten Machtübernahme der ren ein Prozess der forcierten Industrialisie- Streitkräfte in Brasilien gewannen dann je- rung. Nicht zuletzt die politische Instabilität doch geopolitische Doktrinen und Bedro- des Landes sorgte jedoch dafür, dass es in den hungsszenarien in beiden Ländern die Ober- kommenden Jahrzehnten nie gelang, zu einer hand und führten zu erneuten Spannungen lang anhaltenden Phase stabilen Wachstums im bilateralen Verhältnis. Die Auseinander- zurückzukehren. Demgegenüber hatte Bra- setzungen erreichten in der ersten Hälfte der silien mit seiner Industrialisierungsstrategie 1970er Jahre einen neuen Höhepunkt. Das zur Verringerung der Importe seit den 1930er „brasilianische Wirtschaftswunder“ verlei- mehr Erfolg. Nach dem Zweiten Weltkrieg tete die dortige Regierung zu einem über- wies das Land über lange Zeiträume außerge- steigerten Nationalismus, der sich zum Ziel wöhnlich hohe Wachstumsraten auf. setzte, den Einfluss in Südamerika auszubau- en. Aus Angst vor der brasilianischen Hege- In den Wirtschaftsbeziehungen zwischen monie widersetzte sich Argentinien unter an- beiden Ländern entwickelten sich in den derem dem Bau eines Wasserkraftwerkes in Itaipú im Grenzgebiet zwischen Argentini- ❙5 Vgl. Helio Jaguaribe, El Brasil y la América Latina, en, Brasilien und Paraguay, das zur damali- in: Estudios Internacionales, 29 (1975), S. 106–136. gen Zeit weltweit eines der ambitioniertesten ❙6 Mestizisch bezeichnet Personen, die europäische Staudamm- und Kraftwerksprojekte dar und indigene Vorfahren haben. stellte. APuZ 12/2010 5
Intensivierung der Zusammenarbeit, münden zu lassen, tauchten erstmals 1985 auf. Ein Jahr später unterzeichneten beide Län- Redemokratisierung und der ein Abkommen über die Liberalisierung Gründung des Mercosur des bilateralen Handels durch Zollsenkun- gen und Handelspräferenzen. Im Dezember Im Laufe der 1970er Jahre wuchs die Unzu- 1986 folgte ein Abkommen über Demokratie, friedenheit Brasiliens mit den USA, die immer Frieden und Entwicklung. 1990 vereinbar- mehr als Garant einer als ungerecht empfunde- te man die Etablierung einer Wirtschaftsge- nen Weltwirtschaftsordnung wahrgenommen meinschaft und lud wenig später auch Uru- wurden. Die Menschenrechtspolitik der Regie- guay und Paraguay ein, sich an der Initiative rung Jimmy Carters ab 1976 trug zu einer wei- zu beteiligen. Im März 1991 schließlich fiel teren Verschlechterung der Beziehungen bei. mit dem Vertrag von Asunción der Start- Gleichzeitig reduzierten sich die Spannungen schuss für den Gemeinsamen Markt des Sü- mit Argentinien und 1979 gelang es endlich, dens (Mercosur). ein Abkommen über den Bau von Staudäm- men und die Errichtung von Wasserkraft- Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwi- werken zu vereinbaren. Angesichts des wach- schen Argentinien und Brasilien im Rahmen senden industriellen Rückstandes gegenüber des Mercosur entwickelte sich zunächst zu Brasilien erwies es sich für Argentinien als im- einer Erfolgsgeschichte. Während der 1990er mer weniger zweckmäßig, an einem Konflikt Jahre wuchs der bilaterale Handel um das mit Brasilien festzuhalten, das sich aufgrund Siebenfache. Argentinien wurde zum zweit- einer kohärenteren Industriepolitik und ei- wichtigsten Abnehmer brasilianischer Pro- ner besseren Nutzung seines Binnenmarktes dukte, während Brasilien zum wichtigsten zum wirtschaftlich mit Abstand bedeutends- Markt für die argentinischen Exporte avan- ten Land der Region entwickelt hatte. cierte. Die bilaterale Zusammenarbeit vertief- te sich auch in anderen Bereichen, beispiels- Auf Argentinien entfielen 1980 nur noch weise in Wissenschaft, Kultur und Bildung. 10 Prozent der lateinamerikanischen Indus trieproduktion, 30 Jahre zuvor waren es noch Gleichwohl erschwerten unterschiedliche 40 Prozent gewesen. Es schien somit angera- außenpolitische Grundstrategien eine engere ten, den Wettbewerb mit Brasilien zu brem- politische und wirtschaftliche Zusammenar- sen, damit sich die Kluft zwischen beiden beit. Ausgerechnet Argentinien, das die lang- Ländern nicht weiter vergrößerte. Erleich- jährige „ungeschriebene Allianz“ zwischen tert wurde die Verständigung durch wach- Brasilien und den USA immer mit Skepsis und sende ideologische Übereinstimmung zwi- Misstrauen verfolgt hatte, bemühte sich wäh- schen den Militärregierungen beider Länder. rend der Regierungszeit von Präsident Carlos 1980 unterzeichneten sie mehrere Kooperati- Menem (1989–1999) jetzt seinerseits um eine onsabkommen im Energie- und Nuklearsek- Sonderbeziehung zu den USA. Diese Strategie tor. Während des Falkland/Malwinen-Kon- hatte auch Auswirkungen auf die Haltung ge- fliktes 1982 zeigte sich Brasilien solidarisch genüber Brasilien, denn durch die kategorische mit Argentinien und stützte dessen Ansprü- Unterordnung unter die Ziele der USA rück- che auf die Inselgruppe im Südatlantik. Auch te Brasilien als außenpolitischer Partner auto- wenn Brasilien die Entscheidung der argen- matisch in die zweite Reihe, auch wenn es als tinischen Militärs zu gewaltsamen Maßnah- Handels- und Wirtschaftspartner von höchs- men gegenüber Großbritannien nicht unter- ter Priorität blieb. Ein Teil der argentinischen stützte, gelang es, das Vertrauen zwischen