Was will ich werden? Berufswahl: Erziehung & Wissenschaft 04/2017 - GEW

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Was will ich werden? Berufswahl: Erziehung & Wissenschaft 04/2017 - GEW
Gewerkscha
                                           Erziehung und Wissenscha

Erziehung & Wissenschaft        04/2017
Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW

            Berufswahl:

            Was will ich werden?
Was will ich werden? Berufswahl: Erziehung & Wissenschaft 04/2017 - GEW
2 GASTKOMMENTAR

                                                                             Foto: BIBB
ANGELIKA PUHLMANN

              Berufsberatung verbessern
               Über die Teilhabe von Frauen an Ausbildung und Beruf gibt es               Mädchen und Jungen sollten schon frühzeitig Einblick in ein
               in Deutschland zwei scheinbar diametral entgegengesetzte                   breites – auch für sie „untypisches“ – Berufsspektrum er-
               Erzählungen: Die eine hebt den gestiegenen Frauenanteil mit                halten. Ebenso sollten geschlechtsbezogene Konnotationen
               Abitur, die Selbstverständlichkeit einer Berufsausbildung und              von Berufspräsentationen – Berufsbilder und Beschreibun-
               die gestiegene weibliche Erwerbstätigkeit hervor. Die andere               gen – erkannt und durch klischeefreie Darstellungen ersetzt
               verweist darauf, dass Frauen trotz besserer Schulabschlüsse                werden, die einen Beruf als gleichermaßen für Frauen und
               immer noch größere Schwierigkeiten als Männer haben, einen                 Männer geeignet zeigen. Entsprechende Materialien lassen
               Platz im dualen System zu finden und sich häufiger für schuli-             sich nutzen, um die Perspektiven von Eltern auf die Ausbil-
               sche Ausbildungen in Gesundheit, Pflege, Sozialem, Erziehung               dungsmöglichkeiten ihrer Töchter – und Söhne – zu erwei-
               entscheiden. Und dass Erwerbsunterbrechungen und Teilzeit-                 tern. So können „untypische“ Berufsentscheidungen geför-
               arbeit weiterhin weibliche Berufsverläufe charakterisieren.                dert werden. Dazu gehören – ganz wichtig – immer auch
               Als dritte Erzählung lässt sich noch die über die verschiede-              Informationen über Ausbildungsvergütungen, Verdienst-
               nen Prognosen hinzufügen: dass „die Wirtschaft“ „die Frau-                 und Karrierechancen in einzelnen Berufen sowie über Ar-
               en“ braucht, dass ihr „Arbeitsmarktpotenzial“ besser aus-                  beitsbedingungen in den unterschiedlichen Branchen, etwa
               geschöpft und ihre „zeitliche Erwerbspartizipation“ erhöht                 Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Rückkehrmöglich-
               werden sollen.                                                             keiten nach Auszeiten oder Beschäftigungssicherheit. Alle
               Angesichts dieser Szenarien muss man sich jedoch fragen,                   diese Aspekte müssten Bestandteil einer berufsbiografisch
               wie die Wahlmöglichkeiten junger Frauen heute tatsächlich                  orientierten Beratung in Hinblick auf Einkommen und Al-
               einzuschätzen sind. Haben sie zugenommen? Und wenn ja,                     terssicherung sein. Themen, die wahrscheinlich bei jungen
               werden sie auch genutzt? Ein vergleichender Blick auf die                  Frauen in der Berufswahlphase noch keine große Aufmerk-
               neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge junger Frauen                      samkeit erregen. Aber bereits mit der Entscheidung über
               und Männer in den 25 am stärksten besetzten dualen Aus-                    einen Ausbildungsweg werden diese Fragen wichtig: Denn
               bildungsberufen lässt daran zweifeln. Es ergibt sich ein über              anders als eine schulische Berufsausbildung, die häufig so-
               Jahrzehnte hinweg grundlegend unverändertes Bild: ein brei-                gar noch Geld kostet, ist eine duale Ausbildung mit einer
               teres Berufsspektrum für junge Männer mit Schwerpunkten                    Vergütung verbunden, inklusive einer Sozialversicherung,
               in gewerblich-technischen und handwerklichen Berufen, ein                  mit der bereits Anwartschaften für die Rente erworben wer-
               engeres Berufsspektrum für junge Frauen mit Schwerpunkten                  den. Nicht zuletzt muss allerdings die Wirtschaft für deutlich
               in kaufmännischen Berufen, im Verkauf und in Freien Berufen                mehr gute Ausbildungs- und Beschäftigungsangebote für
               (s. Interview S. 12 ff.). Zudem ist die Zahl der Ausbildungsan-            Frauen in „Männerdomänen“ sorgen. Nur so realisiert sich
               fängerinnen im dualen System weiter rückläufig.                            ein erweitertes Berufsspektrum.
               Dieser Trend spiegelt in gewisser Weise den Arbeitsmarkt
               wider, der ähnlich unter Männern und Frauen aufgeteilt ist.                Angelika Puhlmann,
               Deshalb müssen wir die Berufsberatung dringend verbessern,                 Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB),
               um „Grenzüberschreitungen“ bei der Berufswahl anzuregen                    stellvertretende Leiterin des Arbeitsbereichs Übergänge in Ausbildung
               und zu unterstützen (s. S. 16 f. und S. 19 f.).                            und Beruf, Berufsorientierung/Berufsorientierungsprogramm

  Erziehung und Wissenschaft | 04/2017
Was will ich werden? Berufswahl: Erziehung & Wissenschaft 04/2017 - GEW
INHALT     3

                                                                   Prämie
Inhalt                                                           des Monat
                                                                           s
                                                                       Seite 5

Gastkommentar                                                                                   IMPRESSUM
Berufsberatung verbessern                                                           Seite 2    Erziehung und Wissenschaft
                                                                                                Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung · 69. Jg.

Impressum                                                                           Seite 3    Herausgeber:
                                                                                                Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
                                                                                                im Deutschen Gewerkschaftsbund
Auf einen Blick                                                                     Seite 4    Vorsitzende: Marlis Tepe
                                                                                                Redaktionsleiter: Ulf Rödde
                                                                                                Redakteurin: Helga Haas-Rietschel
Prämie des Monats                                                                   Seite 5    Redaktionsassistentin: Katja Wenzel
                                                                                                Postanschrift der Redaktion:
                                                                                                Reifenberger Straße 21
Schwerpunkt:                                                                                    60489 Frankfurt am Main
                                                                                                Telefon 069 78973-0
Berufswahl: Rollenklischees und Geschlechterstereotype                                          Fax 069 78973-202
                                                                                                katja.wenzel@gew.de
1.	Berufswünsche: Was will ich werden?                                             Seite 6    www.gew.de
2.	Ausbildungssuche: Beharrlich stereotyp und eingeschränkt                        Seite 8    facebook.com/GEW.DieBildungsgewerkschaft
                                                                                                twitter.com/gew_bund
3.	Interview mit Hannelore Faulstich-Wieland: „Rollenbilder sind sehr wirksam“     Seite 12
                                                                                                Redaktionsschluss ist in der Regel
4.	Gendersensible Berufsorientierung: „Als Lehrende sind wir Rollenvorbilder“      Seite 16   der 7. eines jeden Monats.
5.	Stereotype aufbrechen – was bringen Girls‘- und Boys‘Days?                      Seite 19   Erziehung und Wissenschaft erscheint elfmal jährlich.
                                                                                                Nachdruck, Aufnahme in Onlinedienste und Internet
                                                                                                ­sowie Vervielfältigung auf Datenträger der „Erziehung
Initiative „Bildung. Weiter denken!“                                                             und Wissenschaft“ auch auszugweise nur nach vorheri-
                                                                                                 ger schriftlicher Genehmigung der Redaktion.
1.	Kongress in Bochum: „Primat der Pädagogik gilt auch in der digitalen Bildung“   Seite 21
                                                                                                Gestaltung:
2.	Mythen der Steuerpolitik: Bildungsausgaben – Taschenspielertrick                Seite 27   Werbeagentur Zimmermann,
3.	Die Kernthesen des Tobias Kaphegyi: Verheerende Bilanz des Neoliberalismus      Seite 28   Heddernheimer Landstraße 144
                                                                                                60439 Frankfurt
4.	Die Initiative präsentiert sich: Heraus zum 1. Mai!                             Seite 30
                                                                                                Für die Mitglieder ist der Bezugspreis im Mitglieds-
5.	Aktionszeiträume: Blick zurück und nach vorne                                   Seite 30   beitrag enthalten. Für Nichtmitglieder beträgt der
                                                                                                Bezugspreis jährlich Euro 7,20 zuzüglich Euro 11,30
                                                                                                Zustellgebühr inkl. MwSt. Für die Mitglieder der
Dialog: Zeitschrift für Seniorinnen und Senioren                                ab Seite 23    Landesverbände Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen,
                                                                                                Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland,
                                                                                                Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen werden die
Jugendhilfe und Sozialarbeit                                                                    jeweiligen Landeszeitungen der E&W beigelegt. Für un-
                                                                                                verlangt eingesandte Manuskripte und Rezensionsexem-
15. Kinder- und Jugendbericht: Volljährig, aber nicht unabhängig                    Seite 31   plare wird keine Verantwortung übernommen. Die mit
                                                                                                dem Namen des Verfassers gekennzeichneten Beiträge
                                                                                                stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder
Marktplatz                                                                          Seite 33   des Herausgebers dar.

