CREDO LGT JOURNAL DER VERMÖGENSKULTUR - TRADITION | XXXVI 2023

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CREDO LGT JOURNAL DER VERMÖGENSKULTUR - TRADITION | XXXVI 2023
CREDO
LGT JOURNAL DER VERMÖGENSKULTUR

     TRADITION | X X XVI 2023
CREDO LGT JOURNAL DER VERMÖGENSKULTUR - TRADITION | XXXVI 2023
Inhalt | CREDO XXXVI 2023

Tradition
04 Porträt | Andreas Scholl
   Ihre Glanzzeit erlebten sie im 17. und 18. Jahrhundert – als
   «Engel wider Willen»: Der international erfolgreiche deutsche
   Opernsänger und Dirigent gehört zu den Countertenören der
   ersten Generation, die wieder mediales Interesse erregten.

10 Portfolio | Baguette
   Seit 2022 zählt es zum Immateriellen Kulturerbe der Mensch-
   heit: über die Bedeutung des französischen Nationalsymbols
   «baguette de tradition».

12 Interview | Carlo Petrini
   «Die Tradition ist keine Antagonistin der Moderne.» Der
   Gründer der Slow-Food-Bewegung über den Anspruch, Italiens
   berühmte Esskultur mit den neuen globalen Erfordernissen
   in Einklang zu bringen.

17 Meisterwerke | Die Bronzen der Fürsten
   Seit Fürst Karl I. von Liechtenstein lebt die Vorliebe für
   Bronzeplastiken in den Fürstlichen Sammlungen nahtlos fort.

20 Reportage | Zwischen Canaletto und Klimakrise
   Kaum ein anderer Ort der Welt zelebriert den eigenen Mythos
                                                                    04
   so konsequent. Doch wie bewältigt Venedig die Anforderungen
   des 21. Jahrhunderts? Eine Bootsfahrt mit der venezianischen
   Regattaruderin Nena Almansi.

30 Erlesenes | Péter Esterházy
   Die Last des Familienerbes: In «Harmonia Caelestis» beleuchtet
   der grosse ungarische Schriftsteller die Geschichte seiner
   adeligen Herkunft durch die Jahrhunderte.
                                                                    20

32 Essay | Gespaltenes Grossbritannien
   Der britische Journalist Simon Usborne analysiert seine Heimat
   und bescheinigt ihr ein «Talent für Widersprüche».

36 Carte Blanche | Julian Huber
   Als einer der Letzten, die dieses Handwerk beherrschen, führt
   der Hutmacher die Schweizer Firma seines Grossvaters fort.

                                                                    12   36
CREDO ist auch online: lgt.com/credo
CREDO LGT JOURNAL DER VERMÖGENSKULTUR - TRADITION | XXXVI 2023
Editorial

Sehr verehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

«Die dialektische Beziehung zwischen Tradition und Innovation ist das Wesen
des Lebens», sagt Carlo Petrini. Damit spricht uns der italienische Slow-Food-
Gründer aus der Seele. Die LGT möchte ihren Beitrag für eine lebenswerte
Zukunft der folgenden Generationen leisten – und fühlt sich als familienge-
führtes Unternehmen dabei stets ihrer Herkunft und ihren Überzeugungen
verpflichtet.

Dieser spannende Dualismus zieht sich durch die gesamte Ausgabe von CREDO.
In der Reportage erzählt die Venezianerin Nena Almansi von dem Argwohn
der alteingesessenen Gondolieri gegen ihr Ruder-Start-up, mit dem sie sich
auch gesamtgesellschaftlich engagiert. Unsere Titelpersönlichkeit Andreas
Scholl feiert als Countertenor einer neuen Generation internationale Erfolge
– und ist doch mit Zuschreibungen aus dem 18. Jahrhundert konfrontiert.

Simon Usborne beleuchtet im Essay ausgehend vom Tod von Queen Elisabeth II.
die Bedeutung von «typisch britischen» Traditionen in einem sich sukzessive
modernisierenden Land. Und Julian Huber erzählt in der Carte Blanche, wie
er als Schweizer Hutmacher einem reichen kulturellen Erbe ein modernes
Comeback beschert.

Dazu knusprige Baguettes im Portfolio, eine kleine Einführung in die italieni-
sche Kulinarik im Interview, schimmernde Bronzen in den Meisterwerken und
ein lustvoll fabulierter Familienroman in Erlesenes: Nicht zuletzt hat unsere
Beschäftigung mit Tradition in all ihren Facetten ein höchst lebendiges und
sinnliches Magazin hervorgebracht. Ich wünsche Ihnen eine bereichernde
Lektüre.

S.D. Prinz Philipp von und zu Liechtenstein
Honorary Chairman LGT

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CREDO LGT JOURNAL DER VERMÖGENSKULTUR - TRADITION | XXXVI 2023
Die Nacktheit
der menschlichen
Stimme
Text: Jürgen Otten | Fotos: Wolfgang Stahr

Höher, heller, himmlischer: Wenn Andreas Scholl auf einer Bühne seine Stimme
erhebt, empfinden das manche als Grenzüberschreitung. Dabei steht der deutsche
Opernsänger als Countertenor in einer jahrhundertelangen Tradition, die er
behutsam in die Moderne und in die «totale Freiheit» führt.

04 | CREDO
CREDO LGT JOURNAL DER VERMÖGENSKULTUR - TRADITION | XXXVI 2023
Porträt | Andreas Scholl

Internationale Opernstars, so zumindest will es die gut gepflegte
Legende, leben an illustren Orten: in New York, London, Paris,
Wien oder Berlin, zumindest aber in Metropolen, die direkt mit
der grossen weiten Welt verknüpft sind und urbanes Charisma
verströmen. Die meisten von ihnen, erzählt der Mythos, haben
ihre Heimat verlassen, um das zu machen, was in der Branche
immer noch ehrfürchtig als «Karriere» bezeichnet wird. Und bei
nicht wenigen sogenannten Stars gewinnt man in der Tat den
Eindruck, der glamourös-gloriose Glanz, der sie umgibt wie ein
Heiligenschein, die bewundernde Aufmerksamkeit, die ihnen
zuteilwird, gefalle ihnen irgendwie doch.

   Andreas Scholl ist anders. Nicht, dass er kein Star wäre. Er
ist es, seit vielen Jahren. Aber weder lebt Scholl in New York,
London, Paris, Wien oder Berlin, noch käme es ihm in den Sinn,
sich als Star zu bezeichnen. Glamour, Gloria und Glanz sind die-
sem Künstler mit dem Gardemass von 1,90 Meter fremd, schon
in der Anmutung. Und die grosse weite Welt mag ja hier und da
schöne Ecken haben, doch die schönste Ecke ist nach wie vor
Kiedrich. Kiedrich? Kaum einer kennt dieses 4000-Seelen-Wein-
dorf am Südhang des Taunus, unweit von Eltville und nur zehn
Autominuten vom Kloster Eberbach entfernt gelegen. Lediglich
Menschen, die etwas vom Kirchenchorgesang und seiner musik­
geschichtlichen Bedeutung verstehen, könnten von Kiedrich
(wie auch von dem Kloster Eberbach und dem dortigen Festival)
schon einmal etwas gehört haben. Denn ob man es glaubt oder
nicht: Kiedrich beheimatet den zweitältesten Knabenchor
Deutschlands. Und Andreas Scholl war Mitglied dieser Chor­
buben. Er war einer von 30. Nur vielleicht einen Hauch begabter
als seine Mitstreiter.

Die ewige Urkraft des Gesangs
Der Knabenchor hat Andreas Scholl geprägt. Dessen Tradition
und Selbstverständnis, dessen Gemeinschaftssinn. Niemand
fühlte sich dort besser als die anderen, die «Jungs» waren eine
eingeschworene Mannschaft mit klar definiertem Ziel: Sie wollten
singen. Gregorianische Choräle, Psalmen, Kantaten, Messen, die
Literatur ist reich genug. Kinder und Jugendliche von heute
können sich das vermutlich kaum mehr vorstellen: dass 30 ziem-
lich junge Menschen sich in einem Raum versammeln, um Werke
von Palestrina, Orlando di Lasso, Heinrich Schütz, Dietrich
Buxtehude und Johann Sebastian Bach zu interpretieren, ja
überhaupt zu singen und sich damit in gewisser Weise zu «ent-
kleiden». Es gibt nichts Nackteres als die menschliche Stimme,
aber es gibt vermutlich auch nichts Verführerischeres. Schon
Orpheus vermochte mit seinem (von der Lyra begleiteten) Ge-
sang die Götter zu besänftigen und wilde Tiere zu zähmen. Von
dieser «Urkraft» hat der menschliche Gesang bis heute nichts

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Porträt | Andreas Scholl

eingebüsst. Pianisten werden bestaunt, Geigerinnen bewundert,       der italienischen Gesangskultur, noch ein Fremdwort – ein
Cellisten und Cellistinnen verehrt. Aber einer Sängerin wie Maria   Bonmot aus dieser Zeit beschreibt darüber hinaus auf recht
Callas, einem Sänger wie Luciano Pavarotti liegt man selbst         zynische Weise, wie schmerzvoll die Operation an sich war:
postum noch zu Füssen. Wegen ihrer unvergleichlichen Stimme.        «Evviva il coltello.» Es lebe das Messerchen.

    Auch Andreas Scholl war mit einer schönen Naturstimme              Zum Glück sind diese Zeiten vorbei. Doch selbst aufgeklärte
gesegnet. Für gewöhnlich verteilt der liebe Gott dergleichen,       Menschen des 21. Jahrhunderts tappen noch in die Gedanken-
wie es ihm beliebt. In diesem konkreten Fall hatte er allerdings    falle, wenn sie einen Mann in der Alt- oder sogar Sopranlage
noch eine kleine Pointe parat: Während andere Knaben irgend-        singen hören. Andreas Scholl hat dazu zwei mehr oder minder
wann in den Stimmbruch verfielen, blieb dieser Wendepunkt bei       heitere Geschichten auf Lager. Die eine spielt in Madrid, wo sich
Scholl schlicht und ergreifend aus. Also sang er einfach weiter     ein Taxifahrer nach einem Konzert, das er im Radio gehört hatte
mit seiner hohen, «engelsgleichen» Stimme.                          (und wissend, dass der berühmte Countertenor nun in seinem
                                                                    Automobil sass), besorgt bei ihm erkundigte, ob er wirklich ein
    Als er sich später, im Studium in Basel, an den Laryngologen    Mann sei – und wie vom Teufel angefasst zusammenzuckte, als
und Sängerseelentröster Professor Joseph Sopko wandte, er-          Scholl ihm mit seiner im Baritonbereich verankerten Sprech-
klärte der ihm, dass er ein Mutationsdreieck in sich trage. Was     stimme artig Antwort und Auskunft gab. Ein wenig schlimmer
nach einer delikaten mathematischen Konstruktion klingt, ist im     noch war die Frage einer angetrunkenen Sponsorin, die nach
Kern ein physiologisches Phänomen. Von einem solchen Dreieck        einem Konzert an ihn herantrat und ihn im Flüsterton fragte, ob
spricht man, wenn die Stimmbänder nicht flächig schliessen und      alles bei ihm «komplett» sei.
oben, am Ende der Stimmritze, eine Lücke in Form eines V-Aus-
schnitts verbleibt. Andreas Scholl entschied sich auf Anraten          Keine Sorge, ist es. Nur die Stimme ist, wenn sie singt, eben
Sopkos dafür, die «Wunde» zu schliessen. Was nach intensiven        anders. Höher. Heller. Himmlischer vielleicht. Und ja, diese
Logopädie-Sitzungen auch geschah. Der Weg für eine internatio-      Stimme zu haben und mit ihr auf eine Bühne zu treten, ist eine
nale Laufbahn als Countertenor war geebnet.                         «Grenzüberschreitung», das sieht auch Scholl so. Wichtig ist
                                                                    ihm jedoch, dass die Tatsache, Counter zu sein, nichts mit Tra-
Einstige Engel wider Willen                                         vestie – also der Verkörperung einer Rolle durch Akteure eines
Viele Laien mögen sich im Stillen die Frage stellen, was das be-    anderen Geschlechtes – zu tun hat. «Letztlich geht es nur um
deutet: ein Countertenor zu sein. Um es zu verstehen, holt man      das Menschsein auf der Bühne», betont er. «Es ist der Mensch,
sich am besten die Geschichte dieser Stimmlage ins Bild. Zu         der im Vordergrund steht, und nicht die Frau, die einen Mann
ihrer Hoch- und Glanzzeit in der zweiten Hälfte des 17. und dann    spielt, oder der Mann, der eine Frau spielt. Wir sollten froh sein,
vor allem im 18. Jahrhundert nannte man Kastraten nicht ohne        dass diesbezüglich inzwischen zumindest in Westeuropa eine
Grund auch «Engel wider Willen». Sie wurden geliebt, gefeiert,      grosse Offenheit besteht.»
angehimmelt, sie erhielten die denkbar höchsten Gagen, sie
waren die Helden der Höfe – und weil die interessierte Damen-       Das Phänomen Kiedrich
welt durch sie nicht schwanger werden konnte, auch so manch         Was sich verändert hat, ist das Bild. Scholl zählt zu den Counter-
adeligen Schlafzimmers. Ihr Erscheinen auf den Bühnen sorgte        tenören der ersten Generation, zu jenen, die – 250 Jahre nach
nicht selten für ekstatisches Entzücken im Auditorium. Die          der Glanzzeit der italienischen Kastraten – erstmals überhaupt
berühmtesten unter ihnen stammten aus dem Mutterland der            wieder mediales Interesse erregten. Es war die Zeit der Händel-
Oper: Farinelli, Senesino, Caffarelli, das sind Namen, die jeder    Renaissance, die Zeit, in der das historisch informierte Musizie-
Barockopernfan noch heute mit schnalzender Zunge ausspricht.        ren aufkam und sich unzählige Barockensembles bildeten, die
Aufnahmen gibt es keine von diesen hochmögenden (und, wie           den Klang jener fernen Zeit so authentisch wie möglich wieder-
die Fama erzählt, mindestens ebenso neurotischen) Sängern,          beleben wollten. Es war die Stunde solcher Stars wie Russell
aber genügend überlieferte Berichte, wie unfassbar schön ihre       Oberlin, Jeffrey Gall, David Daniels, Brian Asawa – und eben
Stimmen geklungen haben müssen, wie bezaubernd, betörend,           Andreas Scholl. Mit einem Mal standen sie im Rampenlicht,
beglückend. Das kleine Problem war nur: Sie alle hatten sich        und Scholl gibt zu, dass es für ihn gar nicht so einfach war, dem
als Knaben einer Operation unterziehen müssen, die nicht nur        Ruhm «standzuhalten». Nach ersten Engagements für die kleine
äusserst schmerzhaft war, sondern manche sogar das Leben            Plattenfirma «Harmonia Mundi», bei denen er kleinere Soli in
kostete. Hygiene war seinerzeit in Neapel und Rom, den Zentren      Werken von Schütz, Bach und anderen gesungen hatte, legte

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Dies Bildnis ist bezaubernd schön – und klingt auch wirklich gut:
das Tonstudio von Andreas Scholl in Kiedrich.

ihm eines der drei Major-Labels einen Vertrag auf den Schreib-         Die «Szene» spaltete sich dabei grob gesagt in zwei Schulen:
tisch, den er unmöglich ablehnen konnte. Ein Fotoshooting           die englische und die amerikanische. Letzterer, erzählt Scholl,
folgte aufs nächste, die Musikjournalisten stürzten sich auf ihn,   gehörten Künstler wie Oberlin, Gall und David Daniels an. Die
es hagelte Konzertanfragen, und auf den grossen Bühnen der          amerikanische Schule war «opernhafter»: Die Countertenöre,
Welt sorgten seine Interpretationen der grossen Händel-Partien      die ihr zuneigten, sangen mit etwas mehr Aplomb, etwas mehr
(Giulio Cesare, Bertarido, Arsace) für einhellige Begeisterung.     Grandezza und etwas mehr Vibrato; dagegen klangen die Anhän-
Kurzum: Ein Star war geboren.                                       ger der englischen Schule zurückhaltender, liedhafter, klarer. Der
                                                                    Zufall wollte es nun, dass ausgerechnet ein englischer Baron in
    Was ihn rettete, bis heute gleichsam am Boden festzurrt, als    Kiedrich jene Stiftung gegründet hatte, die Andreas Scholl sein
sei Konrads Spezialkleber im Spiel, ist das «Phänomen Kiedrich»:    Musikstudium in Basel ermöglichte. Diese englische Tradition
die Tradition der «chorischen Bruderschaft», in und mit der         hält er hoch. Doch sind für ihn gerade mit diesem Begriff der
Scholl gross geworden war; dieses Wissen darum, nichts Beson-       Tradition auch einige wichtige Fragen verbunden: Woher komme
deres sein zu müssen, um grandiose Musik berührend singen zu        ich? Für welche Werte stehe ich? Womit identifiziere ich mich?
können; die Vorsicht, mit der er den wachsenden Ruhm zwar
genoss, aber eben auch dessen gefährlichen Schein zu enthüllen      Wenn Kunst nach Leben klingt
wusste. Und es war die Gewissheit, dass es stets Grösseres gibt     An dieser Stelle betritt ein Mann die imaginäre Bühne, der für
als den Interpreten. Die Musik eines Johann Sebastian Bach,         Scholl untrennbar mit seinem Werdegang verbunden ist: Richard
eines Georg Friedrich Händel, die Musik vieler anderer alter        Levitt. Bei Levitt, einem der ersten US-amerikanischen Counter­
Meister. Nur die Art, wie man deren Werke zu interpretieren         tenöre, die durch die europäische Gesangskultur geprägt wurden,
hatte, war ein wenig umstritten.                                    studierte er von 1987 bis 1993 in Basel. Ihm verdankt Scholl nach

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Lachen ist gesund für die Seele und wirkt befreiend:
Andreas Scholl im Freien mit seinem Hund.

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                                                       1967 in Eltville am Rhein geboren, erhielt
                                                       Andreas Scholl seine frühe musikalische
                                                       Ausbildung bei den Kiedricher Chorbuben.
                                                       Später studierte er bei Richard Levitt und
                                                       René Jacobs an der Schola Cantorum Basili-
                                                       ensis. Für seine musikalischen Künste wurde
                                                       er vielfach ausgezeichnet, u.a. als «Singer
                                                       of the Year» der Classical BRIT Awards, mit
                                                       dem Echo für eine eigene Komposition sowie
                                                       mit dem Preis des «BBC Music Magazine»
                                                       für sein Purcell-Album «O Solitude» mit der
                                                       Accademia Bizantina. Andreas Scholl ist Mit-
                                                       glied der Akademie der Wissenschaften und
                                                       der Literatur in Mainz und lehrt als Professor
                                                       Barockgesang am Mozarteum in Salzburg.
                                                       2005 war er als allererster Countertenor bei
                                                       «Last Night of the Proms» zu Gast.

08 | CREDO
Porträt | Andreas Scholl

eigenen Worten «sehr, sehr viel, ja eigentlich alles». Levitt, des-   Cafeteria zu verweilen, sei er wie berauscht gewesen von dem,
sen Vorliebe für Popmusik er teilt, war für ihn Mentor und Vater-     was Jacobs über Musik und die Art und Weise, wie man Musik
figur, auch noch weit über das Ende seines Studiums hinaus. Vor       vermitteln solle, erzählt hatte. «Bei ihm habe ich gelernt, dass
sechs Jahren starb der Gesangspädagoge, Andreas Scholl sass           man zu jedem Wort nicht nur eine sinnpoetische Übersetzung
noch wenige Stunden vor seinem Tod an Levitts Bett und wurde          finden, sondern einen Gesangstext Wort für Wort ‹übersetzen›
Zeuge, wie dieser einen unvergleichlich schönen Satz in die Stille    muss.» Jedes Wort, so Jacobs, besitze einen Geschmack.
hauchte: «I’m in between, and it is not a bad place to be.»

   Richard Levitt, sagt Scholl, stand für mühelosen Gesang, von
ihm hat er die Leichtigkeit des Singens im Grunde erst erlernt             «Manchmal ist
und auch jenes Credo übernommen, das weit kitschiger klingt,
als es ist: Kunst ist Kunst, wenn sie nicht nach Kunst klingt. Man         Kiedrich genauso
könnte, mit höflicher Erlaubnis der Bildhauerin Louise Bour-
geois, noch leise hinzufügen: Kunst ist Kunst, wenn sie nach               prickelnd wie New
Leben klingt. Und wenn sie nicht erzwungen wird. In diesem
Zusammenhang erwähnt Andreas Scholl eine Anweisung Levitts,                York. Es liegt nur
die dieser fast gebetsmühlenartig wiederholte: «Don’t try to
express!» Nicht ausdrücken! Bloss nicht! Singen ist nicht, wenn            an der Perspektive.»
man eine Zitrone auspresst. Singen ist Freiheit. Und auch der
Instinktsänger Andreas Scholl ist der Ansicht, es sei doch ver-
rückt, dass wir dieses Wort («ausdrücken») benutzen, «denn es             Geschmack entwickelt sich beim Probieren. Und beim
ist ein schreckliches Wort dafür, worum es beim Singen geht –         Studieren. Andreas Scholl hat damit nie aufgehört. Er ist nun
nämlich darum, strömen zu lassen». Nach Levitts Tod habe er           55 Jahre jung, er kennt die Musikwelt, ihre Höhen und Tiefen,
bei einem Konzert auf der Bühne gestanden und plötzlich be-           aber das Lernen hört nie auf. Seit einigen Jahren tritt er auf die
griffen, was sein Lehrer mit diesem «Verdikt» im tieferen Sinne       Bühne nicht mehr in erster Linie, um die Ewigkeit zu besingen
gemeint hatte. Und an diesem Abend habe er zum ersten Mal in          oder das Schicksal zu beklagen, er befindet sich etwas weiter
seinem Sängerleben den Zustand der totalen Freiheit gespürt,          vorne – als Dirigent. Er steht diesbezüglich in keiner Tradition,
der Absage an jede Ambition, «dieses Gefühl, nicht mehr zu            aber er hat oft genug als Countertenor mit den besten Vertre-
wollen, sondern zu können. Und darauf zu vertrauen, dass die          tern der Zunft zusammengearbeitet, um zu wissen, was wichtig
Arbeit vieler Jahre sich auszahlt.»                                   ist. Und wichtig ist weniger die Schlagtechnik als das, was man
                                                                      mit ihr zu erzielen vermag. Einen enormen Vorteil hat Andreas
Der Geschmack der Wörter                                              Scholl aber eben doch, wenn er vor 20, 30, 40 Musikerinnen
Instinkt hin, Freiheit her – Scholl ist nicht so naiv zu glauben,     und Musikern steht und den Atem der Solistinnen und Solisten
das reine und richtige Gefühl genüge, um grosse Kunst zu ma-          direkt vor sich spürt: Er weiss, wie es geht. Er kann nicht nur
chen. «Ich muss im Detail genau wissen, worum es geht, wenn           vormachen, was in der Musik steht. Er kann es eben auch vor-
ich einen Text singe: Wer spricht hier? Was geschieht, vorher         singen. Ob nun mit seiner nach wie vor glockenreinen Counter-
und nachher? Was ist die Situation? Und: Warum singe ich das,         stimme oder mit der Baritonstimme, ist dabei zweitrangig. Wie
was ich gerade singe? An wen richte ich meine Worte, mit wel-         auch die Frage, wo ein bedeutender Künstler, der ein Star nie
cher Intention?» Erst wenn man all diese Fragen beantwortet           sein wollte, lebt. Manchmal ist Kiedrich genauso prickelnd wie
habe, sagt Scholl, sei man imstande, etwas mitzuteilen, das über      New York. Es liegt nur an der Perspektive.
die reine Stimmgestaltung hinausreiche. Diese Erkenntnis ver-
dankt er aber weniger Richard Levitt, sondern dessen Antipo-
den René Jacobs, seinem zweiten Lehrer (Spitzname: «Luzifer»,         Jürgen Otten studierte Schulmusik, Germanistik und Klavier. Ab 1989 war er
was durchaus lieb gemeint sei). Er habe es verstanden, jene           als Journalist und Publizist tätig. Nach Stationen als Schauspieldramaturg
«Gänsehautmomente» zu erzeugen, nach denen jeder Künstler             am Deutschen Nationaltheater Weimar und als Operndramaturg am Staats-
strebe; von ihm habe er aber vor allem gelernt, wie wichtig           theater Kassel ist er Chefredakteur der «Opernwelt», einer internationalen
die Textexegese sei. Jedes Mal, wenn er aus dem Zimmer 418            Fachzeitschrift für Musiktheater, und lehrt an der Hochschule für Musik
der Schola Cantorum Basiliensis hinabgestiegen sei, um in der         Hanns Eisler Berlin Dramaturgie.

                                                                                                                                    CREDO | 09
Portfolio | Baguette

Die wichtige Zutat Zeit
Text: Michael Neubauer | Fotos: Raphael Zubler                        «Wir sind sehr stolz darauf», sagt Julien Blavette. Er führt
                                                                   mit seinem Bruder Louis die Boulangerie-Pâtisserie unweit
Baguette ist nicht gleich Baguette. Über das Handwerk,             des Friedhofs Montparnasse. In ihrer Familie hat das Bäcker-
das Geheimnis und die Bedeutung des französischen                  handwerk seit drei Generationen Tradition: Grosseltern, Eltern,
Nationalsymbols «baguette de tradition».                           Onkel und Brüder haben Brot gebacken. «Louis und ich sind
                                                                   damit aufgewachsen», erzählt der 42-jährige Julien Blavette. Die
Paris erwacht. Durch die Rue Daguerre im 14. Arrondissement        Eltern hätten sie nie gezwungen, diesen Weg zu gehen – doch
eilen die Menschen zur Metro. In der Bäckerei «Les Frères Bla-     um sie herum war stets Mehl und Brot.
vette» hat sich unter dem Kronleuchter eine kleine Schlange ge-
bildet, es duftet nach frisch gebackenem Brot. «Une tradition»,       Im Nebenraum der Bäckerei führt eine steile Treppe hinab
verlangt eine Kundin. Die Verkäuferin reicht ihr ein Baguette      in den Keller. In der Ecke eine Knetmaschine, daneben Papier-
über den Tresen.                                                   säcke mit der Aufschrift T65 für die Mehltype, grüne Plastik-
                                                                   wannen für die Brotteige. Louis Blavette steht mit Schirmmütze
    Der Gang in die Boulangerie zählt zum morgendlichen Ritual     auf dem Kopf vor dem Backofen und legt die Teiglinge auf
der Französinnen und Franzosen. Das Baguette gehört zu jeder       Bäckerleinen. Dann nimmt er eine Klinge und macht damit
Mahlzeit. Es ist Frankreichs knuspriges Symbol – im vergangenen    Schnitte quer in den Teig – als setzte er seine Unterschrift
Jahr wurde es von der UNESCO in die Liste des Immateriellen        auf jedes Baguette. «Diese Schnitte sind wichtig für eine gute
Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.                            Kruste», sagt er. Für ein gutes Baguette seien zudem Farbe,
                                                                   Porung, Glanz der Krume, Duft und Geschmack entscheidend,
    In Paris werden Jahr für Jahr die besten Baguette-Bäcker       fügt der zurückhaltende Bäcker hinzu.
der Stadt gekürt. Circa 150 Pariser Bäcker reichen dafür ihr Ba-
guette bei einer Jury ein. Der Sieger erhält nicht nur 4000 Euro      Nachts um zwei Uhr hat der 29-Jährige mit der Arbeit
Preisgeld. Er darf ein Jahr lang den französischen Präsidenten     begonnen, um elf Uhr endet seine Schicht. «Ich mag an meiner
und den Élysée-Palast mit Baguette beliefern.                      Arbeit, dass ich etwas von Anfang bis zum Ende herstelle und
                                                                   mit den Händen arbeite», sagt Louis Blavette. Dann schiebt er
    Die Brüder Blavette waren 2022 unter den zehn Besten           die Baguettes in den Ofen. In 20 Minuten werden sie fertig sein.
bei dem «Grand Prix de la Meilleure Baguette 2022 de Paris» –      200 Stück bäckt er pro Tag.
ein grosser Aufkleber auf der Fensterscheibe ihrer Boulangerie
kündet davon.                                                         Die Brüder bieten ausschliesslich Bio-Brot an, und was
                                                                   Baguette angeht, nur die Sorte «tradition» – die Königin unter
                                                                   den Baguettes. Julien Blavette erklärt den Unterschied zu einem
                                                                   normalen Stangenbrot: «Es ist die Art und Weise, wie es ge-
                                                                   macht ist, und es gibt ein strenges Regelwerk bei den Zutaten.»
                                                                   Mehl, Salz, Wasser, Hefe – etwas anderes dürfe in einem soge-
                                                                   nannten Tradi nicht enthalten sein. Im Teig für ein «Baguette
                                                                   classique» dagegen seien noch Zusatz- und Konservierungsstoffe,
                                                                   damit es auch tiefgekühlt aufbewahrt und jederzeit in den Ofen
                                                                   geschoben werden kann.

                                                                      Für ein Tradi braucht es weit mehr. «Eine wichtige Zutat ist
                                                                   Zeit», sagt Louis Blavette. Mindestens zehn Stunden Zuwendung
Die Boulangerie «Les Frères Blavette» liegt ganz in der Nähe
des Pariser Friedhofs Montparnasse.                                und Ruhepausen erhalten seine Tradis hier unten im Back­
                                                                   keller, bis sie in den Ofen kommen – dreimal mehr als bei einem

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Zwei Brüder mit Tradition: Julien Blavette (links)
arbeitet vor allem im Laden, der jüngere Louis
(rechts) im Keller am Baguette-Ofen.

klassischen Baguette. Geknetet wird der Teig nur acht Minuten.         Dann kam das Jahr 1993. Seit damals regelt die Brotver­
Die Teigführung spiele eine wichtige Rolle, das heisst, wie man     ordnung die Reinheit eines Baguettes von höherer Qualität mit
den Teig macht, ihn aufgehen lässt, der Fermentierung Zeit gibt.    den nur vier Zutaten. Seither darf es den Namen «Baguette de
Immer wieder werden die Teiglinge gewendet, dann müssen sie         tradition française» tragen. «Es ging auch darum, die Bäcker zu
acht Stunden ruhen. Luftbläschen im Teig sind kein Fehler, son-     schützen vor der Konkurrenz der grossen Ketten und Super-
dern wichtig, damit das Baguette schön luftig wird. Kein Wunder,    märkte», sagt Julien Blavette.
dass Bäcker in Frankreich auch die Bezeichnung Handwerker
tragen: artisan boulanger. «Ein gutes Baguette ist aussen gol-         Weil das «Baguette de tradition» mehr Zuwendung verlangt
den und knusprig», sagt Julien Blavette, «wir machen unsere         als ein «Baguette classique», ist es auch teurer: Bei den Blavettes
Tradis bien cuite, also etwas dunkler, so entwickeln sich die       kostet das einfache Tradi 1,40 Euro, ein normales Baguette be-
Aromen besser – und es ist auch besser verdaulich.»                 kommt man in Pariser Bäckereien ab 90 Cent. Dennoch achten
                                                                    viele Franzosen auf gute Brotqualität: Heute verlangen 41 Pro-
    Um zu verstehen, dass Baguette in Frankreich nicht Ba-          zent der Kundschaft ein Tradi.
guette ist, muss man eintauchen in die französische Brothistorie.
Vor rund 40 Jahren drohte die Liebe der Franzosen zu ihrem Ba-         Im Keller piept der Ofen, die «Baguettes de tradition» sind
guette zu erlöschen. In den 1980er-Jahren wurde die staatliche      fertig. Louis Blavette legt sie in einen Baguettekorb und steigt
Brotpreisbindung abgeschafft. Das Baguette drohte zur billigen      mit ihm hoch in den Laden. Sein Bruder Julien hilft, sie ins
geschmacklosen Massenware zu werden: Plötzlich boten Super-         Regal zu schichten. Schon bald werden sie in Papiertüten ge-
märkte Billigbrot an. Industrielle Hersteller lieferten Teiglinge   steckt, über den Verkaufstresen gereicht – und dann begleiten
tiefgefroren an Pseudo-Bäckereien, deren Angestellte keine          sie die Pariserinnen und Pariser hinaus in ihre Stadt.
Bäcker mehr sein mussten. Das Baguette schmeckte immer
häufiger fade und einheitlich.

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Interview | Carlo Petrini

«Traditionen
sind wandelbar»
Zu Besuch im Piemont bei Slow-Food-Gründer Carlo Petrini: Hüter der      ihnen steckt die Fähigkeit, Speisen aus wenigen Zutaten oder
kulinarischen Tradition Italiens, aber auch Erneuerer mit Weltgeltung.   sogar Resten herzustellen. Die Ribollita, das Traditionsgericht
                                                                         der Toskana, wird mit altem Brot zubereitet. In meinem Piemont
Interview: Ulrike Sauer | Foto: Federico Guida                           stellte man die Füllung der Agnolotti aus den Fleischresten der
                                                                         Woche her. Sie wurden unterm Wiegemesser zerkleinert und
                                                                         dann zur Füllung der Nudel-Täschchen verarbeitet. Heute be-
Seit über 30 Jahren setzt sich Carlo Petrini dafür ein,                  zeichnet die moderne Ökonomie dieses Savoir-faire als Kreis-
die enorme Vielfalt des kulinarischen Erbes Italiens zu                  laufwirtschaft. Unsere Vorfahren haben es jedoch schon jahr-
bewahren. Sein Engagement für gutes, sauberes, faires                    hundertelang gelebt.
Essen, gegen die Vereinheitlichung durch Nahrungs­
mittelindustrie und Fast-Food-Ketten machte ihn zum                      Italien geniesst ein hervorragendes kulinarisches Image.
Trendsetter. Im CREDO-Interview spricht er über den                      Woher rührt die Berühmtheit dieser Esskultur?
Wert gastronomischer Traditionen, die Vitalität der                      Sie hat viele Gründe. Aus historischer Sicht war entscheidend,
italienischen Esskultur und den Käse von morgen.                         dass eines der ersten italienischen Kochbücher in der zweiten
                                                                         Hälfte des 15. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzt wurde, in
Herr Petrini, Italien verführt die Welt mit seiner Küche.                die damalige Weltsprache. Diesem Privileg verdanken wir die
Ausgrabungen von Speiseresten in der versunkenen Stadt                   Verbreitung der italienischen Rezepte – und damit der italie-
Pompeji zeigen, dass bereits die alten Römer lukullischen                nischen Küche – an den Höfen Europas. Die Auswanderungs-
Gaumenfreuden frönten. Haben die Italiener schon vor                     wellen haben diesen Einfluss später verstärkt. Italien ist nur
2000 Jahren gut gelebt?                                                  ein kleiner Fleck auf unserem Planeten. Doch das Land hat in
Ja, weil bei uns die Vielfalt der Regionen, der Landwirtschaft und       einem Jahrhundert 60 Millionen Menschen auf der ganzen Welt
auch das Klima die Erzeugung von hervorragenden Rohstoffen               verstreut. Die Migrantinnen und Migranten passten die Regio-
begünstigt haben. Pompeji lag zudem im Zentrum eines florie-             nalküche aus ihren Herkunftsgebieten den Gegebenheiten ihrer
renden Imperiums, das in der Lage war, Kostbarkeiten aus aller           neuen Wahlheimat an.
Welt herbeizuschaffen. Der Reichtum einer Zivilisation lässt sich
fast unmittelbar am Reichtum seiner Gastronomie messen.                  Warum ist das kulinarische Erbe in Italien bis heute
                                                                         so vielseitig?
Welchen Wert haben kulinarische Traditionen für uns heute?               Anders als in Frankreich hat die italienische Küche keine ein-
In der Tradition erfolgt die Weitergabe eines besonderen Savoir-         deutige Identität entwickelt, sondern ist von Natur aus eine
faire, das interessanterweise oft aus extremer Armut entstan-            sehr vielfältige gastronomische Realität. Unsere Küche ist stark
den ist. Denken Sie an viele traditionelle italienische Gerichte:        von der Territorialität geprägt. Wenn ich mich hier im Piemont
Sie haben ihren Ursprung in einer innovativen Bauernkultur. In           umsehe, so stosse ich alle 20 Kilometer auf originelle Gerichte.

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Carlo Petrini, geboren 1949 in Bra, ist der Gründer
des Netzwerks Slow Food, das sich in 160 Ländern
für regionales und gutes Essen, nachhaltige Landwirt-
schaft und fairen Handel einsetzt. Heute kümmert
sich Petrini hauptsächlich um seine jüngste Kreatur:
die Universität für Gastronomische Wissenschaften
Pollenzo in seiner Heimatstadt Bra.

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Interview | Carlo Petrini

Diese historische Vielfalt, die lange Zeit ein Hindernis der ita-   ständige Weiterentwicklung ist typisch für alles Lebendige und
lienischen Küche darstellte, bestimmt heute ihren unverwech-        damit auch für die Gastronomie. Die Tradition ist keine Antago-
selbaren Charakter und ihren Reichtum. Der Geschmack einer          nistin der Moderne: Die Tradition muss sich ständig mit innova-
Zwiebel aus Tropea in Kalabrien lässt sich nicht mit dem einer      tiven Elementen auseinandersetzen, da sie sonst verschwindet.
Zwiebel aus einer anderen Gegend vergleichen. Heute gibt es         Diese dialektische Beziehung zwischen Tradition und Innovation
kein Dorf in Italien, das nicht stolz auf seine Zwiebel, seinen     ist das Wesen des Lebens. Und die Essenz der Evolution.
Sellerie, seine Salami oder seinen Käse ist.
                                                                    Wie wirkt sich die Klimakrise auf die kulinarischen
Ist die Mission von Slow Food also geglückt?                        Traditionen aus?
In Italien zweifellos. In unserem Land hat sich die Verteidigung    Sie werden sich zwangsläufig verändern, denn die Erderwärmung
der Vielfalt durchgesetzt. Aber sie wird überall siegen. Denn       schlägt sich direkt in den Eigenschaften der Produkte nieder, die
wenn man die produktiven Ökosysteme wieder aufrichtet, dann         sich den neuen Bedingungen anpassen müssen. Beispiel Wein:
werden sie überall auf der Welt durch die Erzeugerinnen und         Hier in den Langhe im Piemont wurden die Lagen mit der stärksten
Erzeuger geschützt.                                                 Sonneneinstrahlung, die einen hohen Zuckergehalt der Trauben
                                                                    und einen höheren Alkoholgehalt garantierten, als Premier Cru
Stundenlanges Tafeln und Reden in grosser Runde ist                 klassifiziert. Infolge des Klimawandels haben die Trauben dieser
Ihren Landsleuten überaus wichtig. Hat man in Italien               Spitzenlagen nun einen zu hohen Alkoholgehalt, die Qualität der
ein besonderes Verhältnis zum Essen?                                Weine nimmt ab. Weinberge hingegen, die früher aus klimati-
Oh, ja, das steht ausser Frage. Wir bringen durch die Küche eine    schen Gründen einen niedrigeren Zuckergehalt hervorbrachten,
emotionale Beziehung zum Ausdruck. Es geht um das gemein-           gewinnen an Ansehen und Beliebtheit.
same Geniessen, um die Freude am Zusammensein und am Tei-
len. Essen ist weit mehr als bloss die Frage der organoleptischen   Die Dürre hat selbst mediterrane Vorzeigekulturen wie
Elemente eines Gerichts. Auch das verleiht unserer Esskultur        Oliven, Tomaten, Hartweizen und Reis hart getroffen. Der
ihre Resilienz.                                                     Umsatz der italienischen Landwirtschaft ging 2022 um
                                                                    6 Milliarden Euro zurück. Was wird aus der italienischen
Ist die gelobte Esskultur auch gegen die Klimakrise gefeit?         Küche, wenn ihre Grundzutaten knapp werden?
2022 verursachte der trockenste Sommer aller Zeiten                 Man muss sich genau ansehen, was wir verloren haben. Ich bin
dramatische Ernteausfälle in Italien. Sind damit die                der Ansicht, dass die Landwirtschaft und unser Nahrungssys-
Traditionen in Gefahr?                                              tem zugleich Opfer und Täter sind. Wir dürfen nicht nur auf die
Wir dürfen uns die Traditionen nicht als starre Vorgaben vorstel-   Rückgänge von Produktion, Umsatz und Bruttoinlandsprodukt
len. Sie sind, wie auch die Rezepte, wandelbar. Denn die Roh-       schauen. Das ist zu oberflächlich. Die Klimakatastrophe wird
stoffe ändern sich, und auch der Geschmack ändert sich. Diese       auch durch ein Konsumverhalten verursacht, das von diesem

Mangiare! Ribollita, Agnolotti, Oliven, Brot, Feigen:
«In unserem Land hat sich die Verteidigung der
kulinarischen Vielfalt durchgesetzt.»

