Bauhaus und Handwerk neu gesehen Zur Wertigkeit des Handwerks für die Moderne

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Bauhaus und Handwerk neu gesehen Zur Wertigkeit des Handwerks für die Moderne
Handwerkskammer Düsseldorf

      Bauhaus und Handwerk neu gesehen

      Zur Wertigkeit des Handwerks
      für die Moderne

      Veranstaltung des Werkbundes NRW und der
      Handwerkskammer Düsseldorf

      15. Juni 2011 in der
      Handwerkskammer Düsseldorf

Information / Dokumentation 5 / 2011
Schriftenreihe: Information/Dokumentation 5/11

Herausgeber:
Handwerkskammer Düsseldorf /
Kompetenzzentrum Soziale Marktwirtschaft

Verantworlich:
Dr. Thomas Köster

Script und Grafik:
Andreas Babel

ISSN 0178-7012
Werkbund

Bauhaus und Handwerk - neu gesehen
Zur Wertigkeit des Handwerks für die Moderne

Veranstaltung des Werkbundes NRW und der
Handwerkskammer Düsseldorf
am 15. Juni 2011 in der
Handwerkskammer Düsseldorf
mit einem Vortrag von
Prof. Dr. Roland Günter

Information / Dokumentation 5/11
Inhalt
                                                      I

Geleitwort                                                 5

Einführung von Herrn Dr. Thomas Köster,                    6
Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Düsseldorf

Ansprache von Herrn Prof. Dr. Roland Günter                7
„Bauhaus und Handwerk – neu gesehen
Zur Wertigkeit des Handwerks für die Moderne“

Auflistung der bisherigen Veröffentlichungen              22
Geleitwort

Es gibt Veranstaltungen, die besonders spannend sind. Zu dieser Art von
Veranstaltungen gehörte das gemeinsam von Handwerkskammer und
Werkbund NRW getragene Treffen zum Thema „Bauhaus und Handwerk“
am 15. Juni 2011 in der Handwerkskammer Düsseldorf. In der Veranstal-
tung wurde deutlich, dass von der Symbiose zwischen Handwerk und
Bauhaus für die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts entscheidende
Impulse ausgegangen sind.

Wie formulierte Walter Gropius im Programm des Staatlichen Bauhauses
in Weimar aus dem Jahre 1919:

„Architekten, Maler, Bildhauer sind Handwerker im Ursinn des Wortes,
deshalb wird als unerlässliche Grundlage für alles bildnerische Schaffen
die gründliche handwerkliche Ausbildung aller Studierenden in Werkstät-
ten und auf Probier- und Werkplätzen gefordert.“

Diese Worte von Walter Gropius ordnen dem Handwerk die Wertschät-
zung zu, die es nach der festen Überzeugung der Teilnehmer an der hier
dokumentierten Veranstaltung tatsächlich verdient.

Wir danken Herrn Prof. Günter als dem Vorsitzenden des Werkbundes
NRW für seinen wichtigen Beitrag zu unserer Veranstaltung, deren Inhalte
wir mit dieser Veröffentlichung einem breiteren Kreis von Interessierten
zugänglich machen.

Düsseldorf, im September 2011

HANDWERKSKAMMER DÜSSELDORF

Prof. Wolfgang Schulhoff		               Dr. Thomas Köster
Präsident 				                           Hauptgeschäftsführer

                                                                           5
Einführung                                              Voraussagen heute einer besonders kräftigen Ge-
                                                            sundheit erfreut. Es ist erfreulich, sich solche Dinge
                                                            wieder einmal anzusehen und festzustellen, dass
    von Herrn Dr. Thomas Köster,                            selbst kluge Leute heftig irren können. Das gibt
                                                            dem gesunden Menschenverstand eine Chance.
    Hauptgeschäftsführer der Handwerkskam-
    mer Düsseldorf, anlässlich der Veranstal-               Da gab es einen weiteren großen Nationalökono-
    tung des Werkbundes NRW und der                         men, Joseph Schumpeter, einer der klügsten Leute
    Handwerkskammer Düsseldorf am 15. Juni                  mit einem enormen Bildungshintergrund, der hat
                                                            auch dem Handwerk und dem voll haftenden Ei-
    2011 in der Handwerkskammer Düsseldorf
                                                            gentümerunternehmertum den Tod vorausgesagt.
                                                            Auch er hat sich geirrt.
    Sehr geehrter Herr Professor Günter,
    sehr geehrte Damen und Herren,                          In der jetzigen Zeit, vor zweieinhalb Jahren ist ein
                                                            Buch des britisch-amerikanischen Sozio-logen Ri-
    ich möchte Sie im Namen der Vollversammlung             chard Sennett in Deutschland erschienen und zu
    und der Geschäftsführung der Handwerkskammer            einem Bestseller geworden. Es hat den schlichten
    Düsseldorf recht herzlich begrüßen. Dies ist heute,     Titel „Handwerk“. Eine der Hauptthesen dieses
    wie ich hoffe, der Beginn einer Reihe von Veran-        Buches lautet „Handwerk ist, eine Sache um ihrer
    staltungen hier in der Handwerkskammer Düssel-          selbst willen gut machen“. Da kann ich nur sagen,
    dorf, die von Kontakten zwischen dem Werkbund           in dieser Definition findet sich das Handwerk wie-
    Nordrhein-Westfalen und der Handwerkskammer             der, aber nicht nur das Handwerk. Ich glaube, dass
    als Idee ihren Ausgang genommen haben. Wir sind         sich auch die Philosophie des Werkbundes hier
    der Auffassung, dass es zur geistigen Fundierung        wiederfinden kann.
    unserer Gesellschaft, unserer Kultur und unserer
    Wirtschaft von Bedeutung ist, dass sich Werkbund        Und dann gibt es einen amerikanischen Philoso-
    und Handwerk stärker zusammentun.                       phen namens Matthew Crawford, der einen ganz
                                                            erstaunlichen Lebensweg hinter sich gebracht hat.
    Für uns im Handwerk ist es wichtig, dass die geis-      Er hat ein Buch geschrieben, das sich in Ameri-
    tigen Ursprünge des Handwerks über die Jahrtau-         ka auch auf den Bestseller-Listen befindet, mit
    sende und Jahrhunderte nicht in Vergessenheit           dem schönen Titel: „Ich schraube, also bin ich!“.
    geraten.                                                Matthew Crawford hat Philosophie studiert, war
                                                            Professor für Philosophie an einer angesehenen
    Ich darf kurz feststellen - Sie sind ja hier im Hau-    amerikanischen Hochschule, hat sich aber in sei-
    se des Handwerks - das Handwerk stellt heute            ne Zweiradmechanikerwerkstatt zurückgezogen
    ein Fünftel aller Unternehmen, ein Sechstel aller       und ist jetzt ein hoch anerkannter Unternehmer
    Beschäftigten, ein Drittel aller Lehrlinge und zwei     im Bereich Motorräder, die er zu seinem Lebens-
    Drittel aller gewerblich-technischen Lehrlinge. Das     inhalt gemacht hat. Seine Erkenntnisse aus beiden
    ist eine Sache, die insofern erstaunlich ist, als dem   Lebenssphären hat er in diesem Buch verarbeitet.
    Handwerk in seiner Geschichte ununterbrochen
    der Untergang vorausgesagt worden ist. Da gilt          Ich sage das, um auch deutlich zu machen, dass wir
    das Wort: „Totgesagte leben länger!“                    heute – vielleicht auch als ein Resultat der Wirt-
                                                            schafts- und Finanzkrise – plötzlich mit der neuen
    Ich darf vielleicht daran erinnern, Karl Marx hat im    Bewertung des Handwerks eine neue Anmutung
    Kommunistischen Manifest – übrigens, wenn Sie           dessen kennenlernen, was man als „Kultur der So-
    spannende Lektüre suchen, dann kann ich Ihnen           lidität“ bezeichnen kann. Das ist etwas, so glaube
    auch als Nicht-Sozialisten das Kommunistische           ich, was sehr wichtig ist.
    Manifest heftig empfehlen – Karl Marx hat voraus-
    gesagt, dass die kleinen Mittelstände ins Proletariat   Es gibt einen alten Spruch im Handwerk, der heißt:
    zurückfallen werden. Das ist auch auf das Hand-         „Geselle ist, wer was kann, Meister ist, wer was
    werk gemünzt.                                           ersann, Lehrling ist ein jeder Mann.“ Ein sehr in-
                                                            haltsreiches Wort! Geselle ist, wer was kann: Hand-
    Dann gab es einen Nationalökonomen namens               werk ist Qualifikation oder es ist kein Handwerk.
    Karl Bücher, der Ende des 19. Jahrhunderts erheb-       Meister ist, wer was ersann: das heißt, die inno-
    liche Reputation hatte. Er sprach von einem „Ver-       vatorische Komponente, die Fähigkeit, über den
    witterungs- und Verfallsprozess des Handwerks“.         Tellerrand des Alltäglichen hinaus sehen, gehört
    Solche Dinge lese ich mit besonderer Freude, weil       zu jedem Meistertum dazu. Wo gibt es ein größeres
    sich unser Wirtschaftsbe-reich entgegen solcher         Kompliment, als wenn man sagt, jemand ist Meis-

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ter seines Faches? Das ist schwer zu übertreffen.
Und Lehrling ist ein jeder Mann: jeder, der aufhört,
                                                         Prof. Dr. Roland Günter
neugierig zu sein, sich ständig neuen Eindrücken
zu öffnen, der gehört zum Altenteil, mag er auch         Bauhaus und Handwerk – neu gesehen
noch so jung sein.
                                                         Zur Wertigkeit des Handwerks für die
Weil wir diese Dinge hoch halten, halten wir die         Moderne
Zusammenarbeit mit dem Werkbund für eine ganz
wichtige Angelegenheit. Insofern freue ich mich,         Vortrag in der Handwerkskammer Düssel-
dass wir jetzt gleich Herrn Prof. Günter als Vor-
                                                         dorf am 17. Juni 2011
sitzenden des Werkbundes Nordrhein-Westfalen
und als stellvertretenden Vorsitzenden des Werk-         Bauhaus – das ist ein bedeutender Name. Aber es
bundes Deutschland zum Thema „Bauhaus und                ist nicht leicht, das Bauhaus zu verstehen. Das kann
Handwerk - zur Wertigkeit des Handwerks für die          man nur in Zusammenhängen. Bevor ich also zum
Moderne“ hören werden.                                   Bauhaus komme, müssen wir über einige Voraus-
                                                         setzungen und Zusammenhänge sprechen.
Im Programm des Staatlichen Bauhauses in Wei-
mar von Walter Gropius aus April 1919 heißt es           Der Vortrag hat fünf Teile:
an einer Stelle: „Architekten, Bildhauer, Maler, wir
alle müssen zum Handwerk zurück. Es gibt keinen          •   1. Zur Anthropologie des Handwerks.
Wesensunterschied zwischen dem Künstler und              •   2. Die Industrialisierung.
dem Handwerker. Der Künstler ist eine Steigerung         •   3. Deutscher Werkbund.
des Handwerkers. Gnade des Himmels lässt in sel-         •   4. Das Bauhaus.
tenen Lichtmomenten, die jenseits seines Wollens         •   5. Einige Nachbemerkungen.
stehen, unbewusst Kunst aus dem Werk seiner
Hand erblühen. Die Grundlage des Werkmäßigen             Zur Anthropologie des Handwerks
aber ist unerlässlich für jeden Künstler. Dort ist der
Urquell des schöpferischen Gestaltens.“ Ein schö-        Es gehört zu den Verkürzungen im Denken des 20.
nes Zitat!                                               Jahrhunderts, Handwerk auf Berufs-Bezeichnun-
                                                         gen zu beschränken. Es gibt Handwerk schon lange
Ich nehme an, Sie, lieber Herr Prof. Günter, werden      vor dem Beruf. Handwerk als eine Palette von Be-
dem jetzt Vieles hinzufügen. Wir haben verschie-         rufen – das ist eine Intensivierung und Spezialisie-
dene Gespräche geführt. Mir jedenfalls sind Herz         rung des Handwerks. Es gibt eine imposante Liste
und Verstand aufgegangen bei diesen Gesprächen,          an Berufsbezeichnungen, aber darüber wird meist
weil sich hier eine Tiefendimension handwerk-            vergessen, dass Handwerk ein weit breiteres Spek-
lichen Tuns erschlossen hat, die aus meiner Sicht        trum hat. Und das Handwerk für die Gesellschaft
sehr wichtig ist in der Zeit der starken Umbrüche,       weit mehr ist, als die Gesellschaft im Bewusstsein
in der wir uns derzeit befinden. Wichtig ist es, an      hat.
die Konstanten zu erinnern – es wird ja häufig ge-       Das sehr wenig entwickelte Bewusstsein der Ge-
sagt, dass das Wissen der Menschheit sich alle fünf      sellschaft hat damit zu tun, dass die Gesellschaft
Jahre erneuere, daran mag vieles wahr sein – an die      sich selten klar macht, was Handwerk existentiell
Konstanten des Menschlichen, die eigentlich ent-         ist. Dies führt uns zu einigen Bemerkungen im Be-
scheidend sind und die sich nicht alle fünf Jahre er-    reich der Anthropologie.
neuern. Sie alle, wie Sie hier sind, haben bestimmte     Fragen wir, was alles handwerklich geschieht,
Dinge, die Ihnen wichtig sind, die Sie durch Ihr         dann begegnen wir zuerst einer Selbstverständlich-
Leben hindurchtragen und die Sie nicht alle fünf         keit, die jedoch kaum jemand als selbstverständlich
Jahre auswechseln wollen.                                begreift – so sehr wird sie von den meisten Men-
                                                         schen übersehen. Die Tätigkeit der Menschen ist
Insofern sind wir jetzt sehr gespannt auf Ihre Aus-      anthropologisch zuerst und überhaupt: Handwerk.
führungen, Herr Prof. Günter. Ich will deshalb ge-       Ich muss erklären, was Anthropologie ist: Das ist
schwind das Rednerpult räumen.                           das Wissen von den Charakteristiken des Men-
                                                         schen, die mehr oder weniger konstant bleiben, seit
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!                           es Menschen gibt. Dies sind erstens unsere Konsti-
                                                         tution und zweitens elementare Verhaltensweisen.
                                                         Wir sind zwischen 160 bis 190 cm groß. Unsere
                                                         Schritte sind nicht länger als ein Meter. Selbst die
                                                         Weltrekorde im Sport haben ihre Grenzen. Unser
                                                         Körper funktioniert mehr oder weniger seit Jahr-