                                                                                                Verlag mit Anzeigenabteilung:
28. GEW-Gewerkschaftstag                                                                        Stamm Verlag GmbH
                                                                                                Goldammerweg 16
Kandidatinnen und Kandidaten für den Geschäftsführenden Vorstand der GEW            Seite 34   45134 Essen
                                                                                                Verantwortlich für Anzeigen: Mathias Müller
                                                                                                Telefon 0201 84300-0
E&W-Serie „Willkommen in Deutschland“                                                           Fax 0201 472590
                                                                                                anzeigen@stamm.de
„Alles gut“ – ein Film über Flüchtlingsfamilien: „Wir schaffen das trotzdem“        Seite 43   www.erziehungundwissenschaft.de
                                                                                                gültige Anzeigenpreisliste Nr. 40
                                                                                                vom 01.01.2017,
Schule und Medien                                                                               Anzeigenschluss
Medium Film in der Schule: Filmkompetenz erwerben                                   Seite 44   ca. am 5. des Vormonats

                                                                                                Erfüllungsort und Gerichtsstand: Frankfurt am Main
Leserforum                                                                          Seite 46

Diesmal                                                                             Seite 48
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                                                                                                       Die E&W wird auf 100 Prozent chlorfrei
Titel: Werbeagentur Zimmermann                                                                         gebleichtem Recyclingpapier gedruckt.

                                                                                                Erziehung und Wissenschaft | 04/2017
Was will ich werden? Berufswahl: Erziehung & Wissenschaft 04/2017 - GEW
4 AUF EINEN BLICK

                BAföG: zu wenig zum Leben                                          Chancen – nicht für alle
                Nun gibt es wieder eine Debatte über                               Nach wie vor – gut 15 Jahre nach dem PISA-Schock – beein-
                das Bundesausbildungsförderungsge-                                 flusst die soziale Herkunft erheblich die Bildungschancen
                setz – kurz BAföG: Anlass ist der Mitte                            der Kinder und Jugendlichen. Zu diesem Ergebnis kommt die
                Februar veröffentlichte „Alternative                               aktuelle Bildungsstudie „Chancenspiegel 2017“, die Anfang
                BAföG-Bericht“ von DGB-Jugend,                                     März in Berlin präsentiert worden ist. Das gemeinsame Moni-
                GEW, ver.di und IG Metall. Der Report                              toring von Bertelsmann Stiftung, TU Dortmund und Uni Jena
                zeigt, was bei der staatlichen Ausbildungsförderung schief         zeichnet für den Zeitraum von 2002 bis 2014 nach, wie es um
                läuft. Zum Beispiel: Die Studierendenzahlen steigen, der Anteil    Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen, um Gerech-
                der BAföG-Empfänger schrumpft. Die Gewerkschaften werte-           tigkeit und Leistungsfähigkeit in deutschen Schulen steht.
                ten aktuelle BAföG-Zahlen aus und stellten fest, dass Bedarfs-     Demnach liegen Neuntklässler aus einkommensschwächeren
                sätze und Freibeträge zu niedrig, Wohnkostenpauschale und          Familien in ihrer Lesekompetenz trotz leichter Verbesserun-
                Altersgrenzen realitätsfern seien. Fazit: Das BAföG sei im Laufe   gen immer noch mehr als zwei Schuljahre hinter ihren Klas-
                seiner Geschichte erheblich erodiert. Obwohl die Fördersätze       senkameraden aus privilegierten Milieus (s. DIESMAL S. 48)
                im vergangenen Herbst um sieben Prozent erhöht worden sei-         zurück. Ein weiterer Befund: Die Unterschiede zwischen den
                en, „liegen diese um 6,4 Prozentpunkte unter der Entwicklung       Bundesländern haben sich seit 2002 vergrößert: „Land der
                der Lebenshaltungskosten seit 1971“, heißt es in dem Bericht.      unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ statt „gemeinsame
                Aktuell liegt der Höchstsatz für einen Studierenden, der nicht     Bildungsrepublik“ – so könnte man die Ergebnisse des neuen
                bei seinen Eltern wohnt, bei 735 Euro im Monat. Zwei Drittel       „Chancenspiegel Schule“ zusammenfassen. „Spiegel Online“
                der Studierenden müssen jobben, um die Löcher in ihrem             titelte: „Falscher Wohnort? Pech gehabt.“ Besonders schlecht
                Geldbeutel zu stopfen. Einem „Spiegel“-Bericht zufolge sei die     kommt unter dem Aspekt der Chancengleichheit das Schul-
                Quote der geförderten Studierenden in den vergangenen drei         system in Bayern weg – zu undurchlässig, zu wenig Ganztag,
                Jahren von 19 auf 15 Prozent gesunken. Dagegen hatten in den       zu kleiner Inklusionsanteil. „Modernisierungsrückstände“
                ersten BAföG-Jahren einmal fast 45 Prozent der Studierenden        nennen das die Wissenschaftler aus Dortmund und Jena. In
                Förderung erhalten. Die GEW dringt darauf, die BAföG-Sätze         Abstufungen gelte dies auch für das einstige Bildungsmuster-
                noch vor der Bundestagswahl anzuheben. Das BAföG müsse             land Baden-Württemberg.
                endlich wieder zu 100 Prozent als Zuschuss gewährt, Förder-
                sätze und Freibeträge müssten automatisch an die steigenden
                Lebenshaltungskosten angepasst werden, fordert GEW-Vize            Nachhilfeboom
                und Hochschulexperte Andreas Keller: „Nur so können wir            Für 1,2 Millionen Jugendliche ist Nachhilfeunterricht ein fes-
                den sozialen Numerus clausus überwinden.“ Die GEW plädiert         ter Bestandteil ihrer Schulkarriere. Darauf wies bereits eine
                zudem dafür, so schnell wie möglich eine umfassende Struk-         Untersuchung im vergangenen Jahr hin. Eine neue Studie der
                turreform der Ausbildungsförderung anzupacken.                     Hans-Böckler-Stiftung (HBS) macht jetzt noch einmal deutlich,
                Mehr Infos: www.jugend.dgb.de/studium                              dass der kommerzielle Nachhilfeunterricht ein boomender
                                                                                   Geschäftszweig sei, mit dem in Deutschland Milliarden Euro
                                                                                   verdient werden. Diese Entwicklung trage dazu bei, dass sich
                Sozial abgehängt                                                   die soziale Kluft in der Schülerschaft vertieft. Denn Eltern mit
                Etwa 3,7 Millionen Minderjährige sind in Deutschland nach          geringerem Einkommen könnten sich Nachhilfe für ihre Kin-
                Angaben der Kinder- und Jugendhilfe „sozial abgehängt“ –           der kaum leisten (Report folgt im Juni-Heft). Einen Ausweg
                „durch Eltern ohne Berufsausbildung, ohne Job oder durch           aus dieser sozialen Ungleichheit sieht der Dortmunder Bil-
                von Armut bedrohte Elternhäuser“. Sie gehörten zu den              dungsforscher Prof. Wilfried Bos im Ausbau des Ganztags. Für
                „Verlierern ihrer Generation“, stellte die Vorsitzende der Ar-     Bos eine Chance, einer fortschreitenden Privatisierung der
                beitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, Karin Böllert,      Bildung entgegenzuwirken. Ganztagsschulen könnten verhin-
                Ende März in Berlin fest. Von 3,7 Millionen vertanen Chan-         dern, dass per Nachhilfe zunehmend
                cen spricht Norbert Hocke, im GEW-Vorstand für Jugendhilfe         das Portemonnaie der Eltern
                und Sozialarbeit verantwortlich. Ein gesellschaftlicher Skan-      über Lebensperspektiven der
                dal, der endlich behoben werden müsse. Seit langem fordert         Kinder entscheide, sagte der
                die GEW eine Kindergrundsicherung für alle Kinder, die das         Schulentwicklungsexperte
                Existenzminimum und eine gute Bildung ermöglicht. Dazu             gegenüber der Deutschen
                verpflichte auch das Grundgesetz, so Hocke. Finanzielle Ar-        Presse-Agentur (dpa). Der
                mut gehe häufig auch mit Bildungs- und Kulturarmut einher.         aktuelle Nachhilfeboom sei
                Der Kinder- und Jugendhilfetag der Arbeitsgemeinschaft für         eigentlich eine „Bankrotter-
                Kinder- und Jugendhilfe habe dies eindrucksvoll verdeutlicht       klärung für die Schule“.
                (Bericht folgt in der Mai-Ausgabe).
                Info: Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe ist
                                                                                                                                                      Foto: dpa

                ein Netzwerk bundeszentraler Organisationen und Institutio-        Prof. Wilfried Bos,
                nen der freien und öffentlichen Jugendhilfe.                       Bildungsforscher

