Hamburg macht Schule Inklusion II - BSB-Info

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Hamburg macht Schule
Heft 1/2016 • 2 8. Jahrgang   Zeitschrift für Hamburger Lehrkräfte und Elternräte

Inklusion II

                                                     BSB-Info
                                                     • Ganztagsangebote buchen:
                                                       Erklärfilme helfen
                                                     • SchülerInnenforum:
                                                       Die Hacker kommen?!

     PÄDAGOGISCHE
          BEITRÄGE
   VERLAG                                                               Hamburg
Editorial

            Liebe Leserin, lieber Leser,

            Inklusion gehört inzwischen zum Alltag der Schulen in Hamburg. Die Anerkennung
            der Vielfalt fußt auf einem Begriff von Inklusion, der sich auf kulturelle und ethni-
            sche Zugehörigkeit, Behinderung, sozio-ökonomischen Status, besondere Begabun-
            gen, sexuelle Orientierung und Geschlecht beziehen kann. Dieser ganzheitliche Be-
            griff von Inklusion geht über die im März 2009 in Kraft getretene UN-Behinderten-
            rechtskonvention hinaus. Alle Bundesländer haben die gesetzlichen Vorgaben des
            Rechts auf inklusive Bildung in ihre Schulgesetze überführt. Hamburg hat dies im
            Hamburgischen Schulgesetz in § 12 geregelt. Über diesen wichtigen Aspekt – Um-
            gang mit Behinderung – hinaus ist es das Ziel einer inklusiven Schule, Kinder und
            Jugendliche in ihren verschiedenen Lernvoraussetzungen möglichst optimal zu för-
            dern und zu fordern. Die Unterschiedlichkeit von Schülerinnen und Schülern wird
            dabei anerkannt und produktiv für das gemeinsame Lernen und die Entwicklung
            der Persönlichkeit genutzt.
            Inklusion ist kein statischer Zustand, sondern ein fortwährender Prozess mit der Ziel-
            setzung der Maximierung von Teilhabe und der Minimierung von Benachteiligung
            und Diskriminierung. In den Beiträgen dieser Ausgabe werden unter anderem die
            Kulturpyramide, das interkulturelle Kompetenztraining, das Personenprinzip in der
            sonderpädagogischen Förderung, die Chancengerechtigkeit und die sexuelle Viel-
            falt angesprochen. Beispiele für den schulischen Umgang mit psychischen Erkran-
            kungen belegen die basale Bedeutung einer inklusiven Schulentwicklung (S. 20 ff.)
            »In der Sekunde, wo bei einem Kind eine schwere Erkrankung diagnostiziert wird,
            weicht alles andere in den Hintergrund. Doch denken Sie bitte an die (…) Basiszu-
            taten ›Verlässlichkeit, Strukturen und so viel Normalität wie möglich‹« (S. 21), so
            lautet der Rat aus dem BBZ.
            Die Gestaltung von Inklusion und somit die Differenzierung im Unterricht ist an-
            spruchsvoll für Lehrkräfte wie für Schülerinnen und Schüler. Gerade deshalb ist
            es bedeutsam, dass der Unterricht Gelegenheiten für das fachliche und das soziale
            Lernen bietet. Erfahrungen von Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Leistungsver-
            mögen stärken die Schülerinnen und Schüler in ihren Lernprozessen. Am Beispiel
            Nico (S. 22 f.) wird deutlich, was das konkret für den Unterricht und das Schulleben
                                  bedeuten kann, wenn bei einem Sechstklässler Autismus diag-
                                  nostiziert wird und die Klasse berät, wie man im Unterricht und
                                  auch in den Pausen mit ihm umgehen kann: »Wir müssen dann
                                  einfach daran denken, ihn mitzunehmen« (S. 23). Bis zu dieser
                                  Einsicht ist es manchmal auch ein weiter Weg, er lohnt sich.

                                			                  Mit besten Grüßen
                                			Ihr

                                                                       Prof. Dr. Josef Keuffer
                                                                     Hamburg, im März 2016

Hamburg macht Schule 1|2016
                                                                                                                 3
Inhalt

    Inklusion II
    Moderation: Beate Proll

    6     Inklusion – Vielfalt leben lernen
    10 Interkulturelles Kompetenztraining
              Sich gegenseitig aushalten und respektieren

    12 »Wir verfolgen das Personenprinzip«
              Fördern im Unterricht

    14 Chancengerechtigkeit in den Blick nehmen
              Lernpotentiale sichtbar machen – Lernhindernisse ausräumen

    16 »… dann heißt das ja, dass es sowas bei uns auch gibt?«
              Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt

    18 Erfolgreich lernen – mit, trotz oder wegen einer Krankheit?
    20 Psychische Erkrankungen
              Stabilisation und Genesung – Schule als wichtiger Begleiter

    22 Schülerinnen und Schüler mit Autismus besser verstehen

                                                                            Hamburg macht Schule 1|2016
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Inhalt

                                                                                                         1/16
                                                                                                         28. Jahrgang

    BSB-Info                                                                                             Impressum
    Verantwortlich: Andreas Kuschnereit

    Schule vor Ort                                 24   Personalien                                 37   Herausgeber:
                                                                                                         Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB),
    Ganztagsgrundschule Arnkielstraße:                                                                   Prof. Dr. Josef Keuffer, Direktor des Landesinsti-
    Schülerzahl in fünf Jahren verdoppelt               Kulturelle Vielfalt im Schulalltag 38            tuts für Lehrerbildung und Schul­entwicklung,
                                                        Herausforderung und Chance                       Felix-Dahn-Straße 3, 20357 Hamburg
                                                                                                         E-Mail: josef.keuffer@li-hamburg.de
    Ganztagsschule in Hamburg:                                                                           Verlag:
    Mix von offenen und                                 Schule für Schüleraustausch mit                  Pädagogische Beiträge Verlag GmbH,

    gebundenen Angeboten                           26   Krementschuk (Ukraine) gesucht 41                Rothenbaumchaussee 11, Curiohaus,
                                                                                                         20148 Hamburg, Tel.: (040) 45 45 95
    Interview mit Schulsenator Ties Rabe
                                                        Hamburgs Schüler sind Spitze                     E-Mail: info@paedagogische-beitraege-verlag.de
                                                                                                         Geschäftsführung: Katrin Wolter
                                                        bei Auslandsaufenthalten                    42
    Schulverweigerung                              28                                                    Verlagsredaktion und -gestaltung:
                                                                                                         Dr. Mathias Prange
    Umgang mit gehäuften Krankschreibungen              KERMIT und die zentralen
                                                                                                         Redaktion:
    im Zusammenhang mit hartnäckig                      Prüfungen: Eng verwandt                          Prof. Dr. Johannes Bastian (verantwortlich),
    andauernden Schulpflichtverletzungen                und doch verschieden                        44   Franziska Carl, Julia Hellmer,
                                                                                                         Christine Roggatz, Beate Proll

    Ganztagsangebote buchen:                            Schach, aber nicht matt                     46   Rothenbaumchaussee 11, 20148 Hamburg
                                                                                                         Redaktion für Bildungspolitisches Forum
    Erklär-Video unterstützt Eltern                     Die SCHULBAU Messen 2016                    47   und BSB-Info:
    beim Ausfüllen der Formulare                   31   Hamburg, Köln, München                           Karen Krienke, Andreas Kuschnereit,
                                                                                                         Behörde für Schule und Berufsbildung,
    Ein einfacher und verständlicher Erklär-Film                                                         Hamburger Straße 125 a, 22083 Hamburg
    in den Sprachen Deutsch, Türkisch, Arabisch                                                          Tel.: (040) 4 28 63 35 49, Fax: -4 27 96 84 33
    und Dari                                            Tagungen und öffentliche Veran-                  E-Mail: karen.krienke@bsb.hamburg.de
                                                        staltungen des Landesinstituts 48                Druck: Hartung Druck+Medien GmbH,
                                                        April bis August 2016                            Asbrookdamm 38, 22115 Hamburg
    »Die Hacker kommen?!«                          32                                                    info@hartung-online.de
    37. SchülerInnenforum                                                                                www.hartung-online.de
                                                        Information für Mitarbeite-                      Erscheinungsweise: 4-mal pro Jahr

    Unterrichtshospitationen der                        rinnen und Mitarbeiter von                       Auflage: 15 000
                                                                                                         Bilder: W. van Woensel: S. 4, 15, 21, 23, Titel
    Schulleitung am Beispiel der                        Flüchtlingsunterkünften                          (Bearbeitung der Bilder S. 21, 23, Titel:

    Adolph-Diesterweg-Schule und                        sowie ehrenamtliche Helfer                  49   M. Prange).
                                                                                                         Alle weiteren Fotografien wurden uns von den
                                                        Neue Broschüre informiert über Salafismus
    der Schule Grumbrechtstraße                    34                                                    Autorinnen und Autoren zur Verfügung gestellt.
    Good Practice – kleine und große Fundstücke                                                          Bezug: Hamburger Lehrkräfte und Elternräte
    aus dem Alltag der Schulinspektion – Teil 5         Zahnputz-Erziehung                               erhalten HAMBURG MACHT SCHULE kostenlos
                                                                                                         über die BSB. HAMBURG MACHT SCHULE kann
                                                        mal ganz anders                             50   auch beim Verlag abonniert werden.
    Hamburger Schulen räumen                            »holzwurm-theater« zu Besuch                     Hamburg macht Schule im Internet:
                                                        in der Schule Bekkamp
    beim 13. Schülerzeitungs-                                                                            www.hamburg.de/bsb/hamburg-macht-schule

    wettbewerb ab                                  36                                                    Preis: EUR 3,00 zzgl. Versandkosten.
                                                                                                         Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit
    Fünf Redaktionen erhalten Preise                    Hamburg macht Schule                        50   vorheriger Genehmigung des Verlages.
    für ihre Publikationen                              Schwerpunktthemen 2005 – 2015                    ISSN 0935-9850

Hamburg macht Schule 1|2016
                                                                                                                                                          5
Thema

             Inklusion – Vielfalt leben lernen
Einführung

             Inklusion bedeutet die Anerkennung von     lichkeiten und Begrenzungen, die mit ei-       stellt und auf der strukturellen Ebene
             Vielfalt und nicht die Nivellierung von    ner Gruppenzugehörigkeit oder indivi-          nachhaltig verankert.
             Unterschieden zum Zwecke der Gleich-       duellen Voraussetzungen und Einstel-         • Inklusive Praktiken entwickeln
             berechtigung. Jeder Mensch sollte befä-    lungen einhergehen, zu beachten und            Hier werden die Bereiche »Lernar-
             higt werden, Unterschiede zu erkennen,     zu respektieren (Reich 2015, S. 24 ff.).       rangements organisieren« und »Res-
             zu beschreiben, auszuhalten und wert-      Dabei können die folgenden fünf Stan-          sourcen mobilisieren« aufgegriffen.
             zuschätzen (Körner 2015, S. 19). Dieses    dards bei der Orientierung helfen:             Im Mittelpunkt stehen Fragen der
             erfordert zum einen den Blick auf das      • Ethnokulturelle Gerechtigkeit aus-           Unterrichtsgestaltung und der Un-
             einzelne Kind, auf die Klasse und auf         üben und Antirassismus stärken              terstützung aller Schülerinnen und
             spezielle Lernmethoden und zum an-         • Geschlechtergerechtigkeit herstellen         Schüler, um das gemeinsame Leben
             deren auf alle Bereiche, in denen Men-        und Sexismus ausschließen                   und Lernen zu ermöglichen.
             schen mit und ohne Behinderung ge-         • Diversität in den sozialen Lebensfor-      Thurn betont, dass Schulentwicklung
             meinsam leben und lernen (Irle 2015,          men zulassen und Diskriminierungen        kurzfristig nach Dringlichkeit vorge-
             S. 11). Anknüpfend an das im März 2013        in den sexuellen Orientierungen ver-      hen sollte. Bei der Planung von Vorha-
             erschienene HAMBURG MACHT SCHU-               hindern                                   ben sollte es zur Entlastung aller auf die
             LE-Heft mit dem Themenschwerpunkt          • Sozioökonomische Chancengerechtig-         Frage »Was ist jetzt für uns bedrängend
             »Inklusion« konzentrieren wir uns in          keit erweitern                            und braucht die Kraft, Professionalität
             dieser Ausgabe auf den umfassenden In-     • Chancengerechtigkeit von Menschen          und Kreativität … zur Veränderung?«
             klusionsbegriff mit verschiedenen Viel-       mit Behinderungen herstellen (Reich       eine Antwort geben (2015, S. 8).
             faltsdimensionen. Die Schul-Beispiele         2014, S. 31 ff.).
             sind so gewählt, dass unterschiedliche     Die Beiträge konzentrieren sich zum ei-      Vielfaltsdimensionen greifbar machen
             Entwicklungsstände – von der »Einstei-     nen auf die Entwicklung von Haltungen        Im Folgenden werden die Vielfaltsdi-
             ger-Schule« bis hin zu Schulen mit lang-   der Menschen in der Schulgemeinschaft        mensionen, die in den einzelnen Bei-
             jähriger Praxis – mit gelungenen über-     und zum anderen auf konkrete Beispie-        trägen dieses Heftes aufgegriffen wer-
             schaubaren Umsetzungsschritten be-         le aus Schulleben und Unterricht. Ent-       den, kurz erläutert.
             leuchtet werden.                           scheidend ist nicht das Herausgreifen
                                                        isoliert stehender Elemente, sondern                Kultur kann sich verändern
             Eine Schule der Vielfalt                   das Ineinandergreifen von konkreten          Mit Hilfe des Modells »All – SOME – NO«
             Zur Vielfalt gehören u. a. Aspekte wie     Maßnahmen im Rahmen einer inklusi-           der Kulturpyramide von Geert Hofstede
             kulturelle und ethnische Zugehörig-        ven Schul- und Unterrichtsentwicklung.       (siehe Abb. 1) wird gezeigt, dass Kultur
             keit, sozio-ökonomischer Status, sexu-     Als Orientierungshilfe kann hier der »In-    nichts Statisches ist, sondern sich durch
             elle Orientierung, Geschlecht sowie Be-    dex für Inklusion« mit der Unterteilung      Kommunikation verändern kann. Zum
             hinderung. Menschen können sich in ih-     in folgende drei Handlungsfelder dienen      einen gibt es Grundbedürfnisse (wie z. B.
             rer Unterschiedlichkeit gegenseitig be-    (Reich 2014, S. 44 f.):                      essen, schlafen …) und Grundtatsachen
             reichern, wenn sie lernen, sich respekt-   • Inklusive Kulturen aufbauen                (geboren werden, sterben …), die für alle
             voll, tolerant und auf der Basis demo-        Dieses beinhaltet die Bereiche »Ge-       Menschen gleich sind. Wie diese Bedürf-
             kratischer Praktiken zu begegnen. Um          meinschaft bilden« und »Inklusive         nisse befriedigt werden, hängt jedoch von
             Inklusion wirkungsvoll umzusetzen,            Werte verankern«. Darunter fällt der      der Gemeinschaft ab und wird gelernt.
             braucht es deshalb auch den Schutz vor        Aufbau einer sicheren, akzeptieren-       Zum anderen stehen an der Spitze der
             Diskriminierung. Das Institut für Men-        den, kooperierenden und anregen-          Pyramide die individuelle Persönlichkeits-
             schenrechte e. V. betont, dass das Ver-       den Gemeinschaft mit dem Ziel, dass       entwicklung und Biographie jedes Men-
             bot von Diskriminierung nicht bedeutet,       jedes Mitglied respektiert wird und       schen. Devici zeigt, wie Schülerinnen und
             dass alle Menschen identisch behandelt        dass Diskriminierungen, soweit es         Schüler anhand konkreter Konfliktsituati-
             werden sollen. Vielmehr müssen bei der        geht, verhindert werden.                  onen üben, ihre Zuschreibungspraxis hin-
             Umsetzung der Menschenrechte unsere        • Inklusive Strukturen etablieren            sichtlich »Deutsch sein«, »Türkisch sein«
             jeweils spezifischen und unterschiedli-       Dazu gehören die Bereiche »Eine           usw. kritisch zu hinterfragen (S. 10 f.).
             chen Ausgangslagen berücksichtigt             Schule für alle entwickeln« und »Un-
             werden. Auch in der Schule gilt es da-        terstützung für Vielfalt organisieren«.         Soziale Teilhabe ermöglichen
             her, diese Unterschiedlichkeit von Le-        Dabei wird Inklusion als zentraler As-    In Deutschland lässt sich die Wahr-
             bensentwürfen, Voraussetzungen, Mög-          pekt der Schulentwicklung herausge-       scheinlichkeit, ob ein Kind studieren

                                                                                                                     Hamburg macht Schule 1|2016
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Inklusion II

wird, immer noch am Bildungsstand der

                                                                                                                                             Einführung
Eltern ablesen. Laut der aktuellen 20.
Sozialerhebung des Deutschen Studen-
tenwerks (DSW) nehmen von 100 Aka-
demikerkindern 77 ein Studium auf. Da-
gegen studieren von 100 Nicht-Akade-
mikerkindern lediglich 23. Durch einen
professionellen Umgang mit Heteroge-
nität können Bildungschancen verbes-
sert und Bildungsrisiken reduziert wer-
den (Achour 2015, S. 6). Anhand konkre-
ter Bespiele beschreibt Lorenzen, wie
bestimmte Lebenswelten den Schulall-
tag am Gymnasium erschweren kön-
nen und wie Unterstützungsmaßnah-
men, die wirklich greifen, installiert
werden (S. 14 f.).

Vielfalt von sexuellen Orientierungen und
  Geschlechteridentitäten wahrnehmen
Die Abkürzung LGBTIQ beschreibt
Gruppen, die von einer rein heterose-
xuellen oder zweigeschlechtlichen Ori-
entierung abweichen: Lesbian, Gay,
Bisexual, Transgender, Intersexual
und Queer (Bundeszentrale für politi-
sche Bildung 2015/16, S. 22). Die Vor-
stellung von der natürlichen Ordnung         Abb. 1: Die Kulturpyramide.
der Geschlechter – Frauen und Männer,        Quelle: Handschuck, S. (2004): Interkulturelle Verständigung in der Sozialen Arbeit. Weinheim
die sich gegenseitig begehren – prägt
die Kindheit und durchzieht alle Sphä-
ren des gesellschaftlichen Lebens bis in     ohne besonderen Förderbedarf (Behör-                • Verlust von Tag-Nachtrhythmus, hohe
das Denken und Fühlen der Menschen           de für Schule und Berufsbildung 2013,                 Fehlzeiten, die nicht durch die ur-
(Heteronormativität). Damit wurden           S. 20 – 21) inzwischen auch das Thema                 sprüngliche Erkrankung hervorgeru-
und teilweise werden Homosexuelle            Vielfalt der sexuellen Orientierungen                 fen werden,
und Transgender von der Gesellschaft         und Geschlechteridentitäten im Schul-               • Absentismus,
ignoriert und ausgeschlossen (ebd., S. 3).   leben und im Unterricht aufgegriffen                und soziale Auswirkungen, wie:
LGBTIQ-Jugendliche stehen heutzuta-          wird (S. 16 f.).                                    • wenig bis keine Freunde,
ge oft im Spannungsfeld zwischen ak-                                                             • kein soziales Netzwerk innerhalb der
zeptierenden Wahrnehmungen und Hal-                Chronisch erkrankte Kinder und                  Schule,
tungen und sich verstärkenden neokon-                  Jugendliche beschulen                     • durch Krankheit und Therapien we-
servativen Standpunkten (Gaupp 2015,         Zu den chronischen Erkrankungen zäh-                  nig Zeit, sich außerhalb der Schule zu
S. 12). Ihre Verortung mit ihrer sexuel-     len u. a. Allergien, bestimmte Erkran-                verabreden.
len Orientierung oder ihrer geschlecht-      kungen der Atemwege und der Haut, Di-               In Hamburg gibt es ein gut ausgebau-
lichen Identität in der Gesellschaft so-     abetes mellitus, Rheuma, Depressionen               tes Hilfs-und Beratungssystem für chro-
wie die Erarbeitung eines individuellen      und Krebs. Viele erkrankte Kinder und               nische Erkrankungen bei Kindern und
Lebensentwurfs, der ihrem Erleben ge-        Jugendliche wollen nicht, dass ihre Mit-            Jugendlichen (Behörde für Gesund-
recht wird, stellt immer noch eine He-       schülerinnen und -schüler etwas von ih-             heit und Verbraucherschutz, 2015, S.
rausforderung dar. Ein Coming–out in         rer Erkrankung erfahren. Sie selbst lei-            63). Dazu gehört das Hamburger Bil-
der Schulzeit wird oft aus Sorge vor         den häufig unter psychischen Nebenwir-              dungs- und Beratungszentrum für Päd-
Ausgrenzung und Mobbing vermieden            kungen, wie:                                        agogik bei Krankheit (BBZ). Dieses bie-
(Krell 2015, S. 6, 21). Im Beitrag von       • erhöhte Anfälligkeit sich zurückzuzie-            tet Unterricht in Gruppen an verschie-
Stock wird dargestellt, wie anknüpfend         hen, in Depressionen zu »versinken«,              denen Standorten in Klinikschulen und
an Konzepte zum inklusiven Unterricht        • Verdrängung von Schmerzen und                     im mobilen Unterricht an. Das Ziel ist
mit Schülerinnen und Schülern mit und          Frust durch Computerspiele,                       primär, den Weg zurück in Regelklas-

Hamburg macht Schule 1|2016
                                                                                                                                               7
Thema

             Fundstücke
Einführung

             Online-Handbuch »Inklusion als Menschrecht«                    Schulprojekte des Vereins Irre menschlich Hamburg e. V.
             Deutsches Institut für Menschenrechte e. V. (2015) (Hg.)       www.irremenschlich.de insbesondere www.irremenschlich.
             www.inklusion-als-menschenrecht.de/#c397                       de/projekte/schulen
             Pädagoginnen und Pädagogen erhalten Anregungen, mit            In diesem trialogischen Verein sind Psychiatrie-Erfahrene,
             welchen Materialien und Methoden sie die Themen Men-           Angehörige und Therapeuten aktiv. Lehrkräfte können sich
             schenrechte und Behinderung im Schulunterricht behan-          beraten lassen und erhalten Unterstützung für entsprechen-
             deln können. Dazu gehören u. a. informative Texte, Rollen-     de Unterrichtsvorhaben. Die direkte Begegnung zwischen
             und Planspiele. Hintergrundtexte zur Vertiefung sind meist     Betroffenen und Schülerinnen bzw. Schülern in den Unter-
             schwerer zu lesen als die anderen Texte der Website.           richtsprojekten hilft, Vorurteile und Ängste abzubauen.
                                                                            Einmal im Jahr findet am Universitätsklinikum Hamburg-Ep-
             DVD »Vielfalt macht Schule«, Inklusion in der Schule er-       pendorf (UKE) der Tag der offenen Tür »Psychiatrie macht
             folgreich gestalten.                                           Schule« mit Vorträgen, Filmen, Lesungen und Workshops statt.
             Mittendrin Hannover e. V. (2015)
             http://dvd.mittendrin-hannover.de/vielfalt/index.htm           Broschüre Vielfalt in der Schule – Informationen für pä-
             Dieser Film beleuchtet, wie sich drei Grundschulen und zwei    dagogisches Personal
             Integrierte Gesamtschulen in Hannover und Umgebung in          Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, Be-
             kleinen zu ihrem Konzept passenden Schritten zu inklusi-       ratungsstelle Interkulturelle Erziehung (2015) (Hg.)
             ven Schulen entwickeln. Die Leitidee des Films orientiert      http://li.hamburg.de/publikationen/publikationen/2819050/
             sich am »Index für Inklusion« von Tony Booth und Mel Ains-     interkulturelle-erziehung/
             cow aus England.                                               Das Heft dient bei wichtigen kulturell und religiös beding-
                                                                            ten Fragen des Schulalltags als verlässliche Informations-
             Zeitschrift »Ohrenkuss … da rein, da raus«                     quelle, Ratgeber und Orientierungshilfe.
             downtown werkstatt für kultur und wissenschaft gGmbH,
             Dr. Katja de Bragança/Dr. Bärbel Peschka (Hg.)                 Broschüre Vielfalt in der Schule – Informationen für Eltern
             http://ohrenkuss.de/                                           Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, Be-
             Diese Zeitung erscheint halbjährig und wird von Menschen       ratungsstelle Interkulturelle Erziehung (2015) (Hg.)
             mit Down-Syndrom gemacht. Die Hefte sind sehr anspre-          http://li.hamburg.de/publikationen/2994684/vielfalt-eltern-
             chend gestaltet. Ein Ohrenkuss wird wie folgt erklärt: »Man    infos/
             hört und sieht ganz vieles – das meiste davon geht zum ei-     Diese Publikation liegt in arabischer, englischer, französischer,
             nen Ohr hinein und sofort zum anderen Ohr wieder hinaus.       russischer, spanischer, türkischer und Farsi-Übersetzung vor.
             Aber manches ist wichtig und bleibt im Kopf – das ist dann
             ein Ohrenkuss.«                                                Webportal für inter*, trans* und genderqueere Jugendli-
                                                                            che »Mein Geschlecht«
             Schulvorträge und Aktionstage der Initiative ArbeiterKind.de   TransInterQueer e. V.
             zur Förderung des Hochschulstudiums von Nicht-Akade-           www.meingeschlecht.de
             mikerkindern                                                   Hier finden Jugendliche Unterstützung durch Hinweise auf
             Informationen für Lehrkräfte:                                  bundesweite Anlaufstellen sowie auf Einrichtungen und Or-
             www.arbeiterkind.de/index.php?id=10                            ganisationen in den einzelnen Bundesländern. Außerdem
             Informationen für Schülerin und Schüler der Sek II:            gibt es Informationen für Eltern, Angehörige und Pädago-
             www.arbeiterkind.de/index.php?id=13                            ginnen und Pädagogen.
             Diese gemeinnützige Initiative ermutigt Schülerinnen und
             Schüler aus Familien, in denen noch niemand oder kaum          Webportal »Queer History – Geschichte queer unterrichten«
             jemand studiert hat, zum Studium und unterstützt vom Stu-      Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e. V.
             dieneinstieg bis zum Studienabschluss. Die ehrenamtlichen      www.queerhistory.de
             Mentorinnen und Mentoren kommen für Vorträge, Aktions-         Hier werden ausgearbeitete Unterrichtsentwürfe mit Im-
             tagen und Beratungsgespräche an die Schule. Sie berich-        pulsen zur Gruppenarbeit sowie Videosequenzen zu unter-
             ten von ihren eigenen Erfahrungen und darüber, wie sie         schiedlichen Themen, wie der Paragraph 175, die Frauen-
             es geschafft haben. Sie wollen Vorbilder sein und anderen      und Lesbenbewegung oder die Geschichte der Empfängnis-
             Mut machen.                                                    verhütung, präsentiert.

