APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE

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APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
                                12/2010 · 22. März 2010

        Brasilien und Argentinien
                                               Peter Birle
                      Zwischen Rivalität und Partnerschaft

                                              Claudia Zilla
             Politische Kultur in Argentinien und Brasilien

                                       Wolf Grabendorff
 Möglichkeiten und Grenzen regionaler und globaler Politik

                                          Imme Scholz
           Wachstum und ökologische Grenzen in Brasilien

                                            Kristina Hille
                  Die empresas recuperadas in Argentinien

                                            Klaus Hart
              Vom Umgang mit der Diktaturvergangenheit
Editorial
  Brasilien hat in den vergangenen Jahren nicht nur einen bei-
spiellosen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, sondern auch
weltpolitisch erheblich an Gewicht gewonnen. Neben Russland,
Indien und China zählt das mit Abstand größte Land Südame-
rikas zu den sogenannten BRIC-Staaten, jenen aufstrebenden
„Schwellenländern“, denen zugetraut wird, die traditionellen
Industrieländer hinsichtlich ihrer Wirtschaftsleistung mittel-
fristig zu überflügeln. Auch die globale Wirtschaftskrise seit
2008 hat es bisher vergleichsweise gut überstanden; internatio­
nal gilt Brasilien inzwischen als die Führungsmacht in Süd­
amerika.

  Ganz anders sind die Perspektiven in Argentinien, das im Mai
dieses Jahres seine 200-jährige Unabhängigkeit, das Bicentena�
rio, feiert: Das 20. Jahrhundert wird dort als „Zeitraum eines
langsamen Abstiegs“ wahrgenommen (Michael Riekenberg).
Dem verheerenden Zusammenbruch des Finanzsystems, der
„Argentinienkrise“ 2001/2002, folgte zwar eine Erholung, doch
wirtschaftlich und politisch hat das Land zuletzt an Bedeutung
verloren. Einzig im Bereich der Aufarbeitung der Diktatur-
vergangenheit scheint es seinem großen Nachbarn im Norden
voraus zu sein: Während in Brasilien noch immer ein Amnes-
tiegesetz gilt, kommt es in Argentinien immer wieder zu spek-
takulären Prozessen gegen ehemalige Funktionsträger aus der
Zeit der Militär­diktatur.

  Mit dem Aufstieg Brasiliens in die „erste Klasse“, wie Prä-
sident Luiz Inácio Lula da Silva es ausdrückte, ist jedoch eine
Frage verbunden, die den Rest der Welt in ganz anderer Wei-
se betrifft: Wie lässt sich das wirtschaftliche Wachstum mit
dem Schutz des Weltklimas vereinbaren? Wie viele alte Indus-
triestaaten auch, sind die neuen Mächte kaum dazu bereit, ihre
wirtschaftliche Entwicklung zu Gunsten des globalen Klima-
schutzes zu bremsen. Ihre Verhandlungsposition dürfte sich in
den kommenden Jahren indes eher noch verbessern.

                                         Johannes Piepenbrink
Peter Birle       und endete gegen Ende der 1990er Jahre. Die
                                                            Zusammenarbeit auf allen Ebenen verdich-

  Argentinien und                                           tete sich in dieser Zeit, begünstigt nicht zu-
                                                            letzt durch die Rückkehr zur Demokratie.
                                                            Die fünfte Phase setzte Ende der 1990er Jah-

Brasilien zwischen                                          re ein. Während Brasilien ein erfolgreiches
                                                            wirtschaftliches Wachstumsmodell zuneh-

      Rivalität und
                                                            mend mit einer regionalen Führungsrolle in
                                                            Südamerika und mit aktivem Engagement auf
                                                            globaler Ebene verbindet, durchlebt Argenti-

     Partnerschaft
                                                            nien 2001 eine der schwersten Krisen seiner
                                                            neueren Geschichte und nimmt gegenüber
                                                            dem großen Nachbarn Brasilien eine immer
                                                            defensivere Haltung ein. Die Asymmetrien

        D       as bilaterale Verhältnis zwischen Argen-
                tinien und Brasilien, den beiden größten
          Ländern Südamerikas, war lange Zeit durch
                                                            zwischen beiden Ländern wachsen und dro-
                                                            hen auch die oft beschworene „strategische
                                                            Allianz“ zu einem bloßen Lippenbekenntnis
                                   Rivalitäten und Kon-     werden zu lassen.❙1
                       Peter Birle flikte geprägt. Zwar
    Dr. phil., geb. 1961; Politik- standen sie sich seit
     wissenschaftler, Leiter der dem Gewinn ihrer                                      „Republikchen“ versus
      Forschungsabteilung des Unabhängigkeit von                                         „Sklavenhalterstaat“
Ibero-Amerikanischen Instituts den Kolonialmächten
in Berlin, Potsdamer Straße 37, Spanien und Portugal        Die internationale Position Brasiliens war
                    10785 Berlin. nur einmal in einem       während des 19. Jahrhunderts durch die Aus-
         birle@iai.spk-berlin.de Krieg gegenüber, aber      richtung nach Europa, insbesondere nach
                                   bis ins letzte Drittel   Portugal und Großbritannien, geprägt, wäh-
          des 20. Jahrhunderts gelang es nie, die bila-     rend kaum Verbindungen mit den südame-
          teralen Beziehungen dauerhaft auf eine part-      rikanischen Nachbarn bestanden. Die Un-
          nerschaftliche Grundlage zu stellen. Erst         terschiede zu den hispano-amerikanischen
          seit Ende der 1970er Jahre wurde die Riva-        Ländern waren beachtlich, und zwar nicht
          lität schrittweise überwunden, beide Länder       nur deshalb, weil in Brasilien als einzigem la-
          schlossen zahlreiche bi- und multilaterale Ko-    teinamerikanischen Land portugiesisch ge-
          operationsabkommen ab und erklärten sich          sprochen wird. Während Brasilien seine Un-
          1997 wechselseitig zu strategischen ­Partnern.    abhängigkeit von Portugal 1822 ohne große
                                                            Unruhen erlangte und sich in ein weitgehend
          Nachfolgend werde ich die Entwicklung der         stabiles Kaiserreich verwandelte, zerfiel das
        bilateralen Beziehungen in fünf Phasen nach-        spanische Kolonialreich in zahlreiche Repu-
        zeichnen. Die Zeit nach Erlangung der Unab-         bliken, die nach den Unabhängigkeitskrie-
        hängigkeit bis zum Ende des brasilianischen         gen oft lange Zeit mit inneren Konflikten zu
        Kaiserreichs 1889 war geprägt durch vielfäl-        tun hatten. Auch das heutige Argentinien
        tige Konflikte bei einer geringen Dichte der        war nach der Unabhängigkeitserklärung im
        Beziehungen. Die zweite Phase umfasste die          Jahr 1810 über viele Jahrzehnte von internen
        Blütezeit der Agrarexportmodelle bis 1930           Konflikten und Bürgerkriegen geplagt. Erst
        und zeichnete sich durch Rivalität um die           in den 1860er Jahren gelang eine Konsolidie-
        Vorherrschaft in Südamerika aus. Die drit-          rung des Zentralstaates. Die politischen Eli-
        te Phase bis Ende der 1970er Jahre war durch
        einen Wandel der Entwicklungsstrategie in           ❙1 Gute Einführungen in die Geschichte der bilatera-
        beiden Ländern, wachsende ökonomische               len Beziehungen zwischen Argentinien und Brasilien
        Interdependenz und wiederholte Ansätze zu           sowie in die wechselseitigen Wahrnehmungen bieten
        einer stärkeren bilateralen Zusammenarbeit          zwei neuere Bücher, die jeweils in Zusammenarbeit
        charakterisiert, die jedoch immer wieder an         zwischen Wissenschaftlern aus beiden Ländern ent-
                                                            standen sind: Alejandro Grimson (Hrsg.), Pasiones
        innenpolitischen Umbrüchen und geopoliti-           Nacionales. Política y cultura en Brasil y Argentina,
        schen Rivalitäten scheiterten. Die vierte Pha-      Buenos Aires 2007; Fernando Devoto/Boris Fausto,
        se begann mit der Abkehr von bilateralen Be-        Argentina-Brasil 1850–2000. Un ensayo de historia
        drohungsvorstellungen Ende der 1970er Jahre         comparada, Buenos Aires 2008.

                                                                                                APuZ 12/2010        3
ten des Kaiserreichs Brasilien betrachteten             auf und konnte damit den Entwicklungsvor-
       die Unruhen im übrigen Südamerika als Aus-              sprung Brasiliens mehr als kompensieren.
       druck von Anarchie und Unordnung, wie sie               Ohne die massive Einwanderung aus Europa
       typisch seien für die republikanische Staats-           und ausländisches Kapital wäre der argenti-
       form. Entsprechend überlegen fühlten sie                nische Staat nicht in der Lage gewesen, diese
       sich gegenüber den hispano-amerikanischen               Entwicklungen in Gang zu setzen. Der Lö-
       „Republikchen“, mit denen sie möglichst we-             wenanteil der ausländischen Investitionen
       nig zu tun haben wollten. Aber die Antipa-              entfiel auf Großbritannien, das außerdem
       thie war durchaus wechselseitig: Die Eliten             zum wichtigsten Abnehmer argentinischer
       der hispano-amerikanischen Länder kriti-                Agrarprodukte und Lieferanten von Kon-
       sierten das brasilianische Kaiserreich wegen            sumgütern avancierte. Während das atembe-
       seiner „rückständigen“ Institutionen und                raubende Wachstum Argentiniens bei einem
       insbesondere, weil dort bis 1888 Sklaverei be-          Teil seiner Eliten ein Gefühl der Überlegen-
       trieben wurde.❙2                                        heit gegenüber dem Rest der Region aufkom-
                                                               men ließ, blieben die Wirtschafts- und Han-
          Zwischen Argentinien und Brasilien setz-             delsbeziehungen mit den Nachbarländern
       ten sich nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit            schwach ausgeprägt. Brasilien betrachtete
       Kontroversen fort, die bereits während der              man in wirtschaftlicher Hinsicht mit Gleich-
       Kolonialzeit zwischen Spanien und Portu-                gültigkeit, in kultureller Hinsicht als ein un-
       gal bestanden hatten. Dabei ging es vor allem           terlegenes Land und in politischer Hinsicht
       um die Kontrolle der banda oriental („östli-            als einen Rivalen beim Streben nach regio-
       cher Streifen“), dem Territorium des heutigen           naler Vorherrschaft.❙3 Einig waren sich bei-
       Uruguay, das den Zugang zum La Plata-Be-                de Länder interessanterweise in der Haltung,
       cken ermöglichte und damit für Handel und               möglichst wenig mit dem übrigen Lateiname-
       Schifffahrt von großer Bedeutung war. In den            rika zu tun haben zu wollen, dem man sich
       1820er Jahren eskalierte dieser Konflikt in ei-         wirtschaftlich, kulturell und politisch weit
       ner militärischen Auseinandersetzung. Erst              überlegen fühlte.
       1828 gelang unter Vermittlung Großbritanni-
       ens die Beilegung des Streits. Mit der „Repu-              Brasilien folgte während der „Alten Repub-
       blik östlich des Uruguay“ entstand ein eigen-           lik“ (1889–1930) wie Argentinien im Wesent-
       ständiger Staat. Argentinien und Brasilien              lichen einem Agrarexportmodell, seine wirt-
       garantierten die Unabhängigkeit Uruguays                schaftliche Entwicklung verlief im Vergleich
       und sicherten sich wechselseitig freie Schiff-          mit der des südlichen Nachbarn allerdings
       fahrtsrechte auf dem Río de la Plata und sei-           weniger dynamisch. Hauptabsatzmarkt des
       nen Nebenflüssen zu. Damit endete der ein-              Kaffeeexporteurs Brasilien waren die USA.
       zige Krieg in der Geschichte der bilateralen            Vor diesem Hintergrund ist auch die unter
       Beziehungen, die Konflikte rissen jedoch                Außenminister Baron von Rio Branco zu
       auch in der Folgezeit nicht ab. Erst nach dem           Beginn des 20. Jahrhunderts vorgenommene
       Ende des Kaiserreichs und der Etablierung               Weichenstellung der brasilianischen Außen-
       eines republikanischen Staatswesens in Bra-             politik zu verstehen. Rio Branco etablierte
       silien kam es ab 1889 vorübergehend zu einer            ein mit wenigen Unterbrechungen bis in die
       Annäherung an den südlichen Nachbarn.                   1970er Jahre gültiges außenpolitisches Para-
                                                               digma, dessen zentrales Element eine „unge-
                                                               schriebene Allianz“ mit den USA war.❙4 Das
Rivalitäten zwischen                                           Bündnis mit den USA richtete sich zwar of-
aufstrebenden Exportnationen                                   fiziell nicht gegen einen spezifischen Gegner,
                                                               sondern sollte die Verhandlungsmacht Brasi-
       Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stieg           liens erhöhen, es war jedoch nicht zuletzt als
       Argentinien innerhalb weniger Jahrzehnte zu
       einem der größten Agrarexporteure weltweit
                                                               ❙3 Vgl. Roberto Russell/Juan Gabriel Tokatlian,
                                                               O lugar do Brasil na política externa da Argentina:
       ❙2 Vgl. Maria Helena Capelato, O „gigante brasileiro“   A visão do outro, in: Novos Estudos CEBRAP, 65
       na América Latina: ser ou não ser latino-americano,     (2003), S. 71–90.
       in: Carlos Guilherme Mota (Hrsg.), Viagem incom-        ❙4 Vgl. Bradford Burns, The Unwritten Alliance.
       pleta. A experiencia brasileira (1500–2000), A grande   Rio-Branco and Brazilian-American Relations, New
       transação, São Paulo 2000, S. 285–316.                  York–London 1966.

   4    APuZ 12/2010
Gegengewicht zum Einfluss Großbritanni-                   1930er Jahren erstmals Ansätze einer stär-
     ens in Lateinamerika und zur Stützung der                 keren gegenseitigen Abhängigkeit. Auch
     brasilianischen Position gegenüber Argenti-               politisch kam man sich näher. Die enge Al-
     nien gedacht.❙5                                           lianz zwischen Brasilien und den USA wäh-
                                                               rend des Zweiten Weltkrieges und die Kon-
       Die argentinisch-brasilianischen Bezie-                 flikte zwischen Argentinien und den USA
     hungen verschlechterten sich zu Beginn des                hinsichtlich der Haltung gegenüber den
     20. Jahrhunderts erneut, zwischen beiden Län-             Achsenmächten (Deutschland und seine
     dern setzte ein gewisser Rüstungswettlauf ein             Verbündeten) wirkten sich jedoch auch auf
     und phasenweise kam es zu ernsthaften mili-               die Beziehungen zwischen den beiden Nach-
     tärischen Spannungen. Allerdings basierte das             barländern negativ aus. Nach dem Ende des
     jeweilige Streben nach Suprematie in Südame-              Zweiten Weltkrieges waren die ideologi-
     rika weniger auf realen Interessen der beiden             schen Gräben zwischen Argentinien und
     Länder in anderen Staaten der Region als auf              Brasilien gewaltig. Während die Regierung
     ihren Selbst- und Fremdbildern. Dem argen-                Perón für eine „dritte Position“ zwischen
     tinischen Selbstbild einer europäischen Nati-             Kapitalismus und Sozialismus eintrat, re-
     on mit weißer und mit überlegenen Merkma-                 gierte in Brasilien die extrem auf die Ideolo-
     len ausgestatteten Bevölkerung inmitten eines             gie des Kalten Krieges eingeschworene Re-
     mestizischen❙6 Südamerikas, eines privilegier-            gierung von Präsident Enrico Gaspar Dutra.
     ten Partners der Weltmacht Großbritannien,                Die seit Ende der 1940er Jahre unternomme-
     dessen offensichtliche Bestimmung die regio-              nen Bemühungen der Regierung Perón um
     nale Hegemonie in Südamerika sei, stand der               eine engere Zusammenarbeit innerhalb Süd-
     brasilianische Mythos eines physischen Ko-                amerikas stießen auf wenig Gegenliebe in
     losses, eines riesigen Landes mit großartiger             Brasilien. Die brasilianischen Regierungen
     Natur, dem notwendigerweise auch ein groß-                sahen darin nicht nur ein Streben des Nach-
     artiges Schicksal bestimmt sei, gegenüber.                barlandes nach regionaler Suprematie, son-
                                                               dern sie fürchteten auch, dadurch könnten
                                                               ihre besonderen Beziehungen zu den USA
Zwischen Annäherung                                            gefährdet werden.
und Distanzierung
                                                                 Ende der 1950er Jahre kam es erneut zu ei-
     Die grundlegende Veränderung der Welt-                    ner vorübergehenden Annäherung, da die
     wirtschaft nach der Wirtschaftskrise von                  Regierungen beider Länder auf eine stärke-
     1929/30 entzog dem Agrarexportmodell, auf                 re Rolle des Staates im wirtschaftlichen Ent-
     dem der argentinische Wohlstand basierte,                 wicklungsprozess setzten. Mit den Staats-
     nach und nach die Grundlage. Unter Präsi-                 streichen in Argentinien (1962, 1966 und 1976)
     dent Juan Perón begann in den 1940er Jah-                 und der 1964 erfolgten Machtübernahme der
     ren ein Prozess der forcierten Industrialisie-            Streitkräfte in Brasilien gewannen dann je-
     rung. Nicht zuletzt die politische Instabilität           doch geopolitische Doktrinen und Bedro-
     des Landes sorgte jedoch dafür, dass es in den            hungsszenarien in beiden Ländern die Ober-
     kommenden Jahrzehnten nie gelang, zu einer                hand und führten zu erneuten Spannungen
     lang anhaltenden Phase stabilen Wachstums                 im bilateralen Verhältnis. Die Auseinander-
     zurückzukehren. Demgegenüber hatte Bra-                   setzungen erreichten in der ersten Hälfte der
     silien mit seiner Industrialisierungsstrategie            1970er Jahre einen neuen Höhepunkt. Das
     zur Verringerung der Importe seit den 1930er              „brasilianische Wirtschaftswunder“ verlei-
     mehr Erfolg. Nach dem Zweiten Weltkrieg                   tete die dortige Regierung zu einem über-
     wies das Land über lange Zeiträume außerge-               steigerten Nationalismus, der sich zum Ziel
     wöhnlich hohe Wachstumsraten auf.                         setzte, den Einfluss in Südamerika auszubau-
                                                               en. Aus Angst vor der brasilianischen Hege-
       In den Wirtschaftsbeziehungen zwischen                  monie widersetzte sich Argentinien unter an-
     beiden Ländern entwickelten sich in den                   derem dem Bau eines Wasserkraftwerkes in
                                                               Itaipú im Grenzgebiet zwischen Argentini-
     ❙5 Vgl. Helio Jaguaribe, El Brasil y la América Latina,
                                                               en, Brasilien und Paraguay, das zur damali-
     in: Estudios Internacionales, 29 (1975), S. 106–136.      gen Zeit weltweit eines der ambitioniertesten
     ❙6 Mestizisch bezeichnet Personen, die europäische        Staudamm- und Kraftwerksprojekte dar­
     und indigene Vorfahren haben.                             stellte.

                                                                                              APuZ 12/2010      5
Intensivierung der Zusammenarbeit,                        münden zu lassen, tauchten erstmals 1985 auf.
                                                          Ein Jahr später unterzeichneten beide Län-
Redemokratisierung und                                    der ein Abkommen über die Liberalisierung
Gründung des Mercosur                                     des bilateralen Handels durch Zollsenkun-
                                                          gen und Handelspräferenzen. Im Dezember
       Im Laufe der 1970er Jahre wuchs die Unzu-          1986 folgte ein Abkommen über Demokratie,
       friedenheit Brasiliens mit den USA, die immer      Frieden und Entwicklung. 1990 vereinbar-
       mehr als Garant einer als ungerecht empfunde-      te man die Etablierung einer Wirtschaftsge-
       nen Weltwirtschaftsordnung wahrgenommen            meinschaft und lud wenig später auch Uru-
       wurden. Die Menschenrechtspolitik der Regie-       guay und Paraguay ein, sich an der Initiative
       rung Jimmy Carters ab 1976 trug zu einer wei-      zu beteiligen. Im März 1991 schließlich fiel
       teren Verschlechterung der Beziehungen bei.        mit dem Vertrag von Asunción der Start-
       Gleichzeitig reduzierten sich die Spannungen       schuss für den Gemeinsamen Markt des Sü-
       mit Argentinien und 1979 gelang es endlich,        dens (Mercosur).
       ein Abkommen über den Bau von Staudäm-
       men und die Errichtung von Wasserkraft-              Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwi-
       werken zu vereinbaren. Angesichts des wach-        schen Argentinien und Brasilien im Rahmen
       senden industriellen Rückstandes gegenüber         des Mercosur entwickelte sich zunächst zu
       Brasilien erwies es sich für Argentinien als im-   einer Erfolgsgeschichte. Während der 1990er
       mer weniger zweckmäßig, an einem Konflikt          Jahre wuchs der bilaterale Handel um das
       mit Brasilien festzuhalten, das sich aufgrund      Siebenfache. Argentinien wurde zum zweit-
       einer kohärenteren Industriepolitik und ei-        wichtigsten Abnehmer brasilianischer Pro-
       ner besseren Nutzung seines Binnenmarktes          dukte, während Brasilien zum wichtigsten
       zum wirtschaftlich mit Abstand bedeutends-         Markt für die argentinischen Exporte avan-
       ten Land der Region ent­wickelt hatte.             cierte. Die bilaterale Zusammenarbeit vertief-
                                                          te sich auch in anderen Bereichen, beispiels-
          Auf Argentinien entfielen 1980 nur noch         weise in Wissenschaft, Kultur und Bildung.
       10 Prozent der lateinamerikanischen Indus­
       trie­pro­duk­tion, 30 Jahre zuvor waren es noch      Gleichwohl erschwerten unterschiedliche
       40 Prozent gewesen. Es schien somit angera-        außenpolitische Grundstrategien eine engere
       ten, den Wettbewerb mit Brasilien zu brem-         politische und wirtschaftliche Zusammenar-
       sen, damit sich die Kluft zwischen beiden          beit. Ausgerechnet Argentinien, das die lang-
       Ländern nicht weiter vergrößerte. Erleich-         jährige „ungeschriebene Allianz“ zwischen
       tert wurde die Verständigung durch wach-           Brasilien und den USA immer mit Skepsis und
       sende ideologische Übereinstimmung zwi-            Misstrauen verfolgt hatte, bemühte sich wäh-
       schen den Militärregierungen beider Länder.        rend der Regierungszeit von Präsident Carlos
       1980 unterzeichneten sie mehrere Kooperati-        Menem (1989–1999) jetzt seinerseits um eine
       onsabkommen im Energie- und Nuklearsek-            Sonderbeziehung zu den USA. Diese Strategie
       tor. Während des Falkland/Malwinen-Kon-            hatte auch Auswirkungen auf die Haltung ge-
       fliktes 1982 zeigte sich Brasilien solidarisch     genüber Brasilien, denn durch die kategorische
       mit Argentinien und stützte dessen Ansprü-         Unterordnung unter die Ziele der USA rück-
       che auf die Inselgruppe im Südatlantik. Auch       te Brasilien als außenpolitischer Partner auto-
       wenn Brasilien die Entscheidung der argen-         matisch in die zweite Reihe, auch wenn es als
       tinischen Militärs zu gewaltsamen Maßnah-          Handels- und Wirtschaftspartner von höchs-
       men gegenüber Großbritannien nicht unter-          ter Priorität blieb. Ein Teil der argentinischen
       stützte, gelang es, das Vertrauen zwischen         Regierung betrachtete die engen Beziehungen
       beiden Ländern zu festigen.                        zu den USA auch als eine Möglichkeit, den au-
                                                          ßenpolitischen Ambitionen Brasiliens Gren-
         Im Zuge des Übergangs von der Diktatur           zen zu setzen. Demgegenüber waren die USA
       zur Demokratie in Argentinien (1983) und           für Brasilien zwar immer noch ein wichtiger
       Brasilien (1985) gelangte in beiden Ländern        Partner, das Land blieb aber weitaus stärker
       eine neue Generation von Politikern an die         als Argentinien auf seine Unabhängigkeit und
       Macht, die sich eher an kooperativen Paradig-      Selbstbestimmung bedacht.
       men als an geopolitischen Konflikthypothe-
       sen orientierten. Überlegungen, die bilaterale       Die unterschiedlichen außenpolitischen und
       Zusammenarbeit in einen Integrationsprozess        außenwirtschaftlichen Grundorientierungen

   6    APuZ 12/2010
äußerten sich sowohl im Rahmen des Merco-        render gravierender sozialer Probleme viele
      sur als auch bei den Verhandlungen um eine       Sozialindikatoren in den vergangenen Jahr-
      „Freihandelszone der Amerikas“. Sie führten      zehnten und insbesondere seit Antritt der
      auch zu zurückhaltenden bis skeptischen ar-      Regierung Lula deutlich verbessern konnte
      gentinischen Reaktionen auf die brasilianische   (Kindersterblichkeit, ärztliche Versorgung,
      Initiative zur Gründung einer Südamerikani-      Analphabetismus, Armut), zeichnet sich Ar-
      schen Gemeinschaft der Nationen, die schließ-    gentinien eher durch Stagnation aus, wenn
      lich 2008 in die Gründung der Union Südame-      auch auf einem für lateinamerikanische Ver-
      rikanischer Nationen (­UNASUR) mündete.          hältnisse hohen Niveau.

                                                         Die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie-
Perspektiven der bilateralen Beziehungen               sektoren beider Länder hat sich in den vergan-
                                                       genen Jahren sehr unterschiedlich entwickelt,
      Die Phase wachsender wirtschaftlicher Zusam-     was auch Auswirkungen auf den bilateralen
      menarbeit zwischen Argentinien und Brasili-      Handel hatte. Den argentinischen Deindust-
      en wurde seit 1997 durch Zahlungsbilanzpro-      rialisierungsschüben ab Mitte der 1970er Jah-
      bleme beider Länder in Folge der Asienkrise      re steht ein relativ kontinuierliches Wachstum
      getrübt, bevor sie aufgrund der massiven Ab-     der brasilianischen Industrieproduktion ge-
      wertung der brasilianischen Landeswährung        genüber. Brasilianische Exporte machen in-
      Real im Januar 1999 in eine grundlegende         zwischen einen großen Anteil an den argen-
      Krise geriet. Beide Länder sahen sich in den     tinischen Importen aus. Während Brasilien
      Jahren 1999 bis 2002 mit großen wirtschaftli-    zu zwei Dritteln Industrieprodukte nach Ar-
      chen Schwierigkeiten konfrontiert, wobei die     gentinien liefert, bestehen die argentinischen
      Probleme in Brasilien nie das Ausmaß der ar-     Exporte nach Brasilien weitestgehend aus
      gentinischen Krise des Jahres 2001 erreich-      Primärgütern (landwirtschaftliche Erzeug-
      ten. Nach der Abwertung des Peso und dem         nisse, Rohstoffe). Brasilianische Investoren
      Ende des fixen Wechselkurses gegenüber dem       sind zu einem wichtigen Faktor auf dem ar-
      US-Dollar konnte Argentinien langsam wie-        gentinischen Markt geworden, entsprechen-
      der zu einem makroökonomischen Gleichge-         de argentinische Aktivitäten in Brasilien gibt
      wicht zurückkehren. Auch der in den Jahren       es dagegen nur wenige. Die argentinische Re-
      zuvor stark geschrumpfte Handel innerhalb        gierung hat gerade in den vergangenen Jahren
      des Mercosur nahm ab 2003 wieder zu. In          auf die Importe aus Brasilien immer wieder
      beiden Ländern wurden zudem mit Néstor           mit einseitigen protektionistischen Maßnah-
      Kirchner (2003–2007) und Luiz Inácio Lula        men reagiert, die in Brasilien auf zunehmen-
      da Silva (2003–2010) Präsidenten gewählt, die    den Unmut stoßen.❙7
      dem Mercosur grundsätzlich positiv und der
      Liberalisierungspolitik der 1990er Jahre eher      Die wachsenden demographischen und
      skeptisch gegenüberstanden. Trotzdem kam         ökonomischen Asymmetrien zwischen bei-
      es weder zu dem wiederholt beschworenen          den Ländern haben sich in den vergangenen
      Neustart des Mercosur noch zu einer weiteren     Jahren durch eine weitere Asymmetrie ver-
      Vertiefung der bilateralen Beziehungen. Viel-    stärkt, die sich auf das internationale Enga-
      mehr nahmen die Konflikte in den vergange-       gement und die Wahrnehmung durch die in-
      nen Jahren zu und die Asymmetrien zwischen       ternationale Gemeinschaft bezieht: Brasilien
      beiden Ländern vertieften sich weiter.           spielt nicht nur in Südamerika eine aktive au-
                                                       ßenpolitische Rolle, sondern auch als Akteur
        Die Bevölkerung Brasiliens ist mit ca. 196     im Rahmen internationaler Foren und im
      Millionen Einwohnern heute fast fünfmal so       Hinblick auf relevante globale Themen wie
      groß wie die Argentiniens (ca. 41 Millionen      Handel, Energie oder Klimawandel. Im Ge-
      Einwohner), während die Relation noch Mit-       gensatz zum global player Brasilien nimmt
      te des 20. Jahrhunderts in etwa eins zu drei     Argentinien international eher eine defensive
      betrug (17 Millionen Argentinier, 52 Millio-     Haltung ein. Durch diese Entwicklungen re-
      nen Brasilianer). Das Bruttoinlandsprodukt       duziert sich auch die ohnehin nicht besonders
      Brasiliens war 2008 ca. viermal so hoch wie
      das Argentiniens, während beide Länder in        ❙7 Vgl. Roberto Bouzas/Bernardo Kosacoff, Cam-
      den 1960er Jahren noch fast gleichauf lagen.     bio y continuidad en las Relaciones Económicas de la
      Während Brasilien trotz nach wie vor existie-    Argen­t ina con Brasil, Buenos Aires 2008.

                                                                                           APuZ 12/2010       7
ausgeprägte Bereitschaft Brasiliens, die eige-         zwischen eindeutig zu Gunsten Brasiliens
    nen internationalen Positionen unter Rück-             entschieden zu sein – für viele Argentinier
    sichtnahme auf Argentinien zu formulieren.             eine schmerzliche Erkenntnis. Doch nur die
                                                           Argentinier selbst können an ihrer gegenwär-
       Die noch in den 1990er Jahren vorhandenen           tigen Situation etwas ändern; dazu müssten
    brasilianischen Erwartungen gegenüber Ar-              sie aber zunächst jene Haltung überwinden,
    gentinien als einem nützlichen Partner im Be-          die der Ethnologe Alejandro Grimson als
    reich des Agrobusiness oder der Energiever-            „umgekehrten Ethnozentrismus“ bezeich-
    sorgung haben sich nicht erfüllt. Zum einen            net: In vielen lateinamerikanischen Ländern
    haben sich diese Bereiche in Brasilien selbst          eilt den Argentiniern traditionell der Ruf
    sehr dynamisch entwickelt, zum anderen hat             voraus, chauvinistisch und arrogant zu sein
    sich Argentinien aus brasilianischer Perspek-          und stets nach dem Motto „Wir sind die bes-
    tive wiederholt als unzuverlässig erwiesen,            ten der Welt“ zu verfahren. Bei seinen empi-
    beispielsweise durch die Kürzung vertraglich           rischen Befragungen stellte Grimson für die
    zugesagter Gaslieferungen nach Brasilien, um           gegenwärtige Situation jedoch ein umgekehr-
    die subventionierte Versorgung des eigenen             tes Phänomen fest, das heißt, eine weitver-
    Binnenmarktes zu gewährleisten. Die in den             breitete Tendenz der Argentinier zu glauben,
    Anfangsjahren des Mercosur erhoffte Kom-               „Wir sind die schlechtesten der Welt“ und „In
    plementarität zwischen den beiden Volks-               Argentinien liegen die Dinge mehr im Argen
    wirtschaften in Sektoren wie der Chemie, der           als irgendwo sonst auf der Welt“.❙9
    Petrochemie oder der Automobilindustrie hat
    sich nicht eingestellt. Vielmehr haben sich die           Dagegen gilt das von Stefan Zweig 1941
    Größenunterschiede dieser Sektoren inzwi-              als „Land der Zukunft“ bezeichnete Brasili-
    schen derart zu Ungunsten Argentiniens ent-            en, von dem Zyniker lange Zeit behaupteten,
    wickelt, dass das Land aus brasilianischer Per-        es sei auf ewig ein Land der Zukunft, weil es
    spektive als Partner an Bedeutung verliert.❙8          nicht dazu in der Lage sei, seine Potenziale
                                                           zu nutzen, heute tatsächlich als aufstrebender
      Die bilateralen Beziehungen mit Argenti-             globaler Akteur.❙10 Das nationale Selbstbe-
    nien werden daher heute aus brasilianischer            wusstsein der Brasilianer ist durch die Wahl
    Perspektive weniger als noch in den 1990er             ihres Landes zum Veranstalter der Fußball-
    Jahren durch Interessengeflechte zwischen              weltmeisterschaft 2014 und Rio de Janeiros
    privatwirtschaftlichen Akteuren aus bei-               zum Austragungsort der Olympischen Som-
    den Ländern getragen, sondern sie sind stär-           merspiele 2016 zusätzlich gestärkt worden.
    ker abhängig geworden von einer positiven              Vielleicht sollten sich auch die Argentinier
    politischen Einschätzung ihrer Bedeutung               im bilateralen Verhältnis mit ihrem großen
    im Sinne einer strategischen Partnerschaft.            Nachbarn stärker auf sportliche Tugenden
    Während der Mercosur in Argentinien auch               besinnen. Denn zumindest im Fußball ist der
    heute noch als Schlüssel für die Eingliede-            Abstand zwischen beiden Ländern gering.
    rung des Landes in die Welt betrachtet wird,           Von den mehr als 90 seit dem ersten offizi-
    gilt das Bündnis in Brasilien nur noch als             ellen Aufeinandertreffen der Nationalmann-
    eine unter mehreren Optionen. Zwar möch-               schaften im Jahr 1914 ausgetragenen Partien
    te niemand die möglichen politischen Kosten            hat Brasilien 35 für sich entscheiden können,
    für eine Aufkündigung des Mercosur tragen,             Argentinien 34, die übrigen endeten unent-
    aber genauso wenig ist man dazu bereit, für            schieden. Von größeren Asymmetrien zwi-
    eine Stärkung der Mercosur-Institutionen               schen beiden Ländern kann zumindest auf
    eine Einschränkung der eigenen Handlungs-              diesem Feld keine Rede sein.
    autonomie hinzunehmen.

       Der seit dem 19. Jahrhundert andauernde
    Wettstreit um die politische und wirtschaft-           ❙9 Vgl. Aljandro Grimson, Visiones nacionales sobre
    liche Vorherrschaft in Südamerika scheint              la Argentina, Brasil y el Mercosur: entre los intereses
    aufgrund der wachsenden Asymmetrien in-                y los sentimientos, in: ders. (Anm. 1), S. 583–612, hier
                                                           S. 599.
                                                           ❙10 Vgl. Stefan Zweig, Brasilien. Ein Land der Zu-
    ❙8 Vgl. Pedro da Motta Veiga, Percepções brasilei-     kunft, Stockholm 1941.
    ras da Argentina: a pareceria com o tango dá samba?,
    ­ uenos Aires 2008.
    B

8    APuZ 12/2010
Claudia Zilla          ihrer Werte, Glaubensüberzeugungen und
                                                                 Einstellungen zu politischen Inhalten, Pro-

  Erfahrung der Zeit                                             zessen und Strukturen, nehmen Akteure ihre
                                                                 Rolle im politischen System wahr.

  – politische Kultur                                               Die Beschäftigung mit der politischen Kul-
                                                                 tur lehrt uns: Es gibt keine selbstverständli-

      in Argentinien
                                                                 chen Selbstverständlichkeiten.❙3 Was wir als
                                                                 Selbstverständlichkeiten definieren, sind ge-
                                                                 teilte Erwartungen, die durch kontinuierli-

        und Brasilien                                            che Erfüllung wach gehalten werden. Verglei-
                                                                 chen wir verschiedene kulturelle Kontexte
                                                                 oder Zeitspannen, stellen wir schnell fest,
                                                                 dass es nicht überall so ist oder nicht immer

         D      er Tango ist ein trauriger Gedanke,
                den man tanzen kann.“❙1 In den Tan-
          gotexten beweinen die Argentinier den Ver-
                                                                 so war. Die sogenannten Selbstverständlich-
                                                                 keiten entpuppen sich dann als raum-zeitlich
                                                                 gebundene Besonderheiten.❙4 Politisch-kul-
                                   lust; die Gegenwart           turelle Eigenarten können auf verschiede-
                     Claudia Zilla wird bloß als blasser         nen Ebenen festgestellt werden. Von Europa
      M. A., geb. 1973 in Buenos Schimmer einer glor-            aus gesehen mag Lateinamerika als ein poli-
        Aires; Wissenschaftliche reichen Vergangenheit,          tisch-kultureller Raum erscheinen. Eine nä-
       Mitarbeiterin der Stiftung als dekadent begrif-           here Betrachtung bringt jedoch die nationa-
Wissenschaft und Politik (SWP); fen. Brasilien dage-             len Unterschiede ans Licht.
     Lehrbeauftragte am Latein- gen gilt als das „Land
      amerika-Institut der Freien der Zukunft“.❙2 Heu-
Universität Berlin; SWP, Ludwig­ te ist tudo bem (alles                                          Ökonomie der Zeit
   kirchplatz 3–4, 10719 Berlin. gut), und der morgige
   claudia.zilla@swp-berlin.org Tag bringt Fortschritt           So unterscheiden sich Argentinier und Brasi-
                                   mit sich, wie das posi-       lianer etwa in ihrer Wahrnehmung von Tem-
          tivistische Motto (Ordem e progresso, Ord-             poralität. Dies trat beispielsweise in einem
          nung und Fortschritt) in der brasilianischen           vom Anthropologen Alejandro Grimson ge-
          Nationalflagge ankündigt. Zudem ist sie                leiteten qualitativen Forschungsprojekt zu
          grün – die Farbe der Hoffnung. Dies mag als            Tage.❙5 Während Argentinierinnen und Ar-
          Gegenüberstellung von Klischees, von abge-             gentinier die Zeit auf diskontinuierliche, un-
          droschenen Redensarten oder zugeschriebe-              terbrochene Weise erfahren und eher einen
          nen Eigenschaften erscheinen. Als kulturelle           kurzfristigen Blick pflegen, überwiegen im
          Konstrukte bergen sie jedoch gesellschafts-            Nachbarland die Perzeption von Kontinuität,
          spezifische Vorstellungen bzw. Denksche-               von zeitlicher Permanenz und eine eher län-
          mata und somit, wenn schon nicht ein Stück             gerfristige Betrachtungsweise. Ein gewisser
          Wahrheit, so doch ein Stück sozialer Wirk-             historischer Optimismus scheint in Brasili-
          lichkeit in sich. Die soziale Konstruktion der         en vorhanden. Die argentinische Gesellschaft
          Wirklichkeit ist zum einen das Produkt von             hingegen trauert einer goldenen Epoche nach,
          Erfahrung – der Art und Weise, wie sich Ge-            als ihr europäisch geprägtes Land – „Ge-
          sellschaften die eigene Geschichte erzählen –          treidespeicher der Welt“ – zur siebtgrößten
          sowie von der Wahrnehmung der Gegen-                   Volkswirtschaft der Erde avancieren konnte.
          wart. Zum anderen bedingt sie die aktuellen            Zwischen den 1930er und 1940er Jahren habe
          Einstellungen und das Verhalten der Gesell-
          schaftsmitglieder. Diese subjektive Dimen-
          sion ist entscheidend für die Funktionsweise           ❙3 Ich verdanke diese treffende Formulierung Hanna
          politischer Institutionen, denn entsprechend           Augustynowicz.
          ihrer politischen Kultur, also entsprechend            ❙4 Vgl. Karl Rohe, Politische Kultur: Zum Verständ-
                                                                 nis eines theoretischen Konzepts, in: Oskar Nieder-
                                                                 mayer/Klaus von Beyme (Hrsg.), Politische Kultur in
         ❙1 Definition des argentinischen Komponisten En-        Ost- und Westdeutschland, Berlin 1994, S. 5.
         rique Santos Discépolo (1901–1951).                     ❙5 Vgl. Alejandro Grimson (Hrsg.), Pasiones Nacio-
         ❙2 So betitelte Stefan Zweig 1941 sein Buch über Bra-   nales. Política y cultura en Brasil y Argentina, Bu-
         silien.                                                 enos Aires 2007.

    10    APuZ 12/2010
jedoch der Niedergang, eine Reihe sozialer,             zungen der unterschiedliche Effekt der glo-
kultureller und moralischer Fehlentwicklun-             balen Finanz- und Wirtschaftskrise auf die
gen, eingesetzt.                                        beiden südamerikanischen Länder verbirgt.
                                                        So waren im Jahr 2009 in Brasilien 38 Prozent
   Die unterschiedlichen Zeitperspektiven und           der Befragten mit der Funktionsweise der na-
damit verbundene Assoziationen kommen                   tionalen Wirtschaft zufrieden, in Argenti-
auch in den Umfrageergebnissen des Lati-                nien hingegen nur 8 Prozent (letzter Platz).
nobarómetros (Bericht 2009) zum Tragen,                 Auch wenn beide Regierungen sehr schnell
das 18 Länder der Region berücksichtigt.❙6              mit antizyklischen Maßnahmen reagierten,
Auf die Frage, wie sich das eigene Land ent-            gilt in der Tat Brasilien als besser gegen die
wickelt (Fortschritt, Stagnation oder Rück-             Krise gewappnet. Dennoch sind zwischen
entwicklung), stellen 66 Prozent der brasili-           den Nachbarländern die Unterschiede in den
anischen Befragten einen Fortschritt fest; in           makroökonomischen Veränderungen nicht
Argentinien sind hingegen nur 13 Prozent                besonders groß. Im Zeitraum von 2007 bis
dieser Meinung. Während der lateinamerika-              2009 ging beispielsweise die jährliche Wachs-
nische Durchschnitt bei dieser positiven Ant-           tumsrate des Bruttoinlandsprodukts in Ar-
wort 36 Prozent beträgt, verzeichnet Brasi-             gentinien von 8,7 über 6,8 auf 0,7 Prozent zu-
lien (nach Chile) den zweithöchsten Wert,               rück.❙7 In Brasilien verlief die Verlangsamung
Argentinien hingegen den zweitniedrigsten               des Wirtschaftswachstums von 5,7 über 5,1
(vor Honduras). Eine ähnliche Verteilung von            bis schließlich 0,3 Prozent. In denselben drei
positiven und negativen Einstellungen offen-            Jahren zeigte die Arbeitslosigkeit in beiden
bart die in die Zukunft gerichtete Frage nach           Ländern eine ähnliche Schwankung zwi-
der Einschätzung der eigenen ökonomischen               schen ca. 8 und 9 Prozent.
Situation in den folgenden zwölf Monaten.
Dabei sehen sich 68 Prozent der Brasilianer                Dessen ungeachtet empfinden die argenti-
und Brasilianerinnen in der nahen Zukunft               nischen und brasilianischen Bürgerinnen und
in einer etwas besseren bzw. viel besseren              Bürger die Folgen der Krise unterschiedlich.
Wirtschaftslage (erster Rangplatz); in Argen-           Gefragt nach der Einschätzung der Effekte
tinien haben jedoch nur 29 Prozent der Bür-             der Krise im eigenen Land auf einer Skala von
gerinnen und Bürger diese Erwartung (vor-               1 (kein Effekt) bis 10 (Effekte in allen Berei-
letzter Rangplatz).                                     chen), kommen Argentinier auf einen Durch-
                                                        schnitt von 8 Punkten, die Brasilianer auf ei-
   Derartige Einstellungen entstehen natür-             nen von 6,1. Die Diskrepanz zwischen beiden
lich nicht losgelöst von politischen und sozio-         Werten wird beim regionalen Vergleich mit
ökonomischen Entwicklungen; sie sind aber               den andern Ländern noch deutlicher. Brasi-
auch nicht deren getreues Spiegelbild. Sie ba-          lien liegt unterhalb des lateinamerikanischen
sieren weder auf illusorischen Vorstellungen            Durchschnitts, der bei 7,1 Punkten liegt, auf
noch auf objektiven Beobachtungen, sondern              dem zweiten Platz (geringere Auswirkun-
gründen sich vielmehr auf Interpretationen              gen); Argentinien befindet sich oberhalb des
der Wirklichkeit, die sowohl unter dem Ein-             Mittelwertes auf Platz 16 (größere Auswir-
fluss von Erfahrungen der Vergangenheit als             kungen) von 18 untersuchten Ländern des
auch der aktuellen Situation stehen. Bezogen            Subkontinents.
auf die Gegenwart liegt zunächst die Vermu-
tung nahe, dass sich hinter diesen Einschät-               Ähnlich verhält sich die Bewertung der
                                                        negativen Effekte der Krise auf die persön-
                                                        liche ökonomische Situation. Unter den La-
❙6 Wenn nicht anders angemerkt, stammen sämtli-
                                                        teinamerikanern (Durchschnitt 6,9 Punkte)
che Daten zu den Einstellungen von Bürgerinnen
und Bürgern in Lateinamerika (darunter auch in Ar-      schätzen sich Brasilianer als am wenigsten be-
gentinien und Brasilien) aus den Berichten der Cor-     troffen ein (5,3 Punkte, erster Platz); die Ar-
poración Latinobarómetro, die unter www.latino-         gentinier hingegen beschreiben ihre Lage als
barometro.org online eingesehen werden können.          stark beeinträchtigt (8 Punkte, Platz 14). Ent-
Latinobarómetro aggregiert die Daten folgender
Länder: Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Cos-
ta Rica, Dominikanische Republik, Ecuador, El Sal-      ❙7 Wenn nicht anders angemerkt, stammen die öko-
vador, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Mexiko,          nomischen und sozialen Indikatoren aus Comisión
Nicaragua, Panama, Paraguay, Peru, Uruguay und          Económica para América Latina, Anuario estadístico
Venezuela.                                              2009, die auf www.eclac.org online verfügbar sind.

                                                                                          APuZ 12/2010       11
sprechend unterschiedlich sind die Erwar-        Wahlsiege Néstor Kirchners und Luiz Inácio
        tungen hinsichtlich der erforderlichen Zeit-     Lula da Silvas eine jeweils andere Bewertung.
        spanne, um die Krise zu überwinden. Der          Erstens waren die Startbedingungen in bei-
        Tunnel, an dessen Ende Licht erhofft wird,       den Ländern deutlich verschieden: Kirchners
        scheint in Argentinien viel länger: Hier geben   Aufstieg zur Macht folgte auf den frühzeiti-
        79 Prozent der Befragten an, dass die Krise      gen Rücktritt des Radikalen Fernando de la
        noch lange andauern wird; unter den brasili-     Rúa (von der Unión Cívica Radical, UCR) in-
        anischen Befragten sind nur 33 Prozent die-      mitten der dramatischen „Argentinienkrise“
        ser Meinung. In Brasilien sind 55 Prozent        sowie auf vier Interimspräsidenten zwischen
        der Interviewten vielmehr der Ansicht, dass      Dezember 2001 und Mai 2003. Lula da Sil-
        die schlimmste Phase der Krise schon vorbei      va löste in Brasilien Fernando Henrique Car-
        ist und sich das Land bereits auf Erholungs-     doso (von der Partido da Social Democracia
        kurs befindet; diesen Optimismus teilen nur      Brasileira, PSDB) in der Präsidentschaft ab,
        18 Prozent der Befragten im Nachbarland.         der zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten
        Die abweichende Prognose hängt unter ande-       lang mit relativ großem Erfolg regiert hatte.
        rem von der Wahrnehmung ab, wie die jewei-
        ligen Regierungen die Herausforderungen            Zweitens verlieh die jeweilige parteipoliti-
        der Krise meistern. Nach Chile ist Brasilien     sche Zugehörigkeit der siegreichen Kandida-
        das lateinamerikanische Land, in dem die Be-     ten den Wahlerfolgen jeweils unterschiedli-
        völkerung die Wirtschaftspolitik des Präsi-      che Bedeutung: Mit dem Peronisten Kirchner
        denten am stärksten unterstützt. Indessen er-    kam eine der zwei traditionellen argentini-
        hält die argentinische Präsidentin von ihren     schen Regierungsparteien,❙8 Partido Justi-
        Mitbürgerinnen und Mitbürgern die schlech-       cialista (PJ), wieder an die Macht, die zuletzt
        teste Note in der Region.                        von 1989 und 1999 mit Carlos Menem die
                                                         Präsidentschaft inne gehabt hatte. Mit dem
          Bei Betrachtung einer längeren Zeitspan-       Gewerkschaftler Lula da Silva gelang es der
        ne stellt sich die vergleichsweise kritischere   Partido dos Trabalhadores (PT), einer typi-
        Einstellung der argentinischen Gesellschaft      schen Oppositionspartei, zum ersten Mal seit
        in Zukunfts- und Wirtschaftsfragen – wenn        ihrer Gründung im Jahr 1979, Regierungs-
        auch mit punktuellen Ausnahmen – als Trend       verantwortung zu übernehmen.
        heraus. Ein Vergleich von Schlüsselindika-
        toren (Wirtschaftswachstum, Armutsredu-            Drittens lässt sich die von Kirchner und
        zierung etc.) beider Länder zeigt, dass in den   Lula da Silva betriebene Politik hinsichtlich
        vergangenen zehn Jahren die sozioökonomi-        des Grades an Kontinuität und Wandel zu den
        schen Verbesserungen in Argentinien ausge-       Vorgängerregierungen jeweils anders einord-
        prägter waren als in Brasilien. Allerdings un-   nen: Kirchner setzte sich an die Spitze einer
        terschieden sich die Ausgangslagen in beiden     linksorientierten Strömung innerhalb des Pe-
        Ländern erheblich: Während Argentinien           ronismus, die sich vom neoliberalen Kurs der
        sich von einer seiner tiefgreifendsten politi-   Regierung Menem abwendete und die Par-
        schen, ökonomischen und gesellschaftlichen       tei als Repräsentant nationaler und populä-
        Krisen erholte, blieb Brasilien eine solche      rer Interessen neu ausrichtete.❙9 Lula da Silva,
        dramatische Erfahrung erspart.                   der den Wandel ungleich stärker verkörperte,
                                                         bewegte seine Partei – im Rahmen einer brei-
                                                         ten und heterogenen Regierungskoalition –
Wellen der Zeit                                          jedoch in die Mitte des ideologischen Spek-
                                                         trums und setzte in zahlreichen Politikfeldern
        Auch im neuen Jahrtausend prägten Erfah-         die Leitlinien Cardosos fort. Erfolgreich wa-
        rungen von Wandel und Kontinuität sowie          ren beide Politiker insofern, als Kirchner für
        von Turbulenzen und Stabilität die argenti-
        nischen und brasilianischen Bürger und Bür-      ❙8 Bei UCR und PJ handelt es sich insofern um Regie-
        gerinnen unterschiedlich. Zwar markierte          rungsparteien, als aus kompetitiven Wahlen stets ein
        das Jahr 2003 den Eintritt beider Länder in       Präsidentschaftskandidat von einer der beiden Par-
                                                          teien siegreich hervorging.
        die „rote Welle“ linker Regierungen in La-
                                                         ❙9 Vgl. Marcos Novaro, Izquierda y populismo en
        teinamerika. Aufgrund der spezifischen na-       Argentina: del fracaso del Frepaso a las incógnitas del
        tionalen Kontexte und der unterschiedlichen      kirchnerismo, in: Pedro Pérez Herrero (Hrsg.), La
        Regierungspolitiken verdienen jedoch die         ­izquierda en América Latina, Madrid, 2006, S. 117.

   12    APuZ 12/2010
die Wahl seiner Frau Cristina Fernández de           für gerecht (letzter Rangplatz). In Brasili-
      Kirchner zu seiner Nachfolgerin und Lula da          en fällen 16 Prozent der interviewten Perso-
      Silva für die eigene Wiederwahl sorgten.             nen dieses Urteil. Ähnlich pessimistisch fal-
                                                           len in beiden Ländern die Antworten auf die
                                                           Frage aus, ob die Demokratie imstande ist,
Zeit für soziale Gerechtigkeit                             eine gerechte Umverteilung zu sichern. Dies
                                                           liegt daran, dass eine breite gesellschaftli-
      Ebenfalls charakteristisch sowohl für die bei-       che Mehrheit den gewählten Regierungen
      den Kirchner- als auch die Lula-Regierun-            die Gemeinwohlorientierung abspricht. Da-
      gen❙10 war die Betonung – in Rhetorik und            nach gefragt zeigen sich die Bürger und Bür-
      Praxis – der Notwendigkeit einer ausgepräg-          gerinnen Argentiniens deutlich skeptischer
      ten Sozialpolitik zum Zwecke der Armuts-             als ihre Nachbarn. Laut Latinobarómetro
      bekämpfung. In Argentinien sank zwischen             2009 sind hier nur 7 Prozent der Befragten
      2002 und 2006 der Anteil der Bevölkerung,            der Meinung, dass im Sinne des ganzen Vol-
      der unterhalb der Armutsgrenze lebte, von            kes regiert wird (letzter Rangplatz), in Brasi-
      45,5 auf 21 Prozent, der Anteil der extrem           lien sind es 42 Prozent. Im Jahr 2008 waren
      Armen von 20,9 auf 7,2 Prozent. Im Zeitraum          87 Prozent der argentinischen und 66 Pro-
      von 2001 bis 2008 konnte die Armutsquote             zent der brasilianischen Interviewten der
      in Brasilien von 37,5 auf 25,8 Prozent und die       Ansicht, dass die Regierung zu Gunsten
      extreme Armut von 13,3 auf 7,3 Prozent re-           mächtiger Interessengruppen handelt.❙11 Ge-
      duziert werden. Zweifelsohne waren die so-           nerell herrscht in Lateinamerika die Wahr-
      zialen Fortschritte in beiden Fällen nicht nur       nehmung vor, dass die Regierungen weniger
      eine Leistung der Regierungspolitik. Diese           allgemeine als sektorale Interessen bedienen.
      bekam Rückenwind vom Weltmarkt, auf dem              Korruptionsskandale im Staatsbereich näh-
      die Exportprodukte der südamerikanischen             ren den Skeptizismus.
      Staaten große Nachfrage und entsprechend
      hohe Preise genossen. Dies begünstigte das             Die Messung des Grades an faktischer so-
      Wirtschaftswachstum, steigerte die Staats-           wie an wahrgenommener Korruption stellt
      einnahmen und verschaffte den Präsiden-              ein wissenschaftliches Desiderat dar. Die
      ten einen größeren Spielraum, um eine Rei-           Schwierigkeit bei der Ermittlung liegt zum
      he von überwiegend auf finanzielle Transfers         einen in der Natur der Sache. Als „nicht
      gestützten Sozialprogrammen umzusetzen.              ganz legales“ bzw. kriminelles Phänomen er-
      Dort, wo die Korrektur der sozialen Schief-          folgt sie im Verborgenen. Zudem kann unter
      lage struktureller Reformen bedarf, waren            den beteiligten Parteien nicht eindeutig zwi-
      die Fortschritte in beiden Staaten wesent-           schen Tätern und Opfern unterschieden wer-
      lich bescheidener. Das Steuersystem bleibt           den, denn it takes two to tango. In korrup-
      stark regressiv; die öffentlichen Bildungs-,         te Praktiken sind meistens mehrere Akteure
      Gesundheits- und sozialen Sicherungssys-             und Strukturen involviert, und häufig fehlt
      teme weisen nach wie vor erhebliche Defizi-          es an einem „Geschädigten“, der den Vor-
      te auf. So konnte die soziale Ungleichheit in        fall melden könnte. Die öffentliche Aufde-
      beiden Fällen nur geringfügig abgebaut wer-          ckung von Korruptionsfällen kann zum an-
      den, wenn auch in Brasilien – dessen gesell-         deren zu zweierlei Interpretationen einladen:
      schaftliche Ungleichheit viel stärker ausge-         Einerseits bedeutet dies, dass solche Delikte
      prägt ist – etwas größere Verbesserungen zu          bekannt gemacht und verfolgt werden. An-
      beobachten sind.                                     dererseits impliziert dies jedoch überhaupt
                                                           erst die Existenz von Korruption. Eine rege
        Am stärksten kritisieren die argentinischen        öffentliche Korruptionsdebatte kann also so-
      Bürgerinnen und Bürger die herrschen-                wohl ein Zeichen für die Verschlechterung
      den Verhältnisse von Armut und Reichtum.             der Situation als auch für eine verstärkte Kor-
      Hierbei halten nur 4 Prozent der Befragten           ruptionsbekämpfung sein. Die Berichterstat-
      die Einkommensverteilung im eigenen Land             tung der Medien ist bei der Aufdeckung von
                                                           Korruptionsaffären häufig besonders inten-
      ❙10 Hiermit sind die Regierungen von Néstor Kirch-
                                                           siv; wie solche Fälle aber dann enden, welche
      ner und Cristina Fernández de Kirchner sowie die
      zwei Amtszeiten von Luiz Inácio Lula da Silva ge-    ❙11 Bei beiden Fragen im Jahr 2009 und 2008 schnei-
      meint.                                               det die uruguayische Regierung am besten ab.

