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ANTHROPOS 111.2016: 149 – 167 Kultur als Gedächtnisphänomen Das mnemonische Paradigma Gerhard Böck Abstract. – After linguistic, interpretive, iconic, and other turns Warum das Gedächtnis in den Fokus muss now others seem to come on the stage, like communicative and material turns. Do we need further turns or does it make more sense to base all these aspects on a more crucial term: the mne- Im Zuge der Digitalisierung und Computerisie- monic paradigm? The neurobiological revelations of the last de- rung der Welt scheinen den Menschen, insbeson- cade seems to have triggered a transdisciplinary debate. Ethnol- dere den in der Wissenschaft tätigen, die Defizite ogists are expected to take part. Their special methodologies, in der Erforschung der biologischen und kulturel- like fieldwork, but also their seemingly long neglected ethno- len Grundlagen menschlicher Geistestätigkeiten logical objects in the museums seem to be apt tools to control and correct narrow-minded and Eurocentric perceptions of some klar geworden zu sein. Vielleicht war es die Furcht, other cognitive sciences, whose laboratory experiments would den Wettlauf mit den denkenden Maschinen zu ver- otherwise lead to wrong generalizations and, therefore, eventu- lieren, die dazu geführt hat, sich seit den Neunzi- ally produce completely wrong results. Especially focusing on gerjahren des vorigen Jahrhunderts intensiv mit mnemonic objects of nonliteral societies could now in combina- tion with the new neurobiological and psychological detections dem menschlichen Denkorgan zu beschäftigen. deliver interesting perceptions for a new understanding of human Nach einer Dekade des Gedächtnisses hat die Aus mind and local culture and, thus, help to establish a more global rufung zuerst eines Jahrzehntes des Gehirns (2000 – debate on human history and culture, based on one outstanding 10 Jahre nach den USA) und nun das des Geistes human ability: the human memory, which is trained, triggered, (2010 – 3 Jahre nach den USA) deutliche Signalwir- and stimulated every second, not only by words and gestures but mostly unwittingly by every artificial and some natural objects. kung. Dies zweifach: Einmal als Appell zu verstärk- [Memory, mnemonics, cognition, cognitive science, culture, mne- ter Forscherleistung, ein andermal als Eingeständnis monic turn, mnemonic paradigm] eines Mangels. Angefeuert durch die Appelle der Kolleginnen Gerhard Böck, Dr. phil. (Marburg 1989), Studium der Ethnolo- Bender und Roettger-Roessler (2010) hat der Ver- gie und Ethnosoziologie, wissenschaftliches Volontariat am da- maligen Staatlichen Museum für Völkerkunde München (heute: fasser, neben der schon länger virulenten Beschäf- Museum Fünf Kontinente), bis 1996 an weiteren regionalen Mu- tigung mit der kognitiven Anthropologie und hier seen tätig. 1995–96 Lehrbeauftragter der Fachhochschule Neu- insbesondere mit den zentralen Aspekten des Ge- Ulm; 1997 Wechsel in den EDV-Dienstleistungsbereich. Seit dächtnisses, sich an (s)ein Projekt zur Erforschung 2011 Stellvertreter von Prof. Dr. Hans Peter Hahn als Sprecher “mnemotechischer Objekte bei schriftlosen Gesell- der AG Materielle Kultur in der DGV. – Feldforschungen von August bis September 1992 auf Sumatera (Indonesien) und ab schaften” gewagt. Der vorliegende Aufsatz (sowie 2009 bei den schwäbischen Jenischen. – Regionale Forschungs- künftige) verstehen sich als vorbereitende bzw. be- schwerpunkte sind Südostasien, Europa und Ostafrika, aktuelle gleitende Studien zu diesem Vorhaben. Forschungsthemen sind Mnemotechnik und materielle Kultur. Zum Zwecke der Vorbereitung auf dieses Pro- jekt hat sich der Verfasser intensiv in ein ethnologi- sches Epistem hineingearbeitet, für das es bislang noch keinen Namen gab. Ähnliche Vorläufererschei- https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
150 Gerhard Böck nungen hatte man bisher mit Worten wie “linguis- Voraussetzungen des Lernens, Merkens tic oder iconic turn” zu fassen versucht. Das Ge- und Wiedergebens dächtnis als ethnologisches Paradigma ist jedoch von noch wesentlich grundlegender Art. Um verstehen zu können, müssen wir be-grei- Im Zuge erwähnter turns, und der daraus erwach- fen und uns erinnern. Bis heute ist das menschli- senen Beschäftigung mit der Wahrnehmungs- und che Gedächtnis eines der großen ungelösten Rätsel Erkenntnisforschung, war es ein kleiner Schritt zum des menschlichen Geistes. Wie ist das Gehirn fä- Gedächtnis. Für die kulturelle Anthropologie ist die hig, den konstanten Zustrom der Sinneseindrücke Erforschung des Gedächtnisses, vor allem seiner aufzunehmen, abzuspeichern und zu verarbeiten? vielfältigen fassbaren Ableitungen und Phänome- In unserer Rat- und Hilflosigkeit neigen wir dazu, ne, seien es Merk-, Gedächtnishilfen und -techni- uns selbst mit Metaphern aus der Computerspra- ken, seien es performative Kommunikations-, Tra- che zu beschreiben. Dabei ist der Computer dem dierungs- oder Initiierungsrituale, alte Übung und menschlichen Gehirn nachgebildet. Entstehen hier- zugleich Herausforderung unter neuem Vorzeichen. aus nun begriffliche Zirkelschlüