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ANTHROPOS
                                                                                                               111.2016: 149 – 167

                                  Kultur als Gedächtnisphänomen
                                            Das mnemonische Paradigma
                                                              Gerhard Böck

Abstract. – After linguistic, interpretive, iconic, and other turns         Warum das Gedächtnis in den Fokus muss
now others seem to come on the stage, like communicative and
material turns. Do we need further turns or does it make more
sense to base all these aspects on a more crucial term: the mne-
                                                                            Im Zuge der Digitalisierung und Computerisie-
monic paradigm? The neurobiological revelations of the last de-             rung der Welt scheinen den Menschen, insbeson-
cade seems to have triggered a transdisciplinary debate. Ethnol-            dere den in der Wissenschaft tätigen, die Defizite
ogists are expected to take part. Their special methodologies,              in der Erforschung der biologischen und kulturel-
like fieldwork, but also their seemingly long neglected ethno-              len Grundlagen menschlicher Geistestätigkeiten
logical objects in the museums seem to be apt tools to control
and correct narrow-minded and Eurocentric perceptions of some
                                                                            klar geworden zu sein. Vielleicht war es die Furcht,
­other cognitive sciences, whose laboratory experiments would               den Wettlauf mit den denkenden Maschinen zu ver-
 otherwise lead to wrong generalizations and, therefore, eventu-            lieren, die dazu geführt hat, sich seit den Neunzi-
 ally produce completely wrong results. Especially focusing on              gerjahren des vorigen Jahrhunderts intensiv mit
 mnemonic objects of nonliteral societies could now in combina-
 tion with the new neurobiological and psychological detections
                                                                            dem menschlichen Denkorgan zu beschäftigen.
 deliver interesting perceptions for a new understanding of human           Nach einer Dekade des Gedächtnisses hat die Aus­
 mind and local culture and, thus, help to establish a more global          rufung zuerst eines Jahrzehntes des Gehirns (2000 –
 debate on human history and culture, based on one outstanding              10 Jahre nach den USA) und nun das des Geistes
 human ability: the human memory, which is trained, triggered,              (2010 – 3 Jahre nach den USA) deutliche Signalwir-
 and stimulated every second, not only by words and gestures but
 mostly unwittingly by every artificial and some natural objects.           kung. Dies zweifach: Einmal als Appell zu verstärk-
 [Memory, mnemonics, cognition, cognitive science, culture, mne-            ter Forscherleistung, ein andermal als Eingeständnis
 monic turn, mnemonic paradigm]                                             eines Mangels.
                                                                                Angefeuert durch die Appelle der Kolleginnen
Gerhard Böck, Dr. phil. (Marburg 1989), Studium der Ethnolo-                Bender und Roettger-Roessler (2010) hat der Ver-
gie und Ethnosoziologie, wissenschaftliches Volontariat am da-
maligen Staatlichen Museum für Völkerkunde München (heute:
                                                                            fasser, neben der schon länger virulenten Beschäf-
Museum Fünf Kontinente), bis 1996 an weiteren regionalen Mu-                tigung mit der kognitiven Anthropologie und hier
seen tätig. 1995–96 Lehrbeauftragter der Fachhochschule Neu-                insbesondere mit den zentralen Aspekten des Ge-
Ulm; 1997 Wechsel in den EDV-Dienstleistungsbereich. Seit                   dächtnisses, sich an (s)ein Projekt zur Erforschung
2011 Stellvertreter von Prof. Dr. Hans Peter Hahn als Sprecher              “mnemotechischer Objekte bei schriftlosen Gesell-
der AG Materielle Kultur in der DGV. – Feldforschungen von
August bis September 1992 auf Sumatera (Indonesien) und ab                  schaften” gewagt. Der vorliegende Aufsatz (sowie
2009 bei den schwäbischen Jenischen. – Regionale Forschungs-                künftige) verstehen sich als vorbereitende bzw. be-
schwerpunkte sind Südostasien, Europa und Ostafrika, aktuelle               gleitende Studien zu diesem Vorhaben.
Forschungsthemen sind Mnemotechnik und materielle Kultur.                       Zum Zwecke der Vorbereitung auf dieses Pro-
                                                                            jekt hat sich der Verfasser intensiv in ein ethnologi-
                                                                            sches Epistem hineingearbeitet, für das es bislang
                                                                            noch keinen Namen gab. Ähnliche Vorläufererschei-

                                                  https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149
                                           Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59.
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nungen hatte man bisher mit Worten wie “linguis-                      Voraussetzungen des Lernens, Merkens
tic oder iconic turn” zu fassen versucht. Das Ge-                     und Wiedergebens
dächtnis als ethnologisches Paradigma ist jedoch
von noch wesentlich grundlegender Art.                                Um verstehen zu können, müssen wir be-grei-
    Im Zuge erwähnter turns, und der daraus erwach-                   fen und uns erinnern. Bis heute ist das menschli-
senen Beschäftigung mit der Wahrnehmungs- und                         che Gedächtnis eines der großen ungelösten Rätsel
Erkenntnisforschung, war es ein kleiner Schritt zum                   des menschlichen Geistes. Wie ist das Gehirn fä-
Gedächtnis. Für die kulturelle Anthropologie ist die                  hig, den konstanten Zustrom der Sinneseindrücke
Erforschung des Gedächtnisses, vor allem seiner                       aufzunehmen, abzuspeichern und zu verarbeiten?
vielfältigen fassbaren Ableitungen und Phänome-                       In unserer Rat- und Hilflosigkeit neigen wir dazu,
ne, seien es Merk-, Gedächtnishilfen und -techni-                     uns selbst mit Metaphern aus der Computerspra-
ken, seien es performative Kommunikations-, Tra-                      che zu beschreiben. Dabei ist der Computer dem
dierungs- oder Initiierungsrituale, alte Übung und                    menschlichen Gehirn nachgebildet. Entstehen hier-
zugleich Herausforderung unter neuem Vorzeichen.                      aus nun begriffliche Zirkelschlüsse oder sind es re-
Vielleicht wird man dabei feststellen müssen, dass                    kursive Schleifen (auch diese Terminologie wird
die hierfür notwendige Interdisziplinarität bislang                   aus dem Umfeld des Computerprogrammierens ver-
nicht nur gescheut, sondern misstrauisch betrach-                     mutlich leichter verstanden), die sich gewisserma-
tet wurde. Die Appelle der Kolleginnen Bender und                     ßen in einer sphärischen Spirale einer nie vollstän-
Roettger-Roessler in der Zeitschrift für Ethnolo-                     dig erreichbaren Wahrheit nähern? Wenn uns klar
gie (2010) sollten geeignet sein, die Türen für eine                  wird, dass wir auf einem “Riff aus toten Metaphern”
neue Zusammenarbeit der Ethnologie mit den Kog-                       (Deutscher 2005: ​137) stehen, scheint die Eindeu-
nitionswissenschaften aufzustoßen. Unabhängig                         tigkeit der Begriffe davon zu treiben. Apokalypti-
davon dürfen auch für den einzelnen forschenden                       sche Vorstellungen einer Götterdämmerung des De-
Geist, besonders für den eines herkömmlich univer-                    finitionszeitalters, das zugleich Tod und Neugeburt
sell aufgestellten Ethnologen, tangierende Nachbar-                   der Philosophie der Wissenschaft bedeuten könnte,
disziplinen keine “Terrae incognitae” bleiben.                        durchzucken einen.
    Wenn Mittelstraß, den man im Vorfeld der Etab-                        Die Informationen in unserem Gehirn sind so ge-
lierung von Eliteuniversitäten und Exzellenzinitia-                   speichert, dass sie teilweise auch noch nach Jahr-
tiven in Deutschland immerhin mit der Evaluierung                     zehnten wieder abgerufen werden können. Andere
wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit der bundes-                     Informationen werden schon nach Minuten wieder
deutschen Universitäten betraut hatte, unter Inter-                   gelöscht. Warum ist das so? Darüber kann vermut-
disziplinarität die Re-Etablierung “größerer diszipli-                lich die biologische Gehirnforschung einiges sa-
närer Orientierungen oder zunehmendes kognitives                      gen. Tatsächlich bestätigen Hirnforscher in jüngs-
Interesse innerhalb oder über gegebene Fächer und                     ter Zeit, dass die beiden Arten von Erinnerung von
Fakultäten hinaus” (2002) verstehen möchte, so                        verschiedenen Teilen des Gehirns bearbeitet wer-
möge man ihm bitte widersprechen, oder die Blo-                       den, es sich also nicht wie früher geglaubt, um ver-
ckadehaltungen an den ethnologischen Instituten im                    schiedene Versionen desselben Gedächtnisses han-
Interesse des wissenschaftlichen Fortschrittes und                    delt (Davis 1999: ​128). Das Gedächtnis definiert
der Selbsterhaltung des Faches bitte aufgeben.                        sich daher primär nicht durch seine Lokalisierung,
                                                                      sondern durch den Prozess des Abspeicherns und
… interdisciplinarity properly understood does not com-               Abrufens von Informationen (Sinneseindrücken, Er-
mute between fields and disciplines, and it does not hov-             kenntnissen, Erfahrungen) durch das Gehirn. Ohne
er above them like an absolute spirit. Instead, it removes
                                                                      diesen Prozess resp. diese Prozesse, die wir traditio-
disciplinary impasses where these block the development
of problems and the corresponding responses of research.              nell weiter Gedächtnis nennen, wäre auch jegliches
Interdisciplinarity is in fact transdisciplinarity (Mittel-           Lernen und damit Überleben unmöglich. Vom Ein-
straß 2002) (zitiert nach Callies et al. 2011: ​2).                   zeller bis zum Menschen muss das Nervensystem
                                                                      motorische und sensorische Erinnerungen, eben-
   In Bescheidenheit und Gründlichkeit sollen hier                    so wie (bewährte) Reaktionen auf Gefahren spei-
zuerst Detailprobleme beleuchtet werden, wofür ge-                    chern und abrufen. Routinefunktionen wie Gehen
wissermaßen oszillierendes Vor- und Zurücksprin-                      und Essen werden erst durch Formen der Erinne-
gen in übergreifende, universale Vor- und Zwi-                        rung möglich. Man unterscheidet hilfsweise und ab-
schenstudien nicht immer vermieden werden kann.                       strakt zwei Formen: das motorische (implizite) und
                                                                      das eigentliche (explizite) Gedächtnis (Davis 1999: ​
                                                                      128 f.). Mit den Fähigkeiten des motorischen Ge-
                                                                      dächtnisses ist es uns möglich, Routinefunktionen

