CREDO LGT JOURNAL DER VERMÖGENSKULTUR - TRADITION | XXXVI 2023
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Inhalt | CREDO XXXVI 2023 Tradition 04 Porträt | Andreas Scholl Ihre Glanzzeit erlebten sie im 17. und 18. Jahrhundert – als «Engel wider Willen»: Der international erfolgreiche deutsche Opernsänger und Dirigent gehört zu den Countertenören der ersten Generation, die wieder mediales Interesse erregten. 10 Portfolio | Baguette Seit 2022 zählt es zum Immateriellen Kulturerbe der Mensch- heit: über die Bedeutung des französischen Nationalsymbols «baguette de tradition». 12 Interview | Carlo Petrini «Die Tradition ist keine Antagonistin der Moderne.» Der Gründer der Slow-Food-Bewegung über den Anspruch, Italiens berühmte Esskultur mit den neuen globalen Erfordernissen in Einklang zu bringen. 17 Meisterwerke | Die Bronzen der Fürsten Seit Fürst Karl I. von Liechtenstein lebt die Vorliebe für Bronzeplastiken in den Fürstlichen Sammlungen nahtlos fort. 20 Reportage | Zwischen Canaletto und Klimakrise Kaum ein anderer Ort der Welt zelebriert den eigenen Mythos 04 so konsequent. Doch wie bewältigt Venedig die Anforderungen des 21. Jahrhunderts? Eine Bootsfahrt mit der venezianischen Regattaruderin Nena Almansi. 30 Erlesenes | Péter Esterházy Die Last des Familienerbes: In «Harmonia Caelestis» beleuchtet der grosse ungarische Schriftsteller die Geschichte seiner adeligen Herkunft durch die Jahrhunderte. 20 32 Essay | Gespaltenes Grossbritannien Der britische Journalist Simon Usborne analysiert seine Heimat und bescheinigt ihr ein «Talent für Widersprüche». 36 Carte Blanche | Julian Huber Als einer der Letzten, die dieses Handwerk beherrschen, führt der Hutmacher die Schweizer Firma seines Grossvaters fort. 12 36 CREDO ist auch online: lgt.com/credo
Editorial Sehr verehrte Leserin, sehr geehrter Leser, «Die dialektische Beziehung zwischen Tradition und Innovation ist das Wesen des Lebens», sagt Carlo Petrini. Damit spricht uns der italienische Slow-Food- Gründer aus der Seele. Die LGT möchte ihren Beitrag für eine lebenswerte Zukunft der folgenden Generationen leisten – und fühlt sich als familienge- führtes Unternehmen dabei stets ihrer Herkunft und ihren Überzeugungen verpflichtet. Dieser spannende Dualismus zieht sich durch die gesamte Ausgabe von CREDO. In der Reportage erzählt die Venezianerin Nena Almansi von dem Argwohn der alteingesessenen Gondolieri gegen ihr Ruder-Start-up, mit dem sie sich auch gesamtgesellschaftlich engagiert. Unsere Titelpersönlichkeit Andreas Scholl feiert als Countertenor einer neuen Generation internationale Erfolge – und ist doch mit Zuschreibungen aus dem 18. Jahrhundert konfrontiert. Simon Usborne beleuchtet im Essay ausgehend vom Tod von Queen Elisabeth II. die Bedeutung von «typisch britischen» Traditionen in einem sich sukzessive modernisierenden Land. Und Julian Huber erzählt in der Carte Blanche, wie er als Schweizer Hutmacher einem reichen kulturellen Erbe ein modernes Comeback beschert. Dazu knusprige Baguettes im Portfolio, eine kleine Einführung in die italieni- sche Kulinarik im Interview, schimmernde Bronzen in den Meisterwerken und ein lustvoll fabulierter Familienroman in Erlesenes: Nicht zuletzt hat unsere Beschäftigung mit Tradition in all ihren Facetten ein höchst lebendiges und sinnliches Magazin hervorgebracht. Ich wünsche Ihnen eine bereichernde Lektüre. S.D. Prinz Philipp von und zu Liechtenstein Honorary Chairman LGT CREDO | 03
Die Nacktheit der menschlichen Stimme Text: Jürgen Otten | Fotos: Wolfgang Stahr Höher, heller, himmlischer: Wenn Andreas Scholl auf einer Bühne seine Stimme erhebt, empfinden das manche als Grenzüberschreitung. Dabei steht der deutsche Opernsänger als Countertenor in einer jahrhundertelangen Tradition, die er behutsam in die Moderne und in die «totale Freiheit» führt. 04 | CREDO
Porträt | Andreas Scholl Internationale Opernstars, so zumindest will es die gut gepflegte Legende, leben an illustren Orten: in New York, London, Paris, Wien oder Berlin, zumindest aber in Metropolen, die direkt mit der grossen weiten Welt verknüpft sind und urbanes Charisma verströmen. Die meisten von ihnen, erzählt der Mythos, haben ihre Heimat verlassen, um das zu machen, was in der Branche immer noch ehrfürchtig als «Karriere» bezeichnet wird. Und bei nicht wenigen sogenannten Stars gewinnt man in der Tat den Eindruck, der glamourös-gloriose Glanz, der sie umgibt wie ein Heiligenschein, die bewundernde Aufmerksamkeit, die ihnen zuteilwird, gefalle ihnen irgendwie doch. Andreas Scholl ist anders. Nicht, dass er kein Star wäre. Er ist es, seit vielen Jahren. Aber weder lebt Scholl in New York, London, Paris, Wien oder Berlin, noch käme es ihm in den Sinn, sich als Star zu bezeichnen. Glamour, Gloria und Glanz sind die- sem Künstler mit dem Gardemass von 1,90 Meter fremd, schon in der Anmutung. Und die grosse weite Welt mag ja hier und da schöne Ecken haben, doch die schönste Ecke ist nach wie vor Kiedrich. Kiedrich? Kaum einer kennt dieses 4000-Seelen-Wein- dorf am Südhang des Taunus, unweit von Eltville und nur zehn Autominuten vom Kloster Eberbach entfernt gelegen. Lediglich Menschen, die etwas vom Kirchenchorgesang und seiner musik geschichtlichen Bedeutung verstehen, könnten von Kiedrich (wie auch von dem Kloster Eberbach und dem dortigen Festival) schon einmal etwas gehört haben. Denn ob man es glaubt oder nicht: Kiedrich beheimatet den zweitältesten Knabenchor Deutschlands. Und Andreas Scholl war Mitglied dieser Chor buben. Er war einer von 30. Nur vielleicht einen Hauch begabter als seine Mitstreiter. Die ewige Urkraft des Gesangs Der Knabenchor hat Andreas Scholl geprägt. Dessen Tradition und Selbstverständnis, dessen Gemeinschaftssinn. Niemand fühlte sich dort besser als die anderen, die «Jungs» waren eine eingeschworene Mannschaft mit klar definiertem Ziel: Sie wollten singen. Gregorianische Choräle, Psalmen, Kantaten, Messen, die Literatur ist reich genug. Kinder und Jugendliche von heute können sich das vermutlich kaum mehr vorstellen: dass 30 ziem- lich junge Menschen sich in einem Raum versammeln, um Werke von Palestrina, Orlando di Lasso, Heinrich Schütz, Dietrich Buxtehude und Johann Sebastian Bach zu interpretieren, ja überhaupt zu singen und sich damit in gewisser Weise zu «ent- kleiden». Es gibt nichts Nackteres als die menschliche Stimme, aber es gibt vermutlich auch nichts Verführerischeres. Schon Orpheus vermochte mit seinem (von der Lyra begleiteten) Ge- sang die Götter zu besänftigen und wilde Tiere zu zähmen. Von dieser «Urkraft» hat der menschliche Gesang bis heute nichts CREDO | 05
Porträt | Andreas Scholl eingebüsst. Pianisten werden bestaunt, Geigerinnen bewundert, der italienischen Gesangskultur, noch ein Fremdwort – ein Cellisten und Cellistinnen verehrt. Aber einer Sängerin wie Maria Bonmot aus dieser Zeit beschreibt darüber hinaus auf recht Callas, einem Sänger wie Luciano Pavarotti liegt man selbst zynische Weise, wie schmerzvoll die Operation an sich war: postum noch zu Füssen. Wegen ihrer unvergleichlichen Stimme. «Evviva il coltello.» Es lebe das Messerchen. Auch Andreas Scholl war mit einer schönen Naturstimme Zum Glück sind diese Zeiten vorbei. Doch selbst aufgeklärte gesegnet. Für gewöhnlich verteilt der liebe Gott dergleichen, Menschen des 21. Jahrhunderts tappen noch in die Gedanken- wie es ihm beliebt. In diesem konkreten Fall hatte er allerdings falle, wenn sie einen Mann in der Alt- oder sogar Sopranlage noch eine kleine Pointe parat: Während andere Knaben irgend- singen hören. Andreas Scholl hat dazu zwei mehr oder minder wann in den Stimmbruch verfielen, blieb dieser Wendepunkt bei heitere Geschichten auf Lager. Die eine spielt in Madrid, wo sich Scholl schlicht und ergreifend aus. Also sang er einfach weiter ein Taxifahrer nach einem Konzert, das er im Radio gehört hatte mit seiner hohen, «engelsgleichen» Stimme. (und wissend, dass der berühmte Countertenor nun in seinem Automobil sass), besorgt bei ihm erkundigte, ob er wirklich ein Als er sich später, im Studium in Basel, an den Laryngologen Mann sei – und wie vom Teufel angefasst zusammenzuckte, als und Sängerseelentröster Professor Joseph Sopko wandte, er- Scholl ihm mit seiner im Baritonbereich verankerten Sprech- klärte der ihm, dass er ein Mutationsdreieck in sich trage. Was stimme artig Antwort und Auskunft gab. Ein wenig schlimmer nach einer delikaten mathematischen Konstruktion klingt, ist im noch war die Frage einer angetrunkenen Sponsorin, die nach Kern ein physiologisches Phänomen. Von einem solchen Dreieck einem Konzert an ihn herantrat und ihn im Flüsterton fragte, ob spricht man, wenn die Stimmbänder nicht flächig schliessen und alles bei ihm «komplett» sei. oben, am Ende der Stimmritze, eine Lücke in Form eines V-Aus- schnitts verbleibt. Andreas Scholl entschied sich auf Anraten Keine Sorge, ist es. Nur die Stimme ist, wenn sie singt, eben Sopkos dafür, die «Wunde» zu schliessen. Was nach intensiven anders. Höher. Heller. Himmlischer vielleicht. Und ja, diese Logopädie-Sitzungen auch geschah. Der Weg für eine internatio- Stimme zu haben und mit ihr auf eine Bühne zu treten, ist eine nale Laufbahn als Countertenor war geebnet. «Grenzüberschreitung», das sieht auch Scholl so. Wichtig ist ihm jedoch, dass die Tatsache, Counter zu sein, nichts mit Tra- Einstige Engel wider Willen vestie – also der Verkörperung einer Rolle durch Akteure eines Viele Laien mögen sich im Stillen die Frage stellen, was das be- anderen Geschlechtes – zu tun hat. «Letztlich geht es nur um deutet: ein Countertenor zu sein. Um es zu verstehen, holt man das Menschsein auf der Bühne», betont er. «Es ist der Mensch, sich am besten die Geschichte dieser Stimmlage ins Bild. Zu der im Vordergrund steht, und nicht die Frau, die einen Mann ihrer Hoch- und Glanzzeit in der zweiten Hälfte des 17. und dann spielt, oder der Mann, der eine Frau spielt. Wir sollten froh sein, vor allem im 18. Jahrhundert nannte man Kastraten nicht ohne dass diesbezüglich inzwischen zumindest in Westeuropa eine Grund auch «Engel wider Willen». Sie wurden geliebt, gefeiert, grosse Offenheit besteht.» angehimmelt, sie erhielten die denkbar höchsten Gagen, sie waren die Helden der Höfe – und weil die interessierte Damen- Das Phänomen Kiedrich welt durch sie nicht schwanger werden konnte, auch so manch Was sich verändert hat, ist das Bild. Scholl zählt zu den Counter- adeligen Schlafzimmers. Ihr Erscheinen auf den Bühnen sorgte tenören der ersten Generation, zu jenen, die – 250 Jahre nach nicht selten für ekstatisches Entzücken im Auditorium. Die der Glanzzeit der italienischen Kastraten – erstmals überhaupt berühmtesten unter ihnen stammten aus dem Mutterland der wieder mediales Interesse erregten. Es war die Zeit der Händel- Oper: Farinelli, Senesino, Caffarelli, das sind Namen, die jeder Renaissance, die Zeit, in der das historisch informierte Musizie- Barockopernfan noch heute mit schnalzender Zunge ausspricht. ren aufkam und sich unzählige Barockensembles bildeten, die Aufnahmen gibt es keine von diesen hochmögenden (und, wie den Klang jener fernen Zeit so authentisch wie möglich wieder- die Fama erzählt, mindestens ebenso neurotischen) Sängern, beleben wollten. Es war die Stunde solcher Stars wie Russell aber genügend überlieferte Berichte, wie unfassbar schön ihre Oberlin, Jeffrey Gall, David Daniels, Brian Asawa – und eben Stimmen geklungen haben müssen, wie bezaubernd, betörend, Andreas Scholl. Mit einem Mal standen sie im Rampenlicht, beglückend. Das kleine Problem war nur: Sie alle hatten sich und Scholl gibt zu, dass es für ihn gar nicht so einfach war, dem als Knaben einer Operation unterziehen müssen, die nicht nur Ruhm «standzuhalten». Nach ersten Engagements für die kleine äusserst schmerzhaft war, sondern manche sogar das Leben Plattenfirma «Harmonia Mundi», bei denen er kleinere Soli in kostete. Hygiene war seinerzeit in Neapel und Rom, den Zentren Werken von Schütz, Bach und anderen gesungen hatte, legte 06 | CREDO
Dies Bildnis ist bezaubernd schön – und klingt auch wirklich gut: das Tonstudio von Andreas Scholl in Kiedrich. ihm eines der drei Major-Labels einen Vertrag auf den Schreib- Die «Szene» spaltete sich dabei grob gesagt in zwei Schulen: tisch, den er unmöglich ablehnen konnte. Ein Fotoshooting die englische und die amerikanische. Letzterer, erzählt Scholl, folgte aufs nächste, die Musikjournalisten stürzten sich auf ihn, gehörten Künstler wie Oberlin, Gall und David Daniels an. Die es hagelte Konzertanfragen, und auf den grossen Bühnen der amerikanische Schule war «opernhafter»: Die Countertenöre, Welt sorgten seine Interpretationen der grossen Händel-Partien die ihr zuneigten, sangen mit etwas mehr Aplomb, etwas mehr (Giulio Cesare, Bertarido, Arsace) für einhellige Begeisterung. Grandezza und etwas mehr Vibrato; dagegen klangen die Anhän- Kurzum: Ein Star war geboren. ger der englischen Schule zurückhaltender, liedhafter, klarer. Der Zufall wollte es nun, dass ausgerechnet ein englischer Baron in Was ihn rettete, bis heute gleichsam am Boden festzurrt, als Kiedrich jene Stiftung gegründet hatte, die Andreas Scholl sein sei Konrads Spezialkleber im Spiel, ist das «Phänomen Kiedrich»: Musikstudium in Basel ermöglichte. Diese englische Tradition die Tradition der «chorischen Bruderschaft», in und mit der hält er hoch. Doch sind für ihn gerade mit diesem Begriff der Scholl gross geworden war; dieses Wissen darum, nichts Beson- Tradition auch einige wichtige Fragen verbunden: Woher komme deres sein zu müssen, um grandiose Musik berührend singen zu ich? Für welche Werte stehe ich? Womit identifiziere ich mich? können; die Vorsicht, mit der er den wachsenden Ruhm zwar genoss, aber eben auch dessen gefährlichen Schein zu enthüllen Wenn Kunst nach Leben klingt wusste. Und es war die Gewissheit, dass es stets Grösseres gibt An dieser Stelle betritt ein Mann die imaginäre Bühne, der für als den Interpreten. Die Musik eines Johann Sebastian Bach, Scholl untrennbar mit seinem Werdegang verbunden ist: Richard eines Georg Friedrich Händel, die Musik vieler anderer alter Levitt. Bei Levitt, einem der ersten US-amerikanischen Counter Meister. Nur die Art, wie man deren Werke zu interpretieren tenöre, die durch die europäische Gesangskultur geprägt wurden, hatte, war ein wenig umstritten. studierte er von 1987 bis 1993 in Basel. Ihm verdankt Scholl nach CREDO | 07
Lachen ist gesund für die Seele und wirkt befreiend: Andreas Scholl im Freien mit seinem Hund. Andreas Scholl 1967 in Eltville am Rhein geboren, erhielt Andreas Scholl seine frühe musikalische Ausbildung bei den Kiedricher Chorbuben. Später studierte er bei Richard Levitt und René Jacobs an der Schola Cantorum Basili- ensis. Für seine musikalischen Künste wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. als «Singer of the Year» der Classical BRIT Awards, mit dem Echo für eine eigene Komposition sowie mit dem Preis des «BBC Music Magazine» für sein Purcell-Album «O Solitude» mit der Accademia Bizantina. Andreas Scholl ist Mit- glied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz und lehrt als Professor Barockgesang am Mozarteum in Salzburg. 2005 war er als allererster Countertenor bei «Last Night of the Proms» zu Gast. 08 | CREDO
Porträt | Andreas Scholl eigenen Worten «sehr, sehr viel, ja eigentlich alles». Levitt, des- Cafeteria zu verweilen, sei er wie berauscht gewesen von dem, sen Vorliebe für Popmusik er teilt, war für ihn Mentor und Vater- was Jacobs über Musik und die Art und Weise, wie man Musik figur, auch noch weit über das Ende seines Studiums hinaus. Vor vermitteln solle, erzählt hatte. «Bei ihm habe ich gelernt, dass sechs Jahren starb der Gesangspädagoge, Andreas Scholl sass man zu jedem Wort nicht nur eine sinnpoetische Übersetzung noch wenige Stunden vor seinem Tod an Levitts Bett und wurde finden, sondern einen Gesangstext Wort für Wort ‹übersetzen› Zeuge, wie dieser einen unvergleichlich schönen Satz in die Stille muss.» Jedes Wort, so Jacobs, besitze einen Geschmack. hauchte: «I’m in between, and it is not a bad place to be.» Richard Levitt, sagt Scholl, stand für mühelosen Gesang, von ihm hat er die Leichtigkeit des Singens im Grunde erst erlernt «Manchmal ist und auch jenes Credo übernommen, das weit kitschiger klingt, als es ist: Kunst ist Kunst, wenn sie nicht nach Kunst klingt. Man Kiedrich genauso könnte, mit höflicher Erlaubnis der Bildhauerin Louise Bour- geois, noch leise hinzufügen: Kunst ist Kunst, wenn sie nach prickelnd wie New Leben klingt. Und wenn sie nicht erzwungen wird. In diesem Zusammenhang erwähnt Andreas Scholl eine Anweisung Levitts, York. Es liegt nur die dieser fast gebetsmühlenartig wiederholte: «Don’t try to express!» Nicht ausdrücken! Bloss nicht! Singen ist nicht, wenn an der Perspektive.» man eine Zitrone auspresst. Singen ist Freiheit. Und auch der Instinktsänger Andreas Scholl ist der Ansicht, es sei doch ver- rückt, dass wir dieses Wort («ausdrücken») benutzen, «denn es Geschmack entwickelt sich beim Probieren. Und beim ist ein schreckliches Wort dafür, worum es beim Singen geht – Studieren. Andreas Scholl hat damit nie aufgehört. Er ist nun nämlich darum, strömen zu lassen». Nach Levitts Tod habe er 55 Jahre jung, er kennt die Musikwelt, ihre Höhen und Tiefen, bei einem Konzert auf der Bühne gestanden und plötzlich be- aber das Lernen hört nie auf. Seit einigen Jahren tritt er auf die griffen, was sein Lehrer mit diesem «Verdikt» im tieferen Sinne Bühne nicht mehr in erster Linie, um die Ewigkeit zu besingen gemeint hatte. Und an diesem Abend habe er zum ersten Mal in oder das Schicksal zu beklagen, er befindet sich etwas weiter seinem Sängerleben den Zustand der totalen Freiheit gespürt, vorne – als Dirigent. Er steht diesbezüglich in keiner Tradition, der Absage an jede Ambition, «dieses Gefühl, nicht mehr zu aber er hat oft genug als Countertenor mit den besten Vertre- wollen, sondern zu können. Und darauf zu vertrauen, dass die tern der Zunft zusammengearbeitet, um zu wissen, was wichtig Arbeit vieler Jahre sich auszahlt.» ist. Und wichtig ist weniger die Schlagtechnik als das, was man mit ihr zu erzielen vermag. Einen enormen Vorteil hat Andreas Der Geschmack der Wörter Scholl aber eben doch, wenn er vor 20, 30, 40 Musikerinnen Instinkt hin, Freiheit her – Scholl ist nicht so naiv zu glauben, und Musikern steht und den Atem der Solistinnen und Solisten das reine und richtige Gefühl genüge, um grosse Kunst zu ma- direkt vor sich spürt: Er weiss, wie es geht. Er kann nicht nur chen. «Ich muss im Detail genau wissen, worum es geht, wenn vormachen, was in der Musik steht. Er kann es eben auch vor- ich einen Text singe: Wer spricht hier? Was geschieht, vorher singen. Ob nun mit seiner nach wie vor glockenreinen Counter- und nachher? Was ist die Situation? Und: Warum singe ich das, stimme oder mit der Baritonstimme, ist dabei zweitrangig. Wie was ich gerade singe? An wen richte ich meine Worte, mit wel- auch die Frage, wo ein bedeutender Künstler, der ein Star nie cher Intention?» Erst wenn man all diese Fragen beantwortet sein wollte, lebt. Manchmal ist Kiedrich genauso prickelnd wie habe, sagt Scholl, sei man imstande, etwas mitzuteilen, das über New York. Es liegt nur an der Perspektive. die reine Stimmgestaltung hinausreiche. Diese Erkenntnis ver- dankt er aber weniger Richard Levitt, sondern dessen Antipo- den René Jacobs, seinem zweiten Lehrer (Spitzname: «Luzifer», Jürgen Otten studierte Schulmusik, Germanistik und Klavier. Ab 1989 war er was durchaus lieb gemeint sei). Er habe es verstanden, jene als Journalist und Publizist tätig. Nach Stationen als Schauspieldramaturg «Gänsehautmomente» zu erzeugen, nach denen jeder Künstler am Deutschen Nationaltheater Weimar und als Operndramaturg am Staats- strebe; von ihm habe er aber vor allem gelernt, wie wichtig theater Kassel ist er Chefredakteur der «Opernwelt», einer internationalen die Textexegese sei. Jedes Mal, wenn er aus dem Zimmer 418 Fachzeitschrift für Musiktheater, und lehrt an der Hochschule für Musik der Schola Cantorum Basiliensis hinabgestiegen sei, um in der Hanns Eisler Berlin Dramaturgie. CREDO | 09
Portfolio | Baguette Die wichtige Zutat Zeit Text: Michael Neubauer | Fotos: Raphael Zubler «Wir sind sehr stolz darauf», sagt Julien Blavette. Er führt mit seinem Bruder Louis die Boulangerie-Pâtisserie unweit Baguette ist nicht gleich Baguette. Über das Handwerk, des Friedhofs Montparnasse. In ihrer Familie hat das Bäcker- das Geheimnis und die Bedeutung des französischen handwerk seit drei Generationen Tradition: Grosseltern, Eltern, Nationalsymbols «baguette de tradition». Onkel und Brüder haben Brot gebacken. «Louis und ich sind damit aufgewachsen», erzählt der 42-jährige Julien Blavette. Die Paris erwacht. Durch die Rue Daguerre im 14. Arrondissement Eltern hätten sie nie gezwungen, diesen Weg zu gehen – doch eilen die Menschen zur Metro. In der Bäckerei «Les Frères Bla- um sie herum war stets Mehl und Brot. vette» hat sich unter dem Kronleuchter eine kleine Schlange ge- bildet, es duftet nach frisch gebackenem Brot. «Une tradition», Im Nebenraum der Bäckerei führt eine steile Treppe hinab verlangt eine Kundin. Die Verkäuferin reicht ihr ein Baguette in den Keller. In der Ecke eine Knetmaschine, daneben Papier- über den Tresen. säcke mit der Aufschrift T65 für die Mehltype, grüne Plastik- wannen für die Brotteige. Louis Blavette steht mit Schirmmütze Der Gang in die Boulangerie zählt zum morgendlichen Ritual auf dem Kopf vor dem Backofen und legt die Teiglinge auf der Französinnen und Franzosen. Das Baguette gehört zu jeder Bäckerleinen. Dann nimmt er eine Klinge und macht damit Mahlzeit. Es ist Frankreichs knuspriges Symbol – im vergangenen Schnitte quer in den Teig – als setzte er seine Unterschrift Jahr wurde es von der UNESCO in die Liste des Immateriellen auf jedes Baguette. «Diese Schnitte sind wichtig für eine gute Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Kruste», sagt er. Für ein gutes Baguette seien zudem Farbe, Porung, Glanz der Krume, Duft und Geschmack entscheidend, In Paris werden Jahr für Jahr die besten Baguette-Bäcker fügt der zurückhaltende Bäcker hinzu. der Stadt gekürt. Circa 150 Pariser Bäcker reichen dafür ihr Ba- guette bei einer Jury ein. Der Sieger erhält nicht nur 4000 Euro Nachts um zwei Uhr hat der 29-Jährige mit der Arbeit Preisgeld. Er darf ein Jahr lang den französischen Präsidenten begonnen, um elf Uhr endet seine Schicht. «Ich mag an meiner und den Élysée-Palast mit Baguette beliefern. Arbeit, dass ich etwas von Anfang bis zum Ende herstelle und mit den Händen arbeite», sagt Louis Blavette. Dann schiebt er Die Brüder Blavette waren 2022 unter den zehn Besten die Baguettes in den Ofen. In 20 Minuten werden sie fertig sein. bei dem «Grand Prix de la Meilleure Baguette 2022 de Paris» – 200 Stück bäckt er pro Tag. ein grosser Aufkleber auf der Fensterscheibe ihrer Boulangerie kündet davon. Die Brüder bieten ausschliesslich Bio-Brot an, und was Baguette angeht, nur die Sorte «tradition» – die Königin unter den Baguettes. Julien Blavette erklärt den Unterschied zu einem normalen Stangenbrot: «Es ist die Art und Weise, wie es ge- macht ist, und es gibt ein strenges Regelwerk bei den Zutaten.» Mehl, Salz, Wasser, Hefe – etwas anderes dürfe in einem soge- nannten Tradi nicht enthalten sein. Im Teig für ein «Baguette classique» dagegen seien noch Zusatz- und Konservierungsstoffe, damit es auch tiefgekühlt aufbewahrt und jederzeit in den Ofen geschoben werden kann. Für ein Tradi braucht es weit mehr. «Eine wichtige Zutat ist Zeit», sagt Louis Blavette. Mindestens zehn Stunden Zuwendung Die Boulangerie «Les Frères Blavette» liegt ganz in der Nähe des Pariser Friedhofs Montparnasse. und Ruhepausen erhalten seine Tradis hier unten im Back keller, bis sie in den Ofen kommen – dreimal mehr als bei einem 10 | CREDO
Zwei Brüder mit Tradition: Julien Blavette (links) arbeitet vor allem im Laden, der jüngere Louis (rechts) im Keller am Baguette-Ofen. klassischen Baguette. Geknetet wird der Teig nur acht Minuten. Dann kam das Jahr 1993. Seit damals regelt die Brotver Die Teigführung spiele eine wichtige Rolle, das heisst, wie man ordnung die Reinheit eines Baguettes von höherer Qualität mit den Teig macht, ihn aufgehen lässt, der Fermentierung Zeit gibt. den nur vier Zutaten. Seither darf es den Namen «Baguette de Immer wieder werden die Teiglinge gewendet, dann müssen sie tradition française» tragen. «Es ging auch darum, die Bäcker zu acht Stunden ruhen. Luftbläschen im Teig sind kein Fehler, son- schützen vor der Konkurrenz der grossen Ketten und Super- dern wichtig, damit das Baguette schön luftig wird. Kein Wunder, märkte», sagt Julien Blavette. dass Bäcker in Frankreich auch die Bezeichnung Handwerker tragen: artisan boulanger. «Ein gutes Baguette ist aussen gol- Weil das «Baguette de tradition» mehr Zuwendung verlangt den und knusprig», sagt Julien Blavette, «wir machen unsere als ein «Baguette classique», ist es auch teurer: Bei den Blavettes Tradis bien cuite, also etwas dunkler, so entwickeln sich die kostet das einfache Tradi 1,40 Euro, ein normales Baguette be- Aromen besser – und es ist auch besser verdaulich.» kommt man in Pariser Bäckereien ab 90 Cent. Dennoch achten viele Franzosen auf gute Brotqualität: Heute verlangen 41 Pro- Um zu verstehen, dass Baguette in Frankreich nicht Ba- zent der Kundschaft ein Tradi. guette ist, muss man eintauchen in die französische Brothistorie. Vor rund 40 Jahren drohte die Liebe der Franzosen zu ihrem Ba- Im Keller piept der Ofen, die «Baguettes de tradition» sind guette zu erlöschen. In den 1980er-Jahren wurde die staatliche fertig. Louis Blavette legt sie in einen Baguettekorb und steigt Brotpreisbindung abgeschafft. Das Baguette drohte zur billigen mit ihm hoch in den Laden. Sein Bruder Julien hilft, sie ins geschmacklosen Massenware zu werden: Plötzlich boten Super- Regal zu schichten. Schon bald werden sie in Papiertüten ge- märkte Billigbrot an. Industrielle Hersteller lieferten Teiglinge steckt, über den Verkaufstresen gereicht – und dann begleiten tiefgefroren an Pseudo-Bäckereien, deren Angestellte keine sie die Pariserinnen und Pariser hinaus in ihre Stadt. Bäcker mehr sein mussten. Das Baguette schmeckte immer häufiger fade und einheitlich. CREDO | 11
Interview | Carlo Petrini «Traditionen sind wandelbar» Zu Besuch im Piemont bei Slow-Food-Gründer Carlo Petrini: Hüter der ihnen steckt die Fähigkeit, Speisen aus wenigen Zutaten oder kulinarischen Tradition Italiens, aber auch Erneuerer mit Weltgeltung. sogar Resten herzustellen. Die Ribollita, das Traditionsgericht der Toskana, wird mit altem Brot zubereitet. In meinem Piemont Interview: Ulrike Sauer | Foto: Federico Guida stellte man die Füllung der Agnolotti aus den Fleischresten der Woche her. Sie wurden unterm Wiegemesser zerkleinert und dann zur Füllung der Nudel-Täschchen verarbeitet. Heute be- Seit über 30 Jahren setzt sich Carlo Petrini dafür ein, zeichnet die moderne Ökonomie dieses Savoir-faire als Kreis- die enorme Vielfalt des kulinarischen Erbes Italiens zu laufwirtschaft. Unsere Vorfahren haben es jedoch schon jahr- bewahren. Sein Engagement für gutes, sauberes, faires hundertelang gelebt. Essen, gegen die Vereinheitlichung durch Nahrungs mittelindustrie und Fast-Food-Ketten machte ihn zum Italien geniesst ein hervorragendes kulinarisches Image. Trendsetter. Im CREDO-Interview spricht er über den Woher rührt die Berühmtheit dieser Esskultur? Wert gastronomischer Traditionen, die Vitalität der Sie hat viele Gründe. Aus historischer Sicht war entscheidend, italienischen Esskultur und den Käse von morgen. dass eines der ersten italienischen Kochbücher in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzt wurde, in Herr Petrini, Italien verführt die Welt mit seiner Küche. die damalige Weltsprache. Diesem Privileg verdanken wir die Ausgrabungen von Speiseresten in der versunkenen Stadt Verbreitung der italienischen Rezepte – und damit der italie- Pompeji zeigen, dass bereits die alten Römer lukullischen nischen Küche – an den Höfen Europas. Die Auswanderungs- Gaumenfreuden frönten. Haben die Italiener schon vor wellen haben diesen Einfluss später verstärkt. Italien ist nur 2000 Jahren gut gelebt? ein kleiner Fleck auf unserem Planeten. Doch das Land hat in Ja, weil bei uns die Vielfalt der Regionen, der Landwirtschaft und einem Jahrhundert 60 Millionen Menschen auf der ganzen Welt auch das Klima die Erzeugung von hervorragenden Rohstoffen verstreut. Die Migrantinnen und Migranten passten die Regio- begünstigt haben. Pompeji lag zudem im Zentrum eines florie- nalküche aus ihren Herkunftsgebieten den Gegebenheiten ihrer renden Imperiums, das in der Lage war, Kostbarkeiten aus aller neuen Wahlheimat an. Welt herbeizuschaffen. Der Reichtum einer Zivilisation lässt sich fast unmittelbar am Reichtum seiner Gastronomie messen. Warum ist das kulinarische Erbe in Italien bis heute so vielseitig? Welchen Wert haben kulinarische Traditionen für uns heute? Anders als in Frankreich hat die italienische Küche keine ein- In der Tradition erfolgt die Weitergabe eines besonderen Savoir- deutige Identität entwickelt, sondern ist von Natur aus eine faire, das interessanterweise oft aus extremer Armut entstan- sehr vielfältige gastronomische Realität. Unsere Küche ist stark den ist. Denken Sie an viele traditionelle italienische Gerichte: von der Territorialität geprägt. Wenn ich mich hier im Piemont Sie haben ihren Ursprung in einer innovativen Bauernkultur. In umsehe, so stosse ich alle 20 Kilometer auf originelle Gerichte. 12 | CREDO
Carlo Petrini, geboren 1949 in Bra, ist der Gründer des Netzwerks Slow Food, das sich in 160 Ländern für regionales und gutes Essen, nachhaltige Landwirt- schaft und fairen Handel einsetzt. Heute kümmert sich Petrini hauptsächlich um seine jüngste Kreatur: die Universität für Gastronomische Wissenschaften Pollenzo in seiner Heimatstadt Bra. CREDO | 13
Interview | Carlo Petrini Diese historische Vielfalt, die lange Zeit ein Hindernis der ita- ständige Weiterentwicklung ist typisch für alles Lebendige und lienischen Küche darstellte, bestimmt heute ihren unverwech- damit auch für die Gastronomie. Die Tradition ist keine Antago- selbaren Charakter und ihren Reichtum. Der Geschmack einer nistin der Moderne: Die Tradition muss sich ständig mit innova- Zwiebel aus Tropea in Kalabrien lässt sich nicht mit dem einer tiven Elementen auseinandersetzen, da sie sonst verschwindet. Zwiebel aus einer anderen Gegend vergleichen. Heute gibt es Diese dialektische Beziehung zwischen Tradition und Innovation kein Dorf in Italien, das nicht stolz auf seine Zwiebel, seinen ist das Wesen des Lebens. Und die Essenz der Evolution. Sellerie, seine Salami oder seinen Käse ist. Wie wirkt sich die Klimakrise auf die kulinarischen Ist die Mission von Slow Food also geglückt? Traditionen aus? In Italien zweifellos. In unserem Land hat sich die Verteidigung Sie werden sich zwangsläufig verändern, denn die Erderwärmung der Vielfalt durchgesetzt. Aber sie wird überall siegen. Denn schlägt sich direkt in den Eigenschaften der Produkte nieder, die wenn man die produktiven Ökosysteme wieder aufrichtet, dann sich den neuen Bedingungen anpassen müssen. Beispiel Wein: werden sie überall auf der Welt durch die Erzeugerinnen und Hier in den Langhe im Piemont wurden die Lagen mit der stärksten Erzeuger geschützt. Sonneneinstrahlung, die einen hohen Zuckergehalt der Trauben und einen höheren Alkoholgehalt garantierten, als Premier Cru Stundenlanges Tafeln und Reden in grosser Runde ist klassifiziert. Infolge des Klimawandels haben die Trauben dieser Ihren Landsleuten überaus wichtig. Hat man in Italien Spitzenlagen nun einen zu hohen Alkoholgehalt, die Qualität der ein besonderes Verhältnis zum Essen? Weine nimmt ab. Weinberge hingegen, die früher aus klimati- Oh, ja, das steht ausser Frage. Wir bringen durch die Küche eine schen Gründen einen niedrigeren Zuckergehalt hervorbrachten, emotionale Beziehung zum Ausdruck. Es geht um das gemein- gewinnen an Ansehen und Beliebtheit. same Geniessen, um die Freude am Zusammensein und am Tei- len. Essen ist weit mehr als bloss die Frage der organoleptischen Die Dürre hat selbst mediterrane Vorzeigekulturen wie Elemente eines Gerichts. Auch das verleiht unserer Esskultur Oliven, Tomaten, Hartweizen und Reis hart getroffen. Der ihre Resilienz. Umsatz der italienischen Landwirtschaft ging 2022 um 6 Milliarden Euro zurück. Was wird aus der italienischen Ist die gelobte Esskultur auch gegen die Klimakrise gefeit? Küche, wenn ihre Grundzutaten knapp werden? 2022 verursachte der trockenste Sommer aller Zeiten Man muss sich genau ansehen, was wir verloren haben. Ich bin dramatische Ernteausfälle in Italien. Sind damit die der Ansicht, dass die Landwirtschaft und unser Nahrungssys- Traditionen in Gefahr? tem zugleich Opfer und Täter sind. Wir dürfen nicht nur auf die Wir dürfen uns die Traditionen nicht als starre Vorgaben vorstel- Rückgänge von Produktion, Umsatz und Bruttoinlandsprodukt len. Sie sind, wie auch die Rezepte, wandelbar. Denn die Roh- schauen. Das ist zu oberflächlich. Die Klimakatastrophe wird stoffe ändern sich, und auch der Geschmack ändert sich. Diese auch durch ein Konsumverhalten verursacht, das von diesem Mangiare! Ribollita, Agnolotti, Oliven, Brot, Feigen: «In unserem Land hat sich die Verteidigung der kulinarischen Vielfalt durchgesetzt.» 14 | CREDO
«Die Tradition ist keine Antagonistin der Moderne: Die Tradition muss sich ständig mit innovativen Elementen auseinander- setzen, da sie sonst verschwindet. Diese dialektische Beziehung zwischen Tradition und Innovation ist das Wesen des Lebens.» System gefördert wird. Die intensive Produktion beruht auf der eindringt und wir zu grossen Verzehrern von Mikroplastik wer- Verseuchung der Böden mit Pestiziden und anderen Chemikalien. den. Nimmt man all das zusammen, ist klar, dass die Zukunft Diese Böden werden dadurch immer unproduktiver. Darum der Menschheit auf dem Spiel steht. Angesichts der weltweiten müssen wir zu einer regenerativen Landwirtschaft übergehen. Unschlüssigkeit der Politik und ihrer Unfähigkeit, konkrete Ver- pflichtungen einzugehen, muss die Veränderungsbereitschaft Slow Food wurde 1989 zur Verteidigung der kulinarischen von unten kommen. Der einzige Lichtblick ist heute der Aktio Traditionen und der Artenvielfalt gegründet. Angesichts der nismus junger Menschen. Sie werden in naher Zukunft eine Gefahren, denen unsere Ernährung heute ausgesetzt ist, grosse Rolle spielen. wirken amerikanische Fast-Food-Ketten doch eher harmlos. Oder? In Ihrem jüngsten Buch tadeln Sie Rindfleisch, Käse und Heute ist zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit das Schweinefleisch als die grössten CO2-Emittenten. Sollten wir Überleben des Homo sapiens auf unserem Planeten in Gefahr. uns von der Tierhaltung verabschieden? Der Klimawandel wird dramatische Folgen haben, deren Vor Nein, absolut nicht. Ich bin ein Allesesser und will es bleiben! boten wir bereits beobachten. Hinzu kommt der Verlust der Bio- Aber ich trete für eine Reduzierung des Konsums ein. Ich muss diversität. Wenn wir Arten durch ein natürliches, evolutionäres meinen Landsleuten sagen, dass es zu viel ist, pro Kopf im Jahr Aussterben verlieren, dann ist das eine Katastrophe. Zudem er- 95 Kilo Fleisch zu essen. Auch wenn woanders noch viel mehr leben wir gerade, dass Plastik auch in das Lebensmittelsystem Fleisch gegessen wird. Es geht hier keineswegs darum, sich zu CREDO | 15
Interview | Carlo Petrini kasteien. Als ich Anfang der 1960er-Jahre ein Kind war, verzehr- Kasteiung hin. Das ist aber falsch. Wir brauchen keine Kasteiung. ten die Italiener 40 Kilo Fleisch. Und ich bin damit sehr gut gross Was wir brauchen, ist ein Wandel, der sich positiv auf unsere geworden. Aber jetzt übertreiben wir. Und diese Übertreibung ist Gesundheit, auf unsere persönlichen Beziehungen und auf unser gesundheitsschädlich und basiert auf einer widerwärtigen Mas- Verhältnis zur Umwelt auswirkt. Das sind die Dinge, auf die es sentierhaltung. Solange wir das Wachstumsparadigma über alles im Leben ankommt. setzen, werden wir aus dieser Situation nicht herauskommen. Wir reden heute viel über ethisch korrektes Essen. Haben Welche Zukunft haben dann aber die Schinkenhersteller in umweltbewusste Foodies nicht längst die Gourmets von Parma? Sie reifen die Schweineschenkel seit Jahrhunderten gestern verdrängt? mit ausgefeilten Methoden und verkaufen ihren zarten Die Sensibilität hat zugenommen. Dennoch: Uns ist das Problem Parmaschinken mit der fünfzackigen Krone des Herzogtums in den Händen explodiert. Wir haben es nicht geschafft, es vor auf der Schwarte in alle Welt. Was sollen sie tun? 30 Jahren den Mächtigen dieser Erde zu Bewusstsein zu bringen. In Parma gilt, was für die Hersteller aller Produkte gelten sollte: Auch wenn der Wandel inzwischen von vielen unterstützt wird, Sie müssen ihre Grenzen akzeptieren. Wenn man ein bestimm- ist heute doch die grosse Frage: Werden wir ihn rechtzeitig tes Limit erreicht, muss man aufhören zu wachsen. Ich möchte schaffen? wissen, wo diese Schweine, aus denen der berühmte Parma- schinken hergestellt wird, gezüchtet werden und wie sie auf- Uns läuft gerade die Zeit davon. Sind wir deshalb heute wachsen. Die Schinkenherstellung beginnt nämlich mit der Zucht nicht auch beim Essen eher auf Innovationen als auf der Schweine. Wer hingegen der Meinung ist, dass das Savoir- Traditionen angewiesen? faire des Schinkens erst beim toten Tier anfängt, hat nichts Die Menschheit muss ihr Nahrungssystem harmonisch gestalten. verstanden. Was heute prestigeträchtig als Parmaschinken Slow Food hat dafür den Slogan «gut, sauber und fair» geprägt. vermarktet wird, stammt oft aus der Intensivhaltung, die in Das bedeutet, dass die Nahrungsmittelproduktion die Ökosys- manchen Gegenden das Grundwasser bis hinunter in die dritte teme nicht zerstören darf und die Erträge gerecht verteilt wer- Leiterschicht verschmutzt. Diese Grenzen zu erkennen ist für den müssen. Dieses Gleichgewicht wird durch eine intelligente, die Erzeuger das Schwierigste. dialektische Beziehung zwischen Tradition und Innovation her- gestellt. Finden Sie, dass sich unsere Beziehung zum Essen gerade wandelt? Europa hat sich vorgenommen, bis 2050 klimaneutral zu Nicht so, wie sie sich ändern müsste. Es ist ein sehr langsamer, werden. Wird es bis dahin einen neuen Gorgonzola geben? schwieriger Prozess. Die Gegner der Veränderung stellen ihn als Aber nein! Wie oft habe ich in den 1980er-Jahren gehört: «Ihr redet über traditionelle Produkte, aber im Jahr 2000 werden wir uns sowieso von Tabletten ernähren.» Alles Blödsinn. Die Carlo Petrini Traditionsprodukte werden überleben. Aber nur mit dem Be- geboren 1949 im piemontesischen Bra, studierte Soziologie in Trient. wusstsein für ihre Grenzen und mit der Fähigkeit, das traditio- In den 1970er-Jahren war er politisch aktiv und begann, in italienischen nelle Savoir-faire mit den neuen Erfordernissen in Einklang zu Zeitschriften über Essen und Trinken zu publizieren. 1989 gründete er bringen. Und ich bin davon überzeugt, dass es so sein wird und Slow Food als Verein zur Erhaltung der Esskultur in Italien und setzte dass ich es erleben werde. Denn 2050 bin ich erst 101 Jahre alt. damit eine globale Bewegung in Gang: 2008 zählte ihn der britische Wenn alles gut geht, kann ich es dann bezeugen. «Guardian» zu den 50 Menschen, die die Welt verändern können. 2004 begründete er in Pollenzo bei Bra die erste Universität für Gastro nomische Wissenschaften, die Studierende aus aller Welt ins Piemont zieht. Carlo Petrini veröffentlichte mehrere Bücher zum Thema – zuletzt Ulrike Sauer lebt seit 1990 in Italien und berichtet für deutschsprachige «Terrafutura. Gespräche mit Papst Franziskus über Ökologie, Migration Printmedien aus dem Land der unendlichen Widersprüche. Nichts zieht die und soziale Gerechtigkeit» – und erhielt verschiedene internationale Wirtschaftskorrespondentin der «Süddeutschen Zeitung» so in den Bann wie Auszeichnungen, darunter 2016 die Ernennung zum europäischen Begegnungen in der Welt der italienischen Unternehmen, der Produktion Sonderbotschafter der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation und der Forschung. Dabei hört sie nicht auf, über Italien zu staunen. Zum der Vereinten Nationen. Beispiel darüber, dass das globale Netzwerk Slow Food ausgerechnet im vermeintlichen Paradeland des Individualismus entstanden ist. 16 | CREDO
Meisterwerke | Die Bronzen der Fürsten Gegossen für die Ewigkeit Pietro Tacca, «Büste des Grossherzogs Ferdinando I. de’ Medici (1549–1609)», um 1608. © LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz–Vienna CREDO | 17
Adrian de Fries, «Christus im Elend», 1607 Massimiliano Soldani Benzi, «Venus Medici», um 1699–1702 T radition versus Innovation: ein Spannungsfeld, das schöp- ferisches Gestalten schon immer begleitet hat und auch im Haus Liechtenstein seit je eine entscheidende Rolle spielt. Wenn der Beschaffung von hochgeschätzten griechischen Skulpturen deutlich schlechter: Schliesslich bestünden diese aus weissem Marmor und könnten – so schwer und zerbrechlich, wie sie nun Fürst Karl I. von Liechtenstein 1607 mit dem Auftrag der Bronze mal seien – kaum sicher über weite Wege transportiert werden. «Christus im Elend» an Adrian de Fries (1556–1626) einen Markstein und den Beginn fürstlichen Sammelns gesetzt hat, Und er zeichnet auch den Weg vor, ebendiesem Dilemma so ist es bereits sein Sohn Karl Eusebius I. von Liechtenstein, zu entkommen: Karl Eusebius sieht sie im Kopieren in Bronze, der dieses Interesse für Bronzen festschrieb und damit Bronze- minutiös und genau den Originalen nachempfunden, am besten plastiken für alle kommenden Generationen in der Familie zum bis ins letzte Detail exakt abgegossen. Er selbst ist auch der Erste, Desiderat machte. Bis heute lässt die Vorliebe für das Material der solche Bronzen in seinen Besitz bringt: die zwischen 1630 diese vor vier Jahrhunderten begründete Tradition in den Fürst- und 1640 entstandenen und schon bald für Antiken gehaltenen lichen Sammlungen nahtlos fortleben. Plastiken «Apollo und Cupido» sowie «Merkur» von François Duquesnoy (1597–1643) oder auch die Reduktionen nach Giam- Karl Eusebius’ «Werk von der Architektur», vor 1681 als eine bolognas (1529–1608) monumentalen Marmorskulpturen in der Lebensanleitung für seinen «vilgeliebten Sohn» geschrieben, be- Loggia dei Lanzi in Florenz. fasst sich am Ende auch mit dem Sammeln von Skulpturen und fordert, «jeder curiosere Fürest und Herr ein besondere Galleria Karl Eusebius’ Sohn Johann Adam Andreas I. von Liechten- haben sol auf die Statuen, dass also in der einen die Gemähl, in stein nimmt sich schliesslich den väterlichen Rat zu Herzen. der anderen die Statuen seien. Dieses aber ist hechst schwehr Er gibt bei Massimiliano Soldani-Benzi (1656–1740) in Florenz und schier unmeglich zu haben und zu erlangen, besonders in Bronzeskulpturen in allen nur denkbaren Variationen in Auftrag Deutschlandt [...]» Denn während es an Gemälden von den vor- und erwirbt unter anderem Abgüsse nach römischen Antiken im nehmsten alten Meistern hierzulande nicht mangele, stünde es mit Originalmassstab, zauberhafte, kleinmassstäbliche Reduktionen 18 | CREDO
Meisterwerke | Die Bronzen der Fürsten Giambologna, «Reiterstatuette des Ferdinando I. de' Medici (1549–1609)», Adrian de Fries, «Merkur», um 1612/15 um 1600 sowie Neuschöpfungen für Tische und Regale. Nachdem die In dieselbe Kerbe trifft der soeben getätigte Ankauf des «Venus Medici» und der «Tanzende Faun» in Wien angekommen «Merkur» von Adrian de Fries, geschaffen für Kaiser Rudolf II. waren, dankt der Fürst dem Künstler in Florenz und erörtert die am Ende seines Lebens in den Werkstätten des Prager Hofs, nächsten Aufträge. wo Fürst Karl I. für die kaiserlichen Kunstsammlungen verant- wortlich gewesen ist. Über abenteuerliche Wege gelangte dieses Cosimo III. de’ Medici gestattete Soldani-Benzi das Kopieren Kunstwerk nach Österreich und schliesslich in die Fürstlichen der schon genannten Bronzen, darüber hinaus auch des «Bac- Sammlungen. chus» von Michelangelo (1475–1564) und einer Reihe antiker Imperatorenbüsten. Zwei Generationen später schweifte der Blick Sammeln ist eine Angelegenheit von Nachhaltigkeit und immer noch nach Florenz. Vor 1767 konnte Joseph Wenzel I. langem Atem. Es gibt Sammlungen, die in sehr kurzer Zeit ent- von Liechtenstein Giambolognas erstes Modell für das Reiter- stehen; meist verschwinden sie nach dem Tod ihres Schöpfers monument des Ferdinando I. de’ Medici auf der Piazza della aber ebenso schnell, wie sie zusammengetragen worden sind. Santissima Annunziata erwerben, eines der raren signierten Nur wenige zeichnet eine so lange Beständigkeit aus, wie sie Kunstwerke dieses Meisters der Bronzeplastik. Giambologna ar- die Fürstlichen Sammlungen prägt. Heute präsentieren sie sich beitete noch in hohem Alter zudem an einer Büste Ferdinandos; einerseits als längst abgerundet und von höchster Qualität. An- die Wachsform ging nach seinem Tod mit der Werkstatt an Pietro dererseits stehen sie in der vollen Blüte ihrer Jugend, bedenkt Tacca (1577–1640) über, der das Kunstwerk vollendete und in man die Möglichkeiten, die ihnen noch offenstehen. drei bekannten Versionen in Bronze goss. Die detaillierteste Fas- sung konnte vor Kurzem durch den heute regierenden Fürsten Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein für die Sammlungen Dr. Johann Kräftner war von 2002 bis März 2023 Direktor der Fürstlichen erworben werden. Damit schliesst sich ein Kreis, an dessen Zir- Sammlungen in Wien. Er ist Verfasser zahlreicher Monografien zur Architek- kelschlag über einige Jahrhunderte gearbeitet worden ist. turgeschichte und -theorie. CREDO | 19
Reportage | Zwischen Canaletto und Klimakrise 20 | CREDO
Die Resilienz Venedigs Text: Petra Reski | Fotos: Federico Sutera Sie trägt den stolzen Beinamen La Serenissima – und tatsächlich zelebriert kaum ein Ort der Welt den eigenen Mythos so konsequent wie Venedig. Doch wie bewältigt die «Durchlauchtigste» die Anforderungen des 21. Jahrhunderts? Eine Bootsfahrt mit der Regattaruderin Nena Almansi durch ihre traditionsreiche Heimat, die sich bis heute der Vereinheitlichung der Welt entzieht. CREDO | 21
Reportage | Zwischen Canaletto und Klimakrise Die Venedig-Maschine läuft wieder auf Hochtouren – mit Vapo- retti, Lastkähnen und unzähligen Wassertaxis, die die Kanäle durchpflügen. Vorbei sind die magischen Momente, als die Rennruderer den Canal Grande in Besitz genommen haben und gleichsam schwebend über das spiegelglatte Wasser geglitten sind. Vergessen ist die Zwangspause der Lockdowns, als sich das Leben hier anfühlte, als hätte jemand bei dem in Endlos- schleife laufenden Venedig-Film auf die Stopptaste gedrückt. Jetzt herrscht auf dem Canal Grande wieder ein Verkehr wie nach Feierabend auf der A1 vor Zürich – ohne Rücksicht auf ein schmales Ruderboot, in dem sich eine junge Venezianerin gegen die Wellen stemmt. Elena Almansi, genannt Nena, ist 30 Jahre alt und rudert eine batea a coa di gambaro, die so heisst, weil das Heck an einen Krabbenschwanz erinnert. Die Wortbilder des Venezianischen entsteigen dem Meer. Liegt ein kleines Mädchen im Kinderwagen, rufen Venezianerinnen ein begeistertes Xe nata una sepoina! aus: Ein Tintenfischchen wurde geboren! Und wer geizig ist, hat wohl einen Krebs in der Tasche: Ti ga i granxi in scarsea? Nena Almansis batea ist ein traditionell venezianisches Ruderboot, wie man es bereits auf Gemälden von Carpaccio aus dem 16. Jahrhundert sowie von Canaletto aus dem 18. Jahrhun- dert bewundern kann – und das im Kielwasser der Wassertaxis, zwischen den Schiffsschrauben der Vaporetti und den Bugwellen der Lastkähne, wie ein auf dem Wasser tanzender Affront wirkt. Jedenfalls scheinen die Bootsführer das so zu sehen: Dominant wie Hunde, die ihr Revier markieren wollen, preschen sie mit nur Regatten schon gewonnen und sich darauf spezialisiert, Sieges- wenigen Zentimetern Abstand an Nenas batea vorbei – unter standarten für Regattaruderer zu entwerfen. Im Erdgeschoss Missachtung der venezianischen Verkehrsregel, dass Ruderboote von Nenas Elternhaus ziehen sich die Siegestrophäen ihres stets Vorfahrt haben, egal ob sie von rechts oder links kommen. Vaters über eine ganze Wand: rot für den ersten Platz, weiss für den zweiten, grün für den dritten und blau für den vierten. Die Nena Almansi ist eine der bekanntesten Rennruderinnen Standarten ihrer Mutter hängen unter Glas. Venedigs. Und das nicht nur, weil sie etliche Regatten gewonnen hat. Sondern weil Rudern für sie weniger ein Sport als vielmehr Als Nena ein Jahr alt war, schlief sie im Vorschiff des Ruder- eine Lebensart ist – im Einklang mit einer Stadt, die wie ein boots ihrer Mutter, mit drei Jahren hielt sie erstmals ein Ruder Gegenentwurf zu der uns bekannten Wirklichkeit wirkt: keine in der Hand, mit sechs nahm sie erstmals an einer Regatta teil Strassen, sondern Kanäle. Keine Autos, sondern Boote. Kein – und fuhr prompt gegen eine Mauer. Allerdings hielt sie das Waschbeton, sondern istrischer Marmor. Eine Stadt, die sich der nicht davon ab, schon früh durch die Lagune zu rudern – rüber Vereinheitlichung der Welt entzieht, eine Stadt wie eine Provo- zur Isola di Campalto, einer kleinen Insel gegenüber vom Uferkai kation, die uns und unsere Sinne herausfordert. der Fondamente Nove, um dort Fussball zu spielen. Als Schulen zu Hotels wurden Nena Almansi zählt zu den in der Stadt verbliebenen Vene- Nena Almansi kam praktisch mit dem Ruder in der Hand zur zianerinnen und Venezianern, die sich nicht geschlagen geben. Welt: Ihre Eltern sind venezianische Rennruderer, ihr Vater hat Sie haben sich nicht dem Exodus ergeben, der dazu geführt sich das Jurastudium als Gondoliere verdient, ihre Mutter, die hat, dass jedes Jahr tausend Bewohnerinnen und Bewohner die Künstlerin Anna Campagnari, hat so gut wie alle venezianischen Stadt verlassen, weil sie das Mehr, Mehr, Mehr der touristischen 22 | CREDO
Stadt, Wand, Fuss: Rudern ist für Elena Almansi weniger ein Sport als vielmehr eine Lebensart – in Einklang mit einer Stadt, die wie ein Gegenentwurf zu der uns bekannten Wirklichkeit wirkt. Monokultur nicht mehr ertragen, die von den venezianischen Menschen geschaffenes und nun von ihm in Gefahr gebrachtes Bürgermeistern seit 30 Jahren wie eine Staatsreligion gepredigt Ökosystem. Wie viele engagierte Venezianerinnen und Venezi- wird. Der touristische Fundamentalismus hat Venedig seiner aner fordert Nena dazu auf, die Lagune wie einen Organismus lebenswichtigen Funktionen beraubt: Krankenhäuser wurden zu betrachten, der gepflegt, geheilt und genährt werden muss. geschlossen, Inseln verkauft und Schulen in Hotels verwandelt. Und nicht als Raum, den es zu unterwerfen, zu benutzen und Von Nenas 29 Klassenkameraden leben noch drei in Venedig, zu verändern gilt – sodass mit Venedig noch mehr Profit erzielt die anderen haben die Stadt verlassen. werden kann. Bis zum Corona-Lockdown 2020 wurde Venedig von jährlich bis zu 33 Millionen Menschen besucht. Kampf gegen Massentourismus Nena hat nicht resigniert. Sie hat sich dem Credo des Massen- Immer wieder wird Nena in ihren Ruderkursen erstaunt tourismus entgegengestellt – und das nicht erst heute, sondern gefragt, warum in Venedig Bürgermeister gewählt würden, die bereits vor 15 Jahren, als sie noch als Schülerin zusammen mit nicht die Interessen Venedigs vertreten. Dann erklärt sie, dass die ihrer australischen Freundin Jane Caporal «Row Venice» grün- Stadt über keine eigene Verwaltung verfügt, sondern während dete, eine Non-Profit-Organisation, die allen Interessierten das des Faschismus mit dem Festland zwangsverheiratet wurde – Rudern auf venezianische Art beibringt: im Stehen. in einer Zeit, als in Venedig noch 200 000 Menschen lebten, auf dem Festland nur 40 000. Heute hat sich das Verhältnis nahezu Im Kurs bei Nena lernen die Teilnehmenden nicht nur eine umgekehrt: In Venedig leben noch etwas mehr als 49 000, ein- Bewegung (das Ruderblatt senkrecht eintauchen, rudern und schliesslich aller anderen Inselbewohnerinnen und -bewohner waagerecht zurückholen), sondern auch, dass die Lagune keine leben knapp 77 000 Menschen auf dem Wasser, 178 000 hingegen Wasserstrasse, sondern ein schützenswertes Biotop ist – ein vom auf dem Festland. CREDO | 23
Die batea a coa di gambaro gehört zu Venedig wie kein anderes Boot. Schon Carpaccio und Canaletto hielten es als Teil des venezianischen Panoramas fest. 24 | CREDO
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