Regierung betrachtete die engen Beziehungen beiden Ländern zu festigen. zu den USA auch als eine Möglichkeit, den au- ßenpolitischen Ambitionen Brasiliens Gren- Im Zuge des Übergangs von der Diktatur zen zu setzen. Demgegenüber waren die USA zur Demokratie in Argentinien (1983) und für Brasilien zwar immer noch ein wichtiger Brasilien (1985) gelangte in beiden Ländern Partner, das Land blieb aber weitaus stärker eine neue Generation von Politikern an die als Argentinien auf seine Unabhängigkeit und Macht, die sich eher an kooperativen Paradig- Selbstbestimmung bedacht. men als an geopolitischen Konflikthypothe- sen orientierten. Überlegungen, die bilaterale Die unterschiedlichen außenpolitischen und Zusammenarbeit in einen Integrationsprozess außenwirtschaftlichen Grundorientierungen 6 APuZ 12/2010
äußerten sich sowohl im Rahmen des Merco- render gravierender sozialer Probleme viele sur als auch bei den Verhandlungen um eine Sozialindikatoren in den vergangenen Jahr- „Freihandelszone der Amerikas“. Sie führten zehnten und insbesondere seit Antritt der auch zu zurückhaltenden bis skeptischen ar- Regierung Lula deutlich verbessern konnte gentinischen Reaktionen auf die brasilianische (Kindersterblichkeit, ärztliche Versorgung, Initiative zur Gründung einer Südamerikani- Analphabetismus, Armut), zeichnet sich Ar- schen Gemeinschaft der Nationen, die schließ- gentinien eher durch Stagnation aus, wenn lich 2008 in die Gründung der Union Südame- auch auf einem für lateinamerikanische Ver- rikanischer Nationen (UNASUR) mündete. hältnisse hohen Niveau. Die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie- Perspektiven der bilateralen Beziehungen sektoren beider Länder hat sich in den vergan- genen Jahren sehr unterschiedlich entwickelt, Die Phase wachsender wirtschaftlicher Zusam- was auch Auswirkungen auf den bilateralen menarbeit zwischen Argentinien und Brasili- Handel hatte. Den argentinischen Deindust- en wurde seit 1997 durch Zahlungsbilanzpro- rialisierungsschüben ab Mitte der 1970er Jah- bleme beider Länder in Folge der Asienkrise re steht ein relativ kontinuierliches Wachstum getrübt, bevor sie aufgrund der massiven Ab- der brasilianischen Industrieproduktion ge- wertung der brasilianischen Landeswährung genüber. Brasilianische Exporte machen in- Real im Januar 1999 in eine grundlegende zwischen einen großen Anteil an den argen- Krise geriet. Beide Länder sahen sich in den tinischen Importen aus. Während Brasilien Jahren 1999 bis 2002 mit großen wirtschaftli- zu zwei Dritteln Industrieprodukte nach Ar- chen Schwierigkeiten konfrontiert, wobei die gentinien liefert, bestehen die argentinischen Probleme in Brasilien nie das Ausmaß der ar- Exporte nach Brasilien weitestgehend aus gentinischen Krise des Jahres 2001 erreich- Primärgütern (landwirtschaftliche Erzeug- ten. Nach der Abwertung des Peso und dem nisse, Rohstoffe). Brasilianische Investoren Ende des fixen Wechselkurses gegenüber dem sind zu einem wichtigen Faktor auf dem ar- US-Dollar konnte Argentinien langsam wie- gentinischen Markt geworden, entsprechen- der zu einem makroökonomischen Gleichge- de argentinische Aktivitäten in Brasilien gibt wicht zurückkehren. Auch der in den Jahren es dagegen nur wenige. Die argentinische Re- zuvor stark geschrumpfte Handel innerhalb gierung hat gerade in den vergangenen Jahren des Mercosur nahm ab 2003 wieder zu. In auf die Importe aus Brasilien immer wieder beiden Ländern wurden zudem mit Néstor mit einseitigen protektionistischen Maßnah- Kirchner (2003–2007) und Luiz Inácio Lula men reagiert, die in Brasilien auf zunehmen- da Silva (2003–2010) Präsidenten gewählt, die den Unmut stoßen.❙7 dem Mercosur grundsätzlich positiv und der Liberalisierungspolitik der 1990er Jahre eher Die wachsenden demographischen und skeptisch gegenüberstanden. Trotzdem kam ökonomischen Asymmetrien zwischen bei- es weder zu dem wiederholt beschworenen den Ländern haben sich in den vergangenen Neustart des Mercosur noch zu einer weiteren Jahren durch eine weitere Asymmetrie ver- Vertiefung der bilateralen Beziehungen. Viel- stärkt, die sich auf das internationale Enga- mehr nahmen die Konflikte in den vergange- gement und die Wahrnehmung durch die in- nen Jahren zu und die Asymmetrien zwischen ternationale Gemeinschaft bezieht: Brasilien beiden Ländern vertieften sich weiter. spielt nicht nur in Südamerika eine aktive au- ßenpolitische Rolle, sondern auch als Akteur Die Bevölkerung Brasiliens ist mit ca. 196 im Rahmen internationaler Foren und im Millionen Einwohnern heute fast fünfmal so Hinblick auf relevante globale Themen wie groß wie die Argentiniens (ca. 41 Millionen Handel, Energie oder Klimawandel. Im Ge- Einwohner), während die Relation noch Mit- gensatz zum global player Brasilien nimmt te des 20. Jahrhunderts in etwa eins zu drei Argentinien international eher eine defensive betrug (17 Millionen Argentinier, 52 Millio- Haltung ein. Durch diese Entwicklungen re- nen Brasilianer). Das Bruttoinlandsprodukt duziert sich auch die ohnehin nicht besonders Brasiliens war 2008 ca. viermal so hoch wie das Argentiniens, während beide Länder in ❙7 Vgl. Roberto Bouzas/Bernardo Kosacoff, Cam- den 1960er Jahren noch fast gleichauf lagen. bio y continuidad en las Relaciones Económicas de la Während Brasilien trotz nach wie vor existie- Argent ina con Brasil, Buenos Aires 2008. APuZ 12/2010 7