                                                                                                              Anthropos  111.2016
                                                 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149
                                          Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59.
                                   Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kultur als Gedächtnisphänomen                                                                                           151

(wie Radfahren, Gehen, Schwimmen) auszufüh-                                 Ohne Gedächtnis ist Lernen, der Erwerb von Fä-
ren, ohne ständig darüber nachdenken zu müssen.                         higkeiten, Informationen und Kenntnissen, nicht
Mit dem eigentlichen (expliziten) Gedächtnis erin-                      möglich. Dazu ist das Zusammenspiel von Gehirn,
nern wir uns willentlich z. B. an einen Namen oder                      Nervensystem und Umwelt notwendig. Wir lernen,
an eine Telefonnummer, an das, was wir zur Erst-                        indem wir unsere Sinneseindrücke verarbeiten, ka-
kommunion geschenkt bekommen oder bei der Ein-                          tegorisieren, abspeichern und wiederverwenden.
schulung erlebt haben. Man klassifiziert das expli-                     Das Gedächtnis ist die notwendige Voraussetzung
zite Gedächtnis nochmals nach Langzeitgedächtnis                        des Lernens. Ist sie auch hinreichend? Wir erwähn-
(Erstkommunion) und Kurzzeitgedächtnis, mit dem                         ten bereits die Notwendigkeit des (ritualisierten)
wir Information so lange behalten bis z. B. ein Tele-                   Wiederholens. Ein weiteres wichtiges Merkmal des
fonat ausgeführt worden ist.                                            Lernens ist die Fähigkeit, Ideen und Vorstellungen
    Das Interessante ist nun die Tatsache, dass das                     zu bilden und Dinge benennen zu können (Davis
Kurzzeitgedächtnis wie eine Brücke der Wahrneh-                         1999: ​134 f.). Wie nebenbei bemerkt Davis diese
mungsmodule des Gehirns zum Langzeitgedächt-                            wesentliche Fähigkeit, Dinge benennen zu können.
nis funktioniert (Davis 1999: ​129). Alles was man                      Es ist jedoch ein wichtiger Punkt, da uns “nur ein
sich merken soll, kommt zuerst in das Kurzzeitge-                       Akt der Benennung über die Dinge verfügen lässt”
dächtnis, wo es auch landet, wenn einem länger Zu-                      (Schrott und Jacobs 2011: ​223). Wir werden darauf
rückliegendes wieder “in den Sinn kommt”. Erin-                         zurückkommen. Hier nur so viel: Auch eine falsche
nerungen werden offenbar massiv von Gefühlen                            oder willkürliche Benennung würde diesen Lern-
beeinflusst. Außerdem erinnert man sich auch bes-                       effekt erzeugen. Nehmen wir dazu ein alltägliches
ser an Informationen, die man über einen längeren                       Beispiel aus dem Umgang mit Personalcomputern.
Zeitraum wahrgenommen hat. Erinnerungen, die                            Wenn wir ein Dokument abspeichern wollen, müs-
nie verstärkt oder durch starke emotionale Assozia-                     sen wir es benennen. Welchen Namen es bekommt
tionen abgerufen wurden, verschwinden eher. Na-                         ist primär, für den Prozess des Abspeicherns, be-
türlich weiß niemand wirklich wie lange Informa-                        deutungslos. Das wird erst dann relevant, wenn wir
tionen im Gehirn abgespeichert werden können. Es                        die Datei wiederfinden wollen, was uns ohne “spre-
wird vermutet, dass es auf zweierlei Art geschieht.                     chenden” Namen kaum gelingen wird. Wenn wir
Als eine Wechselbeziehung zwischen aktiven Ner-                         die Datei “mMrStuv53n7xsytr.doc” nennen, werden
venzellen, wie das gleichzeitige Impulsgeben vieler                     wir sie wohl kaum wiederfinden, sofern wir nicht
Neuronen oder “eine Art oszillierender Neuronen-                        zusätzliche Informationen wie den Speicherort ken-
schaltkreis” (Davis 1999: ​131). Der Mechanismus,                       nen, über ein absolutes Gedächtnis verfügen oder
der die Abspeicherung von Informationen in den                          die kryptische Information willentlich auswendig
Synapsen durch Veränderungen der Stärke der syn-                        gelernt haben. Heißt die Datei jedoch z. B. “heiss.
aptischen Reaktionen beinhaltet, wurde ausführlich                      doc”, so können wir uns das nicht nur merken, son-
untersucht (Davis 1999: ​132). In der Praxis bedeu-                     dern wissen gleichzeitig, dass es sich z. B. um den
tet das, dass effektives Lernen an Gefühl und vor-                      Text handelt, der von dem Kind erzählt, das die hei-
handenem Wissen (Erinnerungen) anknüpfen muss,                          ße Herdplatte berührt und sich verbrannt hatte. Ler-
effektives Lehren also darin besteht, möglichst viel                    nen durch Assoziation, wie das Kind, das nicht nur
Aufmerksamkeit zu erzeugen und mit dem Lehr-                            seine Hand reflexhaft zurückzog und den schmerz-
stoff an die persönlichen Gefühle und Erfahrungen                       haften Reiz mit der Wahrnehmung der Herdplatte
der Schüler anzukoppeln.                                                und vielleicht auch sofort mit der (zu spät) zuge-
    Gespeicherte Information lässt sich auf zwei Ar-                    rufenen Warnung “Vorsicht! Heiß!” verband, wird
ten abrufen: Wir erinnern uns bzw. rufen Gelerntes                      Konditionierung genannt. Konditionierung ist eine
ab. Oder wir erkennen etwas wieder, dem wir schon                       Form des Lernens durch Assoziation, die auf dem
einmal begegnet sind (Davis 1999: ​132). Erinnern                       bedingten Reflex beruht. Das klassische Beispiel ist
wir uns nur an das Gesicht eines Menschen, aber                         der Pawlowsche Hund, der 1889 gelernt hatte, beim
nicht an seinen Namen, sehen wir daran, dass nur                        bloßen Ertönen einer Glocke Speichel zu produzie-
die eine Art des Abrufens funktioniert. Manche Er-                      ren, nachdem der Glockenton zuvor eine Zeitlang
innerungen werden also behalten, ohne dass wir uns                      die Futtergabe begleitet hatte (Davis 1999: ​135).
dessen bewusst sind. Vergessen findet andererseits                      Beim Beispiel negativen Verstärkens des beding-
wohl dann statt, wenn Erinnerungen nicht gepflegt,                      ten Reflexes, dem vom Kind und der Herdplatte,
d. h. durch wiederkehrende Rituale oder Übungen                         hätte man dem Kind auch zurufen können: “Vor-
aktiviert werden. Vergessen ist also ein normaler                       sicht kalt!” und es hätte sich den falschen Begriff
Vorgang, demgegenüber die Amnesie aufgrund von                          zuerst einmal genauso nachhaltig eingeprägt. Mit
Kopfverletzungen etwas völlig anderes ist.                              dem Aufrufen oder Erinnern an den Begriff “kalt”