                                                                                                                    Hamburg macht Schule 1|2016
  8
Inklusion II

sen zu schaffen. Einzelunterricht findet     orientierte Prävention im Sinne von           gazin der Bundeszentrale für politische

                                                                                                                                           Einführung
in der Regel bei den Schülerinnen und        Selbstwirksamkeit (Empowerment) und           Bildung. Thema Geschlechter. Ausgabe 57
Schülern mit schweren und/oder chro-         die Betrachtung von Risiko- und Schutz-       Gaupp, N. (2015): (Lebens-)Welten von
nischen Erkrankungen statt. Ein Groß-        faktoren eine wichtige Rolle (siehe Ro-       Jugendlichen sind bunt. In: Dreizehn
teil dieser Schülerinnen und Schüler be-     bert Koch-Institut, 2015, S. 120). Welche    – Zeitschrift für Jugendsozialarbeit.
sucht die Schule so oft, wie es gesund-      Bedeutung die Schule zur Stabilisierung       H. 14/2015, S. 10 – 14. Kostenloser
heitlich möglich ist (S. 18 f.).             haben kann, wird aus dem anonymisier-         Download unter http://www.jugend-
   Der Beratungsbereich des BBZ, der         ten Beitrag einer Studentin deutlich (S.      sozialarbeit.de/media/raw/KVJS_drei-
sich im Aufbau befindet, umfasst die Be-     20 f.). Ebenfalls in einem anonymisier-       zehn_Nr14_web.pdf
ratungsstelle Pädagogik bei Krankheit        ten Beitrag einer Sonderschullehrkraft        Irle, K.(2015): Wie Inklusion in der Schu-
(seit August 2015) und die Beratungs-        werden auch die Grenzen einer inklu-          le gelingen kann und warum manche
stelle Autismus (S. 22 f.). Kinder mit Au-   siven Schulpraxis beschrieben (S. 12 f.).     Versuche scheitern. Interviews mit füh-
tismus sind in der Kommunikation und         Hier wird insbesondere die Frage auf-         renden Experten. Weinheim und Basel
sozialen Interaktion beeinträchtigt. Vie-    geworfen, inwieweit es den Pädagogin-         Körner, I. Senatskoordinatorin für die
le Schulen ohne Erfahrungen haben be-        nen und Pädagogen gelingt, den indivi-        Gleichstellung behinderter Menschen
gonnen, sich auf Autismus einzustellen,      duellen Bedürfnissen aller Kinder nach        (2015): Inklusion. Hamburg macht sich
professionalisieren mit Hilfe der Bera-      Selbstwirksamkeit und Kompetenzer-            auf den Weg. Tätigkeitsbericht der Se-
tung ihre Sicht auf Autismus, ermögli-       leben zu entsprechen (Schuck 2014, S.         natskoordinatorin für die Gleichstellung
chen Veränderungen, individuelle Re-         167).                                         behinderter Menschen 2011 – 2014
gelungen, einen Nachteilsausgleich so-         In diesem Heft wird dargestellt, wie        Krell, C. Oldemeier, K., Deutsches Ju-
wie sonderpädagogische Unterstützung.        die Berücksichtigung einzelner oder           gendinstitut e. V. (2015): Coming out –
Andere Schulen haben bereits langjäh-        mehrerer Vielfaltsdimensionen bei der         und dann …?!
rige Erfahrungen mit Schülerinnen und        Gestaltung von schulischen Prozessen          Reich, K. (2014): Inklusive Didaktik.
Schülern, denen nicht mehr unspezifi-        und konkreten Vorhaben zu mehr Chan-          Bausteine für eine inklusive Schule.
sche »Verhaltensprobleme« zugeschrie-        cen- und Bildungsgerechtigkeit beitra-        Weinheim und Basel
ben werden, sondern spezifische Beson-       gen kann. »Es geht um Teilhabe aller im       Reich, K. u. a. (2015) (Hg.): Eine inklu-
derheiten, die erklärbar sind und eine       Prozess des gemeinsamen Lernens. In           sive Schule für alle. Das Modell der In-
eigene Logik haben.                          der Situation hoher Diversität geht es        klusiven Universitätsschule Köln. Wein-
   Seit Einführung der Inklusion zeigen      umso mehr um Wertschätzung anderer            heim und Basel
Schulen deutlich mehr Bereitschaft, für      und um Offenheit für Unterschiede, um         Riekmann, B. (2015): Gemeinsam Ler-
erkrankte Schülerinnen und Schüler im        Beziehung und Vertrauen« (Riekmann            nen – ein Plädoyer für die Vielfalt. In: Ge-
Sinne eines Nachteilsausgleichs (NTA)        2015, S. 12).                                 meinsam Lernen. Zeitschrift für Schule,
unterschiedlichste Regelungen zu ver-                                                      Pädagogik und Gesellschaft H. 3/2015,
einbaren und umzusetzen. Vor allem           Literatur                                     S. 8 – 14
Stadtteilschulen mit langer Integrati-       Achour, S. (2015): Heterogenität im Po-       Robert Koch-Institut (2015) (Hg.): Ge-
onserfahrung sind geübt im Umgang            litikunterricht – eine Einführung in das      sundheit in Deutschland. Berlin
mit unterschiedlichen Förder- oder           Thema. In: Wochenschau. Heterogeni-           Schuck, K. D. (2014): Individualisierung
NTA-Regelungen. Für viele Gymnasien          tät. Sonderausgabe Juni/Juli 2015, S.         und Standardisierung in der inklusi-
war es zwar neu, sich mit Förderplä-         4–6                                           ven Schule – ein unauflösbarer Wider-
nen zu beschäftigen; inzwischen wird         Behörde für Gesundheit und Verbrau-           spruch? In: Die Deutsche Schule. Zeit-
jedoch die Umsetzung von NTA-Rege-           cherschutz (BGV) (2015) (Hg.): Gesund-        schrift für Erziehungswissenschaft, Bil-
lungen sehr engagiert angegangen. Seit       heit Hamburger Kinder im Einschu-             dungspolitik und pädagogische Pra-
Erscheinen der Handreichung wird das         lungsalter. Hamburg                           xis H. 2/2014, S. 162 – 174
BBZ immer häufiger angesprochen, um          Behörde für Schule und Berufsbildung          Thurn, S. (2015): Auf dem Weg zur
bei der konkreten Planung von NTA-Re-        (BSB) (2013) (Hg.): HAMBURG MACHT             inklusiven Schule. In: PÄDAGOGIK
gelungen zu beraten (Behörde für Schu-       SCHULE. Zeitschrift für Hamburger             H. 12/2015, S. 6 – 10
le und Berufsbildung 2013).                  Lehrkräfte und Elternräte. Inklusion.
   Dieses gilt auch für Jugendliche mit      H. 2/2013
psychischen Erkrankungen. Epidemio-          Behörde für Schule und Berufsbil-
                                                                                                    Beate Proll leitet die Abteilung Beratung
logische Daten legen zwar keine Zu-          dung (BSB) (2013) (Hg.): Handreichung
                                                                                                   – Vielfalt, Gesundheit und Prävention am
nahme von psychischen Erkrankun-             Nachteilsausgleich. Kostenloser Down-
                                                                                                       Landesinstitut für Lehrerbildung und
gen nahe, mit Blick auf steigende An-        load unter www.hamburg.de/content-
                                                                                                                            Schulentwicklung.
forderungen in einer modernen Indus-         blob/3897226/data/nachteil-dl.pdf)
                                                                                                                   beate.proll@li-hamburg.de
trie-, Dienstleistungs- und Wissensge-       Bundeszentrale für politische Bildung
sellschaft spielt jedoch die ressourcen-     (bpb) (Winter 2015/16) (Hg.): fluter – Ma-

Hamburg macht Schule 1|2016
                                                                                                                                             9
Thema

                  Interkulturelles
Stadtteilschule

                  Kompetenztraining
                  Sich gegenseitig aushalten und respektieren
                                                               Seite. »Na und, siehst deutsch aus und       Sache und diskutieren angeregt. Es ent-
                   Ein konstruktiver Umgang mit Viel-          benimmst dich wie eine Kartoffel, du         stehen unterschiedliche Ranglisten, jede
                   falt kann gelernt werden. Wer bin           Lauch.« Großes Gelächter beim Rest der       Gruppe erläutert ihr Ergebnis. Aus den
                   ich? Woher komme ich? An was                Klasse. »Wer ist hier eigentlich Deut-       Gruppen wird berichtet, dass die Grup-
                   glaube ich? sind dabei wichtige             scher?«, fragt Aylin in die Runde. Kei-      penmitglieder sich untereinander nicht
                                                               ner meldet sich. »Frau Devici, sie haben     einig waren und für die Präsentation
                   Leitfragen. Konflikte entstehen,
                                                               helle Haare, sie sind bestimmt deutsch       eine Version ausgewählt haben. Einige
                   wenn mit sehr stereotypen Identi-           und mit einem Türken verheiratet.« Ich       Schüler und Schülerinnen machen deut-
                   tätszuschreibungen ausgegrenzt              verneine und erzähle, dass meine Eltern      lich, dass sie sich vom Gruppenergebnis
                   wird. Welche Erfahrungen machen             aus der Türkei nach Deutschland einge-       distanzieren. Auf die Frage hin, welches
                                                               wandert sind und ich selbst in Hamburg       Gruppenergebnis denn nun richtig sei,
                   Jugendliche im interkulturellen
                                                               geboren wurde.                               konnte keiner antworten.
                   Kompetenztraining? Was sind die               Ich stelle erneut die Frage, was in-
                   Aufgaben einer interkulturellen             terkulturelle Kompetenz bedeutet. »Wir       Reflexion mit Hilfe der Kulturpyramide
                   Koordinatorin? Wie werden inter-            müssen alle Kulturen akzeptieren.«,          Nach einem kurzen Schweigen bemerkt
                                                               kommt als Antwort. Nach der Frage,           Aziz, dass es kein richtig und falsch gibt.
                   kulturelle Themen in einer Schule
                                                               welche Kulturen es gibt, werden die          »Wir denken alle anders. Ist schon ko-
                   aufgegriffen?                               deutsche, türkische, afghanische, per-       misch. Hat aber mit unserem Land was
                                                               sische, bosnische, polnische usw. ange-      zu tun. Polen und Türken zum Beispiel
                  Es ist die dritte Stunde einer 9. Klasse     geben. Aziz hat Einwände: »Ich möchte        können nicht gleich denken.« Esra wen-
                  an der Kurt-Tucholsky-Schule in Alto-        aber nicht die Serben akzeptieren. Die       det ein: »Wieso? Mustafa ist auch Türke
                  na. Der Klassenlehrer hat mich gebe-         sind so assich.« Nun greife ich auf die      und denkt wie Tim und nicht wie du!«
                  ten, mit seiner Klasse ein interkulturel-    »Nina-Übung« zurück.                         Alle sind sich einig, dass Mustafa kein
                  les Kompetenztraining durchzuführen.                                                      typischer Türke sei. Ein typischer Tür-
                  Auslöser waren sich zuspitzende Ausei-       Die »Nina-Übung« (Kurzfassung) –             ke würde Ninas Verhalten als am unmo-
                  nandersetzungen zur Herkunft und Re-         wer handelt richtig?                         ralischsten einstufen.
                  ligion. Wir verfolgen damit das Ziel, für    Nina ist eine junge Frau, die ihren Ver-        Daraufhin erkläre ich den Kulturbe-
                  den Schulalltag einen respektvollen Um-      lobten Marc heiraten möchte, der auf         griff anhand der Kulturpyramide (siehe
                  gang mit Unterschiedlichkeiten und ge-       der anderen Flussseite lebt. Axel besitzt    Einleitung). Die Frage nach der interkul-
                  gensätzlichen Meinungen zu entwickeln.       als einziger ein Boot. Er fährt Nina nur     turellen Kompetenz wird zum Schluss
                                                               auf die andere Flussseite, wenn sie eine     noch einmal aufgegriffen. Die Diskus-
                  Von Kartoffeln, Lauch und Kanacken           Nacht mit ihm verbringt. Nachdem Ni­         sion zur »Nina-Übung« und die Dar-
                  Die Stimmung in der Lerngruppe ist wie       nas beste Freundin Anja Nina mit ih-         stellung der Kulturpyramide ergeben,
                  nach jeder Pause am Anfang ziemlich          rem Problem alleine lässt, geht Nina auf     dass zur interkulturellen Kompetenz
                  wuselig. Ich schreibe den Begriff: »in-      Axels Bedingung ein. Einen Tag vor der       u. a. das Aushalten anderer Meinungen
                  terkulturelle Kompetenz« mit der Fra-        Hochzeit erzählt sie Marc, wie sie auf       und Sichtweisen gehört. Die eigene Posi-
                  ge, was darunter zu verstehen sei, an die    die andere Seite des Flusses gekommen        tion kann dadurch in Frage gestellt bzw.
                  Tafel. »Sie wollen uns beibringen, wie       ist. Marc sagt daraufhin die Hochzeit        kritisch betrachtet werden. Dabei muss
                  wir Ausländer uns in Deutschland ver-        ab und verlässt Nina. Damit Nina nicht       die eigene Persönlichkeit nicht in den
                  halten sollen.« antwortet Mehdi. Dazu        alleine auf der anderen Flussseite le-       Hintergrund treten.
                  gibt es einige Einwände: »Ich weiß, wie      ben muss, heiratet Georg, Marcs bester
                  ich mich verhalten muss, werde aber          Freund, Nina, obwohl er sie nicht liebt.     Organisatorischer Rahmen
                  nicht so sein wie die Kartoffeln.«, äußert     Die Klasse wird aufgefordert, in Klein-    Als interkulturelle Koordinatorin füh-
                  ein anderer Schüler und zeigt auf zwei       gruppen eine Rangliste zu erstellen, wer     re ich anlassbezogen in verschiede-
                  Jungs, die blonde Haare haben. »Ich bin      von den fünf Personen am moralischs-         nen Klassen das interkulturelle Trai-
                  Pole, du Kanacke!«, heißt es von deren       ten gehandelt hat. Alle sind aktiv bei der   ning durch. Das Training findet immer

                                                                                                                             Hamburg macht Schule 1|2016
 10
Inklusion II

                                                                                                                                              Stadtteilschule
                                                                                                Podiumsdiskussion für Eltern, Schüler-
     »Frau Devici,                              »Außerhalb der Schule                           schaft und Lehrkräfte im Stadtteil. Auf
  seitdem Sie in der                       muss ich auch immer noch darü-                       dem Podium haben verschiedene Ak-
  Klasse sind, merke ich                   ber nachdenken und passe echt auf,                   teure, die zum religiösen Extremismus
  gar nicht, wie die Zeit                      was ich sage.« (Schüler)                         arbeiten, ihre Positionen und Aktivitä-
   vergeht.« (Schüler)                                                                          ten dargestellt. So wurden eine Anlauf-
                                                                                                stelle für Betroffene vorgestellt und die
                                                                                                Rolle der Polizei, der Religionsgemein-
                                                                                                den und Behörden erörtert. Zurzeit be-
                                                                                                sprechen wir, wie es mit dem Thema
                                         »Seit dem interkulturellen
   »Ich mer-                                                                                    »Gebetsraum« in unserer Schule wei-
                                    Kompetenztraining verlaufen die Diskus-
  ke jetzt viel                                                                                 tergehen soll. Die AG-Mitglieder haben
                                   sionen respektvoller. Bei ausgrenzenden
 schneller, was                                                                                 sich gegen einen Gebetsraum ausge-
                                   und rassistischen Äußerungen wird sich ge-
 Rassismus ist.                                                                                 sprochen. Daher ist der Vorschlag, ei-
                                   genseitig ermahnt. Häufig argumentieren
 Ich war ja auch                                                                                nen Ruheraum für die Jahrgänge 9 und
                                   die Jugendlichen mit Sätzen, die sie wäh-
 rassistisch, habe                                                                              10 mit einer Ecke für Gebete einzurich-
                                   rend des Trainings gelernt haben. Aber
 mich richtig er-                                                                               ten, angenommen worden. Im nächsten
                                   wenn es um Religion geht, geht es immer
 schreckt.«                                                                                     Schritt soll nun der Schülerrat einbezo-
                                   noch heiß her. Da wird es mit der Akzep-
  (Schülerin)                                                                                   gen werden.
                                        tanz schwieriger.« (Klassenlehrer)
                                                                                                Zuständigkeiten
                                                                                                Das Erlangen von interkultureller Kom-
Äußerungen zum interkulturellen Kompetenztraining                                               petenz erfordert einen Prozess, der über
                                                                                                einen längeren Zeitraum angelegt wer-
zwei Stunden in der Woche über einen                ka 30 Stunden vorgesehen. In diesem         den muss. In der Kurt-Tucholsky-Schule
längeren Zeitraum statt (insgesamt zir-             Rahmen werden dann 20 Kolleginnen           wird das Training von allen sehr positiv
ka 16 Unterrichtsstunden). Zu Beginn                und Kollegen darin geschult, die Inhal-     bewertet. Das Kollegium und die Schul-
werden gemeinsam mit den Schülerin-                 te und Übungen in ihren Klassen durch-      leitung sind sich einig, dass interkultu-
nen und Schülern Gesprächsregeln zu-                zuführen.                                   relle Kompetenz früh gelernt und geübt
sammengestellt. Dazu gehört, dass nie-                Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer        werden muss. Die frühe Auseinander-
mand wegen seiner Meinung unsachlich                sollen                                      setzung mit dem Kulturbegriff, Vorurtei-
kritisiert werden darf. Für Regelverstö-            • die Bedeutung von interkulturellen        len, Kommunikation, Werten, Normen
ße werden gemeinsam Maßnahmen mit                     Kompetenzen kennen lernen.                und Diskriminierung führt zur Selbstre-
eindeutigen Konsequenzen formuliert.                • Begrifflichkeiten (z. B. Kultur) kennen   flektion und bewusstem Umgang mit
Die Übungen sind so konzipiert, dass                   lernen und diese in ihrem Sprachge-      Unterschieden und Gemeinsamkeiten.
jede bzw. jeder aktiv mitarbeiten muss,                brauch sinnvoll einsetzen.               Das Thema sollte im Schulkonzept fest
jedoch entscheiden kann, inwieweit sie              • die Fähigkeit des Perspektivwechsels      verankert sein und darf nicht aus dem
oder er sich äußert. Außerdem sind die                erlangen.                                 Blickfeld gelangen. Es braucht institu-
Übungen so angelegt, dass es kein ein-              • ihre eigenen Vorurteile reflektierend     tionell verankerte »Kümmerer«. Eine
deutiges richtig oder falsch gibt. Die                 betrachten.                              gute Schule nimmt die Vielfalt wahr,
Schülerinnen und Schüler setzen sich                • möglicherweise eigenes diskriminie-       setzt sich damit auseinander und si-
mit echten Inhalten und ihren alltägli-                rendes Verhalten erkunden und Alter-     chert das friedliche Zusammenleben
chen Gedanken auseinander. Das Leis-                   nativen entwickeln.                      fachlich ab.
tungsniveau steht dabei weniger im                  • über eigene Normen und Werte spre-
Vordergrund. Die Aufmerksamkeit ist                   chen sowie die Einflüsse darauf näher
schnell da und hält bei vielen Jugendli-              erläutern können.                                 Özlem Devici unterrichtet an der Kurt-
chen eine ganze Doppelstunde an.                                                                     Tucholsky-Schule die Fächer Deutsch und
                                                    Impulsgeber – die I-Kult AG                        Türkisch. Sie ist dort seit Februar 2014
Qualifizierung der schulischen                      Diese von mir geleitete Arbeitsgruppe               als interkulturelle Koordinatorin tätig.
Pädagoginnen und Pädagogen                          trifft sich zirka sechsmal im Jahr und         Außerdem ist Frau Devici am Landesinstitut
Da ich das Training bisher alleine                  bespricht aktuelle Themen, wie z. B.              für Lehrerbildung und Schulentwicklung
durchführe, können gleichzeitig nur                 religiösen Extremismus und plant ent-                     für das Hamburger Netzwerk mit
zwei Klassen davon profitieren. Um es               sprechende Maßnahmen, wie Kollegi-                         Migrationsgeschichte zuständig.
in der Schule auszuweiten, ist eine Kol-            umsfortbildungen mit externen Exper-                          oezlem.deveci@li-hamburg.de
legiumsfortbildung im Umfang von zir-               ten. Die jüngste Veranstaltung war eine                           www.tucholsky-schule.de
                                                                                                                 http://li.hamburg.de/netzwerk

Hamburg macht Schule 1|2016
                                                                                                                                               11
Thema

