AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Krankenhaus

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Krankenhaus
71. Jahrgang, 30–31/2021, 26. Juli 2021

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
   Krankenhaus
      Julia Rothenburg                              Fritz Dross
   ZWISCHEN GÖTTERN                          HEILENDE HÄUSER?
     UND GEISTERN
                                              Sabine Schleiermacher
      Thomas Gerlinger               ZUR GESCHICHTE DER CHARITÉ
      KRANKENHÄUSER                      IM 20. JAHRHUNDERT
     IN DEUTSCHLAND.
                                            Maximiliane Wilkesmann ·
 STRUKTUREN – PROBLEME –                      Jonathan Falkenberg
         REFORMEN                             PROFESSIONS­
       Käthe von Bose                        VORSTELLUNGEN
       REINIGUNG                           IN DER ÄRZTESCHAFT
    IM KRANKENHAUS

                 ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                      FÜR POLITISCHE BILDUNG
             Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Krankenhaus
Krankenhaus
                                     APuZ 30–31/2021
JULIA ROTHENBURG                                     FRITZ DROSS
ZWISCHEN GÖTTERN UND GEISTERN                        HEILENDE HÄUSER?
Das Krankenhaus hat in unserer hochfunkti­           Die Durchsetzung eines neuen Typus von
onalen Gesellschaft den Zweck, die Welt der          Krankenversorgung in eigens dazu errichteten
Kranken aus dem echten Leben auszuschließen.         Häusern hat eine lange Entwicklungsgeschichte.
In der Fiktion, in Literatur, Film und Fernsehen,    Die moderne Medizin wäre ohne die Entstehung
lässt sich diese Welt zur Selbstbefragung betreten   des modernen Krankenhauses nicht denkbar –
– oder zur Unterhaltung.                             und umgekehrt.
Seite 04–08                                          Seite 24–31

THOMAS GERLINGER                                     SABINE SCHLEIERMACHER
KRANKENHÄUSER IN DEUTSCHLAND.                        ZUR GESCHICHTE DER CHARITÉ
STRUKTUREN – PROBLEME – REFORMEN                     IM 20. JAHRHUNDERT
Krankenhäuser sind ein Eckpfeiler der Kranken­       Die Charité ist das älteste Krankenhaus Berlins.
versorgung. Die Krankenhauslandschaft in             Ihre Geschichte im 20. Jahrhundert ist eng
Deutschland ist vielfältig und steht vor großen      mit den Umbrüchen von 1933, 1945 und 1990
Herausforderungen und Umbrüchen in den               verbunden. Nach der Wiedervereinigung wurde
nächsten Jahren, um die Bevölkerung bedarfsge­       das Haus zu einer der größten und bekanntesten
recht zu versorgen.                                  Universitätskliniken Europas.
Seite 09–16                                          Seite 32–38

KÄTHE VON BOSE                                       MAXIMILIANE WILKESMANN ·
REINIGUNG IM KRANKENHAUS                             JONATHAN FALKENBERG
Betrachtet man das Krankenhaus als Organisa­         PROFESSIONSVORSTELLUNGEN
tion, befinden sich die Reinigungskräfte in einer    IN DER ÄRZTESCHAFT
Randstellung. Durch die Corona-Pandemie              Ausgehend von einer soziologischen Einbettung
wurde das Thema Hygiene und damit auch die           wird in diesem Beitrag die Kontinuität und
Reinigung sichtbarer – geht dies mit Verbesse­       der Wandel von Professionsvorstellungen
rungen der Arbeitsbedingungen einher?                am Beispiel der Ärzteschaft im Krankenhaus
Seite 18–23                                          gezeigt. Ökonomisierung und Digitalisierung
                                                     spielen eine große Rolle.
                                                     Seite 39–46
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Krankenhaus
EDITORIAL
Krankenhäuser im Sinne des Krankenhausfinanzierungsgesetzes sind „Einrich­
tungen, in denen durch ärztliche und pflegerische Hilfeleistung Krankheiten,
Leiden oder Körperschäden festgestellt, geheilt oder gelindert werden sollen
oder Geburtshilfe geleistet wird und in denen die zu versorgenden Personen
untergebracht und verpflegt werden können“. Die moderne Medizin ist ohne
die Entstehung des modernen Krankenhauses, in dem Krankheiten studiert und
Behandlungen erprobt werden können, nicht denkbar. Im Laufe der Zeit sind
Krankenhäuser in Gesundheitssystemen weltweit zu Eckpfeilern der Kranken­
versorgung geworden.
   Wohl niemals zuvor hat es einen derart tiefen Einblick in Alltag und Ausnah­
mezustand in Krankenhäusern gegeben wie im Verlauf der Corona-Krise. Bilder
und Berichte von erschöpften Ärztinnen und Krankenpflegern haben die Dra­
matik der Lage greifbar gemacht und ihre „Systemrelevanz“ verdeutlicht. Auch
die für die Krankenhaushygiene so wichtige Arbeit der Reinigungskräfte wurde
sichtbarer. Mit fortschreitender Impfkampagne wird die Kennzahl der freien
Betten auf den Intensivstationen eine noch größere Rolle in der Bewertung der
Pandemie spielen als zuvor.
   „Freie Betten“ ist auch das Stichwort, das auf zwei zentrale Debatten um die
Zukunft der Krankenhäuser in Deutschland verweist. Zum einen ist das jene um
Bettendichte, Spezialisierungen und damit verbunden mögliche Schließungen;
zum anderen jene um die Personalnot im Pflegebereich – Betten sind schließlich
nur verfügbar, wenn die darin liegenden Patient:­innen auch versorgt werden
können. Eingebettet sind diese und andere Fragen in einen übergreifenden
Diskurs um eine „Ökonomisierung“, die, befürwortend oder kritisch, mit der
Einführung von diagnosebezogenen Fallpauschalen und der Privatisierung von
Krankenhäusern in Verbindung gebracht wird.

                                                     Anne Seibring

                                                                             03
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Krankenhaus
APuZ 30–31/2021

                                                   ESSAY

     ZWISCHEN GÖTTERN UND GEISTERN
                                           Julia Rothenburg

Bei meinem ersten Aufenthalt in einem Kranken­          gewissen Alter nicht, dass die Welt der Krankheit
haus entpuppte ich mich als widerspenstige Patien­      noch so viel weiter geht als bis zu meinem furcht­
tin: Obwohl der Blasensprung meiner Mutter am           einflößenden weißkitteligen Kinderarzt, in des­
Vorabend schon etliche Stunden zurücklag, woll­         sen Wartezimmer es speckiges Plastikspielzeug
te ich mich nicht bewegen. Im Krankenhaus aber          gab und alles immer warm und stickig war, die
sind die Abläufe streng vorgeschrieben, und wenn        Luft erfüllt vom Kinderhusten, nur einen Block
ein neuer Tag beginnt, beginnt er abrupt und ohne       von meinem Zuhause entfernt. Ich wusste nicht,
Wenn und Aber: Ein hingeworfenes Klopfen, dann          dass es ganze Gebäude gibt, einen Komplex, der,
geht die Tür auf und eine Pflegerin schiebt ein Wä­     wie kaum etwas anderes, eine scharfe Grenze
gelchen mit Tabletten, mit Spritzen, mit Fieber­        zwischen zwei Welten markiert.
thermometer oder anderen Messgeräten herein.                „Jeder, der geboren wird“, so schreibt Susan
    Aber anders als andere Patient*­innen wollte        Sontag in ihrem einflussreichen Essay „Krank­
ich mich dem durchgetakteten Rhythmus nicht             heit als Metapher“, „besitzt zwei Staatsbürger­
unterwerfen.                                            schaften, eine im Reich der Gesunden und eine
    „Patient“ oder „Patientin“, das ist der Name, der   im Reich der Kranken“.01 Ich also hatte mei­
eine Kranke oder einen Kranken im Krankenhaus           ne zwei Staatsbürgerschaften schon mit einem
bezeichnet. Nicht etwa „Klientin“ oder „Kunde“.         Schlag angetreten, als ich während der Geburt
„Patient“ kommt vom lateinischen Wort pati, was         akribisch überwacht wurde und, kaum aus dem
so viel wie „erdulden“ oder „leiden“ bedeutet. Die      Körper meiner Mutter geholt, durch die endlosen
Regeln des Krankenhauses sind nicht danach ausge­       Gänge des Krankenhauses davongetragen wurde.
richtet, sich dem Patienten oder der Patientin und      Und schon damals war auch ich den, wie Sontag
ihrem individuellen Lebensrhythmus anzupassen.          schreibt, „nationale[n] Stereotypen“,02 die mit je­
    Die Hebamme griff also zu rabiateren Metho­         ner zweiten Staatsbürgerschaft einhergehen, un­
den, schließlich musste sie bald zu einer Mitar­        terworfen. Für Sontag sind das in ihrem Essay vor
beiterbesprechung. Sie hielt meiner Mutter einen        allem die „grauenhaften Metaphern“ der Krank­
riesigen Metallwecker auf den Bauch und ließ ihn        heiten, mit denen die Landschaft jenes Kranken-
schellen. Doch auch diese anscheinend univer­           reiches „ausstaffiert worden ist“.03 Aber neben
sell gültige Aufforderung zum Fahnenappell ließ         den Vorannahmen, mit denen wir bei Krankhei­
mich kalt. Und so musste ich schließlich von ei­        ten wie Krebs konfrontiert sind und die unsere
ner Ärztin mit einer Saugglocke – eine Art Pöm­         Vorstellung vom Kranken und seinen „Geißeln“
pel – aus dem Mutterleib gezogen werden, da war         prägen, sind es auch die Regeln, die Gesetzmä­
die Hebamme schon längst wieder in den Win­             ßigkeiten des Krankenhauses, denen wir uns als
dungen des Krankenhauses verschwunden.                  Patient*­innen beugen müssen: Ich war damals
    So wurde ich geboren und war bereits Patien­        als Neugeborene nicht krank, und doch wurde
tin. Wie die Mehrheit der Deutschen, schließlich        ich fortgebracht, fort zu merkwürdigen Appara­
betreten wir fast alle diese Welt durch ein Kran­       turen, mit denen fremde Menschen die Geheim­
kenhaus. Ohne zu verstehen, was das für ein be­         nisse meines Körpers, die mir damals wie heute
sonderes Tor ist, das wir da passiert haben.            fremd sind, zu ergründen versuchten.

                         *                                                      *

Auch ich verließ das Krankenhaus nach fünf Ta­          Was es wirklich bedeutet, diese zwei völlig kon­
gen in einer Babyschale und wusste bis zu einem         trären Staatsbürgerschaften zu besitzen, erfuhr

04
Krankenhaus APuZ

ich freilich erst, als ich das nächste Mal im Kran­               Romane später sogar als „Krankenhaus-Auto­
kenhaus war.                                                      rin“05 bezeichnen würde. Zunächst aber verar­
    Ich war 23 und saß auf einem Krankenbett,                     beitete ich in meinem ersten Roman „Koslik ist
zu dem man mich gebracht hatte, nachdem ich an                    krank“ (2017) vor allem die gerade geschilderte
einem ersten Mai mit merkwürdigen Taubheits­                      Erfahrung: In ihm findet sich Koslik, Anfang 40
symptomen in der Notfallpraxis der Uniklinik                      und Volkshochschullehrer, ebenfalls plötzlich mit
Freiburg vorgesprochen hatte. Ich war verwirrt,                   merkwürdigen Symptomen – ist es ein Schlagan­
spürte meinen einen Arm kaum noch, hatte Angst                    fall? Oder doch etwas anderes? Es muss jeden­
und wartete dennoch darauf, dass ich gehen durf­                  falls untersucht werden! – in den labyrinthischen
te. Ich war noch nie bewusst in einem Kranken­                    Gängen des Krankenhauses wieder. Und verliert
haus gewesen. Um mich herum war nur Karg­                         sich nach und nach in dieser fremden Welt. Die
heit, die Armlehnen des Bettes kurz vor grau, die                 Diagnose, auf die er wartet, kommt ihm vor wie
Wandfarbe kurz vor pfirsich, der Boden kurz vor                   ein Urteil, das über ihn gesprochen wird.
sand, alles kurz vor, nichts, was sich einbrennt,
und in diesem Moment sorgte all das dafür, dass                                                *
ich das Gefühl hatte, weder genau sagen zu kön­
nen, wo ich war, noch, wie viel Uhr es war.123                    Wer will das lesen? Die Frage stellte ich mir selbst
    Man hatte mir noch immer nicht gesagt, wel­                   nicht, die stellten mir andere. Als ich einmal eine
che Untersuchungen nötig sein würden und wann                     Lesung in einem Krankenhaus gab, kamen hin­
ich gehen durfte, als eine Pflegerin hereinkam. Ihr               terher einige Pflegerinnen zu mir und sagten, dass
Wägelchen kam genau vor mir zum Stillstand.                       es genauso sei, wie ich schrieb. Aber ob man sich
„Spritze“, erklärte sie nüchtern, und ließ schon,                 mit so etwas in seiner Freizeit beschäftigen wol­
wie im Film, den ersten Tropfen aus der Nadel                     le? Tatsächlich erhielt ich auf Lesungen immer
quellen. „Was für eine Spritze?“, fragte ich alar­                wieder auch die Rückmeldung: „Vielen Dank für
miert. „Bauch oder Bein?“, fragte die Pflegerin                   Ihre Lesung. Aber das ganze Buch zu lesen, traue
nur zurück. „Die meisten nehmen Bauch“, füg­                      ich mich nicht!“
te sie hinzu, als würde das irgendetwas erklären.                     Kein Wunder, das Krankenhaus hat in unse­
    Das war der Moment, an dem mir klar wurde,                    rer hochfunktionalen Gesellschaft – genau wie
dass ich an einem Ort in Freiburg gelandet war,                   ein Friedhof, der dem Tod einen Platz gibt, so­
der mitten in der Stadt, aber doch außerhalb ih­                  dass wir ihn zwar in unserer Mitte, aber gut um­
rer Ordnung zu liegen schien. Ein Ort, an dem                     zäunt vorfinden – den Zweck, die Welt der Kran­
mein Körper nicht mehr mir allein gehörte, wo er                  ken aus dem echten Leben auszuschließen. Es ist
mir, der Patientin, nicht mehr „als innerhalb ei­                 eben, wie Sontag sagt, eine andere Staatsbürger­
ner individuellen Biographie, sondern quasi nur                   schaft, die für uns erst relevant wird, wenn wir die
als räumliches Konstrukt einer Wissenschaft“04                    Gefilde jenes anderen Reiches betreten.
erschien. Wer die Schwelle des Krankenhauses                          Doch die Fiktion ist ein Ort, an dem wir die
übertritt, das verstand ich dort, lässt etwas zu­                 Regeln unseres Lebens außer Kraft setzen kön­
rück, seine Gewohnheiten, seine Selbstbestimmt­                   nen. Auch mit ihr können wir Themen bearbei­
heit, sein Umfeld. Und sein Wissen über sich und                  ten, die wir in unserem Leben vielleicht noch
das, was geschieht.                                               nicht bearbeitet haben, nicht bearbeiten wollen
    Das Krankenhaus und die Geschichten, die                      oder können. In der Fiktion leiden wir, wenn Lie­
sich darüber erzählen lassen, beeindruckten mich                  bende sich trennen, trauern mit Sterbenden und
so stark, dass mich der „Deutschlandfunk“ zwei                    ihren Angehörigen oder gruseln uns, wenn Mör­
                                                                  der oder Geister unter Betten, hinter Türen oder
01 Susan Sontag, Krankheit als Metapher, München–Wien
                                                                  in Parkhäusern lauern. Und zwischen all dem
1978, S. 5.                                                       wandeln wir in der Fiktion auch durch die Gänge
02 Ebd.                                                           eines Krankenhauses oder finden uns an piepsen­
03 Ebd.                                                           den Apparaturen wieder.
04 Sigurd v. Ingersleben, Foucaults Ansichten einer Leichen-
zentrierten Medizin. Anmerkungen zu Michel Foucaults „Die
Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks“, in:   05 Vgl. die Programmübersicht des Deutschlandfunks,
Jahrbuch für kritische Medizin, Bd. 7, Berlin 1981, S. 195–200,   www.deutschlandfunkkultur.de/programmvorschau.​282.de.html?​
hier S. 191.                                                      drbm:​date= ​19.​3.​2019.

                                                                                                                          05
APuZ 30–31/2021

    Das Krankenhaus kann dabei als Ort des Kon­        erkrankung konfrontiert wird, die gleichsam ei­
trollverlustes auftreten, wie in „Koslik ist krank“,   nen Wendepunkt darstellt: Wie soll die Zeit, die
oder auch ein Ort der Angst sein, wie zum Bei­         bleibt, genutzt werden?
spiel in Lars von Triers eindrücklicher Serie               Einen ähnlichen Moment der Selbstbefragung
„Hospital der Geister“ (1994–97), in der ein gan­      am Schauplatz Krankenhaus findet sich auch in
zes Krankenhaus von widernatürlichen Phäno­            der Literatur, nicht nur in fiktionalen Texten,
menen heimgesucht wird, während sich freilich          sondern auch in der Autofiktion, der Misch­
auf der Chefarztebene die üblichen Machtkämp­          form von autobiografischem und fiktivem Erzäh­
fe abspielen. Auch der Verlust der Kontrolle über      len, wie wir sie zum Beispiel in Kathrin Schmidts
den eigenen Körper thematisiert von Trier, wenn        „Du stirbst nicht“ (2009), David Wagners „Le­
auch anders als in meinem Roman: In „Hospital          ben“ (2013) oder in Tabea Hertzogs „Wenn man
der Geister“ durchlebt die Assistenzärztin Judith      den Himmel umdreht, ist er ein Meer“ (2019) le­
eine Schwangerschaft, an deren Ende das Kind           sen können.
zu einem monströsen Etwas herangewachsen ist                Das Krankenhaus ist hier der Ort, der dem
– ein Erzählstrang, der die Unkontrollierbarkeit       Übertritt in eine andere Welt eine Rahmung gibt,
unserer körperlichen Erfahrung im Krankenhaus          die Krankheit selbst aber ist es, die die Welt aus­
überzeichnet, indem er sie auf eine noch mysti­        einanderreißt – und damit einen Prozess der bio­
schere, unheimlichere Ebene hebt.                      grafischen Aufarbeitung anstößt. Die Krankheit
                                                       ist schließlich eine Krise, und „Krisen dieses Aus­
                         *                             maßes treffen immer die Substanz unserer Bio­
                                                       graphie, weil sie eine rekonstruierbare und bereits
Doch das Krankenhaus findet sich nicht nur in          antizipierte Kontinuität unseres ‚Selbstplans‘ ge­
solchen Fiktionen, die manchem vielleicht zu un­       fährden“.06 In der Selbstbefragung, die sich daran
heimlich sein mögen, sondern bietet weitere man­       anschließt, kann entweder minutiös die Frage des
nigfaltige Möglichkeiten der Thematisierungen.         „Warum ich?“ geklärt werden – mit diesem pro­
Ich würde sogar behaupten, dass es in bestimm­         blematischen Aspekt und seinen Hintergründen
ten Formen, Szenen und Handlungssträngen in            beschäftigt sich auch Sontag in ihrem Essay über
Film, Fernsehen und Literatur nahezu omniprä­          den Krebs07 – oder aber die Krankheit als Weck­
sent ist, schaut man einmal genauer hin. Etwa          ruf, als Schlüsselerlebnis verstanden werden, das
an einem gewöhnlichen Vorabend: Hier kommt             eine Neuordnung (oder auch Neuerzählung) des
man, schaltet man den Fernseher an, früher oder        Lebens unabdinglich macht.
später kaum daran vorbei, auf eine rührselige
Krankenhausszene zu stoßen. Wenn es im Finale                                         *
am Sterbe- oder Unfallbett zu einer Aussprache
kommt, wenn Geheimnisse aufgedeckt werden,             Aber das Krankenhaus in der Fiktion kann noch
Vaterschaften geklärt oder längst überfällige Lie­     etwas anderes, gänzlich konträr Stehendes. Es
beserklärungen nachgeholt werden, während im           eignet sich nämlich in besonderer Weise für et­
Hintergrund die Apparaturen piepsen. Das Kran­         was, an das wir möglicherweise – einmal abge­
kenhaus ist in dieser wohl gängigsten Form der         sehen von den besagten rührseligen Szenen am
Thematisierung kein Ort der Angst, sondern ein         Krankenbett in jeder Vorabendunterhaltung – so­
Ort des Hoffens, der Umkehr, der Versöhnung.           gar als erstes denken: Gossip und Eskapismus.
Ein Ort des filmischen Finales, herausgerissen aus         Zunächst einmal aus einem ganz banalen
dem Leben, dem Alltag – dem sonstigen Schau­           Grund: Neben seiner Funktion für die Gesell­
platz der Handlung –, aber genau deswegen be­          schaft und als Ort des Scheidepunktes ist das
sonders gut für eine innige Zusammenkunft und          Krankenhaus nämlich auch noch eines: ein Un­
die Klärung aller offenen Fragen geeignet.             ternehmen, ein business. Und als solches lässt sich
    Das Krankenhaus kann aber in der Fiktion
auch am Anfang stehen, ein Ort der Selbstbe­
                                                       06 Peter Alheit, Alltagszeit und Lebenszeit. Über die Anstren-
fragung, der Umkehr oder der Heldenwerdung
                                                       gung, widersprüchliche Zeiterfahrungen „in Ordnung zu brin-
sein. Etwa wenn der Fotograf Romain in Fran­           gen“, in: Rainer Zoll (Hrsg.), Zerstörung und Wiederaneignung
çois Ozons Film „Die Zeit die bleibt“ (2005) mit       von Zeit, Frank­furt/M. 1988, S. 371–386, hier S. 377.
der niederschmetternden Diagnose einer Krebs­          07 Vgl. Sontag (Anm. 1), S. 42.

06
Krankenhaus APuZ

herrlich von außen darauf schauen, über Kor­           Bestsellern von Ulrike Schweikert (2018/19) – er­
ruption und innere Machtkämpfe berichten, wie          leben können. Denn diese Fiktionen setzen genau
etwa in der US-amerikanischen Krankenhausse­           in dem Moment der historischen Entwicklung
rie „The Resident“ (seit 2017), oder über inter­       ein, an dem das character building der „Götter in
ne Liebesreigen, Geheimnisse und dramatische           Weiß“ erst zur richtigen Form aufläuft: Vor 1850
Rettungsmanöver erzählen, wie in „Grey’s Ana­          nämlich war das Krankenhaus – in der christli­
tomy“ (seit 2005) und zahlreichen anderen Kran­        chen Tradition ursprünglich eher eine Verwahr­
kenhausserien.                                         anstalt für Arme – kein Ort, an den man sich, hat­
    Was dabei hilft, ist, dass das Krankenhaus frei­   te man eine Wahl, freiwillig begeben hätte.08 Zu
lich nicht irgendein Unternehmen ist, sondern ei­      groß war das Risiko, bei einer Operation nicht
nes, das ein Themenfeld beackert, das für uns so­      geheilt zu werden, sondern hinterher an Wund­
wieso schon überaus faszinierend ist. Denn was         brand zu sterben. In der ersten Staffel der „Cha­
könnte spannender sein als Geheimnisse? Und            rité“ allerdings erleben wir, wie Robert Koch und
der Körper liefert mit seinen unsichtbaren Vor­        seine Kolleg*­innen mit erstaunlichen Fortschrit­
gängen, seinem verästelten Inneren, wahrlich ge­       ten in der Bakteriologie die Voraussetzungen da­
nug Stoff für Geheimnisse, die die Medizin wie­        für schufen, sich selbst zu Helden und das Kran­
derum aufzudecken vermag. Welche mysteriöse            kenhaus zu dem zu machen, was es heute ist: ein
Krankheit führt zu diesem Ausschlag, dem plötz­        Ort der Heilung, ein Ort des Hoffens.
lich auch das Krankenhauspersonal anheimfällt?
Wie lässt sich die Blutung stoppen, die das Leben                                    *
des alleinerziehenden Familienvaters bedroht,
dessen drei kleine, herzzerreißend niedliche Kin­      Auch die Perspektive der Angehörigen, derjeni­
der mit ihren Teddys nebenan warten? Unsere            gen also, die von außen auf das Krankenhaus bli­
mutigen Held*­innen der Krankenhausserie wer­          cken, dennoch aber von seinem Inneren betroffen
den es im Laufe der Folge sicherlich herausfinden      sind, sei es durch Besuche oder Erzählungen ihrer
und nebenbei noch mit einem attraktiven anderen        Geliebten, die dort behandelt werden, lässt sich in
Mitglied des Krankenhausstabs auf der Toilette,        der Fiktion gut verarbeiten. Ein Besuch im Kran­
im Treppenhaus oder Bereitschaftsraum herum­           kenhaus kann, so zumindest habe ich es empfun­
knutschen.                                             den, schließlich mindestens genauso eindrücklich
    Die Geheimnisse des Körpers und die für uns        und verstörend sein wie die eigene Patienten­
Laien beinahe mythischen Methoden der Medi­            werdung.
zin, schon Verlorengeglaubte zu retten, sind auch          Es gab eine Zeit in meinem Leben, da gehör­
der Grund dafür, warum Ärzt*­innen, die nicht          ten Krankenhausbesuche zu meinem Alltag. Und
umsonst im Volksmund „Götter in Weiß“ ge­              immer, wenn ich dort meinen Vater an medizi­
nannt werden, die idealen Held*­innen der Fikti­       nische Apparaturen angeschlossen, mit merk­
on sind: Wenn zum Beispiel ein schmucker Assis­        würdigen Bett- und Leidensgenossen beschenkt
tenzarzt im Angesicht der krampfenden Patientin        oder um mir unverständliches Vokabular reicher
mit Fachbegriffen und Befehlen um sich wirft, die      vorfand, war ich tief beeindruckt von der Unter­
– eilfertig vom Personal ausgeführt – natürlich        schiedlichkeit der Leben, die wir führten. Und
zur heldenhaften Rettung der fast Toten beitra­        beschämt von meiner Möglichkeit, als Besucherin
gen, führt uns das nicht nur einmal mehr vor Au­       zwischen beiden Welten zu changieren, während
gen, wie geheimnisvoll und folgenschwer doch           er gezwungen war, in der seinen zu bleiben. Er,
die Vorgänge innerhalb unseres Körpers sind und        der sich an die Regeln der fremden Welt zu hal­
befeuert unsere Faszination für all das, was wir       ten hatte, seinen Status als Kranker nicht ablegen
nicht sehen. Es unterstreicht auch die Götterhaf­      konnte. Ich, die ich gehen und kommen konnte,
tigkeit unseres Helden, der eine wahre Heldentat       beinahe wie ich wollte.
vollbringt – nämlich eine, die nicht jede*r nach­          Und die ich immer erst, wenn ich die Kli­
machen könnte.                                         nik verließ, das Gefühl hatte, wieder aufatmen
    Diese Beobachtung bestätigt sich auch mit
Blick auf historische Krankenhausfiktionen, wie        08 Vgl. Johann Jürgen Rohde, Soziologie des Krankenhauses.
wir sie in der „Charité“ – der von der ARD pro­        Zur Einführung in die Soziologie der Medizin, Stuttgart 1974,
duzierten Serie (2017–21) wie den gleichnamigen        S. 65, S. 80.

                                                                                                                   07
APuZ 30–31/2021

 zu können. Verbunden mit der flauen Erkennt­                                  *
 nis, dass der, der zurückbleibt und die, die gehen
 kann, getrennter nicht sein könnten. Das kann        In gewisser Weise kann man kaum anders, als den
 eine Bürde sein. Oder eine Befreiung.                Radiergummi anzusetzen, wenn man sich wieder
     In meinem zweiten Roman „hell/dunkel“            im Reich der Gesunden befindet: Zu wenig lässt
 (2019) – der mir dann schließlich auch die ehren­    sich das, was man, ob nun als Angehöriger oder
 volle Bezeichnung als „Krankenhaus-Autorin“          als Patientin, im Krankenhaus erlebt hat, in das
 einbrachte – muss die Mutter der ungleichen          tägliche Erleben integrieren. Es sei denn durch
 Geschwister Valerie und Robert wegen ih­             die Fiktion. Was wir schließlich machen kön­
 rer Krebserkrankung über einen längeren Zeit­        nen, ist, zum Beispiel einen Roman aufzuklap­
 raum im Krankenhaus behandelt werden. Doch           pen. Und schon sind wir wieder da, in den lan­
 anstatt dass die 19-jährige Valerie sich von die­    gen weißen Gängen des Krankenhauses. Können
 ser Trennung verunsichern lässt, nimmt sie den       mitleiden und mitfiebern oder uns in die lebens­
 Ausschluss der Mutter aus dem gemeinsamen,           verändernden Konsequenzen einer Erkrankung
 durch den Krebs ohnehin bedrückenden Leben,          hinein­denken. Aber mit dem sicheren Gefühl des
 beinahe dankbar an. Für das Krankenhaus gilt         Papiers zwischen den Fingern.
 in Valeries Gedanken das, was sie später, als die
 Mutter schließlich verlegt wird, fürs Hospiz zu­     JULIA ROTHENBURG
 sammenfasst: „Aus dem Fenster sieht das Hos­         hat Soziologie und Politikwissenschaft in Freiburg
 piz aus wie ein Schuhkarton, weit weg und so         und Berlin studiert. 2017 wurde ihr Debütroman
 klar umrissen, wie mit Bleistift gemalt. Genau­      „Koslik ist krank“ veröffentlicht; 2019 folgte „hell/
 so leicht auch lässt es sich aus den Gedanken        dunkel“; im März 2021 erschien „Mond über Beton“.
­radieren.“                                           www.juliarothenburg.de

08
Krankenhaus APuZ

      KRANKENHÄUSER IN DEUTSCHLAND
                       Strukturen – Probleme – Reformen
                                         Thomas Gerlinger

Krankenhäuser sind heutzutage in wohl allen Ge­            Für die Sicherstellung der Krankenhausver­
sundheitssystemen ein Eckpfeiler der Kranken­          sorgung sind die Länder verantwortlich. Sie ha­
versorgung.01 Gemeinsam ist ihnen, dass dort die       ben zu diesem Zweck einen Landeskranken­
stationäre Versorgung stattfindet, also jener Teil     hausplan aufzustellen und die Investitionen der
der Krankenversorgung, der es erfordert, dass die      Krankenhäuser zu finanzieren, kommen Letzte­
Patientinnen und Patienten in der Einrichtung          rem aber nur unzureichend nach. Daher sind vie­
übernachten und verpflegt werden. Darüber hi­          le Krankenhäuser, sofern es ihre wirtschaftliche
naus nehmen sie auch Aufgaben in der ambulan­          Situation erlaubt, dazu übergegangen, Investitio­
ten Versorgung wahr. Die institutionellen Merk­        nen aus ihren Überschüssen zu finanzieren. Die
male von Krankenhäusern, also etwa ihre Größe          Krankenkassen tragen die laufenden Betriebskos­
und Zahl oder die Art ihrer Träger, und ihre Ver­      ten der Krankenhäuser.
sorgungsfunktionen können sich sowohl im inter­            Das Krankenhaus ist für das Versorgungssys­
nationalen Vergleich als auch in jedem einzelnen       tem in Deutschland von ungemein großer Be­
Gesundheitssystem erheblich unterscheiden.02           deutung. 2019 gab es in deutschen Krankenhäu­
                                                       sern knapp 495 000 Betten, rund 19,4 Millionen
            STRUKTURMERKMALE                           stationäre Behandlungsfälle wurden registriert.04
           UND BESONDERHEITEN                          Statistisch betrachtet, wurde also beinahe je­
                                                       der vierte Bürger pro Jahr im Krankenhaus ver­
Die Krankenhauslandschaft in Deutschland ist           sorgt, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich da­
sehr vielfältig. Die lokale oder regionale Grund­      runter auch Personen befinden, die mehrmals
versorgung wird durch zumeist kleinere Häuser          stationär aufgenommen werden. Das gesam­
sichergestellt, die in der Regel über eine internis­   te Ausgabenvolumen für Krankenhäuser belief
tische, eine chirurgische und eine gynäkologi­         sich 2019 auf 100,8 Milliarden Euro, von de­
sche Fachabteilung verfügen. Demgegenüber ist          nen allein 80,3 Milliarden Euro auf die gesetz­
das medizinische Leistungsspektrum von Häu­            liche Krankenversicherung (GKV) entfielen.
sern der Maximalversorgung sehr breit und um­          Dies entsprach einem Anteil von 24,5 Prozent
fasst in manchen Fällen sogar das gesamte Leis­        an den gesamten Gesundheitsausgaben bezie­
tungsspektrum der modernen Medizin. Häuser             hungsweise von 31,8 Prozent der GKV-Ausga­
der Zentral- oder Maximalversorgung haben eine         ben.05 Zugleich ist das Krankenhaus ein bedeu­
auch überregionale Versorgungsfunktion und             tender Beschäftigungssektor: Ende 2019 war es
zählen häufig zu den größeren Krankenhäusern,          Arbeitsplatz für knapp 1,3 Millionen Menschen;
manchmal mit mehr als 1000 Betten. Daneben             dies entsprach rund 928 000 Vollkräften im Jah­
haben Einrichtungen der Schwerpunktversor­             resdurchschnitt. Darunter waren knapp 168 000
gung an Bedeutung gewonnen, also solche Häu­           Vollkräfte im ärztlichen Dienst und gut 760 000
ser, die sich auf die Diagnose und Behandlung          im nicht-ärztlichen Dienst und von diesen wie­
bestimmter Krankheiten spezialisiert haben, bei­       derum gut 345 000 Vollkräfte im Pflegedienst,
spielsweise auf die Versorgung von Schlagan­           mehr als 80 Prozent von ihnen Frauen.06
fall- oder Krebspatientinnen und -patienten.03             Im internationalen Vergleich weist das deut­
Die fachliche Ausrichtung der Krankenhäuser in         sche Krankenhaussystem eine Reihe von Beson­
Deutschland unterliegt einem Prozess der Aus­          derheiten auf. Dazu zählt erstens die Pluralität der
differenzierung, der sich in den kommenden Jah­        Trägerstrukturen, also das Nebeneinander öffent­
ren fortsetzen dürfte.                                 licher, freigemeinnütziger und privater Träger. Sie

                                                                                                        09
APuZ 30–31/2021

ist zwar kein Alleinstellungsmerkmal des deut­                      und 18 600 Entlassungen.09 Bei der stationären
schen Krankenhaussystems, aber in vielen Län­                       Verweildauer belegt Deutschland mit 8,9 Ta­
dern befinden sich Krankenhäuser überwiegend                        gen je Behandlungsfall in der EU hinter Ungarn
in öffentlicher123456 Trägerschaft.07                               (9,6 Tage) und Tschechien (9,4 Tage) den dritten
    Zweitens ist die Bettendichte im internatio­                    Platz. Am unteren Ende rangieren hier die Nie­
nalen Vergleich sehr hoch, obwohl die Zahl der                      derlande (4,5 Tage) und Schweden (5,6 Tage).10
Betten bereits seit den 1970er Jahren drastisch                     Die Gründe für diese Besonderheiten lassen sich
reduziert worden ist. Deutschland verfügt über                      nicht abschließend klären. Vermutlich spielen die
60,2 Betten je 10 000 Einwohner (EU-27-Durch­                       starke Orientierung der Krankenversorgung an
schnitt: 39,3). In der Europäischen Union ist die­                  der ärztlichen Intervention sowie die hohe Zahl
ser Wert nur in Bulgarien höher (62,4). Andere                      der vorgehaltenen Betten eine wichtige Rolle.
wohlhabende Länder wie Frankreich (30,4), die                           Viertens ist die ambulante Versorgung im
Niederlande (26,9) oder Schweden (19,7) kom­                        Krankenhaus in Deutschland nur von margina­
men mit zum Teil deutlich weniger Krankenhaus­                      ler Bedeutung. In wohl allen anderen Gesund­
betten aus.08                                                       heitssystemen der EU-Mitgliedstaaten spielt das
    Drittens weist Deutschland bei den Indika­                      Krankenhaus für die ambulante Versorgung eine
toren zur Patientenbewegung im Krankenhaus                          deutlich stärkere Rolle. Insbesondere in staatli­
überdurchschnittlich hohe Werte auf. Dies gilt                      chen Gesundheitssystemen – aber auch nicht nur
sowohl für die Zahl der stationären Behandlungs­                    dort – ist die ambulante fachärztliche Versorgung
fälle (Entlassungen stationärer Patienten aus dem                   überwiegend oder (fast) ausschließlich am Kran­
Krankenhaus) je 100 000 Einwohner als auch für                      kenhaus angesiedelt.11 Der Erstzugang zum Ver­
die stationäre Verweildauer. Mit rund 24 400 Ent­                   sorgungssystem erfolgt hier in der Regel über
lassungen je 100 000 Einwohner und Jahr wurde                       den Hausarzt, der die Patientinnen und Patienten
Deutschland in der EU nur von Bulgarien (33 600)                    im Bedarfsfall zur fachärztlichen Versorgung ins
übertroffen. In den meisten EU-Mitgliedstaa­                        Krankenhaus überweist. In Deutschland existiert
ten liegen die jeweiligen Werte zwischen 10 400                     hingegen eine doppelte Facharztstruktur: Fach­
                                                                    ärztinnen und Fachärzte sind hier bekanntlich
                                                                    nicht nur am Krankenhaus, sondern auch in freier
01 Vgl. Thomas Gerlinger/Rolf Rosenbrock, Gesundheitspolitik.
                                                                    Niederlassung oder in ambulanten Medizinischen
Eine systematische Einführung, Bern 2021 (i. V.).
02 Vgl. Martin Schölkopf/Simone Grimmeisen, Das Gesund-
                                                                    Versorgungszentren (MVZ) tätig. Diese sind per
heitswesen im internationalen Vergleich. Gesundheitssystem-         Gesetz grundsätzlich zuständig dafür, Kassenpa­
vergleich und europäische Gesundheitspolitik, Berlin 20214;         tientinnen und -patienten ambulant zu versorgen.
Roosa Tikkanen et al. (Hrsg.), International Profiles of Health     Letztere haben das Recht der freien Arztwahl, die
Care Systems 2020, www.commonwealthfund.org/international-​
                                                                    auch Fachärztinnen und -ärzte einschließt. Kran­
health-​policy-​center/system-​profiles.
03 Vgl. Gerlinger/Rosenbrock (Anm. 1).
                                                                    kenhäuser sind nur in eng definierten Ausnahme­
04 Vgl. Statistisches Bundesamt, Grunddaten der Kranken-            fällen zur ambulanten Behandlung von Kassen­
häuser 2019, Wiesbaden 2021, www.destatis.de/DE/Themen/             patientinnen und -patienten berechtigt.12 Dazu
Gesellschaft-​Umwelt/Gesundheit/Krankenhaeuser/Publikatio-
nen/Downloads-​Krankenhaeuser/grunddaten-​krankenhaeuser-​
2120611197004.pdf.                                                  09 Vgl. Eurostat, Hospital Discharges and Length of Stay Statis-
05 Vgl. Statistisches Bundesamt, Gesundheitsausgaben nach           tics, https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-​explained/index.php?​
Einrichtungen, www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-​Um-          title=​Hospital_discharges_and_length_of_stay_statistics#​
welt/Gesundheit/Gesundheitsausgaben/Tabellen/einrichtun-            Hospital_discharges. Die Daten beziehen sich auf das Jahr 2018.
gen.html; Bundesministerium für Gesundheit, Gesetzliche Kran-       10 Vgl. Eurostat, Durchschnittliche Krankenhausverweildauer
kenversicherung – Kennzahlen und Faustformeln. KF21 Bund,           stationärer Patienten (Tage), https://ec.europa.eu/eurostat/da-
Stand: März 2021, www.bundesgesundheitsministerium.de/​             tabrowser/view/hlth_co_inpst/default/table?​lang=​de. Die Daten
fileadmin/Dateien/​3 _Downloads/Statistiken/GKV/Kennzahlen_​        beziehen sich auf das Jahr 2018.
Daten/KF2021Bund_Maerz_​2021.pdf.                                   11 Vgl. Schölkopf/Grimmeisen (Anm. 2); Tikkanen et al.
06 Vgl. Statistisches Bundesamt (Anm. 4), S. 10 f., S. 29, S. 56.   (Anm. 2).
07 Vgl. Schölkopf/Grimmeisen (Anm. 2); Tikkanen et al.              12 Anders verhält es sich mit privat Krankenversicherten, denen
(Anm. 2).                                                           grundsätzlich auch die Inanspruchnahme ambulanter Leistungen
08 Vgl. Eurostat, Krankenhausbetten für medizinische Be-            im Krankenhaus offensteht. Auf die Unterschiede in der Versor-
handlung, https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/           gung von gesetzlich und privat Versicherten kann hier nicht ein-
tps00168/default/table?​lang=​de. Die Daten beziehen sich auf       gegangen werden. Vgl. dazu Hartmut Reiners, Privat oder Kasse?
das Jahr 2018 (Deutschland: 2017).                                  Politische Ökonomie des Gesundheitswesens, Hamburg 2017.

10
Krankenhaus APuZ

zählen traditionell die Versorgung in Notfällen                   schaftliche Trägerstruktur prägt die Kranken­
(§ 76 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, SGB V) sowie – in                  hauslandschaft zwar auch heute noch, allerdings
dem für Lehre und Forschung notwendigen Um­                       haben private Träger ihren Anteil in den ver­
fang – die Versorgung in Hochschulambulanzen                      gangenen Jahrzehnten zulasten öffentlicher Trä­
(§ 117 SGB V). Zwar sind die Krankenhäuser seit                   ger stark erhöht. Waren 1991 lediglich 14,8 Pro­
den 1990er Jahren punktuell weiter für die am­                    zent aller Krankenhäuser in privater Trägerschaft,
bulante Versorgung geöffnet worden. So dürfen                     stieg dieser Anteil bis 2019 auf 37,8 Prozent. Ins­
Krankenhäuser ambulant operieren oder in be­                      besondere das Gewicht von großen Kapitalge­
stimmen Fristen vor und nach einer stationären                    sellschaften, vor allem von Aktiengesellschaften,
Behandlung Patientinnen und Patienten auch am­                    im Vergleich zu Ärztinnen und Ärzten als priva­
bulant versorgen. Jedoch folgten diese punktuel­                  ten Trägern hat deutlich zugenommen. Der Zu­
len Öffnungen keinem übergreifenden Konzept                       wachs privater Krankenhäuser geht insbesondere
für die Rolle des Krankenhauses, sondern stellten                 zulasten der öffentlichen Häuser, deren Anteil in
lediglich Versuche dar, einzelne Versorgungspro­                  diesem Zeitraum von 46,0 auf 28,5 Prozent zu­
bleme mit Ad-hoc-Maßnahmen zu lösen.13 Dem                        rückging. Immerhin belief sich der Anteil der in
Mikrozensus 2017 zufolge wurden von den gut                       öffentlicher Trägerschaft aufgestellten Kranken­
6,1 Millionen Personen, die in den vier Wochen                    hausbetten 2019 auf 47,7 Prozent, der von priva­
vor dem Befragungszeitpunkt in ambulanter Be­                     ten Trägern auf 19,3 Prozent. Aber auch bei den
handlung waren, nur gut 0,5 Millionen (8 Pro­                     Betten ist ein deutlicher Anteilszuwachs der pri­
zent) im Krankenhaus versorgt.14                                  vaten Träger erkennbar.
                                                                      Diese Privatisierung ist sowohl auf finanzi­
          KRANKENHAUSLANDSCHAFT                                   elle als auch auf politische Motive zurückzufüh­
                IM WANDEL                                         ren. Vor allem Kommunen waren in der Vergan­
                                                                  genheit angesichts ihrer prekären Haushaltslage
Der Krankenhaussektor in Deutschland hat sich                     häufig bemüht, sich defizitärer Krankenhäuser
in den vergangenen Jahrzehnten tiefgreifend ge­                   zu entledigen. Zudem folgten manche Kommu­
wandelt. Wichtige Basistrends sind – ungeach­                     nen in den 1990er und 2000er Jahren auch dem
tet der im internationalen Vergleich nach wie vor                 neoliberalen Zeitgeist, der in der Privatisierung
hohen Werte – die deutliche Reduzierung der                       kommunaler Aufgaben ein geeignetes Instrument
Bettenzahlen und der Verweildauer je Behand­                      zur Kostensenkung und Qualitätsverbesserung
lungsfall. Zwischen 1991 und 2019 sank die Bet­                   sah. Schließlich engt die Schuldenbremse die fi­
tenzahl von gut 665 000 auf knapp 495 000 Betten                  nanziellen Handlungsspielräume der öffentlichen
und die durchschnittliche Verweildauer von 14,0                   Hand weiter ein. Häufig treten private Kapitalge­
auf 7,2 Tage. Gleichzeitig ist in diesem Zeitraum                 sellschaften auf, um potenziell profitable Häuser
die Zahl der Behandlungsfälle von rund 14,6 auf                   zu übernehmen und nach eigenen Vorstellungen
rund 19,4 Millionen gestiegen,15 vor allem, weil                  umzugestalten.16 Die Privatisierung von Kran­
der demografische Wandel zu einer Zunahme des                     kenhäusern ist auch in den vergangenen Jahren
Behandlungsbedarfs und der medizinische Fort­                     weiter vorangeschritten, auch wenn sich die Dy­
schritt zu einer Zunahme der Behandlungsmög-                      namik etwas abgeschwächt hat.17
lichkeiten geführt hat.                                               Das Nebeneinander von öffentlichen und frei­
    Zu den wichtigsten strukturellen Veränderun­                  gemeinnützigen Häusern einerseits und privaten
gen zählt die fortschreitende Privatisierung der                  Einrichtungen andererseits bringt eine Reihe von
Krankenhäuser. Die traditionelle gemischtwirt­                    Problemen mit sich. Steht bei Ersteren – durch­
                                                                  aus auch unter Verfolgung von Gewinninteres­
13 Vgl. Wulf-Dietrich Leber/Jürgen Wasem, Ambulante Kran-
                                                                  sen – die Versorgungsfunktion im Mittelpunkt,
kenhausleistungen – ein Überblick, eine Trendanalyse und einige
ordnungspolitische Anmerkungen, in: Jürgen Klauber et al.         16 Vgl. Nils Böhlke et al. (Hrsg.), Privatisierung von Kranken-
(Hrsg.), Krankenhaus-Report 2016. Schwerpunkt: Ambulant im        häusern. Erfahrungen und Perspektiven aus Sicht der Beschäftig-
Krankenhaus, Stuttgart 2016, S. 3–28.                             ten, Hamburg 2009.
14 Vgl. Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2017. Fragen zur     17 Vgl. Michael Simon, Das deutsche DRG-System: Weder
Gesundheit – Kranke und Unfallverletzte, Wiesbaden 2018,          Erfolgsgeschichte noch leistungsgerecht, in: Anja Dieterich et al.
S. 15.                                                            (Hrsg.), Geld im Krankenhaus. Eine kritische Bestandsaufnahme
15 Vgl. Statistisches Bundesamt (Anm. 4), S. 10.                  des DRG-Systems, Wiesbaden 2019, S. 295–324.

                                                                                                                                 11
APuZ 30–31/2021

so ist es bei Letzteren die Gewinnmaximierung.                reiche Studien auf eine Reihe von negativen Aus­
Um dieses Ziel zu verfolgen, setzen private Ein­              wirkungen hin.19 Demzufolge veranlasst der
richtungen häufig darauf, ihr Angebot auf weni­               Kostendruck die Krankenhausträger zu primär
ge, standardisierbare Leistungen zu begrenzen,                kurzfristig orientierten Personaleinsparungen
die sie aufgrund der Spezialisierung und der hö­              und führt häufig nicht zu sinnvollen, qualitäts­
heren Behandlungsfallzahlen dann kostengünsti­                neutralen Rationalisierungsmaßnahmen. Darun­
ger – und zum Teil auch in einer besseren Quali­              ter leidet insbesondere die persönliche, emotio­
tät – erbringen können. Dadurch verschlechtert                nale Zuwendung zum Patienten. Es entstehen ein
sich die Kalkulationsbasis derjenigen – zumeist               erhöhter Aufwand in der nachstationären Ver­
öffentlichen – Krankenhäuser, die aufgrund ih­                sorgung (beispielsweise in der Rehabilitation) so­
res Versorgungsauftrages nach wie vor die gesam­              wie hohe Belastungen für Patienten (etwa durch
te Palette an Leistungen und die dafür notwendi­              eine steigende Zahl präoperativer Krankenhaus­
ge Infrastruktur vorhalten müssen, ohne an der                besuche) und für ihre Angehörigen, die bei einer
Kostenersparnis bei standardisierbaren Leistun­               frühzeitigen oder verfrühten Entlassung aus dem
gen teilhaben zu können.                                      Krankenhaus die Versorgung im häuslichen Um­
    Die sicherlich gravierendste Veränderung der              feld gewährleisten müssen. Schließlich nehmen
vergangenen Jahrzehnte war die Umstellung der                 Ärztinnen und Ärzte sowie das Pflegepersonal in
Vergütung von Krankenhausleistungen auf diag­                 wachsendem Maße Konflikte zwischen Versor­
nosebezogene Fallpauschalen (Diagnosis Related                gungsqualität und Kostendruck wahr.20
Groups – DRGs). Im DRG-System richtet sich
die Höhe der Vergütung nach dem Schweregrad                                 ARBEITSBEDINGUNGEN
der Erkrankung des Patienten, die mithilfe eines                              IM KRANKENHAUS
Patientenklassifikationssystems erfasst wird, und
nach den vorgenommenen Eingriffen und thera­                  Das DRG-System hat erhebliche Auswirkun­
peutischen Maßnahmen, die aus einem Operati­                  gen auf die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus.
onen- und Prozedurenschlüssel (OPS) hervor­                   Diese sind insbesondere für die Beschäftigten im
gehen. Dabei werden einem Krankenhaus nicht                   Pflegedienst schlecht. Dies kommt in der ausge­
seine realen Kosten, sondern die für den jewei­               prägten Arbeitsunzufriedenheit und in der star­
ligen Behandlungsfall bei Modellkrankenhäusern                ken Fluktuation von Gesundheits- und Kran­
ermittelten Durchschnittskosten erstattet.                    kenpflegerinnen und -pflegern zum Ausdruck.
    Finanzielle Anreize und Kalküle bei der Er­               Deren Kritik richtet sich vor allem auf die hohe
bringung von Krankenhausleistungen haben mit                  Arbeitsverdichtung und deren negative Auswir­
der Einführung des DRG-Systems beträchtlich                   kungen auf die Arbeitsqualität sowie auf die aty­
an Bedeutung gewonnen. Die Krankenhäuser er­                  pische Lage der Arbeitszeiten und die niedrigen
halten mit den DRGs einen Anreiz, die Kosten je               Gehälter.21 Vor diesem Hintergrund wundert es
Behandlungsfall so weit wie möglich zu senken                 nicht, dass der Personalmangel in der Pflege au­
und die Behandlungsfallzahlen bei solchen Dia­                ßerordentlich groß ist und sich in den nächsten
gnosen und Eingriffen zu erhöhen, bei denen die               Jahren noch verstärken könnte.22 Die Gründe
Kosten deutlich unter den DRG-Erlösen liegen.
Auf diese Weise haben die DRGs die „Ökono­                    19 Vgl. hierzu und zum Folgenden zum Beispiel Heinz Naegler/
misierung“ der Krankenhausversorgung, also de­                Karl-Heinz Wehkamp, Medizin zwischen Patientenwohl und
ren Orientierung an finanziellen Interessen, wei­             Ökonomisierung. Krankenhausärzte und Geschäftsführer
ter gefördert.18                                              im Interview, Berlin 2018; Dieterich et al. (Anm. 17); Kaspar
                                                              Molzberger, Autonomie und Kalkulation. Zur Praxis gesellschaft-
    DRGs werden kontrovers diskutiert. Wäh­
                                                              licher Ökonomisierung im Gesundheits- und Krankenhauswesen,
rend deren Befürworter die Leistungsgerechtig­                Bielefeld 2020.
keit und den Anreiz zur Rationalisierung von                  20 Vgl. Naegler/Wehkamp (Anm. 19).
Versorgungsprozessen hervorheben, weisen zahl­                21 Vgl. Rolf Schmucker, Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen.
                                                              Ergebnisse einer Sonderauswertung der Beschäftigtenbefra-
                                                              gung zum DGB-Index Gute Arbeit, in: Klaus Jacobs et al. (Hrsg.),
18 Vgl. Michael Simon, Das DRG-Fallpauschalensystem für       Pflege-Report 2019: Mehr Personal in der Langzeitpflege – aber
Krankenhäuser. Kritische Bestandsaufnahme und Eckpunkte für   woher?, Berlin 2020, S. 49–60.
eine Reform der Krankenhausfinanzierung jenseits des DRG-     22 Vgl. Karl Blum/Matthias Offermanns/Petra Steffen, Situati-
Systems, Hans-Böckler-Stiftung, HBS Working Paper 196/2020.   on und Entwicklung der Pflege bis 2030, Düsseldorf 2019.

12
Krankenhaus APuZ

für die schlechten Arbeitsbedingungen sind viel­              desministerium für Gesundheit wurde ermäch­
schichtig, aber eine ganz wesentliche Rolle spielt            tigt, dafür eine Untergrenze festzulegen. Ferner
die mit dem DRG-System vorangetriebene Öko­                   verpflichtete der Gesetzgeber die Krankenkas­
nomisierung der Krankenhausversorgung. Der                    sen, die Ausgaben für Tarifsteigerungen zu über­
damit erzeugte Druck auf die Betriebskosten                   nehmen. Außerdem sollen sie die Vergütung im
schlug sich über viele Jahre vor allem in Einspa­             ersten Ausbildungsjahr tragen, um den Kran­
rungen beim Pflegepersonal nieder, die durch ge­              kenhäusern einen Anreiz zu geben, mehr Aus­
ringe Gehaltssteigerungen und durch eine geringe              bildungsplätze anzubieten. Diese Maßnahmen
Zahl von Einstellungen erzielt wurden. Letzteres              sollen dazu beitragen, die Ausstattung mit Pfle­
wurde dadurch begünstigt, dass der Aufwand für                gepersonal und damit sowohl die Arbeitsbedin­
pflegerische Leistungen – im Unterschied zu dem               gungen als auch die Versorgungsqualität zu ver­
für ärztliche Leistungen – bei der Berechnung                 bessern. Schließlich wurden die Pflegekosten der
der Pauschalen nicht angemessen berücksichtigt                Krankenhäuser mit Wirkung von 2020 an aus dem
wird. Vor diesem Hintergrund hat sich die Zahl                DRG-System ausgegliedert und werden seitdem
der Ärztinnen und Ärzte (Vollkräfte) zwischen                 krankenhausindividuell vergütet. Jenseits der ge­
1991 und 2019 von 95 208 auf 167 952 nahezu ver­              nannten gesetzlichen Bestimmungen bemüht sich
doppelt, während die Zahl der Pflegekräfte (1991:             die Bundesregierung verstärkt um die Rekrutie­
326 082, 2019: 345 407) eher stagnierte.23 Diese              rung von Pflegekräften aus dem Ausland, vor al­
Entwicklung vollzog sich vor dem Hintergrund                  lem in Asien und (Süd-)Osteuropa.24
steigender Behandlungsfallzahlen und einer sin­                   Die jüngeren Maßnahmen zur Verbesse­
kenden durchschnittlichen Verweildauer, die ih­               rung der Pflegepersonalausstattung stellen ei­
rerseits von einem Anstieg des Versorgungsbe­                 nen Schritt in die richtige Richtung dar. Um den
darfs je Belegungstag einherging, weil sich mit ihr           Pflegenotstand in den Krankenhäusern zu über­
der Anteil der betreuungsintensiven Aufnahme-,                winden, bedarf es aber deutlich weitergehender
Operations- und Entlassungstage je Behand­                    Schritte. Dabei fehlt es an einer mittelfristigen
lungsfall erhöhte.                                            Zielsetzung für die Zahl der neu einzurichtenden
    Dass die Zahl der Vollkräfte im Pflegedienst              Stellen im Pflegedienst.
jüngst überhaupt wieder über den Wert des Jah­
res 1991 stieg, geht zudem primär auf die vom                             HERAUSFORDERUNGEN
Gesetzgeber angesichts des Personalmangels er­                         FÜR DIE KRANKENHAUSPOLITIK
griffenen Maßnahmen zurück. Die wachsende
öffentliche Kritik an den Arbeitsbedingungen im               Die Krankenhauspolitik steht auf unterschiedli­
Pflegedienst und Proteste der Pflegekräfte selbst             chen Handlungsfeldern vor großen Herausforde­
haben die Bundesregierung dazu bewogen, eine                  rungen. Es bedarf, wie oben gezeigt, eines Vergü­
Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der                      tungssystems für Krankenhausleistungen, das so
Arbeitsbedingungen und zur Erhöhung der Ar­                   weit wie möglich Anreize zu einer am tatsächli­
beitsentgelte in der Krankenhauspflege zu ergrei­             chen Bedarf orientierten Versorgung schafft und
fen. So stellte sie Mittel für die Anstellung zusätz­         unerwünschten Umgehungsstrategien von Leis­
licher Pflegekräfte zur Verfügung und führte sie              tungserbringern enge Grenzen setzt. Ferner ist
in einigen „pflegesensitiven Bereichen in Kran­               eine durchgreifende Verbesserung der Arbeits­
kenhäusern“ (§ 137i SGB V), wie beispielswei­                 bedingungen und eine Erhöhung der Arbeits­
se Kardiologie oder Geriatrie, Pflegepersonalun­              entgelte erforderlich, um die Attraktivität des
tergrenzen ein, die eine Mindestvorgabe für die               Krankenhauses für Gesundheits- und Kranken­
Verhältniszahlen von Pflegekräften und Patienten              pflegerinnen und -pfleger zu erhöhen.
umfassen. Ferner wird seit 2020 für jedes Kran­                   Aber die Herausforderungen gehen noch
kenhaus ein Pflegepersonalquotient ermittelt, der             deutlich über diese Aspekte hinaus. Trotz zahl­
das Verhältnis von Pflegepersonal und Pflegeauf­              reicher Verbesserungen und mancher Fortschrit­
wand beschreibt (§ 137j Abs. 1 SGB V). Das Bun­               te ist das Versorgungssystem nach wie vor durch

23 Vgl. Statistisches Bundesamt, Grunddaten der Kranken-      24 Vgl. Jan Kordes, Anwerbeprogramme in der Pflege: Migra-
häuser 1991, Wiesbaden 1993, S. 42; Statistisches Bundesamt   tionspolitiken als räumliche Bearbeitungsweise der Krise sozialer
(Anm. 4), S. 27.                                              Reproduktion, in: Prokla 4/2019, S. 551–567.

                                                                                                                             13
APuZ 30–31/2021

eine wechselseitige Abschottung der unterschied­                    Insofern gibt es gute Gründe für eine stärke­
lichen Versorgungssektoren, also ambulanter, sta­               re Spezialisierung und Schwerpunktbildung in
tionärer, rehabilitativer und pflegerischer Versor­             der Krankenhausversorgung. Der Gesetzgeber
gung, gekennzeichnet.25 Hier entstehen Brüche                   hat diesen Prozess durch den Auftrag an die ge­
im Versorgungsverlauf, die die Versorgungsqua­                  meinsame Selbstverwaltung der Ärzte und Kran­
lität mindern und unnötige Kosten verursachen.                  kenkassen forciert, für Leistungen, bei denen ein
Die Einbettung des Krankenhauses in ein Ver­                    Zusammenhang zwischen Frequenz und Quali­
sorgungssystem, das eine kontinuierliche Versor­                tät existiert, Mindestmengen vorzugeben (§ 136b
gung auch an den Schnittstellen von ambulanter                  Abs. 1 Nr. 2 SGB V). Zu diesen Leistungen zäh­
und stationärer Versorgung gewährleistet, zählt                 len unter anderem der Einsatz von Kniegelenk-
daher zu den zentralen Herausforderungen für                    Totalendoprothesen oder Transplantationen von
die Gesundheitspolitik.26 Ein wichtiges Instru­                 Leber und Niere. Demnach sind Ärzte, Fachab­
ment für die Integration von Versorgungsstruktu­                teilungen oder Krankenhäuser nur dann berech­
ren und -verläufen ist die grundsätzliche Öffnung               tigt, bestimmte Eingriffe mit den Krankenkas­
von Krankenhäusern für die ambulante Versor­                    sen abzurechnen, wenn sie in einem bestimmten
gung. Weil die in der Vergangenheit unternom­                   Zeitraum (häufig: ein Kalenderjahr) die vorgege­
menen Schritte in diese Richtung stets als punk­                bene Mindestmenge erreichen beziehungsweise
tuelle Ausnahmen von der grundsätzlich nach wie                 erreicht haben. Mindestmengen sind für eine Rei­
vor geltenden Zuständigkeit von Vertragsärztin­                 he von Eingriffen gut begründet, allerdings ist der
nen und -ärzten für die ambulante Versorgung                    Zusammenhang zwischen beiden Größen nicht
konzipiert waren, haben sie bisher nicht zu einem               immer – und nicht immer für alle behandlungs­
grundlegenden Wandel der Rolle des Kranken­                     relevanten Qualitätsindikatoren – eindeutig.28
hauses in der ambulanten Behandlung geführt.                    Der Ausschluss vor allem kleinerer Kranken­
    Ein weiterer bedeutsamer Aspekt ist der Zu­                 häuser von der Erbringung bestimmter Leistun­
sammenhang zwischen den Krankenhausstruktu­                     gen könnte allerdings dazu führen, dass manche
ren und der Versorgungsqualität. Ausgangspunkt                  Fachabteilungen oder Häuser in wirtschaftli­
ist der Befund, dass bei einer Reihe von Leistun­               che Schwierigkeiten geraten oder sogar schließen
gen ein Zusammenhang zwischen der Leistungs­                    müssten. Daraus würde ein Dilemma erwachsen:
frequenz und der Leistungsqualität existiert. Dies              Eine Spezialisierung und Zentrenbildung wür­
ist vor allem bei komplexen Eingriffen der Fall,                de sich negativ auf die Wohnortnähe und damit
die, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, nicht                   die schnelle Erreichbarkeit des Krankenhauses
in großer Zahl anfallen und nicht zur Routine ei­               auswirken.
nes Fachgebietes zählen. Solche diagnostischen                      Der Ruf nach einem Umbau der Kranken­
Verfahren und Operationen werden vor allem in                   haus­strukturen wird unter Verweis auf die im in­
den zahlreichen kleineren Krankenhäusern ohne                   ternationalen Vergleich hohe Bettendichte häufig
die dafür erforderliche Erfahrung und daher zu                  mit der Forderung nach einem deutlichen Bet­
häufig nicht in der erforderlichen und möglichen                tenabbau und der Schließung von Krankenhäu­
Qualität durchgeführt – zum Nachteil für die Pa­                sern verknüpft. Unter den gesundheitspolitischen
tientinnen und Patienten.27                                     Akteuren sind es vor allem die Krankenkassen,
                                                                die auf einen Bettenabbau und auf Kranken­haus­
                                                                schließungen drängen. Sie versprechen sich da­
25 Vgl. Thomas Gerlinger, Vom versäulten zum integrierten       von neben den Qualitätsverbesserungen auch
Versorgungssystem: Reformbedarf und Handlungsempfehlungen,      Kosteneinsparungen. Demgegenüber zeigen sich
HBS Working Paper 205/2021.
                                                                die Länder diesbezüglich weit skeptischer und
26 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung
im Gesundheitswesen, Jahresgutachten 2018: Bedarfsgerechte
                                                                weisen darauf hin, dass es die Wohnortnähe als
Steuerung der Gesundheitsversorgung, Bundestags-Drucksache
(BT-Drs.) 19/3180, 4. 7. 2018.
27 Vgl. Reinhard Busse/Elke Bergner, Weniger (Standorte,        28 Vgl. Thomas Gerst, Qualitätssicherung: Mindestmengen
Betten und Fälle) ist mehr (Zugang, Qualität und Ergebnisse):   vor dem Aus, in: Deutsches Ärzteblatt 34–35/2011, A-1765;
Standpunkte der Gesundheitsökonomie, in: Dirk Janssen/Boris     Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswe-
Augurzky (Hrsg.), Krankenhauslandschaft in Deutschland. Zu-     sen (IQWiG), Zusammenhang zwischen Leistungsmenge und
kunftsperspektiven – Entwicklungstendenzen – Handlungsstrate-   Qualität des Behandlungsergebnisses bei Nierentransplantation
gien, Stuttgart 2018, S. 99–114.                                (inklusive Lebendspende), IQWiG-Berichte 904/2020.

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