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«Die Tradition ist keine Antagonistin der
        Moderne: Die Tradition muss sich ständig
        mit innovativen Elementen auseinander-
        setzen, da sie sonst verschwindet. Diese
        dialektische Beziehung zwischen Tradition
        und Innovation ist das Wesen des Lebens.»

System gefördert wird. Die intensive Produktion beruht auf der    eindringt und wir zu grossen Verzehrern von Mikroplastik wer-
Verseuchung der Böden mit Pestiziden und anderen Chemikalien.     den. Nimmt man all das zusammen, ist klar, dass die Zukunft
Diese Böden werden dadurch immer unproduktiver. Darum             der Menschheit auf dem Spiel steht. Angesichts der weltweiten
müssen wir zu einer regenerativen Landwirtschaft übergehen.       Unschlüssigkeit der Politik und ihrer Unfähigkeit, konkrete Ver-
                                                                  pflichtungen einzugehen, muss die Veränderungsbereitschaft
Slow Food wurde 1989 zur Verteidigung der kulinarischen           von unten kommen. Der einzige Lichtblick ist heute der Aktio­
Traditionen und der Artenvielfalt gegründet. Angesichts der       nismus junger Menschen. Sie werden in naher Zukunft eine
Gefahren, denen unsere Ernährung heute ausgesetzt ist,            grosse Rolle spielen.
wirken amerikanische Fast-Food-Ketten doch eher harmlos.
Oder?                                                             In Ihrem jüngsten Buch tadeln Sie Rindfleisch, Käse und
Heute ist zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit das     Schweinefleisch als die grössten CO2-Emittenten. Sollten wir
Überleben des Homo sapiens auf unserem Planeten in Gefahr.        uns von der Tierhaltung verabschieden?
Der Klimawandel wird dramatische Folgen haben, deren Vor­         Nein, absolut nicht. Ich bin ein Allesesser und will es bleiben!
boten wir bereits beobachten. Hinzu kommt der Verlust der Bio-    Aber ich trete für eine Reduzierung des Konsums ein. Ich muss
diversität. Wenn wir Arten durch ein natürliches, evolutionäres   meinen Landsleuten sagen, dass es zu viel ist, pro Kopf im Jahr
Aussterben verlieren, dann ist das eine Katastrophe. Zudem er-    95 Kilo Fleisch zu essen. Auch wenn woanders noch viel mehr
leben wir gerade, dass Plastik auch in das Lebensmittelsystem     Fleisch gegessen wird. Es geht hier keineswegs darum, sich zu

                                                                                                                       CREDO | 15
Interview | Carlo Petrini

kasteien. Als ich Anfang der 1960er-Jahre ein Kind war, verzehr-           Kasteiung hin. Das ist aber falsch. Wir brauchen keine Kasteiung.
ten die Italiener 40 Kilo Fleisch. Und ich bin damit sehr gut gross        Was wir brauchen, ist ein Wandel, der sich positiv auf unsere
geworden. Aber jetzt übertreiben wir. Und diese Übertreibung ist           Gesundheit, auf unsere persönlichen Beziehungen und auf unser
gesundheitsschädlich und basiert auf einer widerwärtigen Mas-              Verhältnis zur Umwelt auswirkt. Das sind die Dinge, auf die es
sentierhaltung. Solange wir das Wachstumsparadigma über alles              im Leben ankommt.
setzen, werden wir aus dieser Situation nicht herauskommen.
                                                                           Wir reden heute viel über ethisch korrektes Essen. Haben
Welche Zukunft haben dann aber die Schinkenhersteller in                   umweltbewusste Foodies nicht längst die Gourmets von
Parma? Sie reifen die Schweineschenkel seit Jahrhunderten                  gestern verdrängt?
mit ausgefeilten Methoden und verkaufen ihren zarten                       Die Sensibilität hat zugenommen. Dennoch: Uns ist das Problem
Parmaschinken mit der fünfzackigen Krone des Herzogtums                    in den Händen explodiert. Wir haben es nicht geschafft, es vor
auf der Schwarte in alle Welt. Was sollen sie tun?                         30 Jahren den Mächtigen dieser Erde zu Bewusstsein zu bringen.
In Parma gilt, was für die Hersteller aller Produkte gelten sollte:        Auch wenn der Wandel inzwischen von vielen unterstützt wird,
Sie müssen ihre Grenzen akzeptieren. Wenn man ein bestimm-                 ist heute doch die grosse Frage: Werden wir ihn rechtzeitig
tes Limit erreicht, muss man aufhören zu wachsen. Ich möchte               schaffen?
wissen, wo diese Schweine, aus denen der berühmte Parma-
schinken hergestellt wird, gezüchtet werden und wie sie auf-               Uns läuft gerade die Zeit davon. Sind wir deshalb heute
wachsen. Die Schinkenherstellung beginnt nämlich mit der Zucht             nicht auch beim Essen eher auf Innovationen als auf
der Schweine. Wer hingegen der Meinung ist, dass das Savoir-               Traditionen angewiesen?
faire des Schinkens erst beim toten Tier anfängt, hat nichts               Die Menschheit muss ihr Nahrungssystem harmonisch gestalten.
verstanden. Was heute prestigeträchtig als Parmaschinken                   Slow Food hat dafür den Slogan «gut, sauber und fair» geprägt.
vermarktet wird, stammt oft aus der Intensivhaltung, die in                Das bedeutet, dass die Nahrungsmittelproduktion die Ökosys-
manchen Gegenden das Grundwasser bis hinunter in die dritte                teme nicht zerstören darf und die Erträge gerecht verteilt wer-
Leiterschicht verschmutzt. Diese Grenzen zu erkennen ist für               den müssen. Dieses Gleichgewicht wird durch eine intelligente,
die Erzeuger das Schwierigste.                                             dialektische Beziehung zwischen Tradition und Innovation her-
                                                                           gestellt.
Finden Sie, dass sich unsere Beziehung zum Essen
gerade wandelt?                                                            Europa hat sich vorgenommen, bis 2050 klimaneutral zu
Nicht so, wie sie sich ändern müsste. Es ist ein sehr langsamer,           werden. Wird es bis dahin einen neuen Gorgonzola geben?
schwieriger Prozess. Die Gegner der Veränderung stellen ihn als            Aber nein! Wie oft habe ich in den 1980er-Jahren gehört: «Ihr
                                                                           redet über traditionelle Produkte, aber im Jahr 2000 werden
                                                                           wir uns sowieso von Tabletten ernähren.» Alles Blödsinn. Die
Carlo Petrini                                                              Traditionsprodukte werden überleben. Aber nur mit dem Be-
geboren 1949 im piemontesischen Bra, studierte Soziologie in Trient.       wusstsein für ihre Grenzen und mit der Fähigkeit, das traditio-
In den 1970er-Jahren war er politisch aktiv und begann, in italienischen   nelle Savoir-faire mit den neuen Erfordernissen in Einklang zu
Zeitschriften über Essen und Trinken zu publizieren. 1989 gründete er      bringen. Und ich bin davon überzeugt, dass es so sein wird und
Slow Food als Verein zur Erhaltung der Esskultur in Italien und setzte     dass ich es erleben werde. Denn 2050 bin ich erst 101 Jahre alt.
damit eine globale Bewegung in Gang: 2008 zählte ihn der britische         Wenn alles gut geht, kann ich es dann bezeugen.
«Guardian» zu den 50 Menschen, die die Welt verändern können.
2004 begründete er in Pollenzo bei Bra die erste Universität für Gastro­
nomische Wissenschaften, die Studierende aus aller Welt ins Piemont
zieht. Carlo Petrini veröffentlichte mehrere Bücher zum Thema – zuletzt    Ulrike Sauer lebt seit 1990 in Italien und berichtet für deutschsprachige
«Terrafutura. Gespräche mit Papst Franziskus über Ökologie, Migration      Printmedien aus dem Land der unendlichen Widersprüche. Nichts zieht die
und soziale Gerechtigkeit» – und erhielt verschiedene internationale       Wirtschaftskorrespondentin der «Süddeutschen Zeitung» so in den Bann wie
Auszeichnungen, darunter 2016 die Ernennung zum europäischen               Begegnungen in der Welt der italienischen Unternehmen, der Produktion
Sonderbotschafter der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation          und der Forschung. Dabei hört sie nicht auf, über Italien zu staunen. Zum
der Vereinten Nationen.                                                    Beispiel darüber, dass das globale Netzwerk Slow Food ausgerechnet im
                                                                           vermeintlichen Paradeland des Individualismus entstanden ist.

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Meisterwerke | Die Bronzen der Fürsten

Gegossen für die Ewigkeit

Pietro Tacca, «Büste des Grossherzogs Ferdinando I. de’ Medici (1549–1609)», um 1608. © LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz–Vienna

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Adrian de Fries, «Christus im Elend», 1607                         Massimiliano Soldani Benzi, «Venus Medici», um 1699–1702

T    radition versus Innovation: ein Spannungsfeld, das schöp-
     ferisches Gestalten schon immer begleitet hat und auch im
Haus Liechtenstein seit je eine entscheidende Rolle spielt. Wenn
                                                                   der Beschaffung von hochgeschätzten griechischen Skulpturen
                                                                   deutlich schlechter: Schliesslich bestünden diese aus weissem
                                                                   Marmor und könnten – so schwer und zerbrechlich, wie sie nun
Fürst Karl I. von Liechtenstein 1607 mit dem Auftrag der Bronze    mal seien – kaum sicher über weite Wege transportiert werden.
«Christus im Elend» an Adrian de Fries (1556–1626) einen
Markstein und den Beginn fürstlichen Sammelns gesetzt hat,            Und er zeichnet auch den Weg vor, ebendiesem Dilemma
so ist es bereits sein Sohn Karl Eusebius I. von Liechtenstein,    zu entkommen: Karl Eusebius sieht sie im Kopieren in Bronze,
der dieses Interesse für Bronzen festschrieb und damit Bronze-     minutiös und genau den Originalen nachempfunden, am besten
plastiken für alle kommenden Generationen in der Familie zum       bis ins letzte Detail exakt abgegossen. Er selbst ist auch der Erste,
Desiderat machte. Bis heute lässt die Vorliebe für das Material    der solche Bronzen in seinen Besitz bringt: die zwischen 1630
diese vor vier Jahrhunderten begründete Tradition in den Fürst-    und 1640 entstandenen und schon bald für Antiken gehaltenen
lichen Sammlungen nahtlos fortleben.                               Plastiken «Apollo und Cupido» sowie «Merkur» von François
                                                                   Duquesnoy (1597–1643) oder auch die Reduktionen nach Giam-
    Karl Eusebius’ «Werk von der Architektur», vor 1681 als eine   bolognas (1529–1608) monumentalen Marmorskulpturen in der
Lebensanleitung für seinen «vilgeliebten Sohn» geschrieben, be-    Loggia dei Lanzi in Florenz.
fasst sich am Ende auch mit dem Sammeln von Skulpturen und
fordert, «jeder curiosere Fürest und Herr ein besondere Galleria      Karl Eusebius’ Sohn Johann Adam Andreas I. von Liechten-
haben sol auf die Statuen, dass also in der einen die Gemähl, in   stein nimmt sich schliesslich den väterlichen Rat zu Herzen.
der anderen die Statuen seien. Dieses aber ist hechst schwehr      Er gibt bei Massimiliano Soldani-Benzi (1656–1740) in Florenz
und schier unmeglich zu haben und zu erlangen, besonders in        Bronzeskulpturen in allen nur denkbaren Variationen in Auftrag
Deutschlandt [...]» Denn während es an Gemälden von den vor-       und erwirbt unter anderem Abgüsse nach römischen Antiken im
nehmsten alten Meistern hierzulande nicht mangele, stünde es mit   Originalmassstab, zauberhafte, kleinmassstäbliche Reduktionen

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Meisterwerke | Die Bronzen der Fürsten

Giambologna, «Reiterstatuette des Ferdinando I. de' Medici (1549–1609)»,   Adrian de Fries, «Merkur», um 1612/15
um 1600

sowie Neuschöpfungen für Tische und Regale. Nachdem die                        In dieselbe Kerbe trifft der soeben getätigte Ankauf des
«Venus Medici» und der «Tanzende Faun» in Wien angekommen                  «Merkur» von Adrian de Fries, geschaffen für Kaiser Rudolf II.
waren, dankt der Fürst dem Künstler in Florenz und erörtert die            am Ende seines Lebens in den Werkstätten des Prager Hofs,
nächsten Aufträge.                                                         wo Fürst Karl I. für die kaiserlichen Kunstsammlungen verant-
                                                                           wortlich gewesen ist. Über abenteuerliche Wege gelangte dieses
    Cosimo III. de’ Medici gestattete Soldani-Benzi das Kopieren           Kunstwerk nach Österreich und schliesslich in die Fürstlichen
der schon genannten Bronzen, darüber hinaus auch des «Bac-                 Sammlungen.
chus» von Michelangelo (1475–1564) und einer Reihe antiker
Imperatorenbüsten. Zwei Generationen später schweifte der Blick                Sammeln ist eine Angelegenheit von Nachhaltigkeit und
immer noch nach Florenz. Vor 1767 konnte Joseph Wenzel I.                  langem Atem. Es gibt Sammlungen, die in sehr kurzer Zeit ent-
von Liechtenstein Giambolognas erstes Modell für das Reiter-               stehen; meist verschwinden sie nach dem Tod ihres Schöpfers
monument des Ferdinando I. de’ Medici auf der Piazza della                 aber ebenso schnell, wie sie zusammengetragen worden sind.
Santissima Annunziata erwerben, eines der raren signierten                 Nur wenige zeichnet eine so lange Beständigkeit aus, wie sie
Kunstwerke dieses Meisters der Bronzeplastik. Giambologna ar-              die Fürstlichen Sammlungen prägt. Heute präsentieren sie sich
beitete noch in hohem Alter zudem an einer Büste Ferdinandos;              einerseits als längst abgerundet und von höchster Qualität. An-
die Wachsform ging nach seinem Tod mit der Werkstatt an Pietro             dererseits stehen sie in der vollen Blüte ihrer Jugend, bedenkt
Tacca (1577–1640) über, der das Kunstwerk vollendete und in                man die Möglichkeiten, die ihnen noch offenstehen.
drei bekannten Versionen in Bronze goss. Die detaillierteste Fas-
sung konnte vor Kurzem durch den heute regierenden Fürsten
Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein für die Sammlungen                  Dr. Johann Kräftner war von 2002 bis März 2023 Direktor der Fürstlichen
erworben werden. Damit schliesst sich ein Kreis, an dessen Zir-            Sammlungen in Wien. Er ist Verfasser zahlreicher Monografien zur Architek-
kelschlag über einige Jahrhunderte gearbeitet worden ist.                  turgeschichte und -theorie.