   Erziehung und Wissenschaft | 04/2017
Was will ich werden? Berufswahl: Erziehung & Wissenschaft 04/2017 - GEW
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Was will ich werden? Berufswahl: Erziehung & Wissenschaft 04/2017 - GEW
6 BERUFSWAHL: ROLLENKLISCHEES UND GESCHLECHTERSTEREOTYPE

              Was will ich werden?
               // Welchen Einfluss haben Geschlechterstereotype auf die berufliche Orientierung von Mädchen
               und Jungen? Wissen die jungen Menschen, was ihre Entscheidung für ihr Leben bedeutet?
               E&W hat drei Jugend­liche aus Berlin befragt. //

           Traumberuf                                         Paul: „Schön wäre
           Hundetrainer                                      ich irgendwann Hu
                                                             werden könnte. Da
                                                                                 es, wenn
                                                                                 ndetrainer
                                                                                  es den
                                                             Beruf nicht als Ausb
           // Paul, 15 Jahre alt,                                                 il-
                                  10
           einer Sekundarschu . Klasse
                                                             dungsberuf gibt, mu
                                                                                  ss
                                 le, macht                  ich zunächst Tierpfle
          in diesem Schuljahr                                                     ger
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          Mitt­leren Schulabs inen
                                                            lernen.“
                               chluss
          (MSA). //

           „Ich fange gerade
                               an, mich für einen
           Ausbildungsplatz
                               als Tierpfleger zu
          bewerben. Schön
                               wäre es, wenn ich
          irgen dw an n Hu nd
                                et rain er we rd en

                                                                                                                                                         ann
          könnte. Da es den
                             Beruf nicht als Aus-

                                                                                                                                                  Fotos: Kay Her schelm
         bildungsberuf gibt,
                               muss ich zunächst
         Tierpfleger lernen.
                                Hundetrainer ist
         aber mein Traumbe
                               ruf. Den Tipp hat
         mir meine Mutter ge                            Wichtig ist mir, da
                              geben. Mit Hunden                             ss ich so schnell wi
        konnte ich schon im                            möglich eigenes Ge                        e     dung sein wird. Ich
                              mer gut umgehen.                                ld verdienen kann                              kann mir aber gut
        Ich habe es als Kind                           Ein Beruf muss mir                         .    vorstellen, mein Le
                             sogar geschafft, ei-                            aber auch Spaß ma                             ben lang mit Hunden
       nen Hund, der imme                              chen. Als kleiner Ju                      -     zu arbeiten. Wenn
                              r vor Angst bellte,                           nge wollte ich Feue                             ich er wachsen bin
       wenn er Kinder ge                              wehrmann werden                           r-     würde ich gern in                      ,
                           sehen hat, die Angs                             , so wie viele andere                           einer Wohngemein
       vor ihnen zu nehmen                      t     Jungs auch. Zurzeit                             schaft oder allein                      -
                             .                                              mache ich mir noch                            leben, aber nicht in
                                                      keine Gedanken, wa                              Berlin. Kinder will
                                                                             s nach der Ausbil-                           ich keine haben, Er-
                                                                                                      ziehung wäre mir zu
                                                                                                                            schwierig.“

               Nach dem Abi viel reisen
                                                               Asien, Südamerik a, Afrik a. Mich inte-        Wenn ich 30 bin, hoffe ich, dass ich bis
               // Emma, 15 Jahre, besucht die                                                                 dahin viel von der Welt gesehen und ei-
                                                               ressieren fremde Sprac hen, deshalb
               9. Klasse eines Gymnasiums. //                                                                 nen Job habe, der mir gut gefällt. Aber
                                                               kann ich mir gut vorstellen, später
                                                               einmal etwas in diesem Bereich zu              so richtig vorstellen kann ich mir das
                „Nach dem Abi möchte ich viel reisen,                                                         heute noch nicht. Karriere oder viel
                                                               studi eren.
                mir viele Länder anschauen und die Zeit                                                       Geld zu verdienen, ist für mich nicht
                                                               Als ich ein kleines Kind war, wollte ich
                genießen. Vielleicht verbinde ich das                                                         wichtig. Über Familie und Kinder mache
                                                               Musikerin oder Sängerin werden. Das
                auch mit einem Freiwilligen Sozialen                                                          ich mir noch gar keine Gedanken.
                                                                kann ich mir auch heute noch vorstel-
                Jahr (FSJ).
                                                                len. Den Beruf der Lehrerin fand ich frü-     Wenn ich erwachsen bin, würde ich
                Ansc hauen will ich mir vor allem ganz                                                         gerne von Zuhause ausziehen und mit
                                                                her auch ganz toll. Heute nicht mehr so,
                beso ndere Orte; das sind für mich                                                             anderen zusammen in einer Wohnge-
                                                                da ich unser Schulsystem alles andere
                 Länd er und Kulturen außerhalb West-                                                          meinschaft leben.“
                                                                als gut finde.
                 euro pas und Nordamer ikas – z. B.

  Erziehung und Wissenschaft | 04/2017
Was will ich werden? Berufswahl: Erziehung & Wissenschaft 04/2017 - GEW
BERUFSWAHL: ROLLENKLISCHEES UND GESCHLECHTERSTEREOTYPE                                           7

             iwilliges S oziales Jahr
Zunächst: Fre                                       Wie mein Leben in
                                                                       zehn oder 15 Jahre
                                                                                           n        aber alles stimmen
                                                                                                    in den nächsten
                                                                                                                         . Ich hoffe, dass sic
                                                                                                                        Jahren    die    Ge se
                                                                                                                                                 h
                                                                                                                                               tze
                        12. Klasse                                     rd sich zeigen. Vi el-
                                                                                                                          optionen für gleich
                                                                                                                                                  -
// Jule, 17 Jahre alt, acht in                      aussehen wird, wi                               ändern,  so  da ss Ad
                    s,  m                                                  Partner oder eine                                        te r mö  gli ch
eines Gymnasium                                                                                                          are lei ch
                                                    leicht habe ich einen                            geschlechtliche Pa
                     r. //                                                 bekommen, kann
diesem Jahr Abitu                                   Partnerin. Kinder zu                             sind.“
                                                                         rstellen. Dann muss
                                                     ich mir auch gut vo
                         rde ich zunächst
„Nach dem Abi we
                      ziales Jahr (FS J) im                                                       mich nicht
ein Freiwilliges So                                       Jule: „Gleich zu stu
                                                                               dieren, kommt für
                      solvieren; wenn es                                                            d weiß gar
Bereich Kultur ab                                         infrage; ich habe so
                                                                                viele Interessen un
                        r Jugendkulturen in                                                         mm en soll.“
 klappt, im Archiv de                                      nicht, wie ich die un
                                                                                 ter einen Hut beko
                        Mutter Historikerin
 Berlin. Dass meine
                         eine Rolle bei mei-
 ist, spielt sicherlich                        i-
                       aber keine entsche
  ner Entscheidung,                         em
                        ch eher an mein
  dende. Ich habe mi
                         tiert. Was nach dem
  Freundeskreis orien
                         ich sehen. Gleich zu
  FSJ kommt, werde                                -
                        für mich nicht infra
   studieren, kommt                          un  d
                             le Interessen
   ge; ich habe so vie
                           ich  die unter einen
   weiß gar nicht, wie
                             Vor ein paar Jahren
    Hut bekommen soll.
                           gt, ich ziehe mit 18
    habe ich noch gesa                            it
                          Das ist aber derze
    von Zuhause aus.                         sc h.
                              den unrealisti
    aus finanziellen Grün
                          sc  he  haben sich in
     Meine Berufswün                              n-
                           Jahren stark gewa
     den vergangenen                        Ph  ilo  -
                            ige wollte ich
     delt. Als Sechsjähr                     lle rin ,
                             äter Schriftste
     sophin werden, sp
     dann Schauspielerin.