Anthropos  111.2016
                                              https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149
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hätte es dann das ganze Schreckensszenario mit der                Wirksamkeiten durch Emotionalität
heißen Herdplatte wieder nachempfunden.                           und Aufmerksamkeit
   Davon wie das Gehirn lernt, wie es die Inhalte
abspeichert und als Erinnerungen wieder abruft, war               Was bedeutet das nun für unser Erinnerungsver-
bis vor kurzem nur wenig bekannt. In den letzten                  mögen, für unser Lern- und Lehrverhalten? Welche
Jahrzehnten erst wurde die Annahme widerlegt, für                 Schlüsse können wir daraus für die Interpretation
das Gedächtnis sei eine einzelne Region im Gehirn                 ethnologischen Materials ziehen? Welche Informa-
zuständig. Wir wissen heute, dass es viele Regio-                 tion aus dem ethnologischen Fundus können wir
nen des Gehirns sind, die beim Lernen und Erinnern                zum Diskurs beisteuern?
ebenso modular zusammenwirken wie beim Wahr-                         Der Gehirnforscher Manfred Spitzer betont im
nehmen von Sinneseindrücken. Dies geschieht über                  Interview mit Nicole Ruchlak vom Alpha-Forum
ein dichtes Netzwerk von Nervenzellen, deren Ver-                 des Bayerischen Rundfunks (gesendet am 21. 04. ​
schaltung und Zusammenspiel auch heute noch nur                   2010, um 20.15 Uhr) im Prinzip die Wichtigkeit von
zum Teil verstanden wird. Ein Organ, das in diesem                Emotionen beim Erzeugen von Aufmerksamkeit, als
Zusammenspiel eine wichtige Rolle spielt, ist der                 “Conditio sine qua non” des Lernens durch indivi-
Hippocampus, ein Teil des tief im Gehirn liegenden                duelle mnemonische Verknüpfung. Im Zitat bezieht
limbischen Systems des Großhirns.                                 sich Spitzer auf das Beispiel eines Schülerbesuches
   Erinnerungen werden also in unterschiedlichen                  in einem Mittelalter-Museum.
Hirnregionen abgespeichert. Das Gehirn ist aber in
der Lage, Erinnerungen an Ereignisse, die uns per-                Wenn man also als Mensch nicht zuerst einmal ein sol-
sönlich widerfahren, zu koordinieren und zusam-                   ches mit Emotionen verbundenes Ereignis im Kopf hat,
                                                                  dann bleibt das, was man dann lernt, sozusagen im luft-
menzusetzen. Im Jahr 1994 konnten erstmals Belege
                                                                  leeren Raum hängen und “verpufft” wieder, d. h. wird in
dafür geliefert werden, dass beide Hirnhemisphären                zwei Tagen bereits wieder vergessen. Wir brauchen also
beim Speichern und Abrufen solcher Erinnerungen                   einerseits die Emotionen und die damit gelernten Ein-
eine Rolle spielen und zwar dass “eine Hemisphä-                  zelereignisse. Und dann können wir andererseits auch
re aktiv ist, wenn die Erinnerungen abgespeichert                 systematisch verknüpfte Dinge lernen (12).
werden, die andere aber, wenn man sie abruft” (Da-
vis 1999: ​138). Endel Tulving (2000), vertrat schon                 Da wir das systematisch vermittelte Wissen
länger die Theorie, das Gedächtnis bestehe aus zwei               ebenso bräuchten, schlägt Spitzer den Schulen eine
getrennten Funktionen, die von verschiedenen Tei-                 enge Kooperation mit Theatern und Museen vor.
len des Gehirns gesteuert würden. Dies sei zum ei-
nen der Vorgang, mit dem das Gehirn Erinnerun-                    Wenn man mit den Schülern nur ins Museum geht –
gen anlege und abspeichere. Der andere Teil sei der               “wow!, war das spannend!” – und hinterher nichts da-
                                                                  mit anstellt im Unterricht, dann verpufft dieser emotiona-
Prozess des Abrufens der Erinnerungen. Die Tat­
                                                                  le “Baustein” wieder. Man hat dann zwar ein paar Pflöcke
sache, dass man sich bisweilen nicht an ein Wort                  eingerammt – wir wissen inzwischen auch wo, nämlich
erinnern könne, bedeute nicht zwangsläufig, dass es               im Hippocampus –, aber wenn man an diesen Pflöcken
nicht vorhanden sei. Tulving entdeckte auch, dass                 nichts festmacht, dann versumpfen die irgendwann und
Wörter, die der Bedeutung nach analysiert wurden,                 das war’s (12).
besser erinnert wurden als solche, die sich an for-
malen Kriterien wie dem Anfangsbuchstaben ori-                    Was aber sind “emotionale Bausteine”? Was sind
entierten. Er konnte zeigen, dass bei semantischen                Emotionen? Worauf lassen sie sich zurückführen?
Gedächtnisaufgaben die Aktivität im linken inneren,               In der Schlussfolgerung seiner brillanten philoso-
präfrontalen Cortex wesentlich stärker zunahm als                 phiehistorischen Studie stellt Dominik Perler fest,
bei der blanken Wahrnehmungsaufgabe. Von die-                     wie sehr der Rahmen unserer Intentionen und Ent-
sem Teil der äußeren Schicht des Gehirns, hinter                  scheidungen “von fundamentalen metaphysischen
der Stirn und genau vor der linken Schläfe verbor-                und methodologischen Annahmen abhängt und wie
gen, glaubt Tulving, dass er aktiv an der Speiche-                veränderbar diese Rahmen sind”. Dadurch werde
rung neuen Wortmaterials beteiligt sei – vor allem                man auch “auf die historische Bedingtheit heutiger
wenn das neue Material im Licht vorherigen Wis-                   Erklärungsrahmen aufmerksam”. Deswegen wolle
sens interpretiert werde (Davis 1999: ​140).                      er sich auch nicht auf die Existenz von Basis­emotio­
                                                                  nen festlegen lassen, zumal es “auch in den heuti-
                                                                  gen psychologischen und kognitionstheoretischen
                                                                  Debatten kein[en] Konsens darüber [gebe], ob es
                                                                  Basisemotionen gibt und worin sie bestehen”. Er
                                                                  müsse es für philosophiehistorische Untersuchun-

                                                                                                          Anthropos  111.2016
                                             https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149
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Kultur als Gedächtnisphänomen                                                                                            153

gen auch nicht tun, da die Aufgabe und der besonde-                     geht, sie dafür auch die Grenzen der “Mnemonic”,
re Reiz derartiger Untersuchungen darin lägen, “den                     wie oben schon angedeutet, enger ziehen, so scheint
jeweiligen theoretischen Rahmen zu re­kon­struie­ren,                   es mir innerhalb der ethnologischen und kulturhis-
in dem eine Benennung [445] von Basis­emo­tio­nen                       torischen Forschung sinnvoller, den Rahmen wei-
erst möglich oder unmöglich [­werde]” (Perler 2011: ​                   ter zu stecken und alles was man unter Merk- und
444 f.).                                                                Gedächtnishilfen, Notations- und Schreibsyste-
   Also wo greifen Empfindungen, wo greifen                             men versteht, inklusive moderner Technik wie digi­
Emo­tio­nen an? Wo fängt es an? Ab wann sind sie                        tale Organizer und andere Computersysteme, un-
da? Wann (und wie) koppeln sie an was? Welche Er-                       ter Mne­mo­tech­nik zu fassen. Andererseits führt,
folgsmeldungen werden für welches Wissen wohin                          wie man sehen wird, die Betrachtung von exter-
zurückgemeldet? Und wie weiter? Auf der Suche                           ner Mne­mo­tech­nik ebenso wie das neuere Studi-
nach Variablen, die geeignet erscheinen, die Auf-                       um von Objekten materieller Kultur (Hahn 2005)
nahme von Informationen, also den Kodierungspro-                        zu grund­legen­den Einsichten in die Funktionsweise
zess wirkungsvoll zu unterstützen, geraten wir lei-                     der Black­box unseres Gedächtnisses, Bewusstseins
der an diese Kampfzone grundsätzlichster Art.                           und Selbst.
   Perler nennt entschuldigend Autoren (vor allem                           Für den anrollenden breiteren Forschungsansatz
Ekman and Davidson 1995), die mit Verweis auf                           bevorzuge ich den vom angelsächsischen mnemon-
einen kulturinvarianten Gesichtsausdruck versuch-                       ic abgeleiteten, eingedeutschten Begriff “mnemo-
ten, eine Reihe von Basisemotionen zu bestimmen,                        nisch” für alles das Gedächtnis Betreffende. Wie
während andere darauf insistierten, dass die Klassi-                    wir sehen werden, reichen kleindimensionierte Be-
fikation von Emotionen immer Ausdruck eines kul-                        griffe wie Merkhilfen oder Eselsbrücken auf Dau-
turell geprägten Interpretationssystems sei. Ändere                     er nicht aus, den universalen Ansatz von Kultur als
sich dieses System, ändere sich auch die Liste der                      Gedächtnisphänomen (Wassmann 2003: ​164) zu
Basisemotionen. Die ebenso zugespitzte wie apo-                         bezeichnen, geschweige denn zu erklären.
diktisch vorgetragene Aussage Averills (1982: ​14)                          Das Studium der Merkhilfen ist jedoch für das
“Basic emotions have no more place in psychology                        Verständnis des menschlichen Gedächtnisses nicht
than basic animals in zoology or basic diseases in                      nur hilfreich, sondern unverzichtbar. Es kann als
medicine” (zit. in Perler 2011: ​444 f., 499 f.) scheint                mehrdimensionaler Auslöser für eine Wissenschaft
ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben.                                   vom Gedächtnis benützt und betrachtet werden.
   Wir können aber, ohne dieses Minenfeld betre-                        Was an Gedächtnisprozessen im Kopf des Indivi-
ten zu müssen, festhalten, dass es Emotionen gibt,                      duums abläuft, scheint eine (Dreiecks-)Beziehung
die den Grad der Aufmerksamkeit bei der Enkodie-                        zu (Erinnerungs-)Gegenständen und den Köpfen
rung von Information wirkungsvoll erhöhen kön-                          der anderen zu führen. Auch Halbwachs’ kollektives
nen. Emotionen, Gefühle bleiben Voraussetzung                           Gedächtnis (1985b) passt hierzu, nenne man es nun
der Intentionalität unseres Denkens und Handelns.                       Kultur oder gemeinsames Epistem. Darüber hinaus
Wie Damasio (1998) gezeigt hat, gibt es für diese                       kann es uns den Schlüssel zu tieferem Verständnis
Annahme inzwischen schlagende Beweise. Der in-                          materieller Kultur, der Objektumwelt und dem Be-
terdisziplinäre “Cluster of Excellence” der Freien                      wusstsein liefern. Die von Hahn (2005) und Feest
Universität Berlin, der Zusammenhänge zwischen                          (2003) schon avisierte Vorstellung umfassenden
Emotionen und Zeichenpraktiken erforscht und an                         Objektinventars des Alltags als selbstverständliche,
dem die Ethnologie beteiligt ist, kündet vom Auf-                       z. T. unbewusst wahrgenommene Erinnerungsaus-
bruch.                                                                  löser zur alltäglichen Orientierung und Selbstfin-
                                                                        dung, kann zusammen mit den Konzepten eines
                                                                        geografischen memoryscape der (Ethno-)Archäo-
Zum Gedächtnis im Allgemeinen                                           logen (z. B. Clack 2007) zu einem allumfassenden
                                                                        memoryscape, einem universalen Gedächtnisraum,
Von den aktuellen Publikationen rund um das Ge-                         von der Küche bis zum Kosmos, erweitert werden.
dächtnis geben Worthen und Hunt auf den ersten 30                       Jeder Akt der Kommunikation und Performation,
Seiten in ihrer “Mnemonology. Mnemonics for the                         von der Gebärde über den Tanz, tangiert demnach
21st Century” einen gut lesbaren ersten Überblick                       einzelne oder zahlreichere menschliche individuelle
über die evolutionären Stadien unserer menschli-                        Wissensspeicher und baut damit an einer Epistemo-
chen Gedächtnisentwicklung. Während es Wor­then                         logie, die wächst, sich ständig verändert, sich zahl-
and Hunt (2011: ​29 f.) als Psychologen bei der Be-                     reicher Medien und (externer) Speicher bedient und
trachtung des menschlichen Gedächtnisses in dieser                      sich selbstverständlich auch schon in den ältesten
Studie hauptsächlich um interne Mnemotechniken                          Artefakten als “geronnene Idee” (Schrott 2011) ne-

Anthropos  111.2016
                                              https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149
                                       Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59.
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ben der unmittelbaren Funktion zusätzlich als ex-                  Das Gedächtnis
terner Wissensspeicher, als vielleicht unbewusstes                 als universaler Erklärungsansatz
mnemonisches (nicht mnemotechnisches) Artefakt
wiederfindet.                                                      Es ist auf Anhieb einsichtig, dass Menschen seit je-
                                                                   her sich auf ihr Gedächtnis verlassen mussten und
                                                                   sie es folglich auch zu verbessern suchten. Frühe Jä-
Das Gedächtnis als Kulturphänomen                                  ger und Sammler mussten das jahreszeitliche Auf-
                                                                   treten von Wild und pflanzliche Nahrungsgründe im
Wenn wir mit Worthen and Hunt (2011: ​1) feststel-                 Gedächtnis behalten. Archäologische Funde zeigen
len, dass “Mnemonics” eine besondere Erfindung                     uns, dass mnemonics schon vor 28.000 Jahren be-
sind, um einen natürlichen psychologischen Pro-                    nutzt worden sind (Worthen and Hunt: 3).1 Exter-
zess, der bereits in seiner natürlichen Form perfekt               ne mnemonics kenne man als (Stein-)Pflöcke, die
funktioniert, zu unterstützen – den des Gedächtnis-                man in der Umgebung platziert habe, um dem Ge-
ses –, so müssen wir den Autoren in ihrer Begrün-                  dächtnis auf die Sprünge zu helfen. Moderne Bei-
dung für diese Besonderheit, nämlich “weil kein                    spiele schlössen solche Dinge wie das Notieren auf
anderes Artefakt … zu dem einzigen Zweck herge-                    einem Zettel oder das Einkreisen eines Kalender-
stellt” worden ist, nicht blindlings folgen, weil wir              tages mit ein. Archäologische Funde zeigten, dass
inzwischen mit Hahn (2005), Feest (2003), Wass-                    frühe Menschen des jüngeren Paläolithikums Holz
mann (2003) und Oppitz (2008) zu der Erkenntnis                    und Knochen mit Kerben versehen hätten, um zu-
gekommen sind, dass es sich eben nicht um ein,                     sammenfassende Berichte von zyklisch auftreten-
sondern um alle Artefakte handelt, die auf die eine                den Ereignissen zu haben.2 Natürlich kennen wir die
oder andere Art unser Gedächtnis unterstützen. Alle                mit den Kerben markierten Ereignisse der prähisto-
Artefakte sind externe Mnemonik. Manchmal sind                     rischen Vergangenheit nicht. Es erscheint jedoch auf
es sogar die “Naturfakte” (Feest 2003: ​239 f.).                   Anhieb plausibel, sich diese einfachen Merk­hilfen
    Jedoch kann man zustimmen, dass die bloße                      in einem ähnlichen Zusammenhang vorzustellen
Existenz von willentlich eingesetzter “Mnemonik”                   wie die Zuhilfenahme eines Kalenders oder einer
ein Beweis für die zentrale Bedeutung des Gedächt-                 Tabelle der Sonnenstände und Mondphasen durch
nisses im menschlichen Überlebenskampf ist, wie                    einen modernen Jäger, der Zeit und Standort des
in feinsinnigem Widerspruch dazu die Herstellung                   Wildes bestimmen will. Ob es naheliegt, anzuneh-
von Merkhilfen den Glauben an die Unzulänglich-                    men, dass auch prähistorische Jäger die Zyklen von
keit dieses natürlich entwickelten biopsychologi-                  Tierwanderungen irgendwie festhalten wollten und
schen Prozesses des Gedächtnisses beim Lösen vie-                  die Erinnerungshilfen (z. B. Kerben im Stock) ihnen
ler Aufgaben aufzeigt. Um den vermuteten Mangel                    das wiederholte Auffinden von Nahrungsressourcen
des natürlichen Gedächtnisvorganges zu kompen-                     erleichtert haben, könnte vielleicht ein Vergleich mit
sieren, habe der Mensch das mnemotechnische Arte-                  den Merktechniken rezenter Jäger und Sammler er-
fakt erfunden. Über lange geschichtliche Zeiträume                 hellen. So eine Studie müsste aber erst noch geleis-
hinweg habe der Mensch viele spezifische Geräte                    tet werden. Auf jedem Fall ist es interessant, wenn
und Techniken erdacht und in manchen Fällen sei                    schon nicht zu beweisen, so doch sich vorzustellen,
ihre Effizienz auch mehr oder weniger überzeugend                  dass diese frühen externen Mnemotechniken offen-
als “bona fide” Gedächtnisprothese dokumentiert                    bar demselben Zweck gedient haben könnten wie
worden (Worthen and Hunt 2011: 1).                                 unsere heutigen Merkhilfen, nämlich um die Be-
    Die besondere Rolle für die wissenschaftliche                  lastung unseres Arbeitsgedächtnisses zu reduzie-
Forschung bezieht sich aber eben auf diese schein-                 ren und die Abhängigkeit von unserem Langzeitge-
bare Einzigartigkeit mnemotechnischer Objekte.                     dächtnis sowie der Abruffunktion zu minimieren.3
Sie sind in besonderem Maße geeignet, das so uni-                      Um dem Geheimnis des Zusammenhangs zwi-
versale Gedächtnisphänomen in halbwegs über-                       schen Gedächtnis und Kultur auf die Spur zu kom-
schaubarem Maßstab unter die Lupe zu nehmen, es                    men und im Bestreben bisherige Mutmaßungen und
in Studien über Einzelobjekte zu zerteilen, nötigen-               Thesen dem Reich der Spekulation zu entreißen,
falls auch in interkulturelle Betrachtungen einzube-               eignen sich in besonderem Maße Detailstudien an
ziehen.
                                                                     1 Die Autoren beziehen sich hier auf Francesco d’Errico
                                                                       (2001).
                                                                     2 Worthen and Hunt (2011: ​3) belegen das mit einem Hinweis
                                                                       auf Wynn and Coolidge (2003).
                                                                     3 Worthen and Hunt (2011: ​3) unter Bezug auf Wynn and
                                                                       Coolidge (2003).

                                                                                                            Anthropos  111.2016
                                              https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149
                                       Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59.
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Kultur als Gedächtnisphänomen                                                                                                      155