ausgeprägte Bereitschaft Brasiliens, die eige- zwischen eindeutig zu Gunsten Brasiliens nen internationalen Positionen unter Rück- entschieden zu sein – für viele Argentinier sichtnahme auf Argentinien zu formulieren. eine schmerzliche Erkenntnis. Doch nur die Argentinier selbst können an ihrer gegenwär- Die noch in den 1990er Jahren vorhandenen tigen Situation etwas ändern; dazu müssten brasilianischen Erwartungen gegenüber Ar- sie aber zunächst jene Haltung überwinden, gentinien als einem nützlichen Partner im Be- die der Ethnologe Alejandro Grimson als reich des Agrobusiness oder der Energiever- „umgekehrten Ethnozentrismus“ bezeich- sorgung haben sich nicht erfüllt. Zum einen net: In vielen lateinamerikanischen Ländern haben sich diese Bereiche in Brasilien selbst eilt den Argentiniern traditionell der Ruf sehr dynamisch entwickelt, zum anderen hat voraus, chauvinistisch und arrogant zu sein sich Argentinien aus brasilianischer Perspek- und stets nach dem Motto „Wir sind die bes- tive wiederholt als unzuverlässig erwiesen, ten der Welt“ zu verfahren. Bei seinen empi- beispielsweise durch die Kürzung vertraglich rischen Befragungen stellte Grimson für die zugesagter Gaslieferungen nach Brasilien, um gegenwärtige Situation jedoch ein umgekehr- die subventionierte Versorgung des eigenen tes Phänomen fest, das heißt, eine weitver- Binnenmarktes zu gewährleisten. Die in den breitete Tendenz der Argentinier zu glauben, Anfangsjahren des Mercosur erhoffte Kom- „Wir sind die schlechtesten der Welt“ und „In plementarität zwischen den beiden Volks- Argentinien liegen die Dinge mehr im Argen wirtschaften in Sektoren wie der Chemie, der als irgendwo sonst auf der Welt“.❙9 Petrochemie oder der Automobilindustrie hat sich nicht eingestellt. Vielmehr haben sich die Dagegen gilt das von Stefan Zweig 1941 Größenunterschiede dieser Sektoren inzwi- als „Land der Zukunft“ bezeichnete Brasili- schen derart zu Ungunsten Argentiniens ent- en, von dem Zyniker lange Zeit behaupteten, wickelt, dass das Land aus brasilianischer Per- es sei auf ewig ein Land der Zukunft, weil es spektive als Partner an Bedeutung verliert.❙8 nicht dazu in der Lage sei, seine Potenziale zu nutzen, heute tatsächlich als aufstrebender Die bilateralen Beziehungen mit Argenti- globaler Akteur.❙10 Das nationale Selbstbe- nien werden daher heute aus brasilianischer wusstsein der Brasilianer ist durch die Wahl Perspektive weniger als noch in den 1990er ihres Landes zum Veranstalter der Fußball- Jahren durch Interessengeflechte zwischen weltmeisterschaft 2014 und Rio de Janeiros privatwirtschaftlichen Akteuren aus bei- zum Austragungsort der Olympischen Som- den Ländern getragen, sondern sie sind stär- merspiele 2016 zusätzlich gestärkt worden. ker abhängig geworden von einer positiven Vielleicht sollten sich auch die Argentinier politischen Einschätzung ihrer Bedeutung im bilateralen Verhältnis mit ihrem großen im Sinne einer strategischen Partnerschaft. Nachbarn stärker auf sportliche Tugenden Während der Mercosur in Argentinien auch besinnen. Denn zumindest im Fußball ist der heute noch als Schlüssel für die Eingliede- Abstand zwischen beiden Ländern gering. rung des Landes in die Welt betrachtet wird, Von den mehr als 90 seit dem ersten offizi- gilt das Bündnis in Brasilien nur noch als ellen Aufeinandertreffen der Nationalmann- eine unter mehreren Optionen. Zwar möch- schaften im Jahr 1914 ausgetragenen Partien te niemand die möglichen politischen Kosten hat Brasilien 35 für sich entscheiden können, für eine Aufkündigung des Mercosur tragen, Argentinien 34, die übrigen endeten unent- aber genauso wenig ist man dazu bereit, für schieden. Von größeren Asymmetrien zwi- eine Stärkung der Mercosur-Institutionen schen beiden Ländern kann zumindest auf eine Einschränkung der eigenen Handlungs- diesem Feld keine Rede sein. autonomie hinzunehmen. Der seit dem 19. Jahrhundert andauernde Wettstreit um die politische und wirtschaft- ❙9 Vgl. Aljandro Grimson, Visiones nacionales sobre liche Vorherrschaft in Südamerika scheint la Argentina, Brasil y el Mercosur: entre los intereses aufgrund der wachsenden Asymmetrien in- y los sentimientos, in: ders. (Anm. 1), S. 583–612, hier S. 599. ❙10 Vgl. Stefan Zweig, Brasilien. Ein Land der Zu- ❙8 Vgl. Pedro da Motta Veiga, Percepções brasilei- kunft, Stockholm 1941. ras da Argentina: a pareceria com o tango dá samba?, uenos Aires 2008. B 8 APuZ 12/2010