                                                                                                                7
hunderten im Wesentlichen mit Konstanten. Viel          dem eigenen Körper entwickeln. Es ist äußerst
    Wichtiges bleibt gleich. Alle Varianten, die es – in-   spannend, dies bei Kindern und bei Jugendlichen
    dividuell oder historisch geprägt – gibt, bewegen       zu beobachten.
    sich in einem anthropologisch festgelegten Rah-
    men.                                                    Bereits hier wird eine Menge programmiert. Die
                                                            Hand können wir entdecken und lesen als ein
    Das aufwachsende Kind lernt, mit den Händen             immenses Programm. Man spricht ja auch von
    zu greifen – und damit zu begreifen. Es ist ein be-     Handfertigkeit und von Fingerfertigkeit. Dieses
    zeichnendes Wort, das semantisch die Ganzheit           menschliche Programm gibt es schon lange vor
    von Hand und Kopf ausdrückt. Es lernt Schritt           dem Programm in der Digitalisierung. Es übertrifft
    für Schritt, die Fähigkeiten seines Körpers zu ent-     fast alle digitalen Programme.
    wickeln. Der Kern ist das Werk seiner Hände. Wir
    dürfen dies bereits als Handwerk ansehen. Hand-         Die digitalisierten Programme werden in der Regel
    werk – das ist zunächst und fundamental – die Tä-       nur bewundert, weil wir unsere erste Programm-
    tigkeit der Hände.                                      Ebene, den Körper, als Selbstverständlichkeit ein-
                                                            schätzen und daher meist viel zu gering bewerten
    Darin wird alles gebraucht und im Prinzip ge-           – daher erscheint dann das digitale Programm als
    macht, was auch ein erwachsener und ausgelernter        etwas Fremdes, Neues, Exotisches, Staunenswer-
    Handwerker mit seiner Meisterschaft benutzt – auf       tes, auch weithin nicht Sichtbares.
    einem dann erheblich höheren Niveau.
                                                            Handwerk und Werkzeuge
    Das Kind lernt, mit Dingen umzugehen, sie zu be-
    nutzen, Dinge anzufertigen, mit einem Karren zu         Nach dem Körper gibt es eine zweite Ebene: Werk-
    gehen, mit einem Roller und einem Fahrrad zu fah-       zeuge. Mit ihrer Hilfe verlängern und verstärken
    ren. Dies alles ist von seiner Grundanlage her und      wir die Fähigkeiten unseres Körpers. Zum Beispiel
    damit in seiner Struktur: Handwerk. Zum Auf-            kann man den natürlichen Arm länger ausgreifen
    wachsen des Kindes gehört das Basteln. In vielerlei     lassen: mit einer Stange oder einer Leine oder ei-
    Spielen basteln Kinder in der einen und anderen         nem Netz. Jeder von uns besitzt Werkzeuge: Auf
    Weise. Sie stellen Konstruktionen her, schaffen sich    dem Esstisch benutzt er ein Schneide-Werkzeug
    Gegenstände und Räume.                                  wie das Messer. Im Keller hat er oft eine Säge. Häu-
                                                            fig benutzt wird der Hammer. In jedem dieser und
    Das Handwerk ist uns Menschen also anthropolo-          vieler weiterer Werkzeuge steckt ein Programm.
    gisch tiefgreifend inhärent.                            Meist kennen wir es schon aus unserer frühen
                                                            Kindheit. Ein erheblicher Teil unserer Intelligenz
    Daraus entstehen für uns heute allerdings vie-          besteht darin, mit Werkzeugen zu operieren.
    le Fragen. Was fangen wir mit diesen Tatsachen
    an? Bagatellisieren wir sie in der Erziehung? Was       Manche Leute kommen sehr weit damit. Dann
    macht die Schule daraus? Was geschieht damit im         spricht man von Geschicklichkeit. Und man darf
    späteren Leben? Lernen wir, die darin steckenden        sie bereits – vor einer Berufsbezeichnung – als gute
    Werte zu schätzen? Welche Wertschätzung bringt          Handwerker bezeichnen.
    die Gesellschaft der Tätigkeit des Handwerks im
    umfassenden Sinn entgegen? Lernen wir, diese            Die eigentümliche Intelligenz des
    Werte weiter zu entwickeln? Machen wir etwas da-
                                                            Handwerks
    raus? Und was?
                                                            Handwerk ist also eine grundlegende Fähigkeit
    Handwerk und Körper                                     jedes Menschen. Es gibt niemanden, der sie nicht
                                                            besitzt.
    Handwerk war jahrtausendelang die normale Wei-
    se des Anfertigens von Geräten, Möbeln, Werkzeu-        Wir neigen dazu, das selbstverständlich Erschei-
    gen, Konstruktionen, Bauten.                            nende zu übersehen. Aber eine anthropologische
                                                            Tatsache ist: Unser Körper hat phantastische Fä-
    Handwerk beruht auf Techniken. Die ursprüngli-          higkeiten. Dabei ist vieles im Spiel, das ich hier nur
    che Bedeutung des Wortes „Techne“ heißt: die List.      andeuten kann.
    Die List, etwas anzufertigen. Es ist nämlich nicht
    ganz einfach, mit manchen Dingen umzugehen              Der Körper hat eine wunderbare Komplexität der
    und manche Dinge zusammenzusetzen.                      Intelligenz entwickelt, die von vielen Wissenschaf-
    Die erste Ebene der Listigkeit, d. h. der Technik,      ten leider übersehen wird. Überhaupt müssen wir
    sind die handwerklichen Fähigkeiten, die wir mit        alle Wissenschaftsmethodiken befragen, ob sie

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sich klar machen, wo sie reduktiv, also nur einge-   wieder ernst nehmen: Wir können darin ihre be-
schränkt, denken.                                    sonderen Intelligenzen erkennen. Und wir können
                                                     sie erneut in die Bereiche aufnehmen, in denen in
Die komplexe Fähigkeit des Körpers in ihrer Anth-    Institutionen gelernt wird.
ropologie des Handwerks begreift meist in Zusam-
menhängen – also ganzheitlich zusammenwirkend        Auf dieser Grundlage kommen wir dann auch zu
– kognitiv, emotional, intuitiv und ausprobierend,   einer weitaus besseren Bewertung des Handwerks.
also als Experiment, in Wechselspielen, rückkop-     Wir können erkennen: Das Handwerk ist die
pelnd. Es denkt im umfassenden Sinn nicht nur        Grundlage eines entwickelten menschlichen Le-
der Kopf, sondern auch der ganze Körper. Joseph      bens. Wer dies an sich selbst zu schätzen lernt, wird
Beuys hat dies einmal mit einem knappen Satz         auch das Handwerk schätzen und ihm den Platz in
großartig auf den Punkt gebracht: Auch mein Knie     der Gesellschaft geben, der ihm gebührt – aus der
denkt. Wir hören dazu nachher noch einiges mehr.     Sache heraus.

Vor und nach dem Computer:                           Die Vermehrung der Kraft
Handwerks-Intelligenz
                                                     In vorindustrieller Zeit versuchten Menschen
Fragen wir: Hat der Computer dies alles abge-        häufig, neben der Steigerung ihrer vielfältigen
schafft? Es gibt grundsätzliche Missverständnisse    Intelligenzen die Möglichkeiten ihrer Kraft zu
zur Einschätzung und Einordnung des Computers.       vergrößern. Dies war mit dem eigenen Körper an-
Aber wir müssten nach nun über 20 Jahren seiner      thropologisch begrenzt. Daher wurde seit Jahrhun-
Verbreitung die Zeit langsam hinter uns haben, wo    derten die Kraft von Tieren hinzu genommen. Och-
wir dieses hoch rationelle Gerät so anschauen wie    sen zogen den Pflug oder einen Wagen. Zugpferde
Leute in der Steinzeit einen Medizinmann.            kamen erst spät hinzu. Nachdem wir schon lange
                                                     nur noch selten die Kräfte von Tieren benutzen,
Zweifellos hat der Computer sehr wichtige Fähig-     sprechen wir „Pferdekraft“ – als Maßeinheit für die
keiten. Aber diese sind keineswegs alles. Es gibt    Energie von Verbrennungsmotoren.
weitere Fähigkeiten: vor, neben und nach dem
Computer.                                            Die Industrialisierung beginnt einem entschei-
                                                     denden Schritt: Menschen versuchen, der Natur
Die Hand ist das kostbarste Werkzeug des Men-        Kraft abzugewinnen. Das grundlegende Prinzip
schen. Sie hat eine eigene Intelligenz.              kannten sie schon lange und nutzten es vielfältig.
                                                     Schon früh leiteten sie Wasser auf ein Mühlrad.
Jemand, der bastelt, spricht vom Fummeln. Dies       Die Schwerkraft, die der Materie inne wohnt, das
bedeutet, etwas hin und her zu probieren – es ist    heißt, die Magnet-Wirkung der Erde, wurde listig
also ein Experiment. Mit Intuition, mit Überlegun-   als Kraft genutzt, um mit ihrer Hilfe das Mühlrad
gen in Hypothesen, mit Hin- und Herdenken und        zu bewegen.
ausprobierend sich zu bewegen. Es ist ein Wech-
selspiel von Induktion und Deduktion. Das Hand-      Hinzu kam die List, mit Feuer Kraft zu erzeugen.
Werk hat also seine eigene Art der Intelligenz.      Man konnte damit Wasser in Dampf verwandeln –
                                                     dies führte zur Maschine, in der diese Dampfkraft
Ein einfaches Beispiel mag diesen Prozess zeigen.    Bewegung erzeugte.
Stellen wir uns vor, was wir tun können, wenn        Ein Schritt weiter: Die Nutzung des Magnetismus.
ein Schlüssel klemmt. Im Alltag geschieht dies       Mit dem Dynamo wird Elektrizität gewonnen.
viele Male. Die einen fummeln mit Schlüssel und
Schloss. Die anderen holen den Schlüsseldienst.      Die Industrialisierung wurde auch durch Organi-
Wer seine eigenen Fähigkeiten zu wenig entwi-        sation der Menschen weitergetrieben: durch Ar-
ckelt, muss eine Menge für andere zahlen – und das   beitsteilung – bis hin zur Fließband-Fertigung.
ist in diesem Fall nicht besonders angenehm.
                                                     Daraus entstand schließlich die Automatisierung.
Wenn wir junge Menschen entwickeln wollen,
müssen wir die körperlichen Fähigkeiten wieder       Handwerk in der Industrialisierung
ernst nehmen. Sie wurden in den letzten Jahrzehn-
ten unglaublich abgewertet, sogar niedergemacht.     Jetzt muss man, wenn man am Handwerk inter-
Ihre Potentiale werden übersehen. Damit machte       essiert ist, keinen Schrecken bekommen. Denn im
sich die Gesellschaft in erheblichem Umfang im       Prinzip stammt die gesamte Industrialisierung
Grunde zu Behinderten. Wenn wir die Fähigkei-        erstens aus dem Handwerk. Und zweitens ist das
ten des Körpers entwickeln wollen, müssen wir sie    Handwerk heute noch in der Industrialisierung