                                                                                                Emma: „Nach dem Abi möchte ich viel
                                                                                                reisen und mir viele Länder anschauen
                                                                                                und die Zeit genießen.“

                                                                                                Aufgezeichnet von Jürgen Amendt,
                                                                                                Redakteur „neues deutschland“

                                                                                                                   Erziehung und Wissenschaft | 04/2017
Was will ich werden? Berufswahl: Erziehung & Wissenschaft 04/2017 - GEW
8 BERUFSWAHL: ROLLENKLISCHEES UND GESCHLECHTERSTEREOTYPE

               Typisch männlich: der Mechatroniker.
               Bei der Berufswahl der jungen Männer

                                                                                                                                               Foto: dpa
               liegt er ganz vorne.

              Beharrlich stereotyp
              und eingeschränkt
               // Jungen wählen oft technische,             Frauen eine Ausbildung zur Kauffrau für    von 45 Prozent in allen Berufen zu errei-
               Mädchen häufig soziale und                   Büromanagement, gefolgt von Einzel-        chen. Damit wird deutlich, dass sich die
               kommunikative Berufe – und                   handelskauffrau und medizinischer Fach­    Frauenanteile in den meisten Berufen
               hängen mit Blick auf Verdienst               angestellter. Jungen entschieden sich      über die letzten 35 Jahre nur wenig ver-
               und Karriere meist hinterher.                am häufigsten für eine Lehre als Kraft-    ändert haben.“
               Beklagt wird dies seit längerem.             fahrzeugmechatroniker, auch Industrie­     Trotz Initiativen wie dem 2001 gestar-
               Gegengesteuert wird auch.                    mechaniker oder Elektroniker waren         teten Girls‘Day oder dem 2008 ins Le-
               Ohne große Erfolge. //                       gefragt**. Bei Studienanfängern in In-     ben gerufenen „Nationalen Pakt für
                                                            genieurwissenschaften lag der Frauen­      Frauen in MINT-Berufen“ setzt sich eine
               2020 soll die erste deutsche Frau zur In-    anteil 2014 lediglich bei 21 Prozent,      geschlechtsstereotype Berufswahl be-
               ternationalen Raumstation ISS fliegen.       während er in Erziehungswissenschaften     harrlich fort. Dafür gibt es viele Gründe:
               400 Ingenieurinnen und Naturwissen-          74 Prozent, bei Gesundheit und Sozia-      „Es ist ein Zusammenspiel von Präfe-
               schaftlerinnen bewarben sich für das         lem 72 Prozent, in Geisteswissenschaf-     renzen und Persönlichkeit, biologischen
               Projekt „Die Astronautin“*. „Die Zukunft     ten sowie Kunst 68 Prozent betrug***.      Faktoren und Sozialisation“, sagt die
               der Raumfahrt ist weiblich“, verkünde-       In einer 2015 am Hamburgischen Welt-       Wirtschafts- und Sozialwissenschaftle-
               te Brigitte Zypries (SPD), damals noch       wirtschaftsinstitut (HWWI) von Christina   rin Bublitz. Konservative Perspektiven
               Staatssekretärin im Bundeswirtschafts-       Boll, Elisabeth Bublitz und Malte Hoff-    bei unterschiedlichen Akteurinnen und
               ministerium, im September 2016. Klingt       mann erstellten Studie zur geschlechts-    Akteuren der Berufsorientierung, ste-
               toll, doch grundsätzlich sehen die Berufs-   spezifischen Berufswahl**** heißt es:      reotype Werbung und Medieninhalte,
               wünsche junger Frauen ganz anders aus.       „Im Jahr 2010 hätten noch immer 61,4       die Spielwarenindustrie, aber auch Un-
               Laut Statistischem Bundesamt began-          Prozent der Beschäftigten ihren Job        ternehmen und Wissenschaft prägten
               nen auch 2015 die meisten jungen             wechseln müssen, um eine Frauenquote       Rollenklischees, ergänzt die Geschäfts-

  Erziehung und Wissenschaft | 04/2017
Was will ich werden? Berufswahl: Erziehung & Wissenschaft 04/2017 - GEW
BERUFSWAHL: ROLLENKLISCHEES UND GESCHLECHTERSTEREOTYPE                                       9

führerin des Kompetenzzentrums Tech-                 nicht erreicht: Am Girls‘Day hätten 2016   den Spaß an Wissenschaft und Technik
nik-Diversity-Chancengleichheit an der               rund 100 000 Mädchen teilgenom-            zu erhalten, fordert sie. In der Grund-
Fachhochschule Bielefeld, Ulrike Struwe.             men – das seien gerade mal fünf Pro-       schule seien Mädchen noch neugierig
                                                     zent der Adressatinnen. „Wir müssen        und offen für alle naturwissenschaft-
Faktor soziale Herkunft                              die vorhandenen Projekte noch mehr         lichen Fächer: „Erst in der Pubertät
Zu unterscheiden ist indes zwischen                  verstetigen“, fordert Struwe.              bricht das ab. Selbst Mädchen mit gu-
Ausbildungsberufen und Studiengän-                   Jugendliche bräuchten kontinuierlich       ten Fähigkeiten in diesen Bereichen
gen: Auf akademischer Ebene, auf der                 Informationsmöglichkeiten jenseits von     glauben dann, sie könnten etwas nicht.“
Berufsbilder nicht so festgelegt sind,               Stereotypen. Werden solche Angebote        Um das Selbstvertrauen junger Frauen
gebe es weniger Geschlechtertren-                    aufgegeben, „fallen Erfolge sehr schnell   zu stärken, plädiert Struwe dafür, Teen-
nung, so die Leiterin der Arbeitsgrup-               in sich zusammen“. Im Jahr 2000 sei, um    ager während der Pubertät in natur-
pe Geschlechterforschung am Institut                 den Frauenanteil in IT-Berufen zu erhö-    wissenschaftlichen Fächern getrennt zu
für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung                hen, das Ausbildungsprojekt „idee_it“      unterrichten – „damit nicht die Jungen
der Bundesagentur für Arbeit (IAB), Ju-              gestartet worden. 2001 habe es in der      die Experimente durchführen und die
liane Achatz. Akzeptiert werden müsse                Fachinformatik einen Frauenanteil von      Mädchen Protokoll schreiben“ (s. S. 16 f.
zunächst wohl: Einiges sei angeboren.                11,6 Prozent gegeben. 2005 sei das         und S. 19 f.).
„Bestimmte Interessen und Vorlieben                  Projekt eingestellt worden, inzwischen     Die GEW verlange seit langem, dass
haben auch mit unseren Genen und                     liege der Frauenanteil nur noch bei        Lehrkräfte sich Genderkompetenzen
unserem Geschlecht zu tun“, stellt die               7,3 Prozent. Eine frühe Förderung von      aneignen, auch um ihr eigenes Rollen-
Entwicklungspsychologin und Vize­                    Mädchen sei zwar wichtig, aber nicht       verständnis zu reflektieren, so Frauke
kanzlerin der Universität Jena, Eva                  ausschlaggebend. Viele junge Frauen        Gützkow, im GEW-Vorstand für Frau-
Schmitt-Rodermund fest. Auch mit                     entschieden sich erst kurz vor dem Abi­    enpolitik verantwortlich. Im Unter-
Blick auf Fähigkeiten gebe es von klein              tur für einen Beruf, ergab Struwes Dis-    richt sollten wichtige Aspekte der Be-
auf erkennbare Unterschiede: Jungen                  sertation zur „Berufsorientierung tech-    rufswahl wie Verdienstmöglichkeiten,
hätten zum Beispiel im Schnitt eine                  nisch interessierter Jugendlicher“.        Arbeitszeiten und Weiterentwicklungs-
bessere räumliche Wahrnehmung als                                                               perspektiven zudem noch ausführlicher
Mädchen.                                             Genderkompetenzen nötig                    thematisiert werden, um ein Bewusst-
Zu diesen Anlagen gesellten sich Ein-                Für Schmitt-Rodermund setzen Pro-          sein für Geschlechterrollen zu schaffen
flüsse von außen. Bereits Zweijährige                gramme wie der Girls‘Day viel zu spät      und diese aufzubrechen (s. S. 12 f.).
verstünden, dass das, was ihnen Eltern               an. Schon ab der ersten Klasse müsse       Gützkow verweist aber auch darauf,
und Erzieherinnen vorlebten, als ty-                 begonnen werden, auch bei Mädchen          dass Lehrkräfte nach der Familie und
pisch für Männer und typisch für Frau-
en gelte, erklärt Schmitt-Rodermund.
„Kinder haben schon in ganz frühem                                                              Typisch weiblich: die medizinische
Alter eine Vorstellung davon, was Jun-                                                          Fachangestellte. Bei den jungen
gen- und Mädchenberufe sind.“ All                                                               Frauen einer der drei begehrtesten
dies verfestige sich im Laufe der Jahre                                                         Ausbildungsberufe.
zu eigenen Stereotypen und Selbstbil-
dern. Mit Blick auf die Berufswahl sei-
en die Einflüsse von Müttern, Vätern
und Rollenvorbildern in den Familien
am besten untersucht – und wohl am
wichtigsten, stellt Achatz fest. Damit
sei mal wieder der Faktor soziale Her-
kunft bedeutend: Ingenieurs-Eltern
ermutigten ihre Töchter beispielswei-
se eher, einen frauenuntypischen Be-
ruf zu ergreifen.
Struwe zufolge steht der notwendige
gesellschaftliche Wandel nach wie vor
aus. „Bei uns sind Berufe noch immer
stark vergeschlechtlicht. Das ist so in
den Köpfen vieler Menschen drin“, sagt
sie. Girls‘Day und MINT-Pakt seien „ein
Tropfen auf den heißen Stein unseres
                                             Foto: dpa

Langzeitgedächtnisses“ (s. S. 19 f.). Bis-
her sei die Zielgruppe auch noch längst

                                                                                                                Erziehung und Wissenschaft | 04/2017
Was will ich werden? Berufswahl: Erziehung & Wissenschaft 04/2017 - GEW
10 BERUFSWAHL: ROLLENKLISCHEES UND GESCHLECHTERSTEREOTYPE

                                                                                                           ten eines Mathematikstudiums Frauen
                   Hohe Erwartungen                                                                        gewesen, in der Chemie habe die Quote
                   Jugendliche haben der 17. Shell-Studie von 2015* zufolge hohe Bildungs- und             bei 43,9 Prozent gelegen. „Und trotz-
                   Berufserwartungen sowie große Ansprüche an ihre Arbeitgeber. Am wichtigs-               dem heißt es immer wieder abwertend
                   ten ist ihnen jedoch ein sicherer Arbeitsplatz (95 Prozent). Mehr als 90 Prozent        ‚Mädchen interessieren sich nicht für
                   geben an, dass Familie und Kinder gegenüber der Arbeit nicht zu kurz kommen             Mathe‘. Das konterkariert viele Bemü-
                   dürften. Für rund vier Fünftel der Befragten ist es demnach wichtig, dass sie           hungen.“ Achatz mahnt daher einen
                   ihre Arbeitszeit kurzfristig an ihre Bedürfnisse anpassen können. Drei Viertel          langen Atem an: Geschlechterstereoty-
                   wollen in Teilzeit arbeiten, wenn sie Kinder haben. Karriereorientierung steht          pe ließen sich nicht einfach willentlich
                   hinter der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben zurück. Junge Frauen sind           ändern. „Jeder trägt das in sich, auch
                   dabei im Schnitt fordernder als junge Männer. Gleichzeitig vermutet mehr als            wenn er oder sie noch so moderne An-
                   die Hälfte der befragten Jugendlichen, dass es nicht leicht werde, ihre Wünsche         sichten vertritt. Man kann da keine gro-
                   nach einer Work-Life-Balance auf dem Arbeitsmarkt umzusetzen.              N. E.       ßen Schritte erwarten.“ Bublitz warnt
                                                                                                           allerdings davor, Frauen in geschlech-
                   *Shell-Studie 2015: www.shell.de/ueber-uns/die-shell-jugendstudie.html                  teruntypische Tätigkeiten zwingen zu
                                                                                                           wollen. Die Berufswahl sollte immer
                                                                                                           präferenz- sowie persönlichkeitsgelei-
                 Gleichaltrigen erst an dritter Stelle Ein-   der etwa im Medien- und Kulturbereich        tet und frei erfolgen. Nicht jede Frau sei
                 fluss nehmen könnten.                        geben. Neue Berufe seien in der Regel        unzufrieden in einem geschlechter-
                 Nach einer Studie der Vodafone-Stif-         weniger geschlechtertypisiert.               typischen Job. „Aus wissenschaftlicher
                 tung von 2014 hat etwa die Hälfte der                                                     Sicht gibt es keinen Druck, eine gewisse
                 Jugendlichen unzureichende Berufs-           Schulpraktika ausbauen                       ­Quote zu erfüllen.“
                 informationen. Da frage man sich, auf        Unterschiede zwischen Jugendlichen in
                 welcher Basis Berufsentscheidungen           Ost und West gebe es, so die IAB-Exper-      Nadine Emmerich,
                 getroffen würden, so Bublitz. „Vielleicht    tin, unterdessen nicht. Zwar seien früher    freie Journalistin
                 gibt es doch nicht ausreichend Infor-        in der DDR mehr Frauen voll berufstätig
                 mationen – oder vielleicht die falschen.     gewesen als in der BRD. Die Forschung
                 Oder die pure Anzahl existierender           habe inzwischen jedoch gezeigt, dass         *„Die Astronautin“:
                 Berufe überfordert.“ Um die Komple-          Geschlechtertrennung und stereotype          http://dieastronautin.de/
                 xität der Berufswahl-Möglichkeiten zu        Berufsausübung in der DDR sogar noch         **Destatis: Häufigste Ausbildungs-
                 reduzieren, orientierten sich junge          stärker ausgeprägt waren. 2015 gab es        berufe 2015: www.destatis.de/DE/
                 Menschen dann einfach an Eltern              die meisten MINT-Studentinnen nach           PresseService/Presse/Pressemittei
                 und Freunden. Auch nach Ansicht von          Angaben des Frauen-MINT-Pakts in             lungen/2016/07/PD16_254_212.html
                 Achatz haben viele Jugendliche häufig        Nordrhein-Westfalen, Bayern und Ba-          ***Destatis: Frauen in Ingenieurwissen-
                 noch keine präzisen Vorstellungen über       den-Württemberg, die wenigsten in            schaften: www.destatis.de/DE/
                 die Breite des beruflichen Spektrums.        Mecklenburg-Vorpommern, Bremen,              PresseService/Presse/Pressemittei
                 Wenig Wissen führe eher zu einem             Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thürin-         lungen/2016/09/PD16_328_217.html
                 Rückgriff auf Stereotype.                    gen und Schleswig-Holstein*****.             ****„Geschlechtsspezifische Berufs-
                 Die Berufswahl sei aber nicht nur ge-        Reißig ist überzeugt, dass Berufsorien-      wahl: Literatur- und Datenüberblick
                 schlechtsstereotyp, sondern „auch sehr       tierung in Schulen „systematischer er-       zu Einflussfaktoren, Anhaltspunkten
                 eingeschränkt“, betont Birgit Reißig,        folgen“ müsse. Lehrkräfte sollten dazu       struktureller Benachteiligung und
                 die am Deutschen Jugendinstitut (DJI)        freigestellt werden. Praktika müssten        Abbruchskosten“:
                 in Halle zu Übergängen im Jugendal-          intensiviert und ausgebaut werden. Die       www.hwwi.org/fileadmin/hwwi/
                 ter forscht. „Die meisten jungen Men-        DJI-Expertin plädiert für mehr Langzeit-     Publikationen/Policy/HWWI_Policy_
                 schen konzentrieren sich auf fünf bis        praktika, bei denen Schülerinnen und         Paper_90.pdf
                 zehn Berufe – von 328 anerkannten            Schüler etwa ein Jahr lang einmal pro        *****Studienanfängerinnen und
                 Ausbildungsberufen in Deutschland.“          Woche in einem Betrieb seien. Auch           Absolventinnen nach Bundesländern
                 Forschungen des DJI hätten zudem er-         könnten weitere Kooperationen von            im Jahr 2015:
                 geben: Berufswunsch und Ausbildungs-         Schulen mit örtlichen Betrieben initiiert    www.komm-mach-mint.de/Service/
                 wahl seien oft identisch, „da passiert       werden. In DJI-Umfragen werteten viele       Daten-Fakten/2015/Studium-
                 selten noch ein Umdenken“. Stereo­           Jugendliche Praktika als hilfreich für die   Bundeslaender-2015
                 type, die sich bereits durch das ganze       Berufswahl. Reißig rät Schulen ferner,
                 Leben ziehen, sind im Teenager-Alter         enger mit Eltern zusammenzuarbeiten:
                 also nicht mehr so einfach zu korri-         „Das sind die wichtigsten Ratgeber.“
                                                                                                                          Mitdiskutieren
                 gieren. Eine leichte Trendwende kann         Struwe fordert zudem, Erfolge stärker
                                                                                                                          www.gew.de/
                 es laut Achatz in den nächsten Jahren        hervorzuheben. 2015 seien 47,1 Pro-                         EundW
                 durch das Aufkommen neuer Berufsbil-         zent der Absolventinnen und Absolven-

    Erziehung und Wissenschaft | 04/2017
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12 BERUFSWAHL: ROLLENKLISCHEES UND GESCHLECHTERSTEREOTYPE

                                                                                                                                          Cartoon: Freimut Woessner
                „Rollenbilder sind
                sehr wirksam“
                 // Maike wird Erzieherin, Niko      E&W: Mädchen haben die besseren            bildungsgänge gehen. Dabei wird die
                 Mechatroniker – trotz eines         Schulabschlüsse, aber beim Übergang        Wahl allerdings durch das Angebot be-
                 Spektrums von rund 300 Ausbil­      in den Beruf entscheiden sie sich tradi-   stimmt – Frauen wie Männer werden
                 dungsberufen und über 18 000        tionell für typische Frauenberufe. Hat     eher in geschlechtstypischen Berufen
                 Studiengängen fällt die Berufs-     sich wirklich nichts verändert?            eingestellt. Insgesamt muss man aber
                 und Studienwahl von Frauen und      Hannelore Faulstich-Wieland: Es hat        berücksichtigen, dass die Untertei-
                 Männern immer noch geschlechts­­    sich wenig getan: Zwar finden wir bei-     lung in „Männer- und Frauenberufe“
                 spezifisch und eingeengt auf        de Geschlechter in Kaufleute-Berufen,      einfach nur auf quantitativen Zahlen
                 wenige Berufe aus (s. S. 2). Über   ansonsten sind es aber oft noch „ge-       beruht und nichts mit Veranlagungen,
                 Ursachen, Hindernisse und           schlechtstypische Wahlen“. So stehen       Kompetenzen usw. zu tun hat. Daher
                 Möglichkeiten einer gendersen-      bei Mädchen medizinische Berufe            ist diese Zuschreibung kritisch zu be-
                 siblen Berufs­orientierung sprach   an dritter Stelle, bei Jungen steht der    trachten, sie ist nicht in Stein gemei-
                 E&W mit der Erziehungswissen-       Kfz-Mechatroniker an erster Stelle.        ßelt, sondern veränderbar und hängt
                 schaftlerin Hannelore Faulstich-    Klassisch ist, dass junge Frauen eher in   von politischen und gesellschaftlichen
                 Wieland. //                         schulische, junge Männer in duale Aus-     Verhältnissen ab.

    Erziehung und Wissenschaft | 04/2017
BERUFSWAHL: ROLLENKLISCHEES UND GESCHLECHTERSTEREOTYPE                                                    13

E&W: Können Sie uns ein Beispiel nen-       E&W: Woran orientieren sich Jugendli-          Faulstich-Wieland: Die Ursachen sind
nen?                                        che bei der Berufswahl?                        vielfältig und hängen mit der Ge-
Faulstich-Wieland: Wenn wir uns den         Faulstich-Wieland: Die Eltern spielen          schlechtersozialisation zusammen. Das
Gesundheitsbereich ansehen, war im          eine entscheidende Rolle, mehr als             fängt mit der Auswahl der Kleidung
Mittelalter das Heilen von Menschen         die Peergroup und die Schule. Eltern           und mit Geschenken für die Kinder an.
eine klassische Frauendomäne. Erst          sind Rollenvorbilder und haben oft             Dabei wird Geschlecht konstruiert: Jun-
später mit der Akademisierung der Tä-       geschlechterstereotype ­Erwartungen.           gen tragen blau, interessieren sich für
tigkeit im 19. Jahrhundert änderte sich     Kinder werden eher unterstützt, wenn           Autos, für Technik und wählen später
das. Männer wurden Ärzte, denn Frauen       sie diese Vorstellungen erfüllen. Aber         einen entsprechenden Beruf. Mädchen
durften nicht studieren. Heute sieht das    es ist schwierig zu sagen, was wie viel        tragen rosa, sind fürsorglich und hilfs-
anders aus. Betrachtet man die Studie-      Einfluss nimmt. Berufswahl ist ein             bereit und sollen schön sein. Das ist
rendenzahl, so kann man keineswegs          Prozess, der sehr früh beginnt – erst          sicherlich jetzt überspitzt ausgedrückt,
mehr von einer männlichen Domäne            zu Hause, dann in der Kita, später             aber solche Zuschreibungen gibt es wei-
sprechen. Im Wintersemester 2014/15         in der Schule. Die Frage ist, welche           terhin. Sie prägen die Sicht auf das je-
waren 60,7 Prozent der in Humanmedi­        ­Geschlechterbilder werden vermittelt,         weilige Geschlecht und auf sich selbst.
zin eingeschriebenen Studierenden Frau-      was wird gelobt, sanktioniert, was            Und sie beeinflussen die eigenen Ent-
en. Gerade in der Berufsorientierung ist     gefördert, was untersagt. Mit diesem          scheidungen, das gilt auch für die Be-
es wichtig, solche Tatsachen und die         Wissen kommen Kinder in die Schule.           rufswahl. Ob offensichtlich oder subtil:
Veränderbarkeit einer Zuschreibung von       Wenn Berufsorientierung sich damit            Diese Rollenbilder sind sehr wirksam.
Geschlecht zu Beruf deutlich zu machen.      nicht auseinandersetzt, lässt sich kaum       Für die Berufsorientierung werden
Denn sie zeigen, dass der Berufswahl kei-    etwas bewegen.                                folglich besondere Anstrengungen be-
ne natürliche Differenz von Frauen und       E&W: Anstrengungen, dieses einge-             nötigt, um die Geschlechtertypisierung
Männern zugrunde liegt, sondern sozia-       schränkte Berufswahlspektrum aufzu-           aufzubrechen. Leider sieht die Realität
le Konstruktionen und gesellschaftliche      brechen, hatten bisher wenig Erfolg.          anders aus, es fehlt an einer systema-
Übereinkünfte entscheidend sind.             Warum?                                        tischen gendersensiblen Berufsorien-

                                                                                 Leisten Sie pädagogische Schwerstarbeit?
                                                                                 Fühlen Sie sich ausgebrannt und müde?
                                                                                 . . . bei uns können Sie wieder Atem schöpfen und neue Kraft-
                                                                                 quellen erschließen.
                                                                                 Seit über 20 Jahren kombinieren wir aktuelle und bewährte Therapiever-
                                                                                 fahren der Psychotherapie, der Schulmedizin, des Gesundheitssports und
                                                                                 der Naturheilkunde zu einer Ganzheitsmedizin, die zum Ziel hat, Körper,
                                                                                 Geist und Seele wieder in eine gesunde Balance zu bringen. So können
                                                                                 eigene Fähigkeiten frei entfaltet werden und zur Heilung beitragen.
                                                                                 Weitere Informationen zu unseren Spezialkonzepten z.B. bei Burnout,
                                                                                 Tinnitus, Depression oder Angsterkrankungen erhalten Sie unter
                                                                                 www.habichtswaldklinik.de oder gebührenfrei* unter 0800 890 11 00.

                                                                                 Habichtswald-Klinik · Wigandstraße 1 · 34131 Kassel-Bad Wilhelmshöhe

                                                  * aus dem deutschen Festnetz                               Die Habichtswald-Klinik ist eine Klinik der Wicker-Gruppe.
14 BERUFSWAHL: ROLLENKLISCHEES UND GESCHLECHTERSTEREOTYPE