Objekten, die willentlich und bewusst zur Optimie-                        hinzurechnen und uns ausrechnen, dass es weite-
rung dieses Zweckes, das Gedächtnis zu unterstüt-                         re nicht nur in Artefakten (sondern auch in Natur-
zen, eingesetzt worden sind. Deren Datierungen rei-                       fakten) abgelegte mnemonische Hilfen externer und
chen nicht nur bis weit vor die Anfänge der Schrift                       schließlich auch solche interner Natur gegeben ha-
vor etwa 7.000 Jahren (Haarmann 1998: ​70) zurück,                        ben mag, so bekommen wir endlich eine realisti-
oder wenn wir gewisse Analogismen zwischen re-                            schere Vorstellung von der zeitlichen Entwicklung
zenten externen Mnemotechniken (z. B. australi-                           des menschlichen Geistes und der menschlichen
schen Tschuringas)4 mit den erst 2009 und 2010 ge-                        Natur. Eine Vorstellung, die geeignet ist, ­kühnste
fundenen, bemalten Steinen 5 von der Schwäbischen                         archäologische Phantasien aufgrund von Schä­
Alb zulassen wollen, bis in den Zeitraum vor 15.000                       del­funden mindestens zu bestätigen, wahrschein-
Jahren, sondern eventuell sehr viel weiter bis in die                     lich aber sogar zu übersteigen, wie wir es auch an
Anfänge der Menschheitsgeschichte vor mindestens                          den ständigen zeitlichen Korrekturen der Mensch­
1,5 Millionen Jahren (älteste steinerne Werkzeug-                         heits­ursprün­ge aufgrund von neuen Knochenfun-
funde). Betrachten wir z. B. ein frühes Artefakt, wie                     den immer wieder bestätigt sehen. Der Beginn der
den Faustkeil, als geronnene Idee, als manifestierten                     Mensch­heit und des menschlichen Denkens muss
Teil des urjägerischen Epistems, als mit der Blau-                        also vermutlich noch sehr viel weiter als 1,5 Millio-
pause identische Ausführung, als noch vollständige                        nen Jahre (Leaky 1995: ​xiv) in die Vergangenheit
Überlagerung der zugedachten und der funktiona-                           zurückverlegt werden.
len, realen dinglichen Hälfte, die noch nicht aus sich                       Interne Merkhilfen sollen hier nur insoweit er-
herausgetretene natürliche und ursprüngliche Dop-                         wähnt werden, als sie auch zum Verständnis der
pelfigur aus Bedeutung und Ding aller Artefakte, als                      externen notwendig sind. Einmal werden ihre
noch von der, später in Natur und Geist geschie-                          Zeugnisse umso rarer, je weiter man in der Mensch-
denen Dichotomie, verschontes Urobjekt, und das                           heitsgeschichte zurückgeht. Bei den archäologi-
müssen wir, weil es genau das ist, so wird vielleicht                     schen Fundstücken hört es dann ganz auf. Zum an-
allmählich auch klar, dass wir mit diesem Objekt                          deren muss interne Mnemonik in Kombination mit
ein mnemotechnisches, aber eben nicht ausschließ-                         oraler Kultur in einem weit größeren Zusammen-
lich mnemotechnisches, Objekt vor uns haben, das                          hang aufgearbeitet werden. Ein Forschungsfeld, das
bisher in seiner mnemonischen Funktion nur kaum                           noch weitere Räume eröffnen könnte. Die Beschäf-
gewürdigt worden ist.                                                     tigung mit den leichter auf Anhieb feststellbaren
   Natürlich setzte der Mensch nicht nur interne                          Objekten der materiellen Kultur bietet demgegen-
und auch nicht nur komplementär externe Merkhil-                          über eine einigermaßen sichere Forschungsgrund-
fen ein. Wir begreifen allmählich, dass wir von ei-                       lage und könnte gewissermaßen auch als Vorübung
nem Kosmos von metaphorischen Bedeutungen von                             und vorbereitende Grundlage für die spätere Be-
Objekten, Handlungen und Ritualen umgeben sind,                           schäftigung mit den Wirkungen interner Mnemo-
die oftmals in ihrer Zusatz- oder Doppelbedeutung                         nik auf orale Kultur gesehen werden.
unserem Gedächtnis auf die Sprünge helfen: Ergo                              Interne Mnemonik ist also kognitive Strategie
haben alle Artefakte auch zugleich einen mnemo-                           zum Zweck des wirkungsvollen Einbettens von In-
technischen Anteil und bisweilen werden auch Ob-                          formationen im Gedächtnis. Der Theorie nach sol-
jekten der Natur mnemotechnische Aufgaben zuge-                           len sie, sofern sie beim Enkodieren erfolgreich sind,
wiesen. Wahrscheinlich umgeben uns in vertrauter                          auch das Speichern und den Wiederabruf erleich-
Umgebung mehr mnemotechnische Objekte, de-                                tern. So gesehen kann man eine interne Merkhilfe als
ren z. T. unbewusst aufgenommene Reize unsere                             Methode betrachten, entsprechende Informationen
menschlichen Erinnerungsinstanzen häufiger an-                            so aufzubereiten, dass sie sauber und ordentlich im
sprechen als ein beschränkter Wortschatz.                                 Gedächtnis abgelegt und bei Bedarf wieder hervor-
   Wenn wir obige zeitliche Einordnung ernst neh-                         geholt werden können (Worthen and Hunt 2011: ​3).
men, zusätzlich noch einen Faktor x für die bis heu-                         Die Entwicklung der psychosozialen Prozesse,
te noch nicht entdeckten noch älteren Fundstücke                          besonders Sprache und Kommunikation, hat ein Ge-
                                                                          dächtnis für Detailinformationen erfordert, wie es
 4 Tschuringas sind Gegenstände aus Stein oder Holz, meist                von der biologischen Evolution (noch) nicht erreicht
   oval oder abgerundet, in die oft symbolische Zeichen ein-              worden ist.6 Worthen und Hunt weisen zu Recht da-
   graviert sind; ein Tschuringa repräsentiert den Körper eines           rauf hin, dass die Anforderungen, die frühe orale
   Ahnen und wird von Generation zu Generation demjenigen                 Traditionen an das reproduktive Gedächtnis stell-
   übergeben, den man für die Verkörperung dieses Ahnen hält
   (vgl. Bühl 1982: ​246).
 5 Siehe die gleichnamige Sonderausstellung vom 10. 11. 2011–               6 Siehe Worthen and Hunt (2011: ​3) unter Bezug auf Teilhart
   29. 01. 2012 im Museum der Universität Tübingen.                           de Chardin (1959).

Anthropos  111.2016
                                                https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149
                                         Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59.
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ten, schon gut dokumentiert worden seien (2011: ​3).                     Mnemonik, was ist das?
Die als Beispiele genannten Rubin (1995) und Yates
(1966) sollten möglicherweise an dieser Stelle aber                      Möglicherweise muss aber dennoch zuerst ein Ex-
etwas ausführlicher zu Wort kommen. Nach ihnen                           kurs auch in die Sphären interner Merktechniken
habe sich das natürliche Gedächtnis eben nicht für                       erfolgen – und vorher natürlich auch in die Sphären
den Zweck oraler Tradition entwickelt. Um orale                          der neurobiologischen und (evtl. psychologischen)
Genre zu entwickeln und aufrecht zu erhalten, habe                       Grundlagen unseres Gedächtnisses –, um die An-
der natürliche Prozess künstliche Unterstützung                          knüpfungspunkte und Wirkungsweisen der externen
benötigt. Durch das Fehlen einer weitverbreiteten                        Gedächtnishilfen besser zu verstehen. Gleichzeitig
Schriftlichkeit seien externe mnemonics für die neu-                     wird der Versuch von Worthen und Hunt, die Mne-
en Anforderungen an das Gedächtnis nicht verfüg-                         mologie im Kreis der Kognitionswissenschaften zu
bar gewesen. Unsere Studien aber zeigen gerade                           rehabilitieren, nachhaltig unterstützt. Sie kann viel-
und werden zeigen, dass die Behauptung fehlender                         leicht auch – wie von Bender und Roettger-Roessler
vorschriftlicher externer Mnemonik nicht stimmt.                         u. a. in der Zeitschrift für Ethnologie (2010) gefor-
Im Gegenteil, es hat sie nicht nur gegeben, und sie                      dert – ein Beitrag für die Heimkehr der Ethnologie
waren nicht nur äußerst zahlreich, sondern sie sind                      in den Kreis der Kognitionswissenschaften leisten.
über unglaublich lange Zeiträume hinweg auf histo-                       Wenn dies der vorliegenden Arbeit oder den davon
risch eindeutige Weise feststellbar und haben über                       ausgehenden Studien gelingen sollte, so hat sich die
die Zeit mächtig an Effizienz zugenommen, bis sie                        Mühe gelohnt.
es schließlich heute zu beachtlicher technischer                             Auf vielfältige Weise – von Homer, Ovid und
Höhe gebracht haben (z. B. Höchstleistungsrechner                        Herodot bis Cicero – ist von mehreren Autoren auf­
Bayern 2 (HLRB 2) mit 26 TeraFLOPS = 26.000                              gezeigt worden, dass interne Mnemonik in a­ lten
Milliarden Rechenoperationen pro Sekunde).7                              Kulturen (mit Schrifttradition) ein allgegenwärtiges,
    Worthen und Hunt folgern aber eigensinnig wei-                       vorwiegend rhetorisches Phänomen war. Es wird
ter, dass sich daher die Entwicklung kognitiver Stra-                    daher auch nicht mehr verwundern, dass es sogar
tegien zur Unterstützung so eines (unzureichenden)                       bedeutende Theorien der Oralität (Ong 2002) gibt,
Gedächtnisses als wichtige psychologische Adap-                          die den Gebrauch von Mnemotechniken als bestim-
tion an die neuen soziokulturellen Herausforderun-                       mendes Kriterium in ihre Definition oraler Kultur
gen konstituiert habe (2011: ​3). Die Autoren meinen                     einschließen. Eine dominante Technik bei den inter-
damit interne Merktechniken und man kann ihnen                           nen Merkhilfen antiker griechischer und römi­scher
in dieser Hinsicht vielleicht zustimmen – mit der                        Redner war der Gebrauch mentaler Bilder bzw.
Einschränkung, dass diese gerade bei einer Rück-                         mentaler Bildvorstellungen. Sie unterstützte die an
schau in vorgeschichtliche Zeiträume als Beweis-                         strenge orale Traditionen und Regeln gebundene an-
mittel überhaupt nicht zur Verfügung stehen und                          tike Redekunst. Worthen and Hunt (2011: ​3 ff.) brin-
somit die wesentlich größere spekulative Herausfor-                      gen von Marcus Tullius Cicero über das Mittelalter,
derung darstellen. Darüber hinaus lässt sich externe                     die Renaissance und bis zur Neuzeit viele interes-
Merktechnik sogar noch in rezenten Kulturen (Be-                         sante Beispiele, die sich überwiegend auf Publika-
richtszeitraum der letzten 170 Jahre), in jüngster Ge-                   tionen von Assmann, Blum und Yates stützen, die
schichte und bis auf den heutigen Tag feststellen und                    interessante historische Synopsien der “Mnemonik
erlaubt daher wahrscheinlich auch Analogieschlüsse                       von Aristoteles bis Shakespeare” (Yates 1990) wie-
für archäologische Funde aus älteren Zeiten.                             dergeben. Sie sind aber für die vorliegende Studie
    Bemerkenswert ist außerdem, man muss dies                            nicht von vorrangiger Bedeutung. Auch der Exkurs
wiederholt sagen, dass auch Kollegen, die sich                           zur Wissenschaftsgeschichte der Mnemonik, die
(eben­falls) mit materieller Kultur beschäftigt ha-                      Worthen und Hunt künftig lieber als Mnemonology
ben, die mnemonische Zusatzfunktion von Artefak-                         (2011: ​16) sehen würden, ist an dieser Stelle und
ten nicht verborgen geblieben ist (Hahn 2005: ​33 f.,                    dem schon erwähnten Heimruf der Ethnologie in
40) und sogar die Nutzung von “Naturfakten”, also                        die Runde der Kognitionswissenschaften nicht mehr
z. B. von geologischen Formationen, Landschafts-                         von erstrangiger Bedeutung und könnte in nachfol-
teilen, Felsen, Bäumen etc., für solche Bedeutungs-                      genden Diskursen (und vielleicht auch Rückzugs-
zwecke in grundlegende Betrachtungen und sogar                           debatten à la iconic turn) wissenschaftsgeschicht-
in Anleitungen zum Studium der materiellen Kultur                        lich ausführlicher abgehandelt werden. Hier mag
eingeflossen ist (Feest 2003: ​239).                                     der Hinweis auf die relative Vernachlässigung der
                                                                         Mnemonik durch die Gedächtniswissenschaften ge-
 7 Das heißt, er ist 4.000 Mal leistungsfähiger als ein moderner         nügen, die im Zuge der Ebbinghaus’schen (1992)
   PC mit drei Gigahertz Taktfrequenz (6 GFLOPS).                        Hervorhebung der scheinbar einzig überzeugen-

