Bauhaus und Handwerk neu gesehen Zur Wertigkeit des Handwerks für die Moderne
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Handwerkskammer Düsseldorf Bauhaus und Handwerk neu gesehen Zur Wertigkeit des Handwerks für die Moderne Veranstaltung des Werkbundes NRW und der Handwerkskammer Düsseldorf 15. Juni 2011 in der Handwerkskammer Düsseldorf Information / Dokumentation 5 / 2011
Schriftenreihe: Information/Dokumentation 5/11 Herausgeber: Handwerkskammer Düsseldorf / Kompetenzzentrum Soziale Marktwirtschaft Verantworlich: Dr. Thomas Köster Script und Grafik: Andreas Babel ISSN 0178-7012
Werkbund Bauhaus und Handwerk - neu gesehen Zur Wertigkeit des Handwerks für die Moderne Veranstaltung des Werkbundes NRW und der Handwerkskammer Düsseldorf am 15. Juni 2011 in der Handwerkskammer Düsseldorf mit einem Vortrag von Prof. Dr. Roland Günter Information / Dokumentation 5/11
Inhalt I Geleitwort 5 Einführung von Herrn Dr. Thomas Köster, 6 Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Düsseldorf Ansprache von Herrn Prof. Dr. Roland Günter 7 „Bauhaus und Handwerk – neu gesehen Zur Wertigkeit des Handwerks für die Moderne“ Auflistung der bisherigen Veröffentlichungen 22
Geleitwort Es gibt Veranstaltungen, die besonders spannend sind. Zu dieser Art von Veranstaltungen gehörte das gemeinsam von Handwerkskammer und Werkbund NRW getragene Treffen zum Thema „Bauhaus und Handwerk“ am 15. Juni 2011 in der Handwerkskammer Düsseldorf. In der Veranstal- tung wurde deutlich, dass von der Symbiose zwischen Handwerk und Bauhaus für die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts entscheidende Impulse ausgegangen sind. Wie formulierte Walter Gropius im Programm des Staatlichen Bauhauses in Weimar aus dem Jahre 1919: „Architekten, Maler, Bildhauer sind Handwerker im Ursinn des Wortes, deshalb wird als unerlässliche Grundlage für alles bildnerische Schaffen die gründliche handwerkliche Ausbildung aller Studierenden in Werkstät- ten und auf Probier- und Werkplätzen gefordert.“ Diese Worte von Walter Gropius ordnen dem Handwerk die Wertschät- zung zu, die es nach der festen Überzeugung der Teilnehmer an der hier dokumentierten Veranstaltung tatsächlich verdient. Wir danken Herrn Prof. Günter als dem Vorsitzenden des Werkbundes NRW für seinen wichtigen Beitrag zu unserer Veranstaltung, deren Inhalte wir mit dieser Veröffentlichung einem breiteren Kreis von Interessierten zugänglich machen. Düsseldorf, im September 2011 HANDWERKSKAMMER DÜSSELDORF Prof. Wolfgang Schulhoff Dr. Thomas Köster Präsident Hauptgeschäftsführer 5
Einführung Voraussagen heute einer besonders kräftigen Ge- sundheit erfreut. Es ist erfreulich, sich solche Dinge wieder einmal anzusehen und festzustellen, dass von Herrn Dr. Thomas Köster, selbst kluge Leute heftig irren können. Das gibt dem gesunden Menschenverstand eine Chance. Hauptgeschäftsführer der Handwerkskam- mer Düsseldorf, anlässlich der Veranstal- Da gab es einen weiteren großen Nationalökono- tung des Werkbundes NRW und der men, Joseph Schumpeter, einer der klügsten Leute Handwerkskammer Düsseldorf am 15. Juni mit einem enormen Bildungshintergrund, der hat auch dem Handwerk und dem voll haftenden Ei- 2011 in der Handwerkskammer Düsseldorf gentümerunternehmertum den Tod vorausgesagt. Auch er hat sich geirrt. Sehr geehrter Herr Professor Günter, sehr geehrte Damen und Herren, In der jetzigen Zeit, vor zweieinhalb Jahren ist ein Buch des britisch-amerikanischen Sozio-logen Ri- ich möchte Sie im Namen der Vollversammlung chard Sennett in Deutschland erschienen und zu und der Geschäftsführung der Handwerkskammer einem Bestseller geworden. Es hat den schlichten Düsseldorf recht herzlich begrüßen. Dies ist heute, Titel „Handwerk“. Eine der Hauptthesen dieses wie ich hoffe, der Beginn einer Reihe von Veran- Buches lautet „Handwerk ist, eine Sache um ihrer staltungen hier in der Handwerkskammer Düssel- selbst willen gut machen“. Da kann ich nur sagen, dorf, die von Kontakten zwischen dem Werkbund in dieser Definition findet sich das Handwerk wie- Nordrhein-Westfalen und der Handwerkskammer der, aber nicht nur das Handwerk. Ich glaube, dass als Idee ihren Ausgang genommen haben. Wir sind sich auch die Philosophie des Werkbundes hier der Auffassung, dass es zur geistigen Fundierung wiederfinden kann. unserer Gesellschaft, unserer Kultur und unserer Wirtschaft von Bedeutung ist, dass sich Werkbund Und dann gibt es einen amerikanischen Philoso- und Handwerk stärker zusammentun. phen namens Matthew Crawford, der einen ganz erstaunlichen Lebensweg hinter sich gebracht hat. Für uns im Handwerk ist es wichtig, dass die geis- Er hat ein Buch geschrieben, das sich in Ameri- tigen Ursprünge des Handwerks über die Jahrtau- ka auch auf den Bestseller-Listen befindet, mit sende und Jahrhunderte nicht in Vergessenheit dem schönen Titel: „Ich schraube, also bin ich!“. geraten. Matthew Crawford hat Philosophie studiert, war Professor für Philosophie an einer angesehenen Ich darf kurz feststellen - Sie sind ja hier im Hau- amerikanischen Hochschule, hat sich aber in sei- se des Handwerks - das Handwerk stellt heute ne Zweiradmechanikerwerkstatt zurückgezogen ein Fünftel aller Unternehmen, ein Sechstel aller und ist jetzt ein hoch anerkannter Unternehmer Beschäftigten, ein Drittel aller Lehrlinge und zwei im Bereich Motorräder, die er zu seinem Lebens- Drittel aller gewerblich-technischen Lehrlinge. Das inhalt gemacht hat. Seine Erkenntnisse aus beiden ist eine Sache, die insofern erstaunlich ist, als dem Lebenssphären hat er in diesem Buch verarbeitet. Handwerk in seiner Geschichte ununterbrochen der Untergang vorausgesagt worden ist. Da gilt Ich sage das, um auch deutlich zu machen, dass wir das Wort: „Totgesagte leben länger!“ heute – vielleicht auch als ein Resultat der Wirt- schafts- und Finanzkrise – plötzlich mit der neuen Ich darf vielleicht daran erinnern, Karl Marx hat im Bewertung des Handwerks eine neue Anmutung Kommunistischen Manifest – übrigens, wenn Sie dessen kennenlernen, was man als „Kultur der So- spannende Lektüre suchen, dann kann ich Ihnen lidität“ bezeichnen kann. Das ist etwas, so glaube auch als Nicht-Sozialisten das Kommunistische ich, was sehr wichtig ist. Manifest heftig empfehlen – Karl Marx hat voraus- gesagt, dass die kleinen Mittelstände ins Proletariat Es gibt einen alten Spruch im Handwerk, der heißt: zurückfallen werden. Das ist auch auf das Hand- „Geselle ist, wer was kann, Meister ist, wer was werk gemünzt. ersann, Lehrling ist ein jeder Mann.“ Ein sehr in- haltsreiches Wort! Geselle ist, wer was kann: Hand- Dann gab es einen Nationalökonomen namens werk ist Qualifikation oder es ist kein Handwerk. Karl Bücher, der Ende des 19. Jahrhunderts erheb- Meister ist, wer was ersann: das heißt, die inno- liche Reputation hatte. Er sprach von einem „Ver- vatorische Komponente, die Fähigkeit, über den witterungs- und Verfallsprozess des Handwerks“. Tellerrand des Alltäglichen hinaus sehen, gehört Solche Dinge lese ich mit besonderer Freude, weil zu jedem Meistertum dazu. Wo gibt es ein größeres sich unser Wirtschaftsbe-reich entgegen solcher Kompliment, als wenn man sagt, jemand ist Meis- 6
ter seines Faches? Das ist schwer zu übertreffen. Und Lehrling ist ein jeder Mann: jeder, der aufhört, Prof. Dr. Roland Günter neugierig zu sein, sich ständig neuen Eindrücken zu öffnen, der gehört zum Altenteil, mag er auch Bauhaus und Handwerk – neu gesehen noch so jung sein. Zur Wertigkeit des Handwerks für die Weil wir diese Dinge hoch halten, halten wir die Moderne Zusammenarbeit mit dem Werkbund für eine ganz wichtige Angelegenheit. Insofern freue ich mich, Vortrag in der Handwerkskammer Düssel- dass wir jetzt gleich Herrn Prof. Günter als Vor- dorf am 17. Juni 2011 sitzenden des Werkbundes Nordrhein-Westfalen und als stellvertretenden Vorsitzenden des Werk- Bauhaus – das ist ein bedeutender Name. Aber es bundes Deutschland zum Thema „Bauhaus und ist nicht leicht, das Bauhaus zu verstehen. Das kann Handwerk - zur Wertigkeit des Handwerks für die man nur in Zusammenhängen. Bevor ich also zum Moderne“ hören werden. Bauhaus komme, müssen wir über einige Voraus- setzungen und Zusammenhänge sprechen. Im Programm des Staatlichen Bauhauses in Wei- mar von Walter Gropius aus April 1919 heißt es Der Vortrag hat fünf Teile: an einer Stelle: „Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück. Es gibt keinen • 1. Zur Anthropologie des Handwerks. Wesensunterschied zwischen dem Künstler und • 2. Die Industrialisierung. dem Handwerker. Der Künstler ist eine Steigerung • 3. Deutscher Werkbund. des Handwerkers. Gnade des Himmels lässt in sel- • 4. Das Bauhaus. tenen Lichtmomenten, die jenseits seines Wollens • 5. Einige Nachbemerkungen. stehen, unbewusst Kunst aus dem Werk seiner Hand erblühen. Die Grundlage des Werkmäßigen Zur Anthropologie des Handwerks aber ist unerlässlich für jeden Künstler. Dort ist der Urquell des schöpferischen Gestaltens.“ Ein schö- Es gehört zu den Verkürzungen im Denken des 20. nes Zitat! Jahrhunderts, Handwerk auf Berufs-Bezeichnun- gen zu beschränken. Es gibt Handwerk schon lange Ich nehme an, Sie, lieber Herr Prof. Günter, werden vor dem Beruf. Handwerk als eine Palette von Be- dem jetzt Vieles hinzufügen. Wir haben verschie- rufen – das ist eine Intensivierung und Spezialisie- dene Gespräche geführt. Mir jedenfalls sind Herz rung des Handwerks. Es gibt eine imposante Liste und Verstand aufgegangen bei diesen Gesprächen, an Berufsbezeichnungen, aber darüber wird meist weil sich hier eine Tiefendimension handwerk- vergessen, dass Handwerk ein weit breiteres Spek- lichen Tuns erschlossen hat, die aus meiner Sicht trum hat. Und das Handwerk für die Gesellschaft sehr wichtig ist in der Zeit der starken Umbrüche, weit mehr ist, als die Gesellschaft im Bewusstsein in der wir uns derzeit befinden. Wichtig ist es, an hat. die Konstanten zu erinnern – es wird ja häufig ge- Das sehr wenig entwickelte Bewusstsein der Ge- sagt, dass das Wissen der Menschheit sich alle fünf sellschaft hat damit zu tun, dass die Gesellschaft Jahre erneuere, daran mag vieles wahr sein – an die sich selten klar macht, was Handwerk existentiell Konstanten des Menschlichen, die eigentlich ent- ist. Dies führt uns zu einigen Bemerkungen im Be- scheidend sind und die sich nicht alle fünf Jahre er- reich der Anthropologie. neuern. Sie alle, wie Sie hier sind, haben bestimmte Fragen wir, was alles handwerklich geschieht, Dinge, die Ihnen wichtig sind, die Sie durch Ihr dann begegnen wir zuerst einer Selbstverständlich- Leben hindurchtragen und die Sie nicht alle fünf keit, die jedoch kaum jemand als selbstverständlich Jahre auswechseln wollen. begreift – so sehr wird sie von den meisten Men- schen übersehen. Die Tätigkeit der Menschen ist Insofern sind wir jetzt sehr gespannt auf Ihre Aus- anthropologisch zuerst und überhaupt: Handwerk. führungen, Herr Prof. Günter. Ich will deshalb ge- Ich muss erklären, was Anthropologie ist: Das ist schwind das Rednerpult räumen. das Wissen von den Charakteristiken des Men- schen, die mehr oder weniger konstant bleiben, seit Danke für Ihre Aufmerksamkeit! es Menschen gibt. Dies sind erstens unsere Konsti- tution und zweitens elementare Verhaltensweisen. Wir sind zwischen 160 bis 190 cm groß. Unsere Schritte sind nicht länger als ein Meter. Selbst die Weltrekorde im Sport haben ihre Grenzen. Unser Körper funktioniert mehr oder weniger seit Jahr- 7
hunderten im Wesentlichen mit Konstanten. Viel dem eigenen Körper entwickeln. Es ist äußerst Wichtiges bleibt gleich. Alle Varianten, die es – in- spannend, dies bei Kindern und bei Jugendlichen dividuell oder historisch geprägt – gibt, bewegen zu beobachten. sich in einem anthropologisch festgelegten Rah- men. Bereits hier wird eine Menge programmiert. Die Hand können wir entdecken und lesen als ein Das aufwachsende Kind lernt, mit den Händen immenses Programm. Man spricht ja auch von zu greifen – und damit zu begreifen. Es ist ein be- Handfertigkeit und von Fingerfertigkeit. Dieses zeichnendes Wort, das semantisch die Ganzheit menschliche Programm gibt es schon lange vor von Hand und Kopf ausdrückt. Es lernt Schritt dem Programm in der Digitalisierung. Es übertrifft für Schritt, die Fähigkeiten seines Körpers zu ent- fast alle digitalen Programme. wickeln. Der Kern ist das Werk seiner Hände. Wir dürfen dies bereits als Handwerk ansehen. Hand- Die digitalisierten Programme werden in der Regel werk – das ist zunächst und fundamental – die Tä- nur bewundert, weil wir unsere erste Programm- tigkeit der Hände. Ebene, den Körper, als Selbstverständlichkeit ein- schätzen und daher meist viel zu gering bewerten Darin wird alles gebraucht und im Prinzip ge- – daher erscheint dann das digitale Programm als macht, was auch ein erwachsener und ausgelernter etwas Fremdes, Neues, Exotisches, Staunenswer- Handwerker mit seiner Meisterschaft benutzt – auf tes, auch weithin nicht Sichtbares. einem dann erheblich höheren Niveau. Handwerk und Werkzeuge Das Kind lernt, mit Dingen umzugehen, sie zu be- nutzen, Dinge anzufertigen, mit einem Karren zu Nach dem Körper gibt es eine zweite Ebene: Werk- gehen, mit einem Roller und einem Fahrrad zu fah- zeuge. Mit ihrer Hilfe verlängern und verstärken ren. Dies alles ist von seiner Grundanlage her und wir die Fähigkeiten unseres Körpers. Zum Beispiel damit in seiner Struktur: Handwerk. Zum Auf- kann man den natürlichen Arm länger ausgreifen wachsen des Kindes gehört das Basteln. In vielerlei lassen: mit einer Stange oder einer Leine oder ei- Spielen basteln Kinder in der einen und anderen nem Netz. Jeder von uns besitzt Werkzeuge: Auf Weise. Sie stellen Konstruktionen her, schaffen sich dem Esstisch benutzt er ein Schneide-Werkzeug Gegenstände und Räume. wie das Messer. Im Keller hat er oft eine Säge. Häu- fig benutzt wird der Hammer. In jedem dieser und Das Handwerk ist uns Menschen also anthropolo- vieler weiterer Werkzeuge steckt ein Programm. gisch tiefgreifend inhärent. Meist kennen wir es schon aus unserer frühen Kindheit. Ein erheblicher Teil unserer Intelligenz Daraus entstehen für uns heute allerdings vie- besteht darin, mit Werkzeugen zu operieren. le Fragen. Was fangen wir mit diesen Tatsachen an? Bagatellisieren wir sie in der Erziehung? Was Manche Leute kommen sehr weit damit. Dann macht die Schule daraus? Was geschieht damit im spricht man von Geschicklichkeit. Und man darf späteren Leben? Lernen wir, die darin steckenden sie bereits – vor einer Berufsbezeichnung – als gute Werte zu schätzen? Welche Wertschätzung bringt Handwerker bezeichnen. die Gesellschaft der Tätigkeit des Handwerks im umfassenden Sinn entgegen? Lernen wir, diese Die eigentümliche Intelligenz des Werte weiter zu entwickeln? Machen wir etwas da- Handwerks raus? Und was? Handwerk ist also eine grundlegende Fähigkeit Handwerk und Körper jedes Menschen. Es gibt niemanden, der sie nicht besitzt. Handwerk war jahrtausendelang die normale Wei- se des Anfertigens von Geräten, Möbeln, Werkzeu- Wir neigen dazu, das selbstverständlich Erschei- gen, Konstruktionen, Bauten. nende zu übersehen. Aber eine anthropologische Tatsache ist: Unser Körper hat phantastische Fä- Handwerk beruht auf Techniken. Die ursprüngli- higkeiten. Dabei ist vieles im Spiel, das ich hier nur che Bedeutung des Wortes „Techne“ heißt: die List. andeuten kann. Die List, etwas anzufertigen. Es ist nämlich nicht ganz einfach, mit manchen Dingen umzugehen Der Körper hat eine wunderbare Komplexität der und manche Dinge zusammenzusetzen. Intelligenz entwickelt, die von vielen Wissenschaf- Die erste Ebene der Listigkeit, d. h. der Technik, ten leider übersehen wird. Überhaupt müssen wir sind die handwerklichen Fähigkeiten, die wir mit alle Wissenschaftsmethodiken befragen, ob sie 8
sich klar machen, wo sie reduktiv, also nur einge- wieder ernst nehmen: Wir können darin ihre be- schränkt, denken. sonderen Intelligenzen erkennen. Und wir können sie erneut in die Bereiche aufnehmen, in denen in Die komplexe Fähigkeit des Körpers in ihrer Anth- Institutionen gelernt wird. ropologie des Handwerks begreift meist in Zusam- menhängen – also ganzheitlich zusammenwirkend Auf dieser Grundlage kommen wir dann auch zu – kognitiv, emotional, intuitiv und ausprobierend, einer weitaus besseren Bewertung des Handwerks. also als Experiment, in Wechselspielen, rückkop- Wir können erkennen: Das Handwerk ist die pelnd. Es denkt im umfassenden Sinn nicht nur Grundlage eines entwickelten menschlichen Le- der Kopf, sondern auch der ganze Körper. Joseph bens. Wer dies an sich selbst zu schätzen lernt, wird Beuys hat dies einmal mit einem knappen Satz auch das Handwerk schätzen und ihm den Platz in großartig auf den Punkt gebracht: Auch mein Knie der Gesellschaft geben, der ihm gebührt – aus der denkt. Wir hören dazu nachher noch einiges mehr. Sache heraus. Vor und nach dem Computer: Die Vermehrung der Kraft Handwerks-Intelligenz In vorindustrieller Zeit versuchten Menschen Fragen wir: Hat der Computer dies alles abge- häufig, neben der Steigerung ihrer vielfältigen schafft? Es gibt grundsätzliche Missverständnisse Intelligenzen die Möglichkeiten ihrer Kraft zu zur Einschätzung und Einordnung des Computers. vergrößern. Dies war mit dem eigenen Körper an- Aber wir müssten nach nun über 20 Jahren seiner thropologisch begrenzt. Daher wurde seit Jahrhun- Verbreitung die Zeit langsam hinter uns haben, wo derten die Kraft von Tieren hinzu genommen. Och- wir dieses hoch rationelle Gerät so anschauen wie sen zogen den Pflug oder einen Wagen. Zugpferde Leute in der Steinzeit einen Medizinmann. kamen erst spät hinzu. Nachdem wir schon lange nur noch selten die Kräfte von Tieren benutzen, Zweifellos hat der Computer sehr wichtige Fähig- sprechen wir „Pferdekraft“ – als Maßeinheit für die keiten. Aber diese sind keineswegs alles. Es gibt Energie von Verbrennungsmotoren. weitere Fähigkeiten: vor, neben und nach dem Computer. Die Industrialisierung beginnt einem entschei- denden Schritt: Menschen versuchen, der Natur Die Hand ist das kostbarste Werkzeug des Men- Kraft abzugewinnen. Das grundlegende Prinzip schen. Sie hat eine eigene Intelligenz. kannten sie schon lange und nutzten es vielfältig. Schon früh leiteten sie Wasser auf ein Mühlrad. Jemand, der bastelt, spricht vom Fummeln. Dies Die Schwerkraft, die der Materie inne wohnt, das bedeutet, etwas hin und her zu probieren – es ist heißt, die Magnet-Wirkung der Erde, wurde listig also ein Experiment. Mit Intuition, mit Überlegun- als Kraft genutzt, um mit ihrer Hilfe das Mühlrad gen in Hypothesen, mit Hin- und Herdenken und zu bewegen. ausprobierend sich zu bewegen. Es ist ein Wech- selspiel von Induktion und Deduktion. Das Hand- Hinzu kam die List, mit Feuer Kraft zu erzeugen. Werk hat also seine eigene Art der Intelligenz. Man konnte damit Wasser in Dampf verwandeln – dies führte zur Maschine, in der diese Dampfkraft Ein einfaches Beispiel mag diesen Prozess zeigen. Bewegung erzeugte. Stellen wir uns vor, was wir tun können, wenn Ein Schritt weiter: Die Nutzung des Magnetismus. ein Schlüssel klemmt. Im Alltag geschieht dies Mit dem Dynamo wird Elektrizität gewonnen. viele Male. Die einen fummeln mit Schlüssel und Schloss. Die anderen holen den Schlüsseldienst. Die Industrialisierung wurde auch durch Organi- Wer seine eigenen Fähigkeiten zu wenig entwi- sation der Menschen weitergetrieben: durch Ar- ckelt, muss eine Menge für andere zahlen – und das beitsteilung – bis hin zur Fließband-Fertigung. ist in diesem Fall nicht besonders angenehm. Daraus entstand schließlich die Automatisierung. Wenn wir junge Menschen entwickeln wollen, müssen wir die körperlichen Fähigkeiten wieder Handwerk in der Industrialisierung ernst nehmen. Sie wurden in den letzten Jahrzehn- ten unglaublich abgewertet, sogar niedergemacht. Jetzt muss man, wenn man am Handwerk inter- Ihre Potentiale werden übersehen. Damit machte essiert ist, keinen Schrecken bekommen. Denn im sich die Gesellschaft in erheblichem Umfang im Prinzip stammt die gesamte Industrialisierung Grunde zu Behinderten. Wenn wir die Fähigkei- erstens aus dem Handwerk. Und zweitens ist das ten des Körpers entwickeln wollen, müssen wir sie Handwerk heute noch in der Industrialisierung 9
enthalten – allerdings nicht in diesem Umfang und aber Zivilisiertheit besteht darin, diese untere Ebe- in teilweise anderen Zusammenhängen. Es wird ne zu überwinden. auch nur ein Teil der Handarbeit ersetzt durch Maschinenarbeit. Dies wird im Folgenden näher Was geschah? Wer es am weitesten gebracht hat- erklärt. te, wollte sich in der Wertschätzung von seinen Kollegen absetzen: So erklärte sich eine Minder- Der folgenreiche Irrtum heit zu Künstlern. Sie schied aus den Zünften aus und bildete ihre eigene Institution, die Akademie. In der Oberflächlichkeit, die der Zeitgeist meist be- Dadurch wurde – auch für die folgenden Jahrhun- sitzt, unterlaufen ihm Irrtümer, die oft weitreichen- derte – eine Rangstufung in Gang gesetzt, die das de Folgen haben. Es ist ein Irrtum von über 100 Handwerk im gesellschaftlichen Ansehen abquali- Jahren, zu glauben, alles Handwerk sei durch Ma- fizierte – bis heute. Es gibt bislang keine Ansätze, schinen ersetzbar bzw. bereits ersetzt. Der Irrtum dies aufzuarbeiten – es wäre aber sehr wichtig, dies setzt an in Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit: offen zu diskutieren. Viele Menschen möchten ihn glauben. Aber die Wirklichkeit ist nicht so. Dazu gab es eine Steigerung: Ein geradezu aggres- sives Absetzen von Künstlern gegenüber Hand- Dieser Irrtum bildete den Kern der Abwertung des werkern entwickelte sich im späten 19. Jahrhun- Handwerks in der Gesellschaft und in der Bildung. dert: vor allem in den Kunstakademien und in der Kunstgeschichte. Dies wurde dann als Ideologie in Handwerk und Kunst die Schulen hineingetragen. Das Handwerk hat die Jahrtausende bestimmt. Daraufhin entstand eine Gegenbewegung, die die Wir bewundern es in vielen Epochen. Unzählige Spaltung aufheben wollte. Sie wurde bezeichnet Museen zeigen Spuren davon. Hoch entwickeltes mit dem Stichwort Handwerks-Kunst. etruskisches Handwerk – in toskanischen Museen. Daraus hervorgehend römisches Handwerk – in Es gehörte zu den pluralistischen Wegen des Zeit- Köln und Xanten. Auf ihm basiert mittelalterliches alters, dass auch gegen die Handwerks-Kunst eine Handwerk. Es erreicht im 16. Jahrhundert in vielen Gegenbewegung entstand: Sie wollte mit Kunst Bereichen eine Blüte, die uns in Erstaunen setzen überhaupt nichts zu tun haben. Diese Bewegung kann. Florenz war im 15./16. Jahrhundert Metropo- hatte großen Einfluss. le des Handwerks – für die ganze Welt. Hier gab es mehr Handwerker als irgendwo anders in der Es trennte sich also nicht nur die Kunst vom Hand- Welt. werk, sondern weithin trennte sich auch das Hand- werk von der Kunst. Jahrhunderte lang wurde gesehen und positiv be- wertet, dass im Handwerk Kunst steckt. In den gro- Wenn wir heute über Handwerk, Kunst und Kunst ßen Kathedralen Europas spielten Handwerk und in der Schule sprechen, müssen wir uns klar ma- Kunst integriert zusammen. Deutsches Handwerk chen, dass das, was wir gegenwärtig als Situation wurde in aller Welt bewundert: vor allem in der vorfinden, voller Irrtümer ist. Vor allem getränkt Mechanik und im Umgang mit Eisen. von Ideologien. In der Toskana gab es für das hoch entwickelte Handwerk und für die Kunst dasselbe Wort: arte. Industrialisierung Dies zeigt einen tiefgreifend angelegten Zusam- menhang, über den wir neu nachdenken müssen. Im Industrieprodukt steckt Handwerk Die Spaltung von Handwerk und Kunst Wenn wir ein glatt poliertes Stück in die Hände be- kommen, mag man denken: das ist alles Industrie, In Florenz führten die breiten Höchstleistungen im aber kein Handwerk. Das stimmt so nicht. Handwerk in der Mitte des 16. Jahrhundert aller- dings zu einer zweischneidigen folgenschweren Es war das Handwerk, das dem Stück weithin das Entwicklung – aufgrund eines banalen psychologi- gegeben hat, was es auszeichnet. Das erste Stück schen Antriebs: aus Neid und Hochmut. Der Ge- war nämlich das Modell – und dies war pures schichtsanalytiker Machiavelli beschreibt dies am Handwerk. Selbst wenn es dann im Computer ge- Beispiel des gesellschaftlich-politischen Lebens. zeichnet wurde, war es immer noch Handwerk. Es Man mag es für menschlich verständlich halten, folgte also die Industrie dem Handwerk. 10
Industrie ist die pure Vervielfältigung eines hand- Viertens: Auch in Wartung und Pflege steckt viel werklichen Modells. Industrie konnte Millionen Handwerksarbeit. Kopien herstellen. Handwerk und Digitalisierung So war die Industrie die Folge der Massengesell- schaft. Viele Menschen wollen bestimmte Produkte Schließlich beinhaltet jede Art von Arbeit einiges haben. Und zudem gibt diesen Menschen ein Ge- an Handwerk. Auch der Umgang mit den digitalen schäftsgeist ein, sie zu einem möglichst niedrigen Apparaten. Preis zu bekommen. Dies kann nur durch eine Ra- tionalisierung geschehen, die durch diese maschi- Wie der Tischler jahrtausendelang eine Vorstellung nelle Vervielfältigung zustande kommt. vom Tisch mit seinen Fertigungsphasen entwickelt hatte, also ein Programm in seinem Kopf, bevor er Halten wir den Grundgedanken fest: Viele Men- dann das Holz und das Werkzeug anfasste, so ent- schen bekommen auch von Fabriken das geliefert, wickelt der digitale Programmierer und auch der was das Modell beinhaltete: Handwerk. Handwerk Anwender von Programmen ein Programm – und und Industrie sind zwei Gedanken, die auch be- bewegt dann seine Finger auf einer Tastatur. reichsweise zusammengehören. Aber leider wird in der Menschheit häufig der erste Gedanke ver- Hier ist ein Teil des Handwerks immer noch an- gessen. Oder unterschlagen. Solange es Menschen wesend. Allerdings ist die Bewegung des Körpers gibt, gibt es Handwerk. Und seine Vervielfältigung. minimiert. Die Tätigkeit der Hand ist zum Tippen reduziert. Er sitzt lange Zeit auf seinem Stuhl. Die Überlagerung umfangreiche Körperlichkeit des Handwerkers ist hier erheblich zusammengeschrumpft. Dabei ent- Die Industrialisierung breitete sich schrittweise steht Gefahr für die Gesundheit. aus. Aber auch viel Handwerksarbeit ist geblieben. Handwerk und Industrie überlagerten sich lange Heimwerker Zeiten sehr deutlich – und, wenn man genau zu beobachten weiß, bis heute. Der Heimwerker macht nichts anderes als den Handwerker nachzuspielen. Seine Gründe sind Handwerksbereiche in der Industrie einfach. Meist muss oder will er sparen. Er sagt, es lohnt nicht, für einen kleinen Vorgang eine Firma Wenn wir die Industrie überschauen, stecken in ihr kommen zu lassen. Etwa zum Ersetzen einer Glüh- mehrere Handwerksbereiche. birne. Erstens: Das Fertigen von Musterstücken. Sie wer- Der Hausmeister, etwa in Schulen oder Rathäu- den vervielfältigt durch Maschinenarbeit. sern, ist ein Mann, dem man zutraut, dass er meh- rere Handwerke versteht. Zweitens: Das Fertigen von Anlagen. Meist wird Es gibt auch Menschen, denen man nachsagt, sie übersehen, auch von der Wirtschafts- und Technik- könnten keinen Nagel in die Wand schlagen. Viele geschichte, wie umfangreich der Anlagenbau ist, davon bewundern die Geschicklichkeit eines hand- der dieses Land bedeutend machte. Anlagen sind werklich begabten und tätigen Nachbarn. immer in Grundzügen individuelle Produktionen. Darin werden zwar Teile verwandt, die aus Serien stammen, aber man muss dabei eine ganze Menge Deutscher Werkbund neu denken und neu zusammensetzen. In meiner Heimatstadt Oberhausen war der Anlagenbau mit Handwerk und Werkbund vielen Metallhandwerkern so bedeutend wie das Fördern von Kohle und die Produktion von Eisen In einer bestimmten Phase dessen, was wir Indus- und Stahl. trie-Epoche nennen, wurde der Deutsche Werk- bund gegründet – kurz nach 1900. Die Intelligenz, die im Anlagenbau notwendig ist, wird grotesk unterschätzt. Wird sie nicht auch in Er entstand aus dem Handwerk. Das in ihm lei- der Ausbildung unterschätzt? Das ist eine Frage, tende Handwerk war zunächst die Möbeltisch- auf die ich keine Antwort geben will. Aber sie soll lerei. Diese hatte in ihren besten Produkten den anregen? Anspruch, Räume als Ganzes auszugestalten: vor- nehm, elegant, stimmig. So kam der Tischler dazu, Der dritte Handwerksbereich wird gern übersehen: auch als Architekt zu wirken. Und umgekehrt der der umfangreiche Bereich des Reparierens. 11
Architekt als Tischler. Es entstanden hoch entwi- Sein erstes Grundprinzip hieß Entwicklung. Das ckelte Produktionen. Stichwort dafür lautete „Veredelung“. Dies be- zeichnete auch Bildung. Aber Werkbund-Leute wollten nicht nur für ein wohlhabendes Publikum etwas Gutes entwickeln, Das zweite Grundprinzip hieß: Synthese. Es war sondern zugleich auch für jedermann – und im der Versuch des Zusammenführens vieler Strö- normalen Leben. Dies kam aus einem demokra- mungen: Handwerk, Industrie, Kunst, Luxus und tischen Gedanken. Er war schon lange im Wesen Soziales. der europäischen Städte verankert. Diese spielten eine grundlegende Rolle für die Entwicklung der Die große Werkbund-Ausstellung 1914 in Köln ge- Demokratie. riet zu einer Weltausstellung im Bereich der Gestal- tung. Und sie trug den bezeichnenden Untertitel Entwicklung und Krise „Kunst in Handwerk, Industrie und Handel“1. Die Industrie-Epoche, deren Beginn wir um 1800 Die Veredelung ansetzen, bedeutet ständige Entwicklung. Entwick- lung ist stets eine produktive Krise: darin soll Wei- Das Handwerk, das durch die Industrialisierung in teres entstehen. große Gefahr geriet, sollte und wollte durch eine Steigerung seiner Fähigkeiten überleben. In diesem Prozess liegt in der Industrie-Epoche häufig eine Ambivalenz: die Tendenz, Vorhan- In der gleichen Zeit entstand aber auch das Inter- denes zurück zu lassen. Es wegzuwerfen. Dieses esse, Industrieprodukte, die als Ramsch angesehen Problem überflutet uns heute wie ein Tsunami. Die wurden, zu veredeln. meisten Menschen wissen wenig über das, was in diesem Entwicklungsprozess wirksam ist. Daher Werkbund-Handwerker holten sich einen alten unterschätzen oder überschätzen sie ständig vieles. Verbündeten zurück: Künstler. Am Anfang des Werkbunds steht also der Zusammenhang zwi- In der Industrie-Epoche ist nicht nur das Hand- schen Handwerk und Kunst. Man nennt dies bis werk, sondern auch die Industrie ständig in der Kri- heute „angewandte Künste“. se. Dieser Krise ist das Wachsen und Schrumpfen immanent. Handwerk reduzierte sich. Aber auch Rasch aber kam die Frage nach der Industrie hinzu. Industriezweige reduzieren sich ständig. Zugleich Vor allem durch Peter Behrens. Er wurde einige aber verlagert sich und weitet sich Handwerk aus Monate vor der Werkbundgründung 1907 als Chef- und ebenso die Industrie. Dies wird manchmal Entwerfer in die damalige Zukunftsindustrie, die schweigend erlebt und hingenommen, manchmal Elektrizität, berufen – und zwar in den Weltkon- aber auch laut diskutiert. zern AEG. Aus einer solchen lauten, teilweise heftigen Dis- Der Werkbund entwickelte sich nun als ein Feld kussion entstand 1907 der Deutsche Werkbund. der Diskussion von Handwerk – Industrie – Kunst, Er versuchte, das bedrohte Handwerk zu retten – als ein Forum, das diese Diskussion produktiv zu durch Weiterbildung und Qualifikation zu retten. führen versuchte. Werkbund im Schnittpunkt von Handwerk Es war nicht allein die Industrie, die für allerlei Entwicklungen die Impulse gab, sondern überall und Industrie gab es Entwicklungsimpulse. Auch im Handwerk. Der Werkbund entstand am dramatischen Schnitt- Auch in den Künsten. punkt von Handwerk und Industrie. Die Werk- bund-Gründer waren im wesentlichen Tischler Dies geschah von 1895 bis 1914 in solchem Umfang, und Entwerfer, die Möbel herstellten. Ihre beste in solcher Vielfalt und mit solchem Tempo, wie es Tätigkeit bestand in kompletten Raumausstattun- dies bislang in der Geschichte nie gegeben hatte. gen. Sie gründeten den Werkbund als eine kultu- relle Bewegung. Ich kann hier nicht das Bündel an Fäden zeigen, was dazu führte. Umfangreich publiziert: Die Werkbundausstellung in Cöln a. Rh. In: Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1915. 1 München 1915. 12
Das Bauhaus sich durch die Wirren der gefühlten Dekadenz des Kaiserreiches, des Krieges, des Verlustes des Krie- ges und der unruhigen Zwischenkriegsjahre – als Die Euphorie eine ständige Aufforderung, individuelles und gesellschaftliches Leben positiv und produktiv zu In die Werkbund-Entwicklung hinein platzte 1914 gestalten. Darin steckte zugleich der Alltag und zu- fast über Nacht der große Krieg mit seinen gewal- gleich viel Spiritualität. tigen Erschütterungen. Die Demokratie wurde offi- zialisiert und breitete sich bereichsweise aus. Dies Walter Gropius stellte sich das Bauhaus vor wie schuf Freiheiten – für Richtiges und Falsches. eine Kathedrale. Der berühmte Holzschnitt vom Bauhaus-Meister Lyonel Feininger drückt dies Die 1920er Jahre waren arm. Aber es gab Men- aus4. Es sollte nun auch eine Kathedrale des Sozi- schen, die Geist hatten, gut arbeiteten, findig wa- alen werden – der Gesellschaftlichkeit, an der alle ren. Der Schwabe sagte: Tiftler. So entstand trotz arbeiten. der Katastrophe, die das Land weiterhin begleitete, ein Jahrzehnt des Aufstiegs. Auf einen Nenner gebracht, hieß dies: Lernen muss existentiell betrieben werden. Lernen ist mehr als Der Gestalter Ferdinand Kramer, den ich im Alter Wissen. Lernen ist umfassende Bildung und Leben noch kennenlernte, sagte mir (sinngemäß): Trotz als Persönlichkeit. oder gerade wegen des verlorenen Krieges gab es Johannes Itten ist der entscheidende Impulsgeber einen ungeheuren Optimismus, dass man nun ent- für das Lernverfahren – vor allem für die Komple- wickeln könne. Wir hatten 1920 nichts als unsere xität des Gestaltens. Militärmäntel, wärmten unsere kalten Hände am Kanonenofen, waren arm wie die Kirchmäuse, aber Realisierung der Werkbund-Idee wir schauten nach vorn. Walter Gropius sagt: Das Bauhaus ist die Realisie- Paul Klee war im Frühjahr 1919 Mitglied des Rates rung der Werkbund-Idee. Tatsächlich steckt dar- bildender Künstler und im Aktionsausschuss der in die Vielseitigkeit des Werkbunds. Und wie im Revolutionären Künstler Münchens. 1919 schrieb Werkbund die Unterschiedlichkeit der Personen. er: „Wir würden die Ergebnisse unserer Erfinder- Es war die ungeheure Leistung von Gropius, die tätigkeit dem Volkskörper zuleiten können. Diese Vielzahl der emanzipierten, aber auch divergie- neue Kunst könnte dann ins Handwerk eindringen renden und komplizierten Personen zusammen zu und eine große Blüte hervorbringen. Denn Aka- halten. Ähnlich wie im Werkbund, in dem Gropius demien gäbe es nicht mehr, nur Kunstschulen für zeitweilig im Vorstand ist. Handwerker.“ 2 Aus einem solchen euphorischen Geist gründete Natürlich ist dies im Bauhaus mit vielen Konflikten Walter Gropius in Weimar das Bauhaus 3. verbunden. Nur ein Teil davon ist produktiv. Über- gehen wir hier den internen Streit und schauen wir, Er hob im Gründungsmanifest im April 1919 her- was produktiv war. vor: „Handwerkliches Können.“ Und flammend schrieb er darin weiter: „Architekten, Bildhauer, Georg Kerschensteiner: Arbeits-Schule Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück.“ Das Bauhaus fiel nicht vom Himmel, sondern geht Existentielles Lernen nahtlos aus den vorhandenen Reformgedanken hervor, vor allem des Werkbunds. Das Bauhaus nimmt entscheidende Impulse aus der sehr breiten und pluralen Bewegung der Le- Basis ist das Handwerk. Das Handwerk in Werk- bensreform auf, die kurz vor 1900 startet. Sie zieht stätten. Den größten Einfluss zu dieser Orientie- 2 Nach der Zerschlagung der Räterepublik Bayern flüchtet er in die Schweiz. 3 Walter Gropius kommt 1915/1916 in die engere Wahl für die Nachfolge von Henry van de Velde für die Leitung der Kunstgewerbeschule in Weimar. Er verfasst eine Denkschrift zur Neuorganisation. Kerngedanke: eine Werkgemeinschaft „von Architekten, Bildhauer und Handwerker aller Grade“ – nach dem Vorbild der mittelalterlichen Bauhütten. 4 Feiningers Kathedrale und Gropius Manifest – eine Einheit. 1919 schreibt Feininger seiner Frau Julia: „Gropius sieht das Handwerk – ich den Geist – in der Kunst.“ Die Dominanz des Handwerks wurde misstrauisch gesehen von Bruno Taut (zu wenig utopisch) und Adolf Behne (zu unpolitisch). 5 Georg Kerschensteiner, Die Schule der Zukunft eine Arbeitsschule. 27 f. – Georg Kerschensteiner, Der Begriff der Ar- beitsschule. 1912. Marie Kerschensteiner, Georg Kerschensteiner. Der Lebensweg eines Schulreformers. München 1954. 13
rung hat der Pädagoge Georg Kerschensteiner bildung.“ „Die Schule ist die Dienerin der Werk- (1854-1932). Er war seit 1895 Stadtschulrat in Mün- statt, sie wird eines Tages in ihr aufgehen.“ chen, Mitglied im Werkbund, 1912 bis 1919 Reichs- tagsabgeordneter für die Fortschrittliche Volkspar- Mit diesem Programm gründet er eine Anzahl tei (später Deutsche Demokratische Partei), 1920 Werkstätten: Weberei. Keramik. Buchbinderei. Me- Professor. tall. Holz. Hinzu kommen später weitere. Er kritisierte, dass in seinen Berufsschulen in viel Der Vorkurs zu großen Klassen, jeweils 90 Schüler im Frontal- unterricht, zuhören mussten, wie ihnen jemand In Wien erprobt zwischen 1917 und 1919 der etwas zum Handwerk erzählt. Er sagte: So kann Schweizer Johannes Itten in seiner eigenen Kunst- man nicht lernen. Handwerk muss man tun. Je- schule Methoden zu einem Vorkurs. 1919 wird er der muss die Dinge anfassen und damit arbeiten ans Bauhaus berufen. Es etabliert Ittens Vorkurs können. „Das Wesen des Menschen um diese Zeit 1920 für alle Anfänger als Pflichtkurs. [in diesem Alter] ist Arbeiten, Schaffen, Wirken, Probieren, Erfahren, Erleben, um ohne Unterlass Der Kerngedanke: Umfassende Grundlagen zu bil- im Medium der Wirklichkeit zu lehren.“5 Es geht den. Vergleichen wir dies bitte mit dem gegenwär- sowohl um manuelle wie geistige Arbeit. Echte tigen Bildungssystem. Bildung muss zugleich sein: Charakterbildung, Be- rufserziehung und Erziehung zum Staatsbürger d. Johannes Itten6 wurde zwar durch das Bauhaus h. gesellschaftliche Erziehung. weltberühmt, aber er ist in seiner Pädagogik gro- tesk unterschätzt. Die Rezipienten haben sich im- Und so entwickelte er ein Reformkonzept: Den Un- merzu mit etlichem beschäftigt, woran man auch terricht in Werkstätten – die „Arbeitsschule“. Viel seinerzeit Anstoß nahm, an seinen Interessen an davon ging in die Berufsschule ein. Und der Werk- östlicher Philosophie, am persischen Mazdaismus, bund übernimmt diese Praxisnähe. am Urchistentum. Das Manko dieser Wahrneh- mung ist bis heute, dass dies nicht diskutiert und Diese Vorstellung herrscht auch deshalb, weil in damit ernst genommen wurde. Man kann aber dieser Zeit viele Werkbundmitglieder, die später auch davon absehen und den Wesenskern seiner berühmte Leute wurden, Autodidakten sind. Mit tätigen Erkenntnis ernst nehmen. Stolz nennt sich Peter Behrens „Autodidakt“. Dies bedeutet damals, dass er in einer neuen Weise lern- Haltung te – in der Praxis. Walter Gropius hat sein Studium nicht beendet. Er kommt aus der Praxis. Was kann man von ihm lernen? Erstens, dass man für sein Leben und folglich auch für seinen Beruf Dies spiegelt zugleich die Unzufriedenheit mit eine Haltung haben muss. Dies ist nicht immer in dem akademischen Lehrgebäude. die Wiege gelegt, sondern daran muss man arbei- ten. Dafür gibt es neuere Stichworte wie Einstellung Bauhaus - die erste Hochschule aus und Motivation. Dies wird häufig in der Pädagogik geleugnet oder übersehen – wir wissen inzwischen, Werkstätten was die Folgen sind. Walter Gropius begründet das Bauhaus als die ers- te Hochschule auf der Basis von Werkstätten. Es Natürlich kann darüber viel diskutiert werden – ist die erste Hochschule, die sich als Arbeitsschule dies ist in einer pluralistischen Gesellschaft normal. versteht. Es gibt fast ausschließlich Werkstattun- Aber es ist ein immenses Versäumnis, wenn eine terricht. Die jungen Leute arbeiten in einer Anzahl existentielle Mitte fehlt. Und: es gibt auch in einer Werkstätten. Die Vorlesungen zur Theorie, wie sie pluralistischen Gesellschaft Werte, auf die man Klee und Kandinsky geben, sind im Arbeitsstil die sich einigen kann. Ich möchte sie als unumgänglich Ausnahme. Aber beide ordnen sich diszipliniert bezeichnen. ein. Psychologie Gropius formuliert im Gründungsprogramm: Die „unerlässliche Grundlage für alles bildnerische Zweitens gehören Ittens Erkenntnisse in den Be- Schaffen [ist] die gründliche handwerkliche Aus- reich der Psychologie. Itten machte „Entspan- 6 Johannes Itten, Mein Vorkurs am Bauhaus, Gestaltungs- und Formenlehre. Ravensburg 1963. Neu bearbeitet und er- gänzt von Anneliese Itten Ravensburg 1975, Abb. S. 10/11 (Darstellung von Kontrasten). 14