                                                                                                             9
enthalten – allerdings nicht in diesem Umfang und       aber Zivilisiertheit besteht darin, diese untere Ebe-
     in teilweise anderen Zusammenhängen. Es wird            ne zu überwinden.
     auch nur ein Teil der Handarbeit ersetzt durch
     Maschinenarbeit. Dies wird im Folgenden näher           Was geschah? Wer es am weitesten gebracht hat-
     erklärt.                                                te, wollte sich in der Wertschätzung von seinen
                                                             Kollegen absetzen: So erklärte sich eine Minder-
     Der folgenreiche Irrtum                                 heit zu Künstlern. Sie schied aus den Zünften aus
                                                             und bildete ihre eigene Institution, die Akademie.
     In der Oberflächlichkeit, die der Zeitgeist meist be-   Dadurch wurde – auch für die folgenden Jahrhun-
     sitzt, unterlaufen ihm Irrtümer, die oft weitreichen-   derte – eine Rangstufung in Gang gesetzt, die das
     de Folgen haben. Es ist ein Irrtum von über 100         Handwerk im gesellschaftlichen Ansehen abquali-
     Jahren, zu glauben, alles Handwerk sei durch Ma-        fizierte – bis heute. Es gibt bislang keine Ansätze,
     schinen ersetzbar bzw. bereits ersetzt. Der Irrtum      dies aufzuarbeiten – es wäre aber sehr wichtig, dies
     setzt an in Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit:       offen zu diskutieren.
     Viele Menschen möchten ihn glauben. Aber die
     Wirklichkeit ist nicht so.                              Dazu gab es eine Steigerung: Ein geradezu aggres-
                                                             sives Absetzen von Künstlern gegenüber Hand-
     Dieser Irrtum bildete den Kern der Abwertung des        werkern entwickelte sich im späten 19. Jahrhun-
     Handwerks in der Gesellschaft und in der Bildung.       dert: vor allem in den Kunstakademien und in der
                                                             Kunstgeschichte. Dies wurde dann als Ideologie in
     Handwerk und Kunst                                      die Schulen hineingetragen.

     Das Handwerk hat die Jahrtausende bestimmt.             Daraufhin entstand eine Gegenbewegung, die die
     Wir bewundern es in vielen Epochen. Unzählige           Spaltung aufheben wollte. Sie wurde bezeichnet
     Museen zeigen Spuren davon. Hoch entwickeltes           mit dem Stichwort Handwerks-Kunst.
     etruskisches Handwerk – in toskanischen Museen.
     Daraus hervorgehend römisches Handwerk – in             Es gehörte zu den pluralistischen Wegen des Zeit-
     Köln und Xanten. Auf ihm basiert mittelalterliches      alters, dass auch gegen die Handwerks-Kunst eine
     Handwerk. Es erreicht im 16. Jahrhundert in vielen      Gegenbewegung entstand: Sie wollte mit Kunst
     Bereichen eine Blüte, die uns in Erstaunen setzen       überhaupt nichts zu tun haben. Diese Bewegung
     kann. Florenz war im 15./16. Jahrhundert Metropo-       hatte großen Einfluss.
     le des Handwerks – für die ganze Welt. Hier gab
     es mehr Handwerker als irgendwo anders in der           Es trennte sich also nicht nur die Kunst vom Hand-
     Welt.                                                   werk, sondern weithin trennte sich auch das Hand-
                                                             werk von der Kunst.
     Jahrhunderte lang wurde gesehen und positiv be-
     wertet, dass im Handwerk Kunst steckt. In den gro-      Wenn wir heute über Handwerk, Kunst und Kunst
     ßen Kathedralen Europas spielten Handwerk und           in der Schule sprechen, müssen wir uns klar ma-
     Kunst integriert zusammen. Deutsches Handwerk           chen, dass das, was wir gegenwärtig als Situation
     wurde in aller Welt bewundert: vor allem in der         vorfinden, voller Irrtümer ist. Vor allem getränkt
     Mechanik und im Umgang mit Eisen.                       von Ideologien.

     In der Toskana gab es für das hoch entwickelte
     Handwerk und für die Kunst dasselbe Wort: arte.
                                                             Industrialisierung
     Dies zeigt einen tiefgreifend angelegten Zusam-
     menhang, über den wir neu nachdenken müssen.            Im Industrieprodukt steckt Handwerk

     Die Spaltung von Handwerk und Kunst                     Wenn wir ein glatt poliertes Stück in die Hände be-
                                                             kommen, mag man denken: das ist alles Industrie,
     In Florenz führten die breiten Höchstleistungen im      aber kein Handwerk. Das stimmt so nicht.
     Handwerk in der Mitte des 16. Jahrhundert aller-
     dings zu einer zweischneidigen folgenschweren           Es war das Handwerk, das dem Stück weithin das
     Entwicklung – aufgrund eines banalen psychologi-        gegeben hat, was es auszeichnet. Das erste Stück
     schen Antriebs: aus Neid und Hochmut. Der Ge-           war nämlich das Modell – und dies war pures
     schichtsanalytiker Machiavelli beschreibt dies am       Handwerk. Selbst wenn es dann im Computer ge-
     Beispiel des gesellschaftlich-politischen Lebens.       zeichnet wurde, war es immer noch Handwerk. Es
     Man mag es für menschlich verständlich halten,          folgte also die Industrie dem Handwerk.

10
Industrie ist die pure Vervielfältigung eines hand-   Viertens: Auch in Wartung und Pflege steckt viel
werklichen Modells. Industrie konnte Millionen        Handwerksarbeit.
Kopien herstellen.
                                                      Handwerk und Digitalisierung
So war die Industrie die Folge der Massengesell-
schaft. Viele Menschen wollen bestimmte Produkte      Schließlich beinhaltet jede Art von Arbeit einiges
haben. Und zudem gibt diesen Menschen ein Ge-         an Handwerk. Auch der Umgang mit den digitalen
schäftsgeist ein, sie zu einem möglichst niedrigen    Apparaten.
Preis zu bekommen. Dies kann nur durch eine Ra-
tionalisierung geschehen, die durch diese maschi-     Wie der Tischler jahrtausendelang eine Vorstellung
nelle Vervielfältigung zustande kommt.                vom Tisch mit seinen Fertigungsphasen entwickelt
                                                      hatte, also ein Programm in seinem Kopf, bevor er
Halten wir den Grundgedanken fest: Viele Men-         dann das Holz und das Werkzeug anfasste, so ent-
schen bekommen auch von Fabriken das geliefert,       wickelt der digitale Programmierer und auch der
was das Modell beinhaltete: Handwerk. Handwerk        Anwender von Programmen ein Programm – und
und Industrie sind zwei Gedanken, die auch be-        bewegt dann seine Finger auf einer Tastatur.
reichsweise zusammengehören. Aber leider wird
in der Menschheit häufig der erste Gedanke ver-       Hier ist ein Teil des Handwerks immer noch an-
gessen. Oder unterschlagen. Solange es Menschen       wesend. Allerdings ist die Bewegung des Körpers
gibt, gibt es Handwerk. Und seine Vervielfältigung.   minimiert. Die Tätigkeit der Hand ist zum Tippen
                                                      reduziert. Er sitzt lange Zeit auf seinem Stuhl. Die
Überlagerung                                          umfangreiche Körperlichkeit des Handwerkers ist
                                                      hier erheblich zusammengeschrumpft. Dabei ent-
Die Industrialisierung breitete sich schrittweise     steht Gefahr für die Gesundheit.
aus. Aber auch viel Handwerksarbeit ist geblieben.
Handwerk und Industrie überlagerten sich lange        Heimwerker
Zeiten sehr deutlich – und, wenn man genau zu
beobachten weiß, bis heute.                           Der Heimwerker macht nichts anderes als den
                                                      Handwerker nachzuspielen. Seine Gründe sind
Handwerksbereiche in der Industrie                    einfach. Meist muss oder will er sparen. Er sagt, es
                                                      lohnt nicht, für einen kleinen Vorgang eine Firma
Wenn wir die Industrie überschauen, stecken in ihr    kommen zu lassen. Etwa zum Ersetzen einer Glüh-
mehrere Handwerksbereiche.                            birne.