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Konsequenzen sie für die Beschuldigten nach             Einschätzung in Brasilien auf 61,2 Prozent be-
     sich ziehen, bekommen die meisten Bürge-                läuft, beträgt sie in Argentinien sogar 76 Pro-
     rinnen und Bürger nicht mehr mit.                       zent (Latinobarómetro 2008). Dies hängt mit
                                                             dem verbreiteten desencanto (Ernüchterung)
        Laut Corruption Perceptions Index (CPI)              gegenüber der Politik zusammen und stellt
     2009 von Transparency International, der die            die Präferenzen der Bevölkerung für die De-
     Wahrnehmung von Korruption im öffentli-                 mokratie auf den Prüfstand.
     chen Sektor auf der Grundlage von Umfra-
     gen sowie von Experteninterviews und der
     Befragung von Geschäftsleuten ermittelt,❙12                          Demokratie in Zeitperspektive
     scheint die Situation in Argentinien (2,9) kri-
     tischer zu sein als in Brasilien (3,7).❙13 Unter        Die bereits zitierte Studie von Grimson zur
     den 31 Staaten des amerikanischen Konti-                politischen Kultur in Argentinien und Brasi-
     nents, die der CPI erfasst, befindet sich Bra-          lien gelangt unter anderem zu dem Befund,
     silien auf Platz 12, Argentinien auf Platz 23.❙14       dass in beiden Ländern der Bestand demo-
     Wert und Rang sind in beiden Fällen seit dem            kratischer Ordnung als eine wichtige Errun-
     Jahr 2003 relativ konstant geblieben. Indes-            genschaft angesehen und daher positiv be-
     sen schneidet Brasilien bei Latinobarómetro             wertet wird. Diese Wertschätzung scheint
     interessanterweise – nicht nur gegenüber Ar-            jedoch vor jeweils unterschiedlichen Zeitfo-
     gentinien, sondern auch unter den 18 berück-            lien zu erfolgen. In Brasilien, wo die Idee des
     sichtigten Staaten der Region – am schlechtes-          Fortschritts im Kontrast mit ernüchternden
     ten ab. Von einem Korruptionsfall erfahren              Aspekten der Realität bisweilen unter Druck
     zu haben, geben hier 34 Prozent der brasili-            gerät, wird Demokratie als Moment der Aus-
     anischen und 13 Prozent der argentinischen              söhnung und der Erneuerung gesellschaftli-
     Befragten (5. Rangplatz) an. Im Vergleich mit           cher Kräfte und somit als Beginn eines neu-
     den Jahren davor bedeutet dies eine leichte             en Zeitabschnitts aufgefasst. Bedauert wird
     Verbesserung in beiden Fällen, allerdings et-           zwar der bisher bescheidene Fortschritt; die
     was stärker ausgeprägt in Brasilien. So haben           Demokratie ist aber dennoch Ausgangs-
     nur 13 Prozent der argentinischen, jedoch               punkt für einen in die Zukunft gerichteten
     43 Prozent der brasilianischen Befragten den            Blick voller Optimismus. In Argentinien
     Eindruck, dass im eigenen Land Fortschritte             wird in der Demokratie dagegen weniger ein
     in der Korruptionsbekämpfung zu verzeich-               Sprungbrett zum ersehnten Fortschritt gese-
     nen sind.❙15                                            hen, als vielmehr der friedliche Ort, an den
                                                             die Gesellschaft nach dem „Schiffbruch“ ge-
       Dennoch stellt die Korruptionswahrneh-                langt ist. Sie wird also als eine der seltenen
     mung in Lateinamerika nach wie vor ein                  glücklichen Stationen im Kontext einer ins-
     „Armutszeugnis“ für die Politik dar. In den             gesamt frustrierenden Seefahrt aufgefasst.
     meisten Ländern der Region ist eine breite              Beklagt wird die Dekadenz; Demokratie ist
     Mehrheit der Ansicht, dass es mehr Korrup-              damit eher als Endpunkt für einen retrospek-
     tion innerhalb der politischen Klasse gibt als          tiven Blick zu sehen, der Gefühle der Enttäu-
     im Rest der Gesellschaft.❙16 Mit Ausnahme               schung hervorruft. Aus dieser Gegenüber-
     von Uruguay und Chile setzt sich in sämtli-             stellung wird deutlich, dass „Demokratie“
     chen Ländern die Meinung durch, dass mehr               im Zusammenhang mit verschiedenen Zeit-
     als die Hälfte aller im öffentlichen Sektor Be-         perspektiven und historischen Entwicklun-
     schäftigten korrupt sind. Während sich diese            gen einen jeweils nationalspezifischen Stel-
                                                             lenwert einnimmt. Ebenfalls unterschiedlich
     ❙12 Sämtliche Jahresberichte sind unter www.trans-
                                                             kann das Verständnis von Demokratie sein,
     parency.org online verfügbar.                           wovon wiederum der Ausprägungsgrad der
     ❙13 Eine höhere Zahl im CPI entspricht einem gerin-     gesellschaftlichen Präferenz für dieses Re-
     geren Grad an wahrgenommener Korruption.                gime abhängt.
     ❙14 Eine bessere Platzierung (niedrigere Zahl) bedeu-
     tet weniger wahrgenommene Korruption.                     Umfrageergebnissen zufolge genießt die
     ❙15 Im Jahr 2008 lagen die entsprechenden Werte bei
     44 Prozent in Brasilien und 22 Prozent Argentinien.
                                                             Demokratie als Herrschaftsform traditio-
     ❙16 Diese Ansicht teilen in Argentinien 58 Prozent      nell breitere Unterstützung in Argentini-
     und in Brasilien 66 Prozent der Befragten (Latino-      en als in Brasilien. Im Zeitraum von 1995 bis
     barómetro 2008).                                        2009 belief sich diese – laut Latinobarómetro

14    APuZ 12/2010
2009 – auf 68 Prozent in Argentinien und auf      zu parlamentarischen Mandaten erhielten.
      43 Prozent in Brasilien. Hiermit korrelieren      Innerhalb eines engen Korsetts wurde ein ge-
      die Antworten auf die Frage nach der Bereit-      wisser Raum für parteipolitische Aktivitäten
      schaft, eine Militärregierung zu unterstüt-       gelassen. In Argentinien hingegen verfolgte
      zen. Auch wenn sich in beiden Fällen zwei         das Militärregime nicht nur eine systemati-
      Drittel der Befragten gegen eine solche au-       sche Entpolitisierung, sondern auf extreme
      toritäre Herrschaft aussprechen, zeigen sich      Weise auch eine große Zahl „Regimegegner“.
      Brasilianer etwas „weniger dogmatisch“ in         Sehr unterschiedlich gestaltete sich zudem
      dieser Position. So sehen sie es zu 61 Prozent    der Übergang zur Demokratie in den bei-
      als gerechtfertigt an, dass ein gewählter Prä-    den Ländern. Dieser erfolgte in Argentinien
      sident vom Militär abgesetzt wird, wenn er        ungleich abrupter. Seitdem das argentinische
      die Verfassung verletzt (Argentinien: 30 Pro-     Militär nach der Niederlage im Falkland/
      zent). Mit dieser Antwort katapultieren sich      Malwinen-Krieg vollkommen diskreditiert
      Brasilianerinnen und Brasilianer auf den ers-     1983 die Macht abgab, ist es ihm nicht mehr
      ten Rangplatz unter jenen Lateinamerika-          gelungen, sich als Institution erneut Respekt
      nern, die eine solche Ausnahme akzeptieren.       in der Gesellschaft zu verschaffen. Dement-
      Gleiches gilt für die Frage, ob es in schwieri-   sprechend ist das Vertrauen in das Militär in
      gen Situationen annehmbar ist, dass die Re-       Argentinien niedriger als in Brasilien.
      gierung die Gesetze missachtet, um Probleme
      zu lösen. Brasilien steht hier mit 44 Prozent       In jüngster Vergangenheit reihte sich in
      an der Spitze der Befürworter. Auf dem un-        Argentinien zudem die traumatische Erfah-
      tersten Platz befinden sich hingegen die Ar-      rung zum Jahreswechsel 2000/2001 in eine
      gentinier, die dem nur zu 18 Prozent zustim-      Kette von „Rückschlägen“ ein, die die politi-
      men. Im Einklang mit diesen Werten steht          sche Entwicklung des Landes immer wieder
      das Umfrageergebnis auch in Bezug auf die         erlitten hat. Dagegen blieb die junge brasili-
      Einschätzung der Wahrscheinlichkeit eines         anische Demokratie von derartigen Höhen
      Staatsstreichs im eigenen Land. Nach Ecua-        und Tiefen verschont. Historisch betrachtet
      dor ist Brasilien dasjenige Land, in dem die      stellt sich die politische Entwicklung Brasili-
      Möglichkeit eines Putsches am höchsten ein-       ens generell weitaus stabiler dar. Einen klaren
      geschätzt wird (34 Prozent). Die argentini-       Hinweis hierauf liefert der Umstand, dass die
      schen Bürgerinnen und Bürger sind diesbe-         verfassungsrechtliche Ordnung in Argenti-
      züglich skeptischer (21 Prozent).                 nien ungleich öfter durch Staatsstreiche bzw.
                                                        Phasen eingeschränkten parteipolitischen
                                                        Wettbewerbs unterbrochen wurde. Im Ein-
Zeitlichkeit der Erfahrung                              klang mit diesen Unterschieden steht die ein-
                                                        gangs beschriebene divergierende Zeitwahr-
      Wie sind nun diese Zahlen zu deuten? Welche       nehmung: eher als Kontinuum in Brasilien
      Rolle spielt hier die Zeit bzw. die Zeitwahr-     und als brüchiger Verlauf in Argentinien. Vor
      nehmung? Zweifelsohne sagen die gegebenen         diesem Hintergrund scheinen argentinische
      Antworten nicht nur etwas über die aktuel-        Bürgerinnen und Bürger weniger Anlass zur
      le Verfassung der Demokratie aus, sondern         Hoffnung zu sehen als ihre brasilianischen
      auch über die Erfahrungen, welche die argen-      Nachbarn. Sie verbinden mit der Zukunft
      tinische und die brasilianische Gesellschaft      eher düstere Vorahnungen: Uno, ein sehr be-
      mit Militärregierungen jeweils gemacht ha-        rühmter argentinischer Tango, der von nai-
      ben. Die argentinische Militärdiktatur war        ven Hoffnungen und bitterer Enttäuschung
      ungleich repressiver als die brasilianische.      handelt, hat im Refrain den folgenden Vers:
      Nicht nur waren die Menschenrechtsverlet-         „Hätte ich noch jenes Herz, das ich einst ge-
      zungen in Argentinien gravierender, son-          geben habe, könnte ich noch, wie gestern,
      dern auch die Restriktionen im politischen        ohne Vorahnungen lieben.“
      Wettbewerb. Im Unterschied zum argentini-
      schen Fall ließen die regierenden Generäle in
      Brasilien beispielsweise den Kongress weiter
      funktionieren, wenn auch unter starken Ein-
      schränkungen. Ein künstliches Parteiensys-
      tem wurde errichtet, in dem ein Regierungs-
      und ein Oppositionslager begrenzten Zugang

                                                                                        APuZ 12/2010      15
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