nungs-, Atem- und Konzentrationsübungen“. Was menen. Die Materialien sind ein Kosmos an Phäno- hier so leicht von der Zunge geht, ist ein zentraler menen. Itten und seine Schüler betreiben die Phä- Komplex an Psychologie und Körperlichkeit. nomenologie der Materialien. Was kann man alles mit Materialien anfangen! Moses Mirkin macht Eines der Grunddefizite in der Schule ist der häu- Kontraststudien mit verschiedenen Materialien. fige Mangel an Konzentrationsfähigkeit. Für alles Metallteilen. Sägeblatt. Leder. Glas, auf Holz mon- in der Welt des Berufs braucht man Intensität. tiert. Ein Spiel mit Konstruktion und Materialien Dranbleiben – man lernt es bereits im Sport. Das kann man bei Josef Albers sehen: in seinem Git- Entspannen heißt bei Itten: Abschütteln von Un- terbild (um 1921). Darin verarbeitet er: Scherben. wesentlichem. Es dient der Konzentration. Dies Draht. Metall. Farbiges Glas. ist ein Vorgang, in dem Geist und Körper im Zu- sammenhang tätig sind. Jeder Ausbilder weiß, dass Daraus entsteht ein zweites Thema: das Recycling. es seinen Auszubildenden unterschiedlich leicht oder schwer fällt, an einer Sache dran zu bleiben. Phänomene und Handwerk Ich spreche hier auch von Fähigkeiten, die für das normale Berufsleben wichtig sind. Phänomene – das ist etwas weitgehend Individu- elles. Am besten aufgehoben im Handwerk. Der Zur Psychologie gehören auch die Tonwerte. In Bauhaus-Meister Paul Klee in seiner Vorlesung den Tonwerten liegen Ausdrucksmöglichkeiten 1927/1928: „Faktur ist: wenn eine Einheit der in- psychischer Art7. In ihnen kann sich Gestimmtheit dividuellen Gliederung zusammenfällt mit einer deutlich machen – wie der Klang in der Musik. Handlung der Hand, z. B. zu Stein; … bei uns Bild- nern wird es sich in der Regel um eine Manufaktur Grundlegende Phänomene handeln: um die Spur der kleinen handlichen Ac- tionen, um die werkhandliche Entstehungsspur.“ Was Itten unternimmt und was für die Leute, die später darüber diskutieren, fremd klingt, ist nichts Ich klammere hier den langen werkbundinternen anderes, als dass er grundlegende Phänomene ent- Streit um Individualität und Typisierung für die deckt und auch systematisiert, die in seiner Zeit Industrie aus. Er vermengt sich natürlich ständig und auch in späterer Zeit weitgehend aus dem mit der Dimension des Marktes. Blick verschwunden sind – mit weitreichenden Folgen. Materialstudien als experimentelle Forschung Wenn Itten zum Beispiel auf den Atem hinweist, Grundlage jeden Handwerks ist das Studium erscheint dies manchen Leuten, die es bagatellisie- der Materialien. Das Bauhaus betreibt dies in der ren, lächerlich oder umständlich oder übertrieben. Ausbildung als Forschung. Und dies in Form des Tatsächlich aber ist Atem eines der grundsätzlichen Experimentes: darin untersucht es sowohl die Ei- Lebensphänomene8. Die großen Dirigenten dirigie- genschaften von Materialien wie auch die Möglich- ren mit dem Atem. Zum Beispiel Otto Klemperer. keiten der Materialien. Le Corbusier hat in seinem Modulor, den jeder kennt, etwas Wichtiges ausgelassen: den Atem- Woher kommt dieses Interesse an Materialien? Raum. Atem und Raum – damit kann man italieni- Es hat eine uralte Wurzel – im Handwerk: Immer sche Raum-Architektur gut erklären. schon mussten Handwerker ihre Materialien gut kennen. Die Notwendigkeit erhält einen weiteren Die Lust an den Phänomenen Impuls durch die Industrialisierung: Darin werden oft Materialien stärker gestresst als zuvor: durch Die Bauhaustätigkeit ist bestimmt von der Lust an Umgang, Größe, Belastungen, vor allem durch Phänomenen. Phänomene sind sinnliche Erschei- hohe Rotationsgeschwindigkeiten. So entstand um nungen. Man muss sich den Blick dafür erarbeiten, 1900 die Materialprüfung. Phänomene zu entdecken. Johannes Itten entwirft 1920 den „Turm des Feuers“ – mit seinen Phäno- 7 Johannes Itten, Mein Vorkurs am Bauhaus, Gestaltungs- und Formenlehre. Ravensburg 1963. Neu bearbeitet und er- gänzt von Anneliese Itten Ravensburg 1975, 17. 8 Johannes Itten, Mein Vorkurs am Bauhaus, Gestaltungs- und Formenlehre. Ravensburg 1963. Neu bearbeitet und ergänzt von Anneliese Itten Ravensburg 1975, 8/9. 9 Beispiel: Takehiko Mizutani: Materialstudie aus dem Vorkurs von Josef Albers. 1928. 15
Im Bauhaus untersuchen Studenten und Dozenten nicht umgekehrt. Empirie. Man kann sie nur zum gemeinsam, was Materialien für die alten und neu- Teil wissenschaftlich fundieren. Das Handwerk en Fertigungsprozesse hergeben können9. geht weit darüber hinaus. Die Wissenschaften bleiben oft zurück. Besonders wichtig im Bauhaus: Die Untersuchungsaufgaben, die die Studierenden Forschen durch geradezu extremes Experimentie- erhalten, zielen auf Werkstoffe, auch auf industriell ren. So ist das Bauhaus eine Experimentierwerk- hergestellte. Es sind meist Abfälle von Holz, Bast, statt. Gropius bezeichnet 1925 die Werkstätten als Draht, Blech, Kohle u. a. Die Studenten sollen ihre „Laboratorien“. stofflichen Eigenschaften herausfinden, weiterhin die daraus hervorgehenden Verwendungsmög- Motivation lichkeiten, ferner ihre psychologisch-ästhetischen Wirkungen und schließlich ihre Haltbarkeiten. Zunächst geht es um das Wecken von Motivatio- nen. Darin ist das Bauhaus großartig10. Es hat vie- Beziehungen von Material und Form lerlei Methoden dafür, die Neugier zu wecken und zu erhalten. Josef Albers formuliert: Zwischen dem Materi- al und der Form bestehen Beziehungen. Sie sind Welche Resultate? jedoch nicht einfach zu gewinnen, sondern nur durch ein Studium – sie wollen erschaut werden. Zeitweilig ist die Ausbildung im Bauhaus auf Re- sultate orientiert11. Frühe Ökologie Dies ist ein ständig mitlaufender Konflikt. Walter Schon damals kommt ein Problem hinzu, das in Gropius will die handwerkliche Ausbildung auch unseren Tagen immer drängender wird: die Ver- mit kommerziellen Aufträgen für die Werkstätten wertung von Resten. Ökologisches Denken ist auch in Verbindung bringen: Diese Produktionen sollen die Sparsamkeit im Umgang mit Materialien. zur Finanzierung des Bauhauses beitragen. Sie impliziert in der Bauhauzeit, dass der größte Der zweite Leiter des Bauhauses, Hannes Meyer, Teil der Bevölkerung kaum Finanz-Ressourcen verordnet den Werkstätten höhere Wirtschaftlich- besitzt. Die Bauhaus-Hochschule orientiert sich keit. Hingegen propagiert der dritte Leiter, Ludwig darauf, für diese breiten Massen eine Kultur zu Mies van der Rohe, den Verzicht auf Produktion. entwickeln. Er sieht in den Notwendigkeiten der Produktion eine Einengung der Ausbildung. Mies van der Heute stellt sich das Problem immer heftiger als Rohe sagt, es gäbe eine „unglückliche Verquickung gesellschaftliches Problem – wenn wir überleben von Schulbetrieb und Produktion“. Dies ist ein of- wollen. Ich weise auf die Untersuchungen des fenes Problem in den Handwerksausbildungen – Wuppertal-Instituts hin. bis heute. Es beschäftigt uns immer noch. Methoden Die Meister-Frage Handwerk ist Wissen um Materialien, Formen und In der ersten Phase des Bauhauses nennen sich die Handhabungen. Das Entdecken wird gefördert, Dozenten bewusst „Meister“ und „Jungmeister“. wenn man zunächst nutzenfrei denken darf. Dies Es gibt „Werkmeister“ und „Formmeister“. Dies fördert die Kreativität erheblich. Dazu gehört: Be- ist eine Demonstration der Zugehörigkeit zum obachten lernen. Aus der Praxis Theorie ziehen – Handwerk – auch deutlich antiakademisch ge- 10 Als ich 2003 meine Bauhaus-Bibliothek in Eisenheim baute, war mein Schwiegersohn Elmar Lancé arbeitslos. Er war als Elektro-Ingenieur ausgebildet, aber damals brauchte man keinen. Wir nahmen ihn aufs Baukonto – dreiviertel Jahre lang. Er war tätig in der Ausstattung des Baues. Ich zeigte ihm, wie Bauhaus-Gestaltung angelegt ist. Dabei machte ich die Erfahrung: Es ist sehr einfach, das zu lernen, man kann es sehr schnell. Das Bauhaus hätte ihn – den Elektro-Mann, der übrigens erst eine Elektriker-Lehre gemacht hatte – sofort genommen. Das Ergebnis kann man sich in der Bauhaus- Bibliothek ansehen. 11 Dieser Vorkurs richtet sich allein auf den Lernvorgang. Er soll noch keine Kunstwerke schaffen. Dies steht für eine hohe Intensität des Studierens, bevor ein Produkt angefertigt wird. 12 Zu diesem Thema detailliert: Magdalena Droste, Vom Meister zum Professor. Die Symbolik der Titelfrage am Bauhaus. In: Wolfgang Ruppert/Christian Fuhrmeister (Hg.), Zwischen Deutscher Kunst und internationaler Modernität. Formen der Künstlerausbildung 1918 bis 1968. O. O. (München) und Jahr (2007), 127/136. . 16
meint. Im Bauhaus-Manifest fest heißt es: „ ... nicht aber das Leere in ihnen wirkt das Wesen des Top- Lehrer und Schüler im Bauhaus, sondern Meister fes. Mauern mit Fenstern und Türen bilden das und Gesellen und Lehrlinge“. Die Konferenz der Haus, aber das Leere in ihnen erwirkt das Wesen Dozenten ist der „Meisterrat“. Die meisten Dozen- des Hauses. Grundsätzlich: Das Stoffliche birgt ten weigern sich etliche Jahre, den angebotenen Nutzbarkeit. Das Unstoffliche birgt Wesenheit.“13 Titel „Professor“ anzunehmen. Die Reihe der Do- zentenwohnungen nennt sich „Meister-Häuser“. Besonders intensiv hat sich der Bauhaus-Meister Den Professoren-Titel nimmt nur ein Teil (!) der Laszlo Moholy-Nagy mit dem Raum befasst14. Vor Dozenten erst in der zweiten Phase an, 1927, als allem mit Raum, der sich bewegt. Die Gestaltung die Bindung an das Handwerk sich durch die Um- des Raumes führt zu unterschiedlichen Szenerien. stände abschwächt. Der Student Hubert Hoffmann Die besondere Qualität der im Bauhaus entwickel- spricht von der „hohlheit akademischer ... Kunst- ten Möbel beruht darauf, dass sie weniger Gegen- auffassung, die es am Bauhaus nicht gebe.“ 1932 stand als vielmehr Raum bilden. Die Bauhaus-Foto- werden die kleinen Klassen gelobt – und es gäbe grafie begriff, dass die Bauhaus-Objekte räumliche keine „verkalkten ... Hochschulprofessoren“ (Hans Formen sind. Kessler)12. Konstruktion Erziehungswesen Kinder konstruieren endlos mit Klötzen und Stä- Für das Erziehungswesen gibt das Bauhaus viele ben. Die Ingenieurtätigkeit des Industriezeitalters Impulse, vor allem nach 1945. Aber das Erzie- besteht in großem Umfang aus Konstruktionen. hungswesen weiß wenig davon, was eigentlich im Kern darin steckt. Marcel Breuer baut wie ein Installateur seine ersten Sessel aus Gas-Rohren15. Es gab sie überall, sie wa- Und es hat andere Wege genommen – zu seinem ren billig und sie ließen sich umformen. Schaden und zum Schaden der Gesellschaft. Dazu kann man viele Fragen stellen. Das Bauhaus versuchte immerzu, Vorhandenes durch das Entdecken neuer Möglichkeit und Um- Grundlegend: räumliche Phänomene formen weiter zu entwickeln. Nach den Materialien sind es besonders die räum- Es entsteht eine große Lust an Konstruktionen. Am lichen Phänomene, für deren Entdeckung das Bau- Zusammenstecken. Am Gleichgewicht. haus grundlegende Übungen entwickelt, mit de- nen sich jedermann und besonders Auszubildende Die Konstruktion hat mit dem Raum zu tun. Räu- elementare Phänomene klarmachen können. Dies me werden nicht mehr durch Massen gebildet, hat für das ganze Leben Bedeutung. sondern durch Stabwerke, Gitter und Auskragun- gen. Durch Verzicht auf Masse wird die räumliche Ich erinnere daran, dass viele Kinder, die kein Kör- Wirkung gesteigert. Eine weitere Steigerung ist das pergefühl entwickeln, nicht mit Raum umgehen Gestalten durch Licht. können. Sie laufen beim Sport in der Turnhalle schlicht vor die Wand. Darstellung von Kontrasten und Spannungen Zweitens: In der Handwerksausbildung gehört auch das räumliche Denken zur Grundlage. Das Nächste, was intensiv studiert und gestaltet wird, sind Unterschiedlichkeiten. Was ist Raum? An Kontrasten ist das Bauhaus besonders interes- Laotse sagt Kluges dazu: „Dreißig Speichen treffen siert16 – als Ausdruck einer Zeit, in der es ungeheu- die Nabe, aber das Leere zwischen ihnen erwirkt erlich kontrast-explosiv zugeht. Ich erinnere an die das Wesen des Rades. Aus Ton entstehen Töpfe, vielen Bauten mit spitzen Ecken. 13 Johannes Itten, Mein Vorkurs am Bauhaus, Gestaltungs- und Formenlehre. Ravensburg 1963. Neu bearbeitet und er- gänzt von Anneliese Itten Ravensburg 1975, 13. 14 L. Moholy-Nagy, Vom Material zum Raum. Bauhausbücher Nr. 14. München 1929. Nachdruck: Mainz 1968. 15 Marcel Breuer: Clubsessel B 3, zweite Version. 1926. 16 Johannes Itten, Mein Vorkurs am Bauhaus, Gestaltungs- und Formenlehre. Ravensburg 1963. Neu bearbeitet und er- gänzt von Anneliese Itten Ravensburg 1975, Abb. S. 10/11 (Darstellung von Kontrasten). 17
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