Erstens: Das Fertigen von Musterstücken. Sie wer-     Der Hausmeister, etwa in Schulen oder Rathäu-
den vervielfältigt durch Maschinenarbeit.             sern, ist ein Mann, dem man zutraut, dass er meh-
                                                      rere Handwerke versteht.
Zweitens: Das Fertigen von Anlagen. Meist wird        Es gibt auch Menschen, denen man nachsagt, sie
übersehen, auch von der Wirtschafts- und Technik-     könnten keinen Nagel in die Wand schlagen. Viele
geschichte, wie umfangreich der Anlagenbau ist,       davon bewundern die Geschicklichkeit eines hand-
der dieses Land bedeutend machte. Anlagen sind        werklich begabten und tätigen Nachbarn.
immer in Grundzügen individuelle Produktionen.
Darin werden zwar Teile verwandt, die aus Serien
stammen, aber man muss dabei eine ganze Menge
                                                      Deutscher Werkbund
neu denken und neu zusammensetzen. In meiner
Heimatstadt Oberhausen war der Anlagenbau mit         Handwerk und Werkbund
vielen Metallhandwerkern so bedeutend wie das
Fördern von Kohle und die Produktion von Eisen        In einer bestimmten Phase dessen, was wir Indus-
und Stahl.                                            trie-Epoche nennen, wurde der Deutsche Werk-
                                                      bund gegründet – kurz nach 1900.
Die Intelligenz, die im Anlagenbau notwendig ist,
wird grotesk unterschätzt. Wird sie nicht auch in     Er entstand aus dem Handwerk. Das in ihm lei-
der Ausbildung unterschätzt? Das ist eine Frage,      tende Handwerk war zunächst die Möbeltisch-
auf die ich keine Antwort geben will. Aber sie soll   lerei. Diese hatte in ihren besten Produkten den
anregen?                                              Anspruch, Räume als Ganzes auszugestalten: vor-
                                                      nehm, elegant, stimmig. So kam der Tischler dazu,
Der dritte Handwerksbereich wird gern übersehen:      auch als Architekt zu wirken. Und umgekehrt der
der umfangreiche Bereich des Reparierens.

                                                                                                             11
Architekt als Tischler. Es entstanden hoch entwi-          Sein erstes Grundprinzip hieß Entwicklung. Das
     ckelte Produktionen.                                       Stichwort dafür lautete „Veredelung“. Dies be-
                                                                zeichnete auch Bildung.
     Aber Werkbund-Leute wollten nicht nur für ein
     wohlhabendes Publikum etwas Gutes entwickeln,              Das zweite Grundprinzip hieß: Synthese. Es war
     sondern zugleich auch für jedermann – und im               der Versuch des Zusammenführens vieler Strö-
     normalen Leben. Dies kam aus einem demokra-                mungen: Handwerk, Industrie, Kunst, Luxus und
     tischen Gedanken. Er war schon lange im Wesen              Soziales.
     der europäischen Städte verankert. Diese spielten
     eine grundlegende Rolle für die Entwicklung der            Die große Werkbund-Ausstellung 1914 in Köln ge-
     Demokratie.                                                riet zu einer Weltausstellung im Bereich der Gestal-
                                                                tung. Und sie trug den bezeichnenden Untertitel
     Entwicklung und Krise                                      „Kunst in Handwerk, Industrie und Handel“1.

     Die Industrie-Epoche, deren Beginn wir um 1800             Die Veredelung
     ansetzen, bedeutet ständige Entwicklung. Entwick-
     lung ist stets eine produktive Krise: darin soll Wei-      Das Handwerk, das durch die Industrialisierung in
     teres entstehen.                                           große Gefahr geriet, sollte und wollte durch eine
                                                                Steigerung seiner Fähigkeiten überleben.
     In diesem Prozess liegt in der Industrie-Epoche
     häufig eine Ambivalenz: die Tendenz, Vorhan-               In der gleichen Zeit entstand aber auch das Inter-
     denes zurück zu lassen. Es wegzuwerfen. Dieses             esse, Industrieprodukte, die als Ramsch angesehen
     Problem überflutet uns heute wie ein Tsunami. Die          wurden, zu veredeln.
     meisten Menschen wissen wenig über das, was in
     diesem Entwicklungsprozess wirksam ist. Daher              Werkbund-Handwerker holten sich einen alten
     unterschätzen oder überschätzen sie ständig vieles.        Verbündeten zurück: Künstler. Am Anfang des
                                                                Werkbunds steht also der Zusammenhang zwi-
     In der Industrie-Epoche ist nicht nur das Hand-            schen Handwerk und Kunst. Man nennt dies bis
     werk, sondern auch die Industrie ständig in der Kri-       heute „angewandte Künste“.
     se. Dieser Krise ist das Wachsen und Schrumpfen
     immanent. Handwerk reduzierte sich. Aber auch              Rasch aber kam die Frage nach der Industrie hinzu.
     Industriezweige reduzieren sich ständig. Zugleich          Vor allem durch Peter Behrens. Er wurde einige
     aber verlagert sich und weitet sich Handwerk aus           Monate vor der Werkbundgründung 1907 als Chef-
     und ebenso die Industrie. Dies wird manchmal               Entwerfer in die damalige Zukunftsindustrie, die
     schweigend erlebt und hingenommen, manchmal                Elektrizität, berufen – und zwar in den Weltkon-
     aber auch laut diskutiert.                                 zern AEG.

     Aus einer solchen lauten, teilweise heftigen Dis-          Der Werkbund entwickelte sich nun als ein Feld
     kussion entstand 1907 der Deutsche Werkbund.               der Diskussion von Handwerk – Industrie – Kunst,
     Er versuchte, das bedrohte Handwerk zu retten –            als ein Forum, das diese Diskussion produktiv zu
     durch Weiterbildung und Qualifikation zu retten.           führen versuchte.

     Werkbund im Schnittpunkt von Handwerk                      Es war nicht allein die Industrie, die für allerlei
                                                                Entwicklungen die Impulse gab, sondern überall
     und Industrie
                                                                gab es Entwicklungsimpulse. Auch im Handwerk.
     Der Werkbund entstand am dramatischen Schnitt-             Auch in den Künsten.
     punkt von Handwerk und Industrie. Die Werk-
     bund-Gründer waren im wesentlichen Tischler                Dies geschah von 1895 bis 1914 in solchem Umfang,
     und Entwerfer, die Möbel herstellten. Ihre beste           in solcher Vielfalt und mit solchem Tempo, wie es
     Tätigkeit bestand in kompletten Raumausstattun-            dies bislang in der Geschichte nie gegeben hatte.
     gen. Sie gründeten den Werkbund als eine kultu-
     relle Bewegung. Ich kann hier nicht das Bündel an
     Fäden zeigen, was dazu führte.

     Umfangreich publiziert: Die Werkbundausstellung in Cöln a. Rh. In: Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1915.
     1

     München 1915.