                 tierung (s. S. 16 f.). Projekte wie der
                 Girls‘Day sind nur ein Tropfen auf den                      Schule soll junge Menschen unterstützen
                 heißen Stein. Wenn ich 364 Tage etwas                       Das Teilprojekt „Berufsorientierung und Gender“ des Forschungsbereichs Sozi-
                 anderes erlebe, kann ein einziger Akti-                     alisation und Geschlecht der Universität Hamburg hat an Stadtteilschulen der
                 onstag im Jahr nicht viel bewirken.                         Hansestadt untersucht, ob und wie schulische Berufsorientierung die gender-
                 E&W: Wie sieht eine gendersensible                          untypischen Interessen der Jugendlichen fördern – oder auch behindern – kann.
                 ­Berufsorientierung aus?                                    Die Ergebnisse sollen dazu beitragen, dass Schule Jugendliche unterstützt, auch
                  Faulstich-Wieland: Eine systematische                      „geschlechts­un­typische“ Berufswünsche zu entwickeln. Das Projekt hat die
                  gendersensible Berufsorientierung                          Hans-Böckler-Stiftung gefördert, das erste Teilprojekt „Berufsorientierung und
                  braucht Lehrkräfte, die sich das The-                      Geschlecht“ die Max-Traeger-Stiftung der GEW.                              B. J.
                  ma zu eigen machen und über eine be-
                  stimmte Genderkompetenz verfügen.
                  Zurzeit sieht es so aus, dass in der Regel                 www.erzwiss.uni-hamburg.de/
                  Klassenlehrkräfte die Berufsorientie-                      faulstich-wieland/Berufsorientierung%20und%20Geschlecht.htm
                  rung übernehmen, zwar mit großem
                  Engagement, aber oft nicht speziell
                  ausgebildet und ohne gendersensib-                       gebündelt, die Schwerpunkte liegen auf      habe. Die Handreichung liefert Hinter-
                  les Unterrichtsmaterial. Oder es sind                    den Anforderungen und notwendigen           grundinformationen zu der Geschlech-
                  Lehrkräfte aus der Berufsschule, die                     Kompetenzen des jeweiligen Berufsfel-       tersegregation in Bildung und Beruf, der
                  sich zunächst erstmal auf die neue                       des. Es geht darum, eine möglichst gro-     Geschlechtersozialisation und den Be-
                  ­Altersstruktur einstellen müssen und                    ße Auswahl zu haben – und zwar ohne         rufswahltheorien. Außerdem enthält sie
                   sich meist auch nur in ihrem Berufs­                    sofort in „Männer- oder Frauenberufe“       konkrete Praxishilfen für den Unterricht.
                   bereich wirklich gut auskennen.                         zu unterteilen, denn Berufe werden          E&W: Sollten Lehrkräfte alles unter
                                                                           nicht selten genau deshalb sofort aus-      dem Aspekt „Geschlecht“ betrachten?
                                                                           geschlossen.                                Faulstich-Wieland: Es ist nicht leicht,
                                                                           E&W: Was ist zu beachten?                   das Geschlecht in der Phase der Berufs-
                                                                           Faulstich-Wieland: Ganz wichtig ist die     orientierung zu thematisieren, da muss
                                                                           reflexive Ebene. Das heißt zu schauen,      man zwischen Dramatisierung und Ent-
                                                                           welche Bedeutung hat das Geschlecht         dramatisierung eine gute Balance fin-
                                                                           in der Berufsorientierung. Eine Sache       den. Lehrkräfte sollten nicht alles durch
                                                                           hatte ich schon angesprochen: deut-         die Genderbrille sehen, denn damit
                                                                           lich zu machen, dass es Männer- und         verstärkt man die „typischen“ Zuschrei-
                                                                           Frauenberufe nur auf der quantitativen      bungen und reproduziert die Geschlech-
                                                                           Ebene gibt. Das wird leider oft anders      terrolle. Eine Entdramatisierung darf
                                                                           verstanden und so interpretiert, als        andererseits aber nicht dazu führen, das
                                                                           wären Frauen oder Männer für einen          Geschlecht für irrelevant zu halten. Eine
                                                                           bestimmten Beruf besonders gut geeig-       gute Balance herzustellen, heißt zum
                                                                           net. Grundsätzlich gilt: Zuschreibungen     Beispiel, als Lehrkraft zwar die Bedeu-
                                                           Fotos: privat

                                                                           zu erkennen und zu bearbeiten. Das          tung des Geschlechtes zu erkennen, es
                                                                           führt zu Irritationen, die zum Nachden-     aber in der praktischen Arbeit nicht so-
                 Hannelore Faulstich-Wieland ist Pro-                      ken anregen. Irritationen hervorzuru-       fort in den Vordergrund zu rücken.
                 fessorin für Erziehungswissenschaft an                    fen und aufzuzeigen, wie Stereotypi-        E&W: Welche Perspektive sehen Sie?
                 der Universität Hamburg mit Schwer-                       sierung und Geschlechtszuweisungen          Faulstich-Wieland: Ich hoffe, dass un-
                 punkt Schulpädagogik unter besonderer                     funktionieren, scheint ein geeignetes       sere Handreichung Lehrkräften Mate-
                 Berücksichtigung der Sozialisationsfor-                   Mittel zu sein.                             rial für ihre eigenen Reflexionsprozes-
                 schung.                                                   E&W: Aus Ihrem Forschungsprojekt            se ebenso wie für die Arbeit mit den
                                                                           (s. Kasten) haben Sie die Handreichung      Schülerinnen und Schülern gibt, damit
                                                                           „Gendersensible Berufsorientierung“         sie Berufsorientierung gendersensibel
                 E&W: Oft werden nur wenige Berufe                         für Lehrkräfte, Weiterbildner und Be-       gestalten können.
                 besprochen, die meisten der 300 Aus-                      rufsberaterinnen entwickelt. Was sind
                 bildungsberufe und 18 000 Studienfä-                      die wichtigsten Inhalte?                    Interview: Britta Jagusch,
                 cher sind nicht bekannt.                                  Faulstich-Wieland: Gendersensibles          freie Journalistin
                 Faulstich-Wieland: Die Auseinander-                       Arbeiten erfordert Genderkompetenz.
                 setzung mit den Berufen erfolgt eher                      Gemeint ist, dass ich über das Thema
                                                                                                                                       Mitdiskutieren
                 zufällig über ein Berufe-ABC oder Ähn-                    Geschlecht und Berufsorientierung viel
                                                                                                                                       www.gew.de/
                 liches. Bei einer systematischen Be-                      wissen muss und auch meine eigene                           EundW
                 rufsorientierung werden die Berufe                        Einstellung zu dem Thema reflektiert

    Erziehung und Wissenschaft | 04/2017
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16 BERUFSWAHL: ROLLENKLISCHEES UND GESCHLECHTERSTEREOTYPE

                „Als Lehrende sind
                wir Rollenvorbilder“
                 // Auch wenn der große Durch-               Seit 2012 läuft am „Berufskolleg Vera
                 bruch auf sich warten lässt:                Beckers“ im Rahmen eines Pilotpro-
                 „Gendersensible Berufsorientie­             jektes „geschlechtergetrennter na-
                 rung“ unterstützt vielerorts                turwissenschaftlicher Unterricht“.
                 junge Frauen und Männer, bei                Die jungen Frauen und Männer am
                 der Be­rufswahl R
                                 ­ ollenmuster zu            Fachbereich Gesundheit und Sozia­les
                 durch­brechen. Drei Beispiele. //           lernen in getrennten Gruppen, aus wel-        Vanessa (links) und Melissa beim ge-
                                                             chen Bestandteilen sich ein Schweine­         schlechtergetrennten naturwissenschaft-
                 Wie verbreitet ist „gendersensible Be-      herz zusammensetzt. Das soll Schüle-          lichen Unterricht am „Berufskolleg Vera
                 ­r ufs­o rientierung“ in Schulen, in Ar-    rinnen ermuntern, das Skalpell auch           Beckers“ in Krefeld. Das Ziel: Die Schüle-
                 beitsagenturen, Kammern und Un-             mal selbst in die Hand zu nehmen.             rinnen sollen gegenüber den Jungen nicht
                 ternehmen? „Das Bewusstsein für die         Melissa bestätigt: Beim gemeinsamen           ins „Hintertreffen“ geraten.
                 Notwendigkeit ist in den vergangenen        Unterricht erlebe sie Jungen „forscher“.
                 Jahren stetig gestiegen“, erklärt Katrin    „Dadurch kommen die Mädchen ins
                 Böhnke, wissenschaftliche Mitarbeite-       Hintertreffen.“ Bei einer schulinternen
                 rin im Bundesinstitut für Berufsbildung     Evaluation im April 2016 erklärten 66
                 (BIBB). Es gebe inzwischen auch einige      Prozent der befragten Schülerinnen:
                 Bundesländer, die eine geschlechter-        „Ich brachte mich in der reinen Mäd-
                 bewusste Didaktik in ihren schulischen      chengruppe mehr im Unterricht ein als
                 Berufsorientierungskonzepten festge-        in der gemischtgeschlechtlichen.“ Aber
                 schrieben haben. Doch fehle bislang         auch die Jungen profitierten, erklärt
                 die „Systematisierung der Akteure“.         Biologie-Lehrer Marc Thiele, 39 Jahre
                 Um dieses Ziel zu erreichen, wurden         alt: „Die konzentrieren sich dann auf die
                 2016 auf Initiative mehrerer Bundeslän-     Arbeit – und nicht darauf, dem anderen
                 der die „Nationalen Kooperationen zur       Geschlecht zu gefallen.“
                 Berufs- und Studienwahl frei von Ge-
                 schlechterklischees“ ins Leben gerufen.     Ausgetretene Pfade verlassen
                 Zu deren Mitgliedern zählen unter an-       Susanne Heussen unterrichtet am Be­
                 derem die zuständigen Bundesministe-        rufskolleg vor allem Englisch. Gleich-
                 rien, die Bundesagentur für Arbeit (BA),    zeitig arbeitet die 51-Jährige als Gleich­-
                 das BIBB, der DGB-Bundesvorstand und        stellungsbeauftragte. Zu ihren Aufga-
                 das arbeitgebernahe Netzwerk Schule-        ben zählt, Schülerinnen und Schüler zu
                 Wirtschaft.                                 unterstützen, die ausgetretenen Pfade
                 Wie sieht „gendersensible Berufsori-        der Geschlechterrollen zu verlassen.
                 entierung“ überhaupt aus? Ein Besuch        Dazu könnten, so Heussen, Lehrkräfte
                 des „Berufskollegs Vera Beckers“ in         beitragen – etwa durch bestimmte Un-
                 Krefeld, einer städtischen beruflichen      terrichtsmethoden. Beispiel Gruppen-
                 Schule mit 3 000 Schülerinnen und           arbeit im kooperativen Lernen: „Mäd-
                 Schülern:                                   chen übernehmen gerne die Rolle der
                 In grünen Plastikwännchen liegen            Schreibenden“, erklärt die Pädagogin.
                 Schweineherzen, dunkelrot, groß wie         Die Lehrkraft könne hier einen Rollen-
                 zwei Männerfäuste. „Ich find‘ das voll      wechsel anregen: „Dann dokumentie-
                 schön, mit den Äderchen“, sagt Melissa,     ren mal die Jungen – und die Mädchen
                 18 Jahre alt. Ihre Mitschülerin Vanessa,    präsentieren die Ergebnisse vor der
                 ebenfalls 18, nimmt ein Glasröhrchen        Klasse.“ Im Schulsport lassen sich eben-
                 und zieht es vorsichtig durch eine Art      falls Rollenklischees durchbrechen. „Bei
                 Kanal, der durch das Herz führt. „Das       uns werden auch die Jungen in Tanz
                 ist die Aorta. Da fließt das Blut durch“,   unterrichtet, mit Choreografie“, sagt
                 weiß die junge Frau.                        Heussen. Sie betont zudem, „dass wir