                                                                                                                 Anthropos  111.2016
                                                    https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149
                                             Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59.
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Kultur als Gedächtnisphänomen                                                                                             157

den Mnemo- und Lerntechnik durch Wiederholung                           dung kommt. An Termine erinnernde akustische
aus dem Blickwinkel der Wissenschaft und in der                         und optische Signale, Skizzen, Bilder sowie an
Folge auch für hundert Jahre aus der öffentlichen                       bestimmten Orten als erinnernde Alarmbilder ab-
Wahrnehmung verschwunden waren – sieht man                              gelegte Gegenstände und Weckrufe sind häufiger.
einmal von der Flut der jüngst entstandenen popu-                       Worthen und Hunt sind sogar der Meinung, dass
lären Anleitungen im Laufe der letzten zehn Jahre                       Notizen (mnemonic lists) und die Platzierungsme-
ab. Worthen und Hunt weisen aber ganz zu Recht                          thode (place method ) die bevorzugten Gedächtnis-
darauf hin, dass der Begriff der “Mnemonik” nicht                       hilfen von “Nichtpsychologen seien” (2011: ​32 un-
durch Techniken formaler Mnemonik erschöpft                             ter Bezug auf Park, Smith, and Cavanaugh 1990).
sein kann, sondern im eigentlichen Wortsinne (von                       Solch einseitige Psychologensicht ist deplatziert.
griechisch mnēmoniká, “Gedächtnis”) in größe-                           Wenn die beiden dann aufgrund von “Forschungen”
rem Kontext gesehen und untersucht werden sollte                        weiterhin feststellen, dass externe mnemonics gene-
(2011: ​16). Und genau darum geht es letztendlich                       rell häufiger als interne benutzt werden (sie zitie­ren
auch bei der Hinwendung zu “materieller Kultur”,                        Cavanaugh, Grady, and Perlmutter 1983), so kann
wie Hahn (2005), Feest (2003), Wassmann (2003)                          das inzwischen wohl nur noch sie selbst überra-
und in gewissem Sinne auch Oppitz (2008) be-                            schen. Dass dies zum einen am fehlenden Wissen
merkt oder geahnt haben mögen und beim hier ver-                        über die Fülle verfügbarer interner mnemonischer
fochtenen mnemonischen Forschungsansatz für die                         Techniken, zum anderen an der leichten Handhabe
Ethnologie.                                                             externer Mnemoniken läge, mag man Worthen and
    Die Betrachtung mnemotechnischer Objekte                            Hunt (2011: ​32) gerne glauben. Aber diese leichte-
vorschriftlicher Gesellschaften hilft dabei, den grö-                   re Handhabung, sprich überlegene Effizienz, war ja
ßeren mnemonischen Zusammenhang des mensch-                             offenbar der Grund, warum sie sich seit Bestehen
lichen Gedächtnisses und damit den des Denkens                          der Menschheit so durchgesetzt haben und weiter-
und der Kultur überhaupt, sozusagen den mnemo-                          hin, gerade heute – freilich im erweiterten definito-
nischen Kosmos, zu verstehen. Bei der solcherart                        rischen Sinne –, in rasantem Fortschreiten begrif-
hilfsweisen Betrachtung auf Anhieb erkennbarer,                         fen sind. Worthen und Hunt bestätigen zwar, dass
externer Mnemonik wird von Worthen und Hunt                             die Verwendung externer Mnemonik im Allgemei-
zunächst Wert auf die Unterscheidung zwischen                           nen die kognitive Belastung reduziert und dem Ler-
“echter” externer Mnemonik und der blanken Auf-                         nenden nur einen Bruchteil seiner Erinnerungslast
stellung von Informationen gelegt (2011: ​29 ff.).                      aufbürdet. Und diese Möglichkeiten könnten auch
Demnach sei eine Einkaufsliste, die jeden Posten                        suggerieren, dass externe Mnemonik effektiver als
einzeln aufführt, keine externe Mnemonik; eine Lis-                     interne sei. Nach den beiden Autoren sei das aber
te aber, die eher Stichworte als vollständige Aufzäh-                   nicht zwangsläufig der Fall (2011: ​32).
lungen enthalte, schon.                                                     Wenn dann Worthen und Hunt gar noch schluss-
                                                                        folgern, die Entscheidung für externe oder interne
It is not a mnemonic because it does not aid memory –
                                                                        Mnemonik sei eine Frage persönlicher Präferenz,
it simply replaces the need to remember (Worthen and
Hunt 2011: ​30).                                                        so führt dies auf geradezu grandiose Weise in die
                                                                        Irre. Zwar könnte man ihnen noch zu Hilfe kom-
    Wie im Zuge der Studien festgestellt werden                         men und betonen, diese persönliche Präferenz ist
konnte, ist es eher zweifelhaft, dass diese Unter-                      eben gerade der Jahrmillionen alte, ständig präsen-
scheidung für eine Untersuchung mnemonischer                            te, oben beschriebene intentionale Bedarf zur exter-
Objekte sinnvoll ist. Das Gegenteil scheint sogar                       nen Speicherung, zur entlastenden Auslagerung un-
ergiebiger zu sein. Mindestens beim ersten Zu-                          seres Wissens, also die Triebfeder der Zivilisation.
sammentragen von mnemotechnischen Objekten                              Sie zeigen aber, dass sie den kosmischen Komplex
im weiteren Sinne und aus verschiedenen Kultu-                          zwischen Gedächtnis und materieller Kultur im Ge-
ren könnte dies eine hinderliche, eliminatorische                       gensatz zu den Ethnologen (schon erwähnt wurden
Einengung bedeuten. Die wiederkehrende Neigung                          Hahn, Feest u. a.) nicht erkannt haben, oder dass
der Menschen zu noch präziserer Notation, also der                      solche Vorstellungen eben nicht in ihre Arbeitsbe-
Schriftlichkeit, darf und muss natürlich als bleiben-                   schreibung passen, indem sie Intons-Peterson und
der, latenter mnemotechnischer Bedarf, als nie ganz                     Four­niers (1986) Liste von Lernsituationen, die für
befriedigte ebenfalls zivilisationstreibende Intention                  den Gebrauch externer Mnemonik prädestiniert sei-
noch sehr gründlich untersucht werden.                                  en, zwar anerkennen, aber zugleich betonen, dass
    Der sprichwörtliche Knoten im Taschentuch                           sie diese ihre Liste mit einer anderen als von ihnen
ist ein bekanntes mnemonisches Beispiel, das je-                        bevorzugten Definition erstellt hätten, insbesondere
doch in der alltäglichen Praxis selten zur Anwen-                       da sie auch geschriebene Listen zu externer Mnemo-