Claudia Zilla ihrer Werte, Glaubensüberzeugungen und Einstellungen zu politischen Inhalten, Pro- Erfahrung der Zeit zessen und Strukturen, nehmen Akteure ihre Rolle im politischen System wahr. – politische Kultur Die Beschäftigung mit der politischen Kul- tur lehrt uns: Es gibt keine selbstverständli- in Argentinien chen Selbstverständlichkeiten.❙3 Was wir als Selbstverständlichkeiten definieren, sind ge- teilte Erwartungen, die durch kontinuierli- und Brasilien che Erfüllung wach gehalten werden. Verglei- chen wir verschiedene kulturelle Kontexte oder Zeitspannen, stellen wir schnell fest, dass es nicht überall so ist oder nicht immer D er Tango ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann.“❙1 In den Tan- gotexten beweinen die Argentinier den Ver- so war. Die sogenannten Selbstverständlich- keiten entpuppen sich dann als raum-zeitlich gebundene Besonderheiten.❙4 Politisch-kul- lust; die Gegenwart turelle Eigenarten können auf verschiede- Claudia Zilla wird bloß als blasser nen Ebenen festgestellt werden. Von Europa M. A., geb. 1973 in Buenos Schimmer einer glor- aus gesehen mag Lateinamerika als ein poli- Aires; Wissenschaftliche reichen Vergangenheit, tisch-kultureller Raum erscheinen. Eine nä- Mitarbeiterin der Stiftung als dekadent begrif- here Betrachtung bringt jedoch die nationa- Wissenschaft und Politik (SWP); fen. Brasilien dage- len Unterschiede ans Licht. Lehrbeauftragte am Latein- gen gilt als das „Land amerika-Institut der Freien der Zukunft“.❙2 Heu- Universität Berlin; SWP, Ludwig te ist tudo bem (alles Ökonomie der Zeit kirchplatz 3–4, 10719 Berlin. gut), und der morgige claudia.zilla@swp-berlin.org Tag bringt Fortschritt So unterscheiden sich Argentinier und Brasi- mit sich, wie das posi- lianer etwa in ihrer Wahrnehmung von Tem- tivistische Motto (Ordem e progresso, Ord- poralität. Dies trat beispielsweise in einem nung und Fortschritt) in der brasilianischen vom Anthropologen Alejandro Grimson ge- Nationalflagge ankündigt. Zudem ist sie leiteten qualitativen Forschungsprojekt zu grün – die Farbe der Hoffnung. Dies mag als Tage.❙5 Während Argentinierinnen und Ar- Gegenüberstellung von Klischees, von abge- gentinier die Zeit auf diskontinuierliche, un- droschenen Redensarten oder zugeschriebe- terbrochene Weise erfahren und eher einen nen Eigenschaften erscheinen. Als kulturelle kurzfristigen Blick pflegen, überwiegen im Konstrukte bergen sie jedoch gesellschafts- Nachbarland die Perzeption von Kontinuität, spezifische Vorstellungen bzw. Denksche- von zeitlicher Permanenz und eine eher län- mata und somit, wenn schon nicht ein Stück gerfristige Betrachtungsweise. Ein gewisser Wahrheit, so doch ein Stück sozialer Wirk- historischer Optimismus scheint in Brasili- lichkeit in sich. Die soziale Konstruktion der en vorhanden. Die argentinische Gesellschaft Wirklichkeit ist zum einen das Produkt von hingegen trauert einer goldenen Epoche nach, Erfahrung – der Art und Weise, wie sich Ge- als ihr europäisch geprägtes Land – „Ge- sellschaften die eigene Geschichte erzählen – treidespeicher der Welt“ – zur siebtgrößten sowie von der Wahrnehmung der Gegen- Volkswirtschaft der Erde avancieren konnte. wart. Zum anderen bedingt sie die aktuellen Zwischen den 1930er und 1940er Jahren habe Einstellungen und das Verhalten der Gesell- schaftsmitglieder. Diese subjektive Dimen- sion ist entscheidend für die Funktionsweise ❙3 Ich verdanke diese treffende Formulierung Hanna politischer Institutionen, denn entsprechend Augustynowicz. ihrer politischen Kultur, also entsprechend ❙4 Vgl. Karl Rohe, Politische Kultur: Zum Verständ- nis eines theoretischen Konzepts, in: Oskar Nieder- mayer/Klaus von Beyme (Hrsg.), Politische Kultur in ❙1 Definition des argentinischen Komponisten En- Ost- und Westdeutschland, Berlin 1994, S. 5. rique Santos Discépolo (1901–1951). ❙5 Vgl. Alejandro Grimson (Hrsg.), Pasiones Nacio- ❙2 So betitelte Stefan Zweig 1941 sein Buch über Bra- nales. Política y cultura en Brasil y Argentina, Bu- silien. enos Aires 2007. 10 APuZ 12/2010
jedoch der Niedergang, eine Reihe sozialer, zungen der unterschiedliche Effekt der glo- kultureller und moralischer Fehlentwicklun- balen Finanz- und Wirtschaftskrise auf die gen, eingesetzt. beiden südamerikanischen Länder verbirgt. So waren im Jahr 2009 in Brasilien 38 Prozent Die unterschiedlichen Zeitperspektiven und der Befragten mit der Funktionsweise der na- damit verbundene Assoziationen kommen tionalen Wirtschaft zufrieden, in Argenti- auch in den Umfrageergebnissen des Lati- nien hingegen nur 8 Prozent (letzter Platz). nobarómetros (Bericht 2009) zum Tragen, Auch wenn beide Regierungen sehr schnell das 18 Länder der Region berücksichtigt.❙6 mit antizyklischen Maßnahmen reagierten, Auf die Frage, wie sich das eigene Land ent- gilt in der Tat Brasilien als besser gegen die wickelt (Fortschritt, Stagnation oder Rück- Krise gewappnet. Dennoch sind zwischen entwicklung), stellen 66 Prozent der brasili- den Nachbarländern die Unterschiede in den anischen Befragten einen Fortschritt fest; in makroökonomischen Veränderungen nicht Argentinien sind hingegen nur 13 Prozent besonders groß. Im Zeitraum von 2007 bis dieser Meinung. Während der lateinamerika- 2009 ging beispielsweise die jährliche Wachs- nische Durchschnitt bei dieser positiven Ant- tumsrate des Bruttoinlandsprodukts in Ar- wort 36 Prozent beträgt, verzeichnet Brasi- gentinien von 8,7 über 6,8 auf 0,7 Prozent zu- lien (nach Chile) den zweithöchsten Wert, rück.❙7 In Brasilien verlief die Verlangsamung Argentinien hingegen den zweitniedrigsten des Wirtschaftswachstums von 5,7 über 5,1 (vor Honduras). Eine ähnliche Verteilung von bis schließlich 0,3 Prozent. In denselben drei positiven und negativen Einstellungen offen- Jahren zeigte die Arbeitslosigkeit in beiden bart die in die Zukunft gerichtete Frage nach Ländern eine ähnliche Schwankung zwi- der Einschätzung der eigenen ökonomischen schen ca. 8 und 9 Prozent. Situation in den folgenden zwölf Monaten. Dabei sehen sich 68 Prozent der Brasilianer Dessen ungeachtet empfinden die argenti- und Brasilianerinnen in der nahen Zukunft nischen und brasilianischen Bürgerinnen und in einer etwas besseren bzw. viel besseren Bürger die Folgen der Krise unterschiedlich. Wirtschaftslage (erster Rangplatz); in Argen- Gefragt nach der Einschätzung der Effekte tinien haben jedoch nur 29 Prozent der Bür- der Krise im eigenen Land auf einer Skala von gerinnen und Bürger diese Erwartung (vor- 1 (kein Effekt) bis 10 (Effekte in allen Berei- letzter Rangplatz). chen), kommen Argentinier auf einen Durch- schnitt von 8 Punkten, die Brasilianer auf ei- Derartige Einstellungen entstehen natür- nen von 6,1. Die Diskrepanz zwischen beiden lich nicht losgelöst von politischen und sozio- Werten wird beim regionalen Vergleich mit ökonomischen Entwicklungen; sie sind aber den andern Ländern noch deutlicher. Brasi- auch nicht deren getreues Spiegelbild. Sie ba- lien liegt unterhalb des lateinamerikanischen sieren weder auf illusorischen Vorstellungen Durchschnitts, der bei 7,1 Punkten liegt, auf noch auf objektiven Beobachtungen, sondern dem zweiten Platz (geringere Auswirkun- gründen sich vielmehr auf Interpretationen gen); Argentinien befindet sich oberhalb des der Wirklichkeit, die sowohl unter dem Ein- Mittelwertes auf Platz 16 (größere Auswir- fluss von Erfahrungen der Vergangenheit als kungen) von 18 untersuchten Ländern des auch der aktuellen Situation stehen. Bezogen Subkontinents. auf die Gegenwart liegt zunächst die Vermu- tung nahe, dass sich hinter diesen Einschät- Ähnlich verhält sich die Bewertung der negativen Effekte der Krise auf die persön- liche ökonomische Situation. Unter den La- ❙6 Wenn nicht anders angemerkt, stammen sämtli- teinamerikanern (Durchschnitt 6,9 Punkte) che Daten zu den Einstellungen von Bürgerinnen und Bürgern in Lateinamerika (darunter auch in Ar- schätzen sich Brasilianer als am wenigsten be- gentinien und Brasilien) aus den Berichten der Cor- troffen ein (5,3 Punkte, erster Platz); die Ar- poración Latinobarómetro, die unter www.latino- gentinier hingegen beschreiben ihre Lage als barometro.org online eingesehen werden können. stark beeinträchtigt (8 Punkte, Platz 14). Ent- Latinobarómetro aggregiert die Daten folgender Länder: Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Cos- ta Rica, Dominikanische Republik, Ecuador, El Sal- ❙7 Wenn nicht anders angemerkt, stammen die öko- vador, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Mexiko, nomischen und sozialen Indikatoren aus Comisión Nicaragua, Panama, Paraguay, Peru, Uruguay und Económica para América Latina, Anuario estadístico Venezuela. 2009, die auf www.eclac.org online verfügbar sind. APuZ 12/2010 11
sprechend unterschiedlich sind die Erwar- Wahlsiege Néstor Kirchners und Luiz Inácio tungen hinsichtlich der erforderlichen Zeit- Lula da Silvas eine jeweils andere Bewertung. spanne, um die Krise zu überwinden. Der Erstens waren die Startbedingungen in bei- Tunnel, an dessen Ende Licht erhofft wird, den Ländern deutlich verschieden: Kirchners scheint in Argentinien viel länger: Hier geben Aufstieg zur Macht folgte auf den frühzeiti- 79 Prozent der Befragten an, dass die Krise gen Rücktritt des Radikalen Fernando de la noch lange andauern wird; unter den brasili- Rúa (von der Unión Cívica Radical, UCR) in- anischen Befragten sind nur 33 Prozent die- mitten der dramatischen „Argentinienkrise“ ser Meinung. In Brasilien sind 55 Prozent sowie auf vier Interimspräsidenten zwischen der Interviewten vielmehr der Ansicht, dass Dezember 2001 und Mai 2003. Lula da Sil- die schlimmste Phase der Krise schon vorbei va löste in Brasilien Fernando Henrique Car- ist und sich das Land bereits auf Erholungs- doso (von der Partido da Social Democracia kurs befindet; diesen Optimismus teilen nur Brasileira, PSDB) in der Präsidentschaft ab, 18 Prozent der Befragten im Nachbarland. der zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten Die abweichende Prognose hängt unter ande- lang mit relativ großem Erfolg regiert hatte. rem von der Wahrnehmung ab, wie die jewei- ligen Regierungen die Herausforderungen Zweitens verlieh die jeweilige parteipoliti- der Krise meistern. Nach Chile ist Brasilien sche Zugehörigkeit der siegreichen Kandida- das lateinamerikanische Land, in dem die Be- ten den Wahlerfolgen jeweils unterschiedli- völkerung die Wirtschaftspolitik des Präsi- che Bedeutung: Mit dem Peronisten Kirchner denten am stärksten unterstützt. Indessen er- kam eine der zwei traditionellen argentini- hält die argentinische Präsidentin von ihren schen Regierungsparteien,❙8 Partido Justi- Mitbürgerinnen und Mitbürgern die schlech- cialista (PJ), wieder an die Macht, die zuletzt teste Note in der Region. von 1989 und 1999 mit Carlos Menem die Präsidentschaft inne gehabt hatte. Mit dem Bei Betrachtung einer längeren Zeitspan- Gewerkschaftler Lula da Silva gelang es der ne stellt sich die vergleichsweise kritischere Partido dos Trabalhadores (PT), einer typi- Einstellung der argentinischen Gesellschaft schen Oppositionspartei, zum ersten Mal seit in Zukunfts- und Wirtschaftsfragen – wenn ihrer Gründung