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Reportage | Zwischen Canaletto und Klimakrise

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Die Resilienz
Venedigs

Text: Petra Reski | Fotos: Federico Sutera

Sie trägt den stolzen Beinamen La Serenissima – und tatsächlich zelebriert kaum
ein Ort der Welt den eigenen Mythos so konsequent wie Venedig. Doch wie bewältigt
die «Durchlauchtigste» die Anforderungen des 21. Jahrhunderts? Eine Bootsfahrt
mit der Regattaruderin Nena Almansi durch ihre traditionsreiche Heimat, die sich
bis heute der Vereinheitlichung der Welt entzieht.

                                                                                    CREDO | 21
Reportage | Zwischen Canaletto und Klimakrise

Die Venedig-Maschine läuft wieder auf Hochtouren – mit Vapo-
retti, Lastkähnen und unzähligen Wassertaxis, die die Kanäle
durchpflügen. Vorbei sind die magischen Momente, als die
Rennruderer den Canal Grande in Besitz genommen haben und
gleichsam schwebend über das spiegelglatte Wasser geglitten
sind. Vergessen ist die Zwangspause der Lockdowns, als sich
das Leben hier anfühlte, als hätte jemand bei dem in Endlos-
schleife laufenden Venedig-Film auf die Stopptaste gedrückt.
Jetzt herrscht auf dem Canal Grande wieder ein Verkehr wie
nach Feierabend auf der A1 vor Zürich – ohne Rücksicht auf ein
schmales Ruderboot, in dem sich eine junge Venezianerin gegen
die Wellen stemmt.

    Elena Almansi, genannt Nena, ist 30 Jahre alt und rudert eine
batea a coa di gambaro, die so heisst, weil das Heck an einen
Krabbenschwanz erinnert. Die Wortbilder des Venezianischen
entsteigen dem Meer. Liegt ein kleines Mädchen im Kinderwagen,
rufen Venezianerinnen ein begeistertes Xe nata una sepoina!
aus: Ein Tintenfischchen wurde geboren! Und wer geizig ist, hat
wohl einen Krebs in der Tasche: Ti ga i granxi in scarsea?

    Nena Almansis batea ist ein traditionell venezianisches
Ruderboot, wie man es bereits auf Gemälden von Carpaccio aus
dem 16. Jahrhundert sowie von Canaletto aus dem 18. Jahrhun-
dert bewundern kann – und das im Kielwasser der Wassertaxis,
zwischen den Schiffsschrauben der Vaporetti und den Bugwellen
der Lastkähne, wie ein auf dem Wasser tanzender Affront wirkt.
Jedenfalls scheinen die Bootsführer das so zu sehen: Dominant
wie Hunde, die ihr Revier markieren wollen, preschen sie mit nur    Regatten schon gewonnen und sich darauf spezialisiert, Sieges-
wenigen Zentimetern Abstand an Nenas batea vorbei – unter           standarten für Regattaruderer zu entwerfen. Im Erdgeschoss
Missachtung der venezianischen Verkehrsregel, dass Ruderboote       von Nenas Elternhaus ziehen sich die Siegestrophäen ihres
stets Vorfahrt haben, egal ob sie von rechts oder links kommen.     Vaters über eine ganze Wand: rot für den ersten Platz, weiss für
                                                                    den zweiten, grün für den dritten und blau für den vierten. Die
    Nena Almansi ist eine der bekanntesten Rennruderinnen           Standarten ihrer Mutter hängen unter Glas.
Venedigs. Und das nicht nur, weil sie etliche Regatten gewonnen
hat. Sondern weil Rudern für sie weniger ein Sport als vielmehr        Als Nena ein Jahr alt war, schlief sie im Vorschiff des Ruder-
eine Lebensart ist – im Einklang mit einer Stadt, die wie ein       boots ihrer Mutter, mit drei Jahren hielt sie erstmals ein Ruder
Gegenentwurf zu der uns bekannten Wirklichkeit wirkt: keine         in der Hand, mit sechs nahm sie erstmals an einer Regatta teil
Strassen, sondern Kanäle. Keine Autos, sondern Boote. Kein          – und fuhr prompt gegen eine Mauer. Allerdings hielt sie das
Waschbeton, sondern istrischer Marmor. Eine Stadt, die sich der     nicht davon ab, schon früh durch die Lagune zu rudern – rüber
Vereinheitlichung der Welt entzieht, eine Stadt wie eine Provo-     zur Isola di Campalto, einer kleinen Insel gegenüber vom Uferkai
kation, die uns und unsere Sinne herausfordert.                     der Fondamente Nove, um dort Fussball zu spielen.

Als Schulen zu Hotels wurden                                           Nena Almansi zählt zu den in der Stadt verbliebenen Vene-
Nena Almansi kam praktisch mit dem Ruder in der Hand zur            zianerinnen und Venezianern, die sich nicht geschlagen geben.
Welt: Ihre Eltern sind venezianische Rennruderer, ihr Vater hat     Sie haben sich nicht dem Exodus ergeben, der dazu geführt
sich das Jurastudium als Gondoliere verdient, ihre Mutter, die      hat, dass jedes Jahr tausend Bewohnerinnen und Bewohner die
Künstlerin Anna Campagnari, hat so gut wie alle venezianischen      Stadt verlassen, weil sie das Mehr, Mehr, Mehr der touristischen

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Stadt, Wand, Fuss: Rudern ist für Elena Almansi weniger ein Sport
                                                                            als vielmehr eine Lebensart – in Einklang mit einer Stadt, die wie
                                                                            ein Gegenentwurf zu der uns bekannten Wirklichkeit wirkt.

Monokultur nicht mehr ertragen, die von den venezianischen         Menschen geschaffenes und nun von ihm in Gefahr gebrachtes
Bürgermeistern seit 30 Jahren wie eine Staatsreligion gepredigt    Ökosystem. Wie viele engagierte Venezianerinnen und Venezi-
wird. Der touristische Fundamentalismus hat Venedig seiner         aner fordert Nena dazu auf, die Lagune wie einen Organismus
lebenswichtigen Funktionen beraubt: Krankenhäuser wurden           zu betrachten, der gepflegt, geheilt und genährt werden muss.
geschlossen, Inseln verkauft und Schulen in Hotels verwandelt.     Und nicht als Raum, den es zu unterwerfen, zu benutzen und
Von Nenas 29 Klassenkameraden leben noch drei in Venedig,          zu verändern gilt – sodass mit Venedig noch mehr Profit erzielt
die anderen haben die Stadt verlassen.                             werden kann. Bis zum Corona-Lockdown 2020 wurde Venedig
                                                                   von jährlich bis zu 33 Millionen Menschen besucht.
Kampf gegen Massentourismus
Nena hat nicht resigniert. Sie hat sich dem Credo des Massen-         Immer wieder wird Nena in ihren Ruderkursen erstaunt
tourismus entgegengestellt – und das nicht erst heute, sondern     gefragt, warum in Venedig Bürgermeister gewählt würden, die
bereits vor 15 Jahren, als sie noch als Schülerin zusammen mit     nicht die Interessen Venedigs vertreten. Dann erklärt sie, dass die
ihrer australischen Freundin Jane Caporal «Row Venice» grün-       Stadt über keine eigene Verwaltung verfügt, sondern während
dete, eine Non-Profit-Organisation, die allen Interessierten das   des Faschismus mit dem Festland zwangsverheiratet wurde –
Rudern auf venezianische Art beibringt: im Stehen.                 in einer Zeit, als in Venedig noch 200 000 Menschen lebten, auf
                                                                   dem Festland nur 40 000. Heute hat sich das Verhältnis nahezu
   Im Kurs bei Nena lernen die Teilnehmenden nicht nur eine        umgekehrt: In Venedig leben noch etwas mehr als 49 000, ein-
Bewegung (das Ruderblatt senkrecht eintauchen, rudern und          schliesslich aller anderen Inselbewohnerinnen und -bewohner
waagerecht zurückholen), sondern auch, dass die Lagune keine       leben knapp 77 000 Menschen auf dem Wasser, 178 000 hingegen
Wasserstrasse, sondern ein schützenswertes Biotop ist – ein vom    auf dem Festland.

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Die batea a coa di gambaro gehört zu Venedig wie
kein anderes Boot. Schon Carpaccio und Canaletto
hielten es als Teil des venezianischen Panoramas fest.

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