12
Das Bauhaus                                                     sich durch die Wirren der gefühlten Dekadenz des
                                                                Kaiserreiches, des Krieges, des Verlustes des Krie-
                                                                ges und der unruhigen Zwischenkriegsjahre – als
Die Euphorie                                                    eine ständige Aufforderung, individuelles und
                                                                gesellschaftliches Leben positiv und produktiv zu
In die Werkbund-Entwicklung hinein platzte 1914                 gestalten. Darin steckte zugleich der Alltag und zu-
fast über Nacht der große Krieg mit seinen gewal-               gleich viel Spiritualität.
tigen Erschütterungen. Die Demokratie wurde offi-
zialisiert und breitete sich bereichsweise aus. Dies            Walter Gropius stellte sich das Bauhaus vor wie
schuf Freiheiten – für Richtiges und Falsches.                  eine Kathedrale. Der berühmte Holzschnitt vom
                                                                Bauhaus-Meister Lyonel Feininger drückt dies
Die 1920er Jahre waren arm. Aber es gab Men-                    aus4. Es sollte nun auch eine Kathedrale des Sozi-
schen, die Geist hatten, gut arbeiteten, findig wa-             alen werden – der Gesellschaftlichkeit, an der alle
ren. Der Schwabe sagte: Tiftler. So entstand trotz              arbeiten.
der Katastrophe, die das Land weiterhin begleitete,
ein Jahrzehnt des Aufstiegs.                                    Auf einen Nenner gebracht, hieß dies: Lernen muss
                                                                existentiell betrieben werden. Lernen ist mehr als
Der Gestalter Ferdinand Kramer, den ich im Alter                Wissen. Lernen ist umfassende Bildung und Leben
noch kennenlernte, sagte mir (sinngemäß): Trotz                 als Persönlichkeit.
oder gerade wegen des verlorenen Krieges gab es                 Johannes Itten ist der entscheidende Impulsgeber
einen ungeheuren Optimismus, dass man nun ent-                  für das Lernverfahren – vor allem für die Komple-
wickeln könne. Wir hatten 1920 nichts als unsere                xität des Gestaltens.
Militärmäntel, wärmten unsere kalten Hände am
Kanonenofen, waren arm wie die Kirchmäuse, aber                 Realisierung der Werkbund-Idee
wir schauten nach vorn.
                                                                Walter Gropius sagt: Das Bauhaus ist die Realisie-
Paul Klee war im Frühjahr 1919 Mitglied des Rates               rung der Werkbund-Idee. Tatsächlich steckt dar-
bildender Künstler und im Aktionsausschuss der                  in die Vielseitigkeit des Werkbunds. Und wie im
Revolutionären Künstler Münchens. 1919 schrieb                  Werkbund die Unterschiedlichkeit der Personen.
er: „Wir würden die Ergebnisse unserer Erfinder-                Es war die ungeheure Leistung von Gropius, die
tätigkeit dem Volkskörper zuleiten können. Diese                Vielzahl der emanzipierten, aber auch divergie-
neue Kunst könnte dann ins Handwerk eindringen                  renden und komplizierten Personen zusammen zu
und eine große Blüte hervorbringen. Denn Aka-                   halten. Ähnlich wie im Werkbund, in dem Gropius
demien gäbe es nicht mehr, nur Kunstschulen für                 zeitweilig im Vorstand ist.
Handwerker.“ 2
Aus einem solchen euphorischen Geist gründete                   Natürlich ist dies im Bauhaus mit vielen Konflikten
Walter Gropius in Weimar das Bauhaus 3.                         verbunden. Nur ein Teil davon ist produktiv. Über-
                                                                gehen wir hier den internen Streit und schauen wir,
Er hob im Gründungsmanifest im April 1919 her-                  was produktiv war.
vor: „Handwerkliches Können.“ Und flammend
schrieb er darin weiter: „Architekten, Bildhauer,               Georg Kerschensteiner: Arbeits-Schule
Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück.“
                                                                Das Bauhaus fiel nicht vom Himmel, sondern geht
Existentielles Lernen                                           nahtlos aus den vorhandenen Reformgedanken
                                                                hervor, vor allem des Werkbunds.
Das Bauhaus nimmt entscheidende Impulse aus
der sehr breiten und pluralen Bewegung der Le-                  Basis ist das Handwerk. Das Handwerk in Werk-
bensreform auf, die kurz vor 1900 startet. Sie zieht            stätten. Den größten Einfluss zu dieser Orientie-

2
 Nach der Zerschlagung der Räterepublik Bayern flüchtet er in die Schweiz.
3
 Walter Gropius kommt 1915/1916 in die engere Wahl für die Nachfolge von Henry van de Velde für die Leitung der
Kunstgewerbeschule in Weimar. Er verfasst eine Denkschrift zur Neuorganisation. Kerngedanke: eine Werkgemeinschaft
„von Architekten, Bildhauer und Handwerker aller Grade“ – nach dem Vorbild der mittelalterlichen Bauhütten.
4
 Feiningers Kathedrale und Gropius Manifest – eine Einheit. 1919 schreibt Feininger seiner Frau Julia: „Gropius sieht das
Handwerk – ich den Geist – in der Kunst.“ Die Dominanz des Handwerks wurde misstrauisch gesehen von Bruno Taut
(zu wenig utopisch) und Adolf Behne (zu unpolitisch).
5
 Georg Kerschensteiner, Die Schule der Zukunft eine Arbeitsschule. 27 f. – Georg Kerschensteiner, Der Begriff der Ar-
beitsschule. 1912. Marie Kerschensteiner, Georg Kerschensteiner. Der Lebensweg eines Schulreformers. München 1954.

                                                                                                                            13
rung hat der Pädagoge Georg Kerschensteiner               bildung.“ „Die Schule ist die Dienerin der Werk-
     (1854-1932). Er war seit 1895 Stadtschulrat in Mün-       statt, sie wird eines Tages in ihr aufgehen.“
     chen, Mitglied im Werkbund, 1912 bis 1919 Reichs-
     tagsabgeordneter für die Fortschrittliche Volkspar-       Mit diesem Programm gründet er eine Anzahl
     tei (später Deutsche Demokratische Partei), 1920          Werkstätten: Weberei. Keramik. Buchbinderei. Me-
     Professor.                                                tall. Holz. Hinzu kommen später weitere.

     Er kritisierte, dass in seinen Berufsschulen in viel      Der Vorkurs
     zu großen Klassen, jeweils 90 Schüler im Frontal-
     unterricht, zuhören mussten, wie ihnen jemand             In Wien erprobt zwischen 1917 und 1919 der
     etwas zum Handwerk erzählt. Er sagte: So kann             Schweizer Johannes Itten in seiner eigenen Kunst-
     man nicht lernen. Handwerk muss man tun. Je-              schule Methoden zu einem Vorkurs. 1919 wird er
     der muss die Dinge anfassen und damit arbeiten            ans Bauhaus berufen. Es etabliert Ittens Vorkurs
     können. „Das Wesen des Menschen um diese Zeit             1920 für alle Anfänger als Pflichtkurs.
     [in diesem Alter] ist Arbeiten, Schaffen, Wirken,
     Probieren, Erfahren, Erleben, um ohne Unterlass           Der Kerngedanke: Umfassende Grundlagen zu bil-
     im Medium der Wirklichkeit zu lehren.“5 Es geht           den. Vergleichen wir dies bitte mit dem gegenwär-
     sowohl um manuelle wie geistige Arbeit. Echte             tigen Bildungssystem.
     Bildung muss zugleich sein: Charakterbildung, Be-
     rufserziehung und Erziehung zum Staatsbürger d.           Johannes Itten6 wurde zwar durch das Bauhaus
     h. gesellschaftliche Erziehung.                           weltberühmt, aber er ist in seiner Pädagogik gro-
                                                               tesk unterschätzt. Die Rezipienten haben sich im-
     Und so entwickelte er ein Reformkonzept: Den Un-          merzu mit etlichem beschäftigt, woran man auch
     terricht in Werkstätten – die „Arbeitsschule“. Viel       seinerzeit Anstoß nahm, an seinen Interessen an
     davon ging in die Berufsschule ein. Und der Werk-         östlicher Philosophie, am persischen Mazdaismus,
     bund übernimmt diese Praxisnähe.                          am Urchistentum. Das Manko dieser Wahrneh-
                                                               mung ist bis heute, dass dies nicht diskutiert und
     Diese Vorstellung herrscht auch deshalb, weil in          damit ernst genommen wurde. Man kann aber
     dieser Zeit viele Werkbundmitglieder, die später          auch davon absehen und den Wesenskern seiner
     berühmte Leute wurden, Autodidakten sind. Mit             tätigen Erkenntnis ernst nehmen.
     Stolz nennt sich Peter Behrens „Autodidakt“. Dies
     bedeutet damals, dass er in einer neuen Weise lern-       Haltung
     te – in der Praxis. Walter Gropius hat sein Studium
     nicht beendet. Er kommt aus der Praxis.                   Was kann man von ihm lernen? Erstens, dass man
                                                               für sein Leben und folglich auch für seinen Beruf
     Dies spiegelt zugleich die Unzufriedenheit mit            eine Haltung haben muss. Dies ist nicht immer in
     dem akademischen Lehrgebäude.                             die Wiege gelegt, sondern daran muss man arbei-
                                                               ten. Dafür gibt es neuere Stichworte wie Einstellung
     Bauhaus - die erste Hochschule aus                        und Motivation. Dies wird häufig in der Pädagogik
                                                               geleugnet oder übersehen – wir wissen inzwischen,
     Werkstätten
                                                               was die Folgen sind.
     Walter Gropius begründet das Bauhaus als die ers-
     te Hochschule auf der Basis von Werkstätten. Es           Natürlich kann darüber viel diskutiert werden –
     ist die erste Hochschule, die sich als Arbeitsschule      dies ist in einer pluralistischen Gesellschaft normal.
     versteht. Es gibt fast ausschließlich Werkstattun-        Aber es ist ein immenses Versäumnis, wenn eine
     terricht. Die jungen Leute arbeiten in einer Anzahl       existentielle Mitte fehlt. Und: es gibt auch in einer
     Werkstätten. Die Vorlesungen zur Theorie, wie sie         pluralistischen Gesellschaft Werte, auf die man
     Klee und Kandinsky geben, sind im Arbeitsstil die         sich einigen kann. Ich möchte sie als unumgänglich
     Ausnahme. Aber beide ordnen sich diszipliniert            bezeichnen.
     ein.
                                                               Psychologie
     Gropius formuliert im Gründungsprogramm: Die
     „unerlässliche Grundlage für alles bildnerische           Zweitens gehören Ittens Erkenntnisse in den Be-
     Schaffen [ist] die gründliche handwerkliche Aus-          reich der Psychologie. Itten machte „Entspan-

     6
      Johannes Itten, Mein Vorkurs am Bauhaus, Gestaltungs- und Formenlehre. Ravensburg 1963. Neu bearbeitet und er-
     gänzt von Anneliese Itten Ravensburg 1975, Abb. S. 10/11 (Darstellung von Kontrasten).

14
nungs-, Atem- und Konzentrationsübungen“. Was                menen. Die Materialien sind ein Kosmos an Phäno-
hier so leicht von der Zunge geht, ist ein zentraler         menen. Itten und seine Schüler betreiben die Phä-
Komplex an Psychologie und Körperlichkeit.                   nomenologie der Materialien. Was kann man alles
                                                             mit Materialien anfangen! Moses Mirkin macht
Eines der Grunddefizite in der Schule ist der häu-           Kontraststudien mit verschiedenen Materialien.
fige Mangel an Konzentrationsfähigkeit. Für alles            Metallteilen. Sägeblatt. Leder. Glas, auf Holz mon-
in der Welt des Berufs braucht man Intensität.               tiert. Ein Spiel mit Konstruktion und Materialien
Dranbleiben – man lernt es bereits im Sport. Das             kann man bei Josef Albers sehen: in seinem Git-
Entspannen heißt bei Itten: Abschütteln von Un-              terbild (um 1921). Darin verarbeitet er: Scherben.
wesentlichem. Es dient der Konzentration. Dies               Draht. Metall. Farbiges Glas.
ist ein Vorgang, in dem Geist und Körper im Zu-
sammenhang tätig sind. Jeder Ausbilder weiß, dass            Daraus entsteht ein zweites Thema: das Recycling.
es seinen Auszubildenden unterschiedlich leicht
oder schwer fällt, an einer Sache dran zu bleiben.           Phänomene und Handwerk
Ich spreche hier auch von Fähigkeiten, die für das
normale Berufsleben wichtig sind.                            Phänomene – das ist etwas weitgehend Individu-
                                                             elles. Am besten aufgehoben im Handwerk. Der
Zur Psychologie gehören auch die Tonwerte. In                Bauhaus-Meister Paul Klee in seiner Vorlesung
den Tonwerten liegen Ausdrucksmöglichkeiten                  1927/1928: „Faktur ist: wenn eine Einheit der in-
psychischer Art7. In ihnen kann sich Gestimmtheit            dividuellen Gliederung zusammenfällt mit einer
deutlich machen – wie der Klang in der Musik.                Handlung der Hand, z. B. zu Stein; … bei uns Bild-
                                                             nern wird es sich in der Regel um eine Manufaktur
Grundlegende Phänomene                                       handeln: um die Spur der kleinen handlichen Ac-
                                                             tionen, um die werkhandliche Entstehungsspur.“
Was Itten unternimmt und was für die Leute, die
später darüber diskutieren, fremd klingt, ist nichts         Ich klammere hier den langen werkbundinternen
anderes, als dass er grundlegende Phänomene ent-             Streit um Individualität und Typisierung für die
deckt und auch systematisiert, die in seiner Zeit            Industrie aus. Er vermengt sich natürlich ständig
und auch in späterer Zeit weitgehend aus dem                 mit der Dimension des Marktes.
Blick verschwunden sind – mit weitreichenden
Folgen.                                                      Materialstudien als experimentelle
                                                             Forschung
Wenn Itten zum Beispiel auf den Atem hinweist,               Grundlage jeden Handwerks ist das Studium
erscheint dies manchen Leuten, die es bagatellisie-          der Materialien. Das Bauhaus betreibt dies in der
ren, lächerlich oder umständlich oder übertrieben.           Ausbildung als Forschung. Und dies in Form des
Tatsächlich aber ist Atem eines der grundsätzlichen          Experimentes: darin untersucht es sowohl die Ei-
Lebensphänomene8. Die großen Dirigenten dirigie-             genschaften von Materialien wie auch die Möglich-
ren mit dem Atem. Zum Beispiel Otto Klemperer.               keiten der Materialien.
Le Corbusier hat in seinem Modulor, den jeder
kennt, etwas Wichtiges ausgelassen: den Atem-                Woher kommt dieses Interesse an Materialien?
Raum. Atem und Raum – damit kann man italieni-               Es hat eine uralte Wurzel – im Handwerk: Immer
sche Raum-Architektur gut erklären.                          schon mussten Handwerker ihre Materialien gut
                                                             kennen. Die Notwendigkeit erhält einen weiteren
Die Lust an den Phänomenen                                   Impuls durch die Industrialisierung: Darin werden
                                                             oft Materialien stärker gestresst als zuvor: durch
Die Bauhaustätigkeit ist bestimmt von der Lust an            Umgang, Größe, Belastungen, vor allem durch
Phänomenen. Phänomene sind sinnliche Erschei-                hohe Rotationsgeschwindigkeiten. So entstand um
nungen. Man muss sich den Blick dafür erarbeiten,            1900 die Materialprüfung.
Phänomene zu entdecken. Johannes Itten entwirft
1920 den „Turm des Feuers“ – mit seinen Phäno-

7
   Johannes Itten, Mein Vorkurs am Bauhaus, Gestaltungs- und Formenlehre. Ravensburg 1963. Neu bearbeitet und er-
gänzt von Anneliese Itten Ravensburg 1975, 17.
8
  Johannes Itten, Mein Vorkurs am Bauhaus, Gestaltungs- und Formenlehre. Ravensburg 1963. Neu bearbeitet und ergänzt
von Anneliese Itten Ravensburg 1975, 8/9.
9
  Beispiel: Takehiko Mizutani: Materialstudie aus dem Vorkurs von Josef Albers. 1928.

                                                                                                                       15
Im Bauhaus untersuchen Studenten und Dozenten                    nicht umgekehrt. Empirie. Man kann sie nur zum
     gemeinsam, was Materialien für die alten und neu-                Teil wissenschaftlich fundieren. Das Handwerk
     en Fertigungsprozesse hergeben können9.                          geht weit darüber hinaus. Die Wissenschaften
                                                                      bleiben oft zurück. Besonders wichtig im Bauhaus:
     Die Untersuchungsaufgaben, die die Studierenden                  Forschen durch geradezu extremes Experimentie-
     erhalten, zielen auf Werkstoffe, auch auf industriell            ren. So ist das Bauhaus eine Experimentierwerk-
     hergestellte. Es sind meist Abfälle von Holz, Bast,              statt. Gropius bezeichnet 1925 die Werkstätten als
     Draht, Blech, Kohle u. a. Die Studenten sollen ihre              „Laboratorien“.
     stofflichen Eigenschaften herausfinden, weiterhin
     die daraus hervorgehenden Verwendungsmög-                        Motivation
     lichkeiten, ferner ihre psychologisch-ästhetischen
     Wirkungen und schließlich ihre Haltbarkeiten.                    Zunächst geht es um das Wecken von Motivatio-
                                                                      nen. Darin ist das Bauhaus großartig10. Es hat vie-
     Beziehungen von Material und Form                                lerlei Methoden dafür, die Neugier zu wecken und
                                                                      zu erhalten.
     Josef Albers formuliert: Zwischen dem Materi-
     al und der Form bestehen Beziehungen. Sie sind                   Welche Resultate?
     jedoch nicht einfach zu gewinnen, sondern nur
     durch ein Studium – sie wollen erschaut werden.                  Zeitweilig ist die Ausbildung im Bauhaus auf Re-
                                                                      sultate orientiert11.
     Frühe Ökologie
                                                                      Dies ist ein ständig mitlaufender Konflikt. Walter
     Schon damals kommt ein Problem hinzu, das in                     Gropius will die handwerkliche Ausbildung auch
     unseren Tagen immer drängender wird: die Ver-                    mit kommerziellen Aufträgen für die Werkstätten
     wertung von Resten. Ökologisches Denken ist auch                 in Verbindung bringen: Diese Produktionen sollen
     die Sparsamkeit im Umgang mit Materialien.                       zur Finanzierung des Bauhauses beitragen.

     Sie impliziert in der Bauhauzeit, dass der größte                Der zweite Leiter des Bauhauses, Hannes Meyer,
     Teil der Bevölkerung kaum Finanz-Ressourcen                      verordnet den Werkstätten höhere Wirtschaftlich-
     besitzt. Die Bauhaus-Hochschule orientiert sich                  keit. Hingegen propagiert der dritte Leiter, Ludwig
     darauf, für diese breiten Massen eine Kultur zu                  Mies van der Rohe, den Verzicht auf Produktion.
     entwickeln.                                                      Er sieht in den Notwendigkeiten der Produktion
                                                                      eine Einengung der Ausbildung. Mies van der
     Heute stellt sich das Problem immer heftiger als                 Rohe sagt, es gäbe eine „unglückliche Verquickung
     gesellschaftliches Problem – wenn wir überleben                  von Schulbetrieb und Produktion“. Dies ist ein of-
     wollen. Ich weise auf die Untersuchungen des                     fenes Problem in den Handwerksausbildungen –
     Wuppertal-Instituts hin.                                         bis heute. Es beschäftigt uns immer noch.

     Methoden                                                         Die Meister-Frage
     Handwerk ist Wissen um Materialien, Formen und                   In der ersten Phase des Bauhauses nennen sich die
     Handhabungen. Das Entdecken wird gefördert,                      Dozenten bewusst „Meister“ und „Jungmeister“.
     wenn man zunächst nutzenfrei denken darf. Dies                   Es gibt „Werkmeister“ und „Formmeister“. Dies
     fördert die Kreativität erheblich. Dazu gehört: Be-              ist eine Demonstration der Zugehörigkeit zum
     obachten lernen. Aus der Praxis Theorie ziehen –                 Handwerk – auch deutlich antiakademisch ge-

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       Als ich 2003 meine Bauhaus-Bibliothek in Eisenheim baute, war mein Schwiegersohn Elmar Lancé arbeitslos. Er war
     als Elektro-Ingenieur ausgebildet, aber damals brauchte man keinen. Wir nahmen ihn aufs Baukonto – dreiviertel Jahre
     lang. Er war tätig in der Ausstattung des Baues. Ich zeigte ihm, wie Bauhaus-Gestaltung angelegt ist. Dabei machte ich
     die Erfahrung: Es ist sehr einfach, das zu lernen, man kann es sehr schnell. Das Bauhaus hätte ihn – den Elektro-Mann,
     der übrigens erst eine Elektriker-Lehre gemacht hatte – sofort genommen. Das Ergebnis kann man sich in der Bauhaus-
     Bibliothek ansehen.
     11
        Dieser Vorkurs richtet sich allein auf den Lernvorgang. Er soll noch keine Kunstwerke schaffen. Dies steht für eine hohe
     Intensität des Studierens, bevor ein Produkt angefertigt wird.
     12
        Zu diesem Thema detailliert: Magdalena Droste, Vom Meister zum Professor. Die Symbolik der Titelfrage am Bauhaus.
     In: Wolfgang Ruppert/Christian Fuhrmeister (Hg.), Zwischen Deutscher Kunst und internationaler Modernität. Formen
     der Künstlerausbildung 1918 bis 1968. O. O. (München) und Jahr (2007), 127/136. .

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meint. Im Bauhaus-Manifest fest heißt es: „ ... nicht      aber das Leere in ihnen wirkt das Wesen des Top-
Lehrer und Schüler im Bauhaus, sondern Meister             fes. Mauern mit Fenstern und Türen bilden das
und Gesellen und Lehrlinge“. Die Konferenz der             Haus, aber das Leere in ihnen erwirkt das Wesen
Dozenten ist der „Meisterrat“. Die meisten Dozen-          des Hauses. Grundsätzlich: Das Stoffliche birgt
ten weigern sich etliche Jahre, den angebotenen            Nutzbarkeit. Das Unstoffliche birgt Wesenheit.“13
Titel „Professor“ anzunehmen. Die Reihe der Do-
zentenwohnungen nennt sich „Meister-Häuser“.               Besonders intensiv hat sich der Bauhaus-Meister
Den Professoren-Titel nimmt nur ein Teil (!) der           Laszlo Moholy-Nagy mit dem Raum befasst14. Vor
Dozenten erst in der zweiten Phase an, 1927, als           allem mit Raum, der sich bewegt. Die Gestaltung
die Bindung an das Handwerk sich durch die Um-             des Raumes führt zu unterschiedlichen Szenerien.
stände abschwächt. Der Student Hubert Hoffmann             Die besondere Qualität der im Bauhaus entwickel-
spricht von der „hohlheit akademischer ... Kunst-          ten Möbel beruht darauf, dass sie weniger Gegen-
auffassung, die es am Bauhaus nicht gebe.“ 1932            stand als vielmehr Raum bilden. Die Bauhaus-Foto-
werden die kleinen Klassen gelobt – und es gäbe            grafie begriff, dass die Bauhaus-Objekte räumliche
keine „verkalkten ... Hochschulprofessoren“ (Hans          Formen sind.
Kessler)12.
                                                           Konstruktion
Erziehungswesen
                                                           Kinder konstruieren endlos mit Klötzen und Stä-
Für das Erziehungswesen gibt das Bauhaus viele             ben. Die Ingenieurtätigkeit des Industriezeitalters
Impulse, vor allem nach 1945. Aber das Erzie-              besteht in großem Umfang aus Konstruktionen.
hungswesen weiß wenig davon, was eigentlich im
Kern darin steckt.                                         Marcel Breuer baut wie ein Installateur seine ersten
                                                           Sessel aus Gas-Rohren15. Es gab sie überall, sie wa-
Und es hat andere Wege genommen – zu seinem                ren billig und sie ließen sich umformen.
Schaden und zum Schaden der Gesellschaft. Dazu
kann man viele Fragen stellen.                             Das Bauhaus versuchte immerzu, Vorhandenes
                                                           durch das Entdecken neuer Möglichkeit und Um-
Grundlegend: räumliche Phänomene                           formen weiter zu entwickeln.

Nach den Materialien sind es besonders die räum-           Es entsteht eine große Lust an Konstruktionen. Am
lichen Phänomene, für deren Entdeckung das Bau-            Zusammenstecken. Am Gleichgewicht.
haus grundlegende Übungen entwickelt, mit de-
nen sich jedermann und besonders Auszubildende             Die Konstruktion hat mit dem Raum zu tun. Räu-
elementare Phänomene klarmachen können. Dies               me werden nicht mehr durch Massen gebildet,
hat für das ganze Leben Bedeutung.                         sondern durch Stabwerke, Gitter und Auskragun-
                                                           gen. Durch Verzicht auf Masse wird die räumliche
Ich erinnere daran, dass viele Kinder, die kein Kör-       Wirkung gesteigert. Eine weitere Steigerung ist das
pergefühl entwickeln, nicht mit Raum umgehen               Gestalten durch Licht.
können. Sie laufen beim Sport in der Turnhalle
schlicht vor die Wand.                                     Darstellung von Kontrasten und
                                                           Spannungen
Zweitens: In der Handwerksausbildung gehört
auch das räumliche Denken zur Grundlage.                   Das Nächste, was intensiv studiert und gestaltet
                                                           wird, sind Unterschiedlichkeiten.
Was ist Raum?
                                                           An Kontrasten ist das Bauhaus besonders interes-
Laotse sagt Kluges dazu: „Dreißig Speichen treffen         siert16 – als Ausdruck einer Zeit, in der es ungeheu-
die Nabe, aber das Leere zwischen ihnen erwirkt            erlich kontrast-explosiv zugeht. Ich erinnere an die
das Wesen des Rades. Aus Ton entstehen Töpfe,              vielen Bauten mit spitzen Ecken.

13
   Johannes Itten, Mein Vorkurs am Bauhaus, Gestaltungs- und Formenlehre. Ravensburg 1963. Neu bearbeitet und er-
gänzt von Anneliese Itten Ravensburg 1975, 13.
14
   L. Moholy-Nagy, Vom Material zum Raum. Bauhausbücher Nr. 14. München 1929. Nachdruck: Mainz 1968.
15
   Marcel Breuer: Clubsessel B 3, zweite Version. 1926.
16
   Johannes Itten, Mein Vorkurs am Bauhaus, Gestaltungs- und Formenlehre. Ravensburg 1963. Neu bearbeitet und er-
gänzt von Anneliese Itten Ravensburg 1975, Abb. S. 10/11 (Darstellung von Kontrasten).

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