im Jahr 1979, Regierungs- auch mit punktuellen Ausnahmen – als Trend verantwortung zu übernehmen. heraus. Ein Vergleich von Schlüsselindika- toren (Wirtschaftswachstum, Armutsredu- Drittens lässt sich die von Kirchner und zierung etc.) beider Länder zeigt, dass in den Lula da Silva betriebene Politik hinsichtlich vergangenen zehn Jahren die sozioökonomi- des Grades an Kontinuität und Wandel zu den schen Verbesserungen in Argentinien ausge- Vorgängerregierungen jeweils anders einord- prägter waren als in Brasilien. Allerdings un- nen: Kirchner setzte sich an die Spitze einer terschieden sich die Ausgangslagen in beiden linksorientierten Strömung innerhalb des Pe- Ländern erheblich: Während Argentinien ronismus, die sich vom neoliberalen Kurs der sich von einer seiner tiefgreifendsten politi- Regierung Menem abwendete und die Par- schen, ökonomischen und gesellschaftlichen tei als Repräsentant nationaler und populä- Krisen erholte, blieb Brasilien eine solche rer Interessen neu ausrichtete.❙9 Lula da Silva, dramatische Erfahrung erspart. der den Wandel ungleich stärker verkörperte, bewegte seine Partei – im Rahmen einer brei- ten und heterogenen Regierungskoalition – Wellen der Zeit jedoch in die Mitte des ideologischen Spek- trums und setzte in zahlreichen Politikfeldern Auch im neuen Jahrtausend prägten Erfah- die Leitlinien Cardosos fort. Erfolgreich wa- rungen von Wandel und Kontinuität sowie ren beide Politiker insofern, als Kirchner für von Turbulenzen und Stabilität die argenti- nischen und brasilianischen Bürger und Bür- ❙8 Bei UCR und PJ handelt es sich insofern um Regie- gerinnen unterschiedlich. Zwar markierte rungsparteien, als aus kompetitiven Wahlen stets ein das Jahr 2003 den Eintritt beider Länder in Präsidentschaftskandidat von einer der beiden Par- teien siegreich hervorging. die „rote Welle“ linker Regierungen in La- ❙9 Vgl. Marcos Novaro, Izquierda y populismo en teinamerika. Aufgrund der spezifischen na- Argentina: del fracaso del Frepaso a las incógnitas del tionalen Kontexte und der unterschiedlichen kirchnerismo, in: Pedro Pérez Herrero (Hrsg.), La Regierungspolitiken verdienen jedoch die izquierda en América Latina, Madrid, 2006, S. 117. 12 APuZ 12/2010
die Wahl seiner Frau Cristina Fernández de für gerecht (letzter Rangplatz). In Brasili- Kirchner zu seiner Nachfolgerin und Lula da en fällen 16 Prozent der interviewten Perso- Silva für die eigene Wiederwahl sorgten. nen dieses Urteil. Ähnlich pessimistisch fal- len in beiden Ländern die Antworten auf die Frage aus, ob die Demokratie imstande ist, Zeit für soziale Gerechtigkeit eine gerechte Umverteilung zu sichern. Dies liegt daran, dass eine breite gesellschaftli- Ebenfalls charakteristisch sowohl für die bei- che Mehrheit den gewählten Regierungen den Kirchner- als auch die Lula-Regierun- die Gemeinwohlorientierung abspricht. Da- gen❙10 war die Betonung – in Rhetorik und nach gefragt zeigen sich die Bürger und Bür- Praxis – der Notwendigkeit einer ausgepräg- gerinnen Argentiniens deutlich skeptischer ten Sozialpolitik zum Zwecke der Armuts- als ihre Nachbarn. Laut Latinobarómetro bekämpfung. In Argentinien sank zwischen 2009 sind hier nur 7 Prozent der Befragten 2002 und 2006 der Anteil der Bevölkerung, der Meinung, dass im Sinne des ganzen Vol- der unterhalb der Armutsgrenze lebte, von kes regiert wird (letzter Rangplatz), in Brasi- 45,5 auf 21 Prozent, der Anteil der extrem lien sind es 42 Prozent. Im Jahr 2008 waren Armen von 20,9 auf 7,2 Prozent. Im Zeitraum 87 Prozent der argentinischen und 66 Pro- von 2001 bis 2008 konnte die Armutsquote zent der brasilianischen Interviewten der in Brasilien von 37,5 auf 25,8 Prozent und die Ansicht, dass die Regierung zu Gunsten extreme Armut von 13,3 auf 7,3 Prozent re- mächtiger Interessengruppen handelt.❙11 Ge- duziert werden. Zweifelsohne waren die so- nerell herrscht in Lateinamerika die Wahr- zialen Fortschritte in beiden Fällen nicht nur nehmung vor, dass die Regierungen weniger eine Leistung der Regierungspolitik. Diese allgemeine als sektorale Interessen bedienen. bekam Rückenwind vom Weltmarkt, auf dem Korruptionsskandale im Staatsbereich näh- die Exportprodukte der südamerikanischen ren den Skeptizismus. Staaten große Nachfrage und entsprechend hohe Preise genossen. Dies begünstigte das Die Messung des Grades an faktischer so- Wirtschaftswachstum, steigerte die Staats- wie an wahrgenommener Korruption stellt einnahmen und verschaffte den Präsiden- ein wissenschaftliches Desiderat dar. Die ten einen größeren Spielraum, um eine Rei- Schwierigkeit bei der Ermittlung liegt zum he von überwiegend auf finanzielle Transfers einen in der Natur der Sache. Als „nicht gestützten Sozialprogrammen umzusetzen. ganz legales“ bzw. kriminelles Phänomen er- Dort, wo die Korrektur der sozialen Schief- folgt sie im Verborgenen. Zudem kann unter lage struktureller Reformen bedarf, waren den beteiligten Parteien nicht eindeutig zwi- die Fortschritte in beiden Staaten wesent- schen Tätern und Opfern unterschieden wer- lich bescheidener. Das Steuersystem bleibt den, denn it takes two to tango. In korrup- stark regressiv; die öffentlichen Bildungs-, te Praktiken sind meistens mehrere Akteure Gesundheits- und sozialen