Anthropos  111.2016
                                              https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149
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nik zählten. Diese Scheuklappen “der Kognitions-                     weiterführenden, ausgreifenden kulturtheoretischen
wissenschaftler” gegen die ethnologische Sicht wa-                   Rahmen, geschenkt hatten, wie etwa der ehemalige
ren auch schon Wassmann (2003: ​163) aufgefallen.                    Direktor des Kopenhagener Ethnographischen Mu-
    Wir sehen also, dass Interdisziplinarität bitter nö-             seum, Kaj Birket-Smith (1948: ​452). Wenn dieser in
tig und die Ethnologie in der Pflicht ist.                           den Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts fest-
                                                                     gestellt hat, dass alle Schrift nur eine Stütze des Ge-
                                                                     dächtnisses sei, so eröffnete er damit einen weiteren
Die Rolle der Ethnologie                                             Horizont als Worthen und Hunt mit ihrer einschrän-
                                                                     kenden Definition. Allein schon im Spannungsfeld
Die Ethnologie hat ihr Dasein als Geisteswissen-                     dieser beiden Haltungen, zwischen denen knapp
schaft lange Zeit reflexhaft gegen (vermeintliche)                   achtzig Jahre liegen, verspricht eine eingehende
Biologismen aller Art verteidigt. Es müssen die                      Studie die Sichtweise der Ethnologie auf das Thema
Nachwirkungen dieser Reflexe gewesen sein, die                       “Gedächtnis” auf interessante und spannende Weise
zugleich eine Abstinenz von den anderen Fächern                      mitten in den Fokus der Kognitionswissenschaften
der Kognitionswissenschaften, ja von der Kogni-                      zu bringen und damit auch das Mitspracherecht der
tionsethnologie selbst für lange zwei Jahrzehnte                     Ethnologie und gar ihre Unverzichtbarkeit im Dis-
verursacht haben. Die Einsichten und Appelle der                     kurs unter Beweis zu stellen.
Kollegen (Bender und Roettger-Roessler 2010)                            Auch schon vor den Brandbriefen der Kollegin-
kommen spät und bestätigen in ihrem Eifer den zu-                    nen Bender und Roettger-Roessler (2010) war ein
rückliegenden Mangel.                                                schüchterner Versuch mit ungenauen Vorzeichen ge-
   Dabei waren es nicht ausschließlich die anderen,                  macht worden, als Jürg Wassmann 2003 in seinem
die auf die “Exoten” aus dem “Orchideenfach” Völ-                    Beitrag “Kognitive Methoden” “Individuelles Ge-
kerkunde (mitleidig) herabblickten. Die Ethnologen                   dächtnis” (164) und “Kulturelles Gedächtnis” (167)
schotteten sich selbst ab. Selbst der (notwendige)                   in den Fokus seiner theoretischen und methodischen
Blick in die Nachbarwissenschaften war suspekt.                      Betrachtungen genommen hatte. Ohne auf den Wert
Insbesondere den nichtgeisteswissenschaftlichen                      seiner Ableitungen für die praktische Feldforschung
Fächern galt ein tiefsitzendes Misstrauen. Wenn                      einzugehen, müssen hier zuerst zwei Kritikpunk-
heute der Gehirnforscher Manfred Spitzer (2010)                      te angebracht werden, bevor die Laudatio auf sei-
zum Mangel an interdisziplinärer Zusammenarbeit                      ne Ausführungen vorgetragen wird. Auf der Suche
mit den Kognitionswissenschaften feststellt, “[d]ie                  nach dem Stichwort “Gedächtnis” im Rahmen der
Sozialwissenschaften haben sich traditionellerwei-                   Forschungen zu mnemotechnischen Objekten kann
se sogar eher abgegrenzt von der Neurowissenschaft                   ein Feldforschungsleitfaden schnell durch die Ma-
als Teil der Naturwissenschaft”, so wird man ihm                     schen fallen. Auch die Betitelung des Beitrags mit
daher nicht grundsätzlich widersprechen können.                      “Kognitive Methoden” zieht nicht zwangs­läufig die
   Es muss geradezu phantastisch anmuten, sich die                   Aufmerksamkeit auf sich, nicht einmal die des ex-
Frage zu stellen, ob denn die Ethnologie der letzten                 plizit suchenden Lesers – sofern man nicht auch
Jahre sich mit einem Thema wie dem Gedächtnis                        eine vorbereitende omniphagische Einlesephase
oder wenigstens mit Gedächtnistechniken, also mit                    zum weitgespannten Thema “Kognitive Anthro-
“Mnemonik” bzw. Merk- und Gedächtnishilfen be-                       pologie” eingeplant hat. Wassmann selbst scheint
schäftigt haben könnte. Evolutionistische An­sätze                   sich der grundlegenden Wichtigkeit des Themas
waren als biologistisch verpönt, ethnohistorische                    “Gedächtnis” im Rahmen seines theoretischen Vor-
und kulturhistorische als antiquiert und alt­backen                  spanns zur praktischen Feldforschungsanleitung
und Merkhilfen waren nun spätestens seit der Ab-                     wohl bewusst gewesen zu sein. Immerhin widmet
schaffung der einführenden Rhetorikkurse für Stu-                    er dieser einleitenden theoretischen Fragestellung
dienanfänger an den (deutschen) Universitäten                        fast die Hälfte der 19 Seiten seines Aufsatzes. Was
um 1900 ungefähr so hoch im Ansehen wie es das                       er damit sagt, ist mit einfachen und verständlichen
durchaus pejorativ gedachte Wort von der “Esels-                     Worten so grundlegend, dass es als Prolog einer
brücke” ausdrückt.                                                   Studie zum Thema “Gedächtnis und Ethnologie”
   Mit dem Ablegen des Begriffs Völkerkunde (zu-                     vorangestellt werden könnte. Wenn Wassmann den
gunsten anderer Begriffe wie Ethnologie, Eth­no­                     Ethnologen Ralph Reimann (1998: ​149) mit fol-
sozio­logie etc.) scheint auch ein Abstand zur histo-                genden Worten zitiert: “Ohne die Möglichkeit, In-
rischen Völkerkunde entstanden zu sein. Dennoch                      formationen zu erhalten, gäbe es kein Leben und
waren es die Vertreter dieser Richtung, die zuletzt                  keine Evolution, keine sinnvolle Objekt- oder Situ-
noch dem Phänomen gedächtnisunterstützender                          ationswahrnehmung, kein konzeptuelles Verstehen,
Objekte Beachtung und dies durchaus in einem                         keine Sprache, keine Kultur und auch keine Iden-

                                                                                                             Anthropos  111.2016
                                                https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149
                                         Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59.
                                  Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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