              »Wir verfolgen das
Grundschule

              Personenprinzip«
              Fördern im Unterricht
                                                          mit ihnen im Nebenraum in einem in-        Lernen braucht Beziehungen
               In diesem anonymisierten Interview
                                                          zwischen gut eingeübten, strukturier-
               berichtet ein Sonderschulpädagoge          ten Konfliktgespräch zu klären. Das ist    Wir haben uns vor zwei Jahren dar-
               von seinen Erfahrungen an einer            nur möglich, da in dieser Stunde meine     auf geeinigt, dass möglichst viel Förde-
               KESS-1-Grundschule. Er hat die Fach-       Doppelbesetzung anwesend ist und mit       rung (siehe § 12 und § 45 des HmbSG,
                                                          der Klasse kurz frühstückt.                Sprachförderung, Begabtenförderung
               richtungen »Geistigbehindertenpäd-                                                    etc.) nicht in Förderkursen oder von
               agogik« sowie »Lernbehinderten-            Allen Kindern gerecht werden               Lehrkräften, die speziell nur dafür ein-
               pädagogik« studiert und in Förder-         Bis dann meine Musikstunde endlich         gesetzt werden, durchgeführt werden,
                                                          losgehen kann, ist einige Zeit verstri-    sondern von Lehrkräften bzw. pädago-
               schulen für Lernbehinderte sowie in
                                                          chen und die Kinder, die Referate über     gischen Fachkräften, die viel in der Klas-
               Integrationsklassen gearbeitet. Wie        ihre Lieblingsmusik halten wollen, wer-    se sind. Nach unseren Erfahrungen ist
               gelingt integrierte Förderung im           den ungeduldig. Schließlich startet ein    die Bindung von pädagogischen Fach-
               Klassenverband? Ist dieses Konzept         Schüler mit einem Rap, der allerdings      kräften zu den Kindern grundlegend für
                                                          eine Menge »F-Wörter« enthält. Dies ist    eine effektive Förderung. Außerdem ist
               für alle Kinder geeignet? Sollte das
                                                          Anlass zu einer Diskussion, wann sol-      der Austausch zwischen einer kleinen
               Notensystem abgelöst werden?               che Wörter erlaubt sind und wann nicht.    Gruppe von Kolleginnen und Kollegen,
                                                          Zählt die künstlerische Freiheit mehr      die die Kinder gut kennen, einfacher zu
              Ich unterrichte und berate als Sonder-      als die Schulregel, keine Schimpfwör-      organisieren und inhaltlich intensiver.
              schullehrkraft an einer KESS-1-Grund-       ter und Beleidigungen zu verwenden?        Im Idealfall ist die Zweitbesetzung eine
              schule und habe die Fachrichtungen          Die Zweitbesetzung, die mit einem Kind     Sonderschullehrkraft. In der Realität rei-
              »Geistigbehindertenpädagogik« sowie         mit Förderbedarf Geistige Entwicklung      chen die sonderpädagogischen Ressour-
              »Lernbehindertenpädagogik« studiert.        das Referat geübt hatte, muss dann mit-    cen für ein Tandemmodell in allen Lern-
              Außerdem habe ich an einer Schule für       ten in der Stunde zur Vertretung in eine   gruppen jedoch nicht aus. Wir haben uns
              Geistigbehinderte, an einer Förderschu-     andere Klasse. Die Schülerin schafft es    auf den Kompromiss geeinigt, dass dann
              le für Lernbehinderte und in Integra-       trotzdem, ihren Text mit sehr leiser       die Förderung von anderen Lehrkräften
              tionsklassen an einer Berufsbildenden       Stimme vorzulesen und ihr Lied vorzu-      oder auch Erzieherinnen durchgeführt
              Schule gearbeitet.                          stellen. Der Körpersprache der ande-       wird, die viel in der Klasse sind und zu
                                                          ren Kinder entnehme ich, dass sie das      der die Kinder einen Bezug haben. Zur-
              HMS: Können Sie uns bitte einen kurzen      Lied ziemlich »uncool« finden; aber sie    zeit sieht unser Modell so aus, dass in je-
              Einblick in Ihren Arbeitsalltag geben?      schaffen es, nichts Abwertendes dazu zu    dem Jahrgang eine Sonderschullehrkraft
                Typisch für meinen Schulalltag ist fol-   sagen. Beim Klingelzeichen rasen alle      tätig ist. Sie ist in einer Klasse des Jahr-
              gende Situation: Auf dem Weg zum Mu-        nach draußen, um rechtzeitig bei der       gangs die Tandempartnerin einer Fach-
              sikunterricht in einer 4. Klasse begegne    Tischtennisplatte zu sein und »Runde«      lehrkraft, berät aber auch die Fachlehr-
              ich einer Kollegin, die schnell noch den    zu spielen.                                kräfte der anderen Klassen des Jahr-
              Termin für ein Elterngespräch mit mir         Hat Ihre Schule ein Konzept zur inklu-   gangs zu sonderpädagogischen Frage-
              absprechen möchte. Das Gespräch mit         siven Bildung?                             stellungen. Gleichzeitig sollen die Son-
              einem Kind, das mir gerade von seinem         Auf mehreren Lehrerkonferenzen und       derschullehrkräfte auch verantwortlich
              neuen Spielzeug – einem tollen dehn-        einer pädagogische Jahreskonferenz         Fachunterricht geben, um so ihre Sicht-
              baren Gummi – erzählt, muss ich da-         haben wir verschiedene Möglichkeiten       weisen in die Fachdidaktik einzubringen
              für abbrechen. Ich erreiche gerade noch     der Förderung diskutiert und über          und ein anderes »Standing« in den Klas-
              rechtzeitig meinen Klassenraum. In der      Grundzüge Beschlüsse gefasst. Die          sen zu haben. Deshalb unterrichte ich
              kleinen Garderobe vor der Klasse drän-      Förderkoordinatorin entwickelte auf        als Sonderschullehrkraft in der 4. Klas-
              geln sich 18 Schülerinnen und Schüler.      dieser Grundlage mit Hilfe von einigen     se, wie anfangs dargestellt, Musik und
              Zwei Jungen hatten sich in der Pause        Kolleginnen und Kollegen ein Konzept,      bin gleichzeitig Beraterin von anderen
              gestritten und bitten mich, diesen Streit   das dann wieder allen vorgestellt wurde.   Fachlehrkräften.

                                                                                                                      Hamburg macht Schule 1|2016
 12
Inklusion II

  Wie sieht das Unterstützungssystem         und die Leistungsanforderungen höher.       Grenzen der Inklusion

                                                                                                                                       Grundschule
Ihrer Schule aus?                            Das hat sich inzwischen sehr geändert,
  Verschiedenste Kolleginnen und Kolle-      es ist gelungen, die Klassen stärker zu     Ein weiterer Stolperstein ist die Inte­
gen – Lehrkräfte, Erzieherinnen, Sozial-     mischen, so dass auch wirkliche Inklu-      gration – ich verwende diesen veralteten
pädagoginnen – arbeiten als Doppelbe-        sion stattfinden kann.                      Begriff bewusst – von Kindern mit För-
setzungen im Unterricht oder auch im            Durch inzwischen gewachsene Struk-       derbedarf Geistige Entwicklung. Nach
sogenannten »Ganztagsbereich«. In ei-        turen des Austausches untereinander,        meiner Beobachtung bewahrheitet sich
nem unserer Klassenräume verbinden           wie verbindliche und fest terminierte       die in vielen Untersuchungen dargelegte
wir die pädagogische Insel (Rückzugs-        Teamsitzungen, ziehen die meisten Be-       These, dass sie mehr lernen als in den
raum für Kinder, welche aus aktuel-          teiligten an »einem Strang«. Das redu-      Sonderschulen und dass es für die Kin-
lem Anlass, z. B. Unterrichtsstörungen,      ziert Gewaltvorfälle und verbessert das     der ohne Förderbedarf ein großer Ge-
kurzfristig nicht am Regelunterricht teil-   Klima in der Schule. Auch gemeinsame        winn ist, mit solchen Kindern in einer
nehmen können) mit Pausen-Gestaltung         Projekttage, Schulfeste, Projekte tragen    Klasse zu sein. Allerdings sehe ich in
und dem Nachmittagsbereich. Teilweise        dazu bei. Seit es der Schule durch spezi-   der Realität, dass sie manchmal kaum
wird dieser Raum zeitgleich von 20 bis       fische Lernangebote gelungen ist, auch      wirkliche Freunde finden, die auf ih-
30 Kindern genutzt. Es gibt verschiedene     Kinder aus bildungsnahen Haushalten         rem Spielniveau spielen und über die
Kooperationspartner wie das Regionale        einzuschulen, hat sich das Schulklima       gleichen Dinge lachen können. Je älter
Bildungs- und Beratungszentrum (ReB-         nochmals spürbar verbessert. Dadurch        die Kinder werden, desto weiter geht
BZ), den Allgemeinen Sozialen Dienst         entsteht wirkliche Vielfalt, die für alle   die Schere auseinander. Schwer auszu-
(ASD), den Träger des Ganztagsange-          von Nutzen ist, allerdings auch neue        halten finde ich, wie manche dann ver-
botes, die Lesepaten, einen ganzen Pool      Fragen aufwirft. So gibt es immer wie-      suchen, durch übergroße Anpassung
von Kurs-Anbietern und Honorarkräf-          der kritische Äußerungen einzelner El-      oder Verstecken ihrer Besonderheiten,
ten aus unterschiedlichen Professionen.      tern zum Lernniveau mit Blick auf den       wie z. B. Muskelzuckungen (Tics), ein
                                             gewünschten Wechsel zum Gymnasium.          bisschen beliebter zu werden. Einige
Verlässliche Förderung –                                                                 Kinder werden ganz still und zurück-
eine Herausforderung                         Guter Unterricht                            haltend, da es den anderen Kindern
Es ist auf jeden Fall hilfreich, dass so     für heterogene Lerngruppen                  zu lange dauert, bis sie z. B. ein Spiel
viele Professionen zusammenarbeiten          Hier sehen allerdings auch viele von        verstanden haben. Diese Kinder wären
und dass es ein Unterstützungsangebot,       uns noch große »Baustellen«, da es sehr     aus meiner Sicht in der manchmal als
wie das Insel-Konzept, neben dem Un-         zeitaufwändig und komplex ist, guten        »Schonraum« verunglimpften Schule
terricht gibt. Die Kommunikation un-         Unterricht mit diesen sehr heterogenen      für den Förderschwerpunkt Geistige
tereinander und Transparenz ist dabei        Gruppen zu machen, in denen oft viele       Entwicklung vielleicht glücklicher.
immer wieder eine große Herausforde-         Sprachbarrieren bestehen. Unterrichts-         Sehr problematisch finde ich außer-
rung und braucht Zeit, die allerdings zu     planung im Team wäre optimal, gelingt       dem die Regelungen zur Notengebung.
selten da ist. Das ganze System des in-      aber aus Zeitgründen nur selten, eini-      Wenn ich ein Kind zielgleich bewerten
klusiven Förderns im Unterricht gerät        ges läuft über Mailverkehr. Die verschie-   muss, das noch gar nicht auf dem Stand
ins Wanken, wenn einige Pfeiler »wa-         densten Förderstufen und -bestimmun-        der anderen ist, macht das manches Mal
ckeln«, zum Beispiel bei Krankheit oder      gen erleichtern den Alltag nicht immer.     alle Förderung und Stärkung der Per-
bei besonderen Aktivitäten, wie Klassen-     Wo darf ich ein »LSE-Kind« (sonderpä-       sönlichkeit wieder zunichte. Absurder-
reisen oder -exkursionen. Da im Alltag       dagogische Förderschwerpunkte Ler-          weise fühlen sich die Kinder, die ziel-
immer wieder unvorhergesehene Krisen         nen, Sprache sowie emotionale und so-       different unterrichtet werden und keine
in Klassen entstehen, in der gerade kei-     ziale Entwicklung) im Sinne des Nach-       Noten bekommen, gerade durch diesen
ne Sonderschullehrkraft anwesend ist,        teilsausgleichs zieldifferent bewerten?     »Schutz vor Noten« stigmatisiert, was ja
muss diese aus einer anderen Lerngrup-       Wann sollen wir die § 45-Förderung          dem Gedanken der Inklusion völlig zu-
pe »abgezogen« werden. Manche Förde-         machen, die den Kindern eigentlich zu-      widerläuft. Die einzige Möglichkeit, das
rung im Unterricht geht deshalb unter;       steht? Welche Themenfelder bieten für       zu vermeiden und Inklusion zu verwirk-
hier wären manchmal verlässlich statt-       alle gute Lernchancen? So wurden sehr       lichen, sehe ich daher in einer leistungs-
findende »Förderstunden« sinnvoller.         gute Erfahrungen mit einem Projekt zu       gerechten individuellen Bewertung für
   Was gelingt aus Ihrer Sicht gut? Was      Kinderrechten gemacht. Wie gehen wir        alle und in der damit verbundenen kri-
muss noch entwickelt werden?                 mit Kindern aus den Internationalen         tischen Reflexion des bestehenden No-
   Mein erster Eindruck von der Schule       Vorbereitungsklassen um, die mitten         tengebungssystems.
war, dass sie sich in ihrer Schülerschaft    im Schuljahr in andere Klassen wech-
nicht sehr von Förderschulen, an denen       seln, obwohl sie den Lernstand der Klas-
ich früher gearbeitet habe, unterschei-      se noch nicht erreicht haben, die aber                      Das Gespäch führte Beate Proll.
det, außer, dass die Klassen größer sind     keinen Förderstatus haben?                                      beate.proll@li-hamburg.de

Hamburg macht Schule 1|2016
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Thema

            Chancengerechtigkeit
Gymnasium

            in den Blick nehmen
            Lernpotentiale sichtbar machen – Lernhindernisse ausräumen
                                                       se die Unterstützung fehlt, tun sich be-     ten u. a. Aufgaben aus der Online-Diag-
             Eine Schule erkennt, dass vor al-
                                                       sonders schwer in Mathematik und den         nose bearbeitet werden. Für das Lern-
             lem Schülerinnen und Schüler mit          Fremdsprachen. Gerade hier bauen die         coaching steht für die Jahrgangsstufen
             Handicaps oder fehlender häusli-          Kenntnisse aufeinander auf, eine Phase       6 bis 9 ein fester Platz im Stundenplan
             cher Förderung dabei unterstützt          der Unaufmerksamkeit führt im dichtge-       zur Verfügung, so dass alle Schülerin-
             werden müssen, ihre Begabungen            drängten Lehrplan der Mittelstufe häufig     nen und Schüler teilnehmen können.
                                                       dazu, dass den Schülerinnen und Schü-
             in schulische Leistungen zu überset-                                                   Leistungspotential
                                                       lern Lücken entstehen, die nur schwer
             zen. Wie können trotz schwieriger                                                      erkennen und abrufen
                                                       aufzuholen sind. Daraus resultierende
             Lebenswelten Lernerfolge verzeich-        schlechte Noten führen zu Frustrati-         »Ich weiß gar nicht, was mit dem Jun-
             net werden? Wie sehen die konkre-         on und einem weiteren Leistungsabfall.       gen los ist«, klagte das Kollegium einer
             ten Fördermaßnahmen aus? Welche           Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen       Mittelstufen-Klasse und auch die Schul-
             Rolle spielt dabei ein schulischer        und zu verhindern, dass Schülerinnen         leitung war relativ hilflos. Es ging um
                                                       wie Julia die Versetzung in die Oberstu-     Tom, einen offensichtlich intelligenten
             Sozialpädagoge? Wie hat sich die
                                                       fe nicht schaffen, geben wir uns in Ma-      Jungen, der gelegentlich im Unterricht
             Perspektive auf diese Kinder verän-
                                                       thematik mit den Noten 5 oder 6 in Klas-     mit brillanten Unterrichtsbeiträgen auf-
             dert?                                     senarbeiten nicht mehr zufrieden. Schü-      fiel, oft jedoch passiv wirkte, sich völ-
                                                       lerinnen und Schüler, die diese Noten ge-    lig zurückzog und sichtlich darunter litt.
            Der gesellschaftliche Auftrag an un-       schrieben haben, können im nächsten          Zahlreiche Gespräche mit externen Be-
            sere Schulform hat sich in den letzten     Vierteljahr an einem sechswöchigen Ma-       ratungsstellen führten schließlich zur
            Jahrzehnten erheblich verändert. Heute     the-Fit-Kurs teilnehmen. Am Ende die-        Diagnose einer besonderen Form von
            können wir nicht mehr von einer homo-      ses Kurses wird eine Arbeit zu dem je-       Autismus, wiederum zahlreiche Gesprä-
            genen Schülerschaft ausgehen, sondern      weiligen Thema geschrieben, so dass die      che dauerte es, bis die geeigneten För-
            müssen als Gymnasium mit Heterogeni-       Schülerinnen und Schüler die Gelegen-        dermaßnahmen gefunden worden wa-
            tät umgehen lernen. Die Einzelne bzw.      heit erhalten, mit dieser zusätzlichen Ar-   ren. Mit diesen Maßnahmen – alles in
            den Einzelnen in den Blick zu nehmen,      beit ihre Note zu verbessern. So gelang      allem keine großen und aufwendigen
            ohne die gymnasialen Anforderungen         es Julia, ihre 5 durch eine anschließen-     Dinge – war Tom in der Lage, sein Leis-
            herunterzuschrauben – dieser Aufgabe       de 2 wieder auszugleichen.                   tungspotential kontinuierlich abzuru-
            stellen wir uns am Gymnasium Olden-                                                     fen und wurde ein ausgeglichener und
            felde. Einige unserer Ansätze möchten      Unser Förderkonzept                          glücklicher Schüler (siehe Beitrag Au-
            wir am Beispiel von drei fiktiven – aber   Im Zentrum steht ein 90-minütiges            tismus S. 22 f.). Als Schulleitung wurde
            sehr realistischen – Schülerinnen und      Lerncoaching, das aus zwei Teilen be-        uns an diesem Fall klar, dass Tom das
            Schülern verdeutlichen.                    steht. In den ersten 30 Minuten wird         Glück hatte, auf einzelne sehr engagier-
                                                       eine Gruppe von 10 bis 20 Schülerin-         te Lehrerinnen und Lehrer zu treffen.
            Misserfolg –                               nen und Schülern von einer Lehrkraft         Doch wäre er in einer anderen, weniger
            den Teufelskreislauf durchbrechen          betreut, die individuelle Förderbedarfe      günstigen Konstellation auch aufgefal-
            Julia ist eine kluge Schülerin – ihre      ermittelt und allgemeine Lernstrategien      len? Hätte er dann die Förderung erhal-
            erste Mathematikarbeit in Klasse 8 ist     vermittelt. Am ersten Termin im Schul-       ten, die er benötigte, um schließlich Abi­
            aber sehr schlecht ausgefallen. Neben      halbjahr wird mit Hilfe einer Online-Di-     tur zu machen? Wir mussten uns ehr-
            den üblichen Förderbausteinen, wie der     agnose für jede Schülerin und jeden          lich eingestehen, dass dies wohl nicht
            Sprachförderung, dem Lerncoaching          Schüler eine individuelle Fördermap-         der Fall gewesen wäre.
            und der fachlichen Förderung, bieten       pe mit Aufgaben und Lösungen erstellt.
            wir im Rahmen unseres Gesamtförder-        Anschließend werden die Schülerinnen         Ein Sozialpädagoge unterstützt
            konzeptes Elemente an, die in unseren      und Schüler in fachbezogene Kleingrup-       Wir hatten weder die zeitlichen Res-
            Augen besonders erfolgreich sind. Schü-    pen (vier bis sechs Teilnehmer) aufge-       sourcen noch die fachliche Kompetenz
            lerinnen und Schüler, denen von zu Hau-    teilt, in denen unter Anleitung 60 Minu-     im Haus, um den Blick systematisch

                                                                                                                    Hamburg macht Schule 1|2016
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