Sicherungssys- und Strukturen involviert, und häufig fehlt teme weisen nach wie vor erhebliche Defizi- es an einem „Geschädigten“, der den Vor- te auf. So konnte die soziale Ungleichheit in fall melden könnte. Die öffentliche Aufde- beiden Fällen nur geringfügig abgebaut wer- ckung von Korruptionsfällen kann zum an- den, wenn auch in Brasilien – dessen gesell- deren zu zweierlei Interpretationen einladen: schaftliche Ungleichheit viel stärker ausge- Einerseits bedeutet dies, dass solche Delikte prägt ist – etwas größere Verbesserungen zu bekannt gemacht und verfolgt werden. An- beobachten sind. dererseits impliziert dies jedoch überhaupt erst die Existenz von Korruption. Eine rege Am stärksten kritisieren die argentinischen öffentliche Korruptionsdebatte kann also so- Bürgerinnen und Bürger die herrschen- wohl ein Zeichen für die Verschlechterung den Verhältnisse von Armut und Reichtum. der Situation als auch für eine verstärkte Kor- Hierbei halten nur 4 Prozent der Befragten ruptionsbekämpfung sein. Die Berichterstat- die Einkommensverteilung im eigenen Land tung der Medien ist bei der Aufdeckung von Korruptionsaffären häufig besonders inten- ❙10 Hiermit sind die Regierungen von Néstor Kirch- siv; wie solche Fälle aber dann enden, welche ner und Cristina Fernández de Kirchner sowie die zwei Amtszeiten von Luiz Inácio Lula da Silva ge- ❙11 Bei beiden Fragen im Jahr 2009 und 2008 schnei- meint. det die uruguayische Regierung am besten ab. APuZ 12/2010 13
Konsequenzen sie für die Beschuldigten nach Einschätzung in Brasilien auf 61,2 Prozent be- sich ziehen, bekommen die meisten Bürge- läuft, beträgt sie in Argentinien sogar 76 Pro- rinnen und Bürger nicht mehr mit. zent (Latinobarómetro 2008). Dies hängt mit dem verbreiteten desencanto (Ernüchterung) Laut Corruption Perceptions Index (CPI) gegenüber der Politik zusammen und stellt 2009 von Transparency International, der die die Präferenzen der Bevölkerung für die De- Wahrnehmung von Korruption im öffentli- mokratie auf den Prüfstand. chen Sektor auf der Grundlage von Umfra- gen sowie von Experteninterviews und der Befragung von Geschäftsleuten ermittelt,❙12 Demokratie in Zeitperspektive scheint die Situation in Argentinien (2,9) kri- tischer zu sein als in Brasilien (3,7).❙13 Unter Die bereits zitierte Studie von Grimson zur den 31 Staaten des amerikanischen Konti- politischen Kultur in Argentinien und Brasi- nents, die der CPI erfasst, befindet sich Bra- lien gelangt unter anderem zu dem Befund, silien auf Platz 12, Argentinien auf Platz 23.❙14 dass in beiden Ländern der Bestand demo- Wert und Rang sind in beiden Fällen seit dem kratischer Ordnung als eine wichtige Errun- Jahr 2003 relativ konstant geblieben. Indes- genschaft angesehen und daher positiv be- sen schneidet Brasilien bei Latinobarómetro wertet wird. Diese Wertschätzung scheint interessanterweise – nicht nur gegenüber Ar- jedoch vor jeweils unterschiedlichen Zeitfo- gentinien, sondern auch unter den 18 berück- lien zu erfolgen. In Brasilien, wo die Idee des sichtigten Staaten der Region – am schlechtes- Fortschritts im Kontrast mit ernüchternden ten ab. Von einem Korruptionsfall erfahren Aspekten der Realität bisweilen unter Druck zu haben, geben hier 34 Prozent der brasili- gerät, wird Demokratie als Moment der Aus- anischen und 13 Prozent der argentinischen söhnung und der Erneuerung gesellschaftli- Befragten (5. Rangplatz) an. Im Vergleich mit cher Kräfte und somit als Beginn eines neu- den Jahren davor bedeutet dies eine leichte en Zeitabschnitts aufgefasst. Bedauert wird Verbesserung in beiden Fällen, allerdings et- zwar der bisher bescheidene Fortschritt; die was stärker ausgeprägt in Brasilien. So haben Demokratie ist aber dennoch Ausgangs- nur 13 Prozent der argentinischen, jedoch punkt für einen in die Zukunft gerichteten 43 Prozent der brasilianischen Befragten den Blick voller Optimismus. In Argentinien Eindruck, dass im eigenen Land Fortschritte wird in der Demokratie dagegen weniger ein in der Korruptionsbekämpfung zu verzeich- Sprungbrett zum ersehnten Fortschritt gese- nen sind.❙15 hen, als vielmehr der friedliche Ort, an den die Gesellschaft nach dem „Schiffbruch“ ge- Dennoch stellt die Korruptionswahrneh- langt ist. Sie wird also als eine der seltenen mung in Lateinamerika nach wie vor ein glücklichen Stationen im Kontext einer ins- „Armutszeugnis“ für die Politik dar. In den gesamt frustrierenden Seefahrt aufgefasst. meisten Ländern der Region ist eine breite Beklagt wird die Dekadenz; Demokratie ist Mehrheit der Ansicht, dass es mehr Korrup- damit eher als Endpunkt für einen retrospek- tion innerhalb der politischen Klasse gibt als tiven Blick zu sehen, der Gefühle der Enttäu- im Rest der Gesellschaft.❙16 Mit Ausnahme schung hervorruft. Aus dieser Gegenüber- von Uruguay und Chile setzt sich in sämtli- stellung wird deutlich, dass „Demokratie“ chen Ländern die Meinung durch, dass mehr im Zusammenhang mit verschiedenen Zeit- als die Hälfte aller im öffentlichen Sektor Be- perspektiven und historischen Entwicklun- schäftigten korrupt sind. Während sich diese gen einen jeweils nationalspezifischen Stel- lenwert einnimmt. Ebenfalls unterschiedlich ❙12 Sämtliche Jahresberichte sind unter www.trans- kann das Verständnis von Demokratie sein, parency.org online verfügbar. wovon wiederum der Ausprägungsgrad der ❙13 Eine höhere Zahl im CPI entspricht einem gerin- gesellschaftlichen Präferenz für dieses Re- geren Grad an wahrgenommener Korruption. gime abhängt. ❙14 Eine bessere Platzierung (niedrigere Zahl) bedeu- tet weniger wahrgenommene Korruption. Umfrageergebnissen zufolge genießt die ❙15 Im Jahr 2008 lagen die entsprechenden Werte bei 44 Prozent in Brasilien und 22 Prozent Argentinien. Demokratie als Herrschaftsform traditio- ❙16 Diese Ansicht teilen in Argentinien 58 Prozent nell breitere Unterstützung in Argentini- und in Brasilien 66 Prozent der Befragten (Latino- en als in Brasilien. Im Zeitraum von 1995 bis barómetro 2008). 2009 belief sich diese – laut Latinobarómetro 14 APuZ 12/2010
2009 – auf 68 Prozent in Argentinien und auf zu parlamentarischen Mandaten erhielten. 43 Prozent in Brasilien. Hiermit korrelieren Innerhalb eines engen Korsetts wurde ein ge- die Antworten auf die Frage nach der Bereit- wisser Raum für parteipolitische Aktivitäten schaft, eine Militärregierung zu unterstüt- gelassen. In Argentinien hingegen verfolgte zen. Auch wenn sich in beiden Fällen zwei das Militärregime nicht nur eine systemati- Drittel der Befragten gegen eine solche au- sche Entpolitisierung, sondern auf extreme toritäre Herrschaft aussprechen, zeigen sich Weise auch eine große Zahl „Regimegegner“. Brasilianer etwas „weniger dogmatisch“ in Sehr unterschiedlich gestaltete sich zudem dieser Position. So sehen sie es zu 61 Prozent der Übergang zur Demokratie in den bei- als gerechtfertigt an, dass ein gewählter Prä- den Ländern. Dieser erfolgte in Argentinien sident vom Militär abgesetzt wird, wenn er ungleich abrupter. Seitdem das argentinische die Verfassung verletzt (Argentinien: 30 Pro- Militär nach der Niederlage im Falkland/ zent). Mit dieser Antwort katapultieren sich Malwinen-Krieg vollkommen diskreditiert Brasilianerinnen und Brasilianer auf den ers- 1983 die Macht abgab, ist es ihm nicht mehr ten Rangplatz unter jenen Lateinamerika- gelungen, sich als Institution erneut Respekt nern, die eine solche Ausnahme akzeptieren. in der Gesellschaft zu verschaffen. Dement- Gleiches gilt für die Frage, ob es in schwieri- sprechend ist das Vertrauen in das Militär in gen Situationen annehmbar ist, dass die Re- Argentinien niedriger als in Brasilien. gierung die Gesetze missachtet, um Probleme zu lösen. Brasilien steht hier mit 44 Prozent In jüngster Vergangenheit reihte sich in an der Spitze der Befürworter. Auf dem un- Argentinien zudem die traumatische Erfah- tersten Platz befinden sich hingegen die Ar- rung zum Jahreswechsel 2000/2001 in eine gentinier, die dem nur zu 18 Prozent zustim- Kette von „Rückschlägen“ ein, die die politi- men. Im Einklang mit diesen Werten steht sche Entwicklung des Landes immer wieder das Umfrageergebnis auch in Bezug auf die erlitten hat. Dagegen blieb die junge brasili- Einschätzung der Wahrscheinlichkeit eines anische Demokratie von derartigen Höhen Staatsstreichs im eigenen Land. Nach Ecua- und Tiefen verschont. Historisch betrachtet dor ist Brasilien dasjenige Land, in dem die stellt sich die politische Entwicklung Brasili- Möglichkeit eines Putsches am höchsten ein- ens generell weitaus stabiler dar. Einen klaren geschätzt wird (34 Prozent). Die argentini- Hinweis hierauf liefert der Umstand, dass die schen Bürgerinnen und Bürger sind diesbe- verfassungsrechtliche Ordnung in Argenti- züglich skeptischer (21 Prozent). nien ungleich öfter durch Staatsstreiche bzw. Phasen eingeschränkten parteipolitischen Wettbewerbs unterbrochen wurde. Im Ein- Zeitlichkeit der Erfahrung klang mit diesen Unterschieden steht die ein- gangs beschriebene divergierende Zeitwahr- Wie sind nun diese Zahlen zu deuten? Welche nehmung: eher als Kontinuum in Brasilien Rolle spielt hier die Zeit bzw. die Zeitwahr- und als brüchiger Verlauf in Argentinien. Vor nehmung? Zweifelsohne sagen die gegebenen diesem Hintergrund scheinen argentinische Antworten nicht nur etwas über die aktuel- Bürgerinnen und Bürger weniger Anlass zur le Verfassung der Demokratie aus, sondern Hoffnung zu sehen als ihre brasilianischen auch über die Erfahrungen, welche die argen- Nachbarn. Sie verbinden mit der Zukunft tinische und die brasilianische Gesellschaft eher düstere Vorahnungen: Uno, ein sehr be- mit Militärregierungen jeweils gemacht ha- rühmter argentinischer Tango, der von nai- ben. Die argentinische Militärdiktatur war ven Hoffnungen und bitterer Enttäuschung ungleich repressiver als die brasilianische. handelt, hat im Refrain den folgenden Vers: Nicht nur waren die Menschenrechtsverlet- „Hätte ich noch jenes Herz, das ich einst ge- zungen in Argentinien gravierender, son- geben habe, könnte ich noch, wie gestern, dern auch die Restriktionen im politischen ohne Vorahnungen lieben.“ Wettbewerb. Im Unterschied zum argentini- schen Fall ließen die regierenden Generäle in Brasilien beispielsweise den Kongress weiter funktionieren, wenn auch unter starken Ein- schränkungen. Ein künstliches Parteiensys- tem wurde errichtet, in dem ein Regierungs- und ein Oppositionslager begrenzten Zugang APuZ 12/2010 15
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