    Erziehung und Wissenschaft | 04/2017
BERUFSWAHL: ROLLENKLISCHEES                                               17

                                                                als Lehrende ganz klare Rollenvor-
                                                                bilder sind“. Es mache bei Schülern
                                                                Eindruck, wenn auch männliche
                                                                Lehrkräfte in Elternzeit oder auf
                                                                eine Teilzeitstelle gehen.
                                                                                                        Chronische Schmerzen?
                                                                Aus der Schublade raus                  Hilfe durch multimodale
                                                                Ortswechsel. Der Weiterbildungs-
                                                                anbieter Arbeit & Leben gGmbH in        Schmerztherapie!
                                                                Mainz organisierte in den vergan-       Das Schmerztherapiezentrum Bad Mergentheim ist auf die Behand-
                                                                genen Jahren Schulungen zur „gen-       lung chronischer Schmerzzustände verschiedenster Ursachen speziali-
                                                                dersensiblen Berufsorientierung“.       siert. Unsere Schwerpunkte sind unter anderem die Behandlung von
                                                                Gefördert vom Land Rheinland-           Migräne, Kopf- und Gesichtsschmerzen, Rückenschmerzen, Morbus
                                                                Pfalz und der Agentur für Arbeit.       Sudeck und Fibromyalgie, auch mit psychischen Begleiterkrankungen
                                                                Die jeweils viertägigen Veranstal-      (Burn out, depressive Störungen, Angststörungen).
                                                                tungen richteten sich vor allem         Moderne Schmerzbehandlung = multimodale Schmerztherapie
                                                                an Lehrkräfte sowie Berufsbera-         Die multimodale Schmerztherapie ist interdisziplinär, setzt verschiedene
                                                                terinnen und -berater. Dabei ging       Strategien gleichzeitig und nicht nacheinander ein und ist individuell auf
                                                                es darum, auch deren Biografie          die Erfordernisse des einzelnen Patienten zugeschnitten. Maßgeschnei-
                                                                anzusprechen. „Wie sensibel bin         derte Therapien sind der konventionellen „Behandlung von der Stange“
                                                                ich, um meine eigenen Schubladen        überlegen. Ein erfahrenes Team aus Fachärzten, Psychologen, Physiothe-
                                                                wahrzunehmen?“, erklärt Ann-Kat-        rapeuten, Krankenschwestern und Gestaltungstherapeuten kombiniert
                                                                rin Herold, 48 Jahre, Trainerin und     schulmedizinische Behandlungsmethoden sinnvoll mit komplementären
                                                                                                        Therapien wie Naturheilverfahren und Akupunktur.
                                                                Coach bei Arbeit & Leben Mainz.
                                                                Ziel sei, in der Berufsberatung auch    Die multimodale Schmerztherapie ist der Goldstandard in der
                                                                jene Wünsche zu akzeptieren, „die       Versorgung von chronischen Schmerzpatienten.
                                                                nicht in unser Weltbild passen“. Al-    Die Effektivität dieser Therapie hängt aber entscheidend von der Behand-
                                                                lerdings seien Lehrkräfte oder Be-      lungsintensität, -qualität und -dauer ab. Bei uns liegt die Behandlungs-
                                                                rufsberaterinnen oft gezwungen,         dauer bei mindestens drei Wochen. So ist es möglich, eine chronische
                                                                                                        Schmerzerkrankung nachhaltig zu behandeln.
                                                                „pragmatisch zu handeln, um junge
                                                                Menschen überhaupt im Beruf un-         Service-Paket für den Krankenhausbereich
                                                                terzubringen“, ergänzt die 48-Jäh-      · Unsere Leistungen entsprechen denen eines Krankenhauses der
                                                                rige. Nach dem Motto: „Hauptsa-           Maximalversorgung (z. B. Universitätsklinik).
                                                                che, wir finden was.“                   · Die privaten Krankenkassen und die Beihilfe übernehmen die Behand-
                                                                Die Schulungen behandelten zu-            lungskosten der multimodalen Schmerztherapie im Rahmen einer medi-
                                                                                                          zinisch notwendigen stationären Heilbehandlung, wenn der Versicherer
                                                                dem die Frage: „Wie spreche ich
                                                                                                          diese vor Beginn der Behandlung schriftlich zugesagt hat.
                                                                den Ausbilder an, der ein Mädchen       · Den Aufnahmetermin stimmen wir mit Ihnen ab.
                                                                nicht anstellen will?“ Sie erlebe,
                                                                „dass in vielen Betrieben Unsicher-     Wir beraten und unterstützen Sie individuell bei allen Fragen
                                                                                                        zur stationären Aufnahme und senden Ihnen gerne umfassende
                                                                heiten bestehen“, betont Herold.
                                                                                                        Informationen zu. Rufen Sie uns unter unserer kostenlosen
                                                                Schnell komme das Argument,
                                                                                                        Beratungs-Hotline an!
                                                                „wir haben keine Frauentoilette“.
                                                                Deshalb könne der Betrieb keine
                                                                Mädchen ausbilden. Unternehmen
                                                                im Elektrobereich erklärten, bei                           Schmerztherapiezentrum
                                                                ihnen müsse man Kabeltrommeln                              Bad Mergentheim
                                                                tragen – „und das können Mäd-                              Fachklinik für Spezielle Schmerztherapie
                                                                chen nicht“. Dabei gebe es techni-
                                                                                                                           und Schmerzpsychotherapie
                                                                sche Hilfsmittel, die das Tragen von
Ausbildung bei den Kölner                                       Lasten erleichtern, entgegnet die                          Schönbornstr. 10
Ford-Werken. Rund 20 Prozent                                    48-Jährige. Geht es um gewerblich-                         97980 Bad Mergentheim
der Azubis in den technischen                                   technische Ausbildungen, so finde                          Tel.: 07931 5493-44
                                 Fotos: Matthias Holland-Letz

Berufen sind junge Frauen wie                                   man in vielen Unternehmen zudem                            Fax: 07931 5493-50
Tugce (links) und Nida. Ihre                                    keine weiblichen Ausbilder. „Es                            E-Mail: schmerzklinik@schmerzklinik.com
Eltern unterstützen sie, einen                                  sind auch die Vorbilder, die fehlen.“
                                                                                                                                                                      -Hotline:
technischen Beruf zu erlernen.                                  Besuch bei den Kölner Ford-Wer-                                            Kostenlose Beratungs
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                                                                                                                           www.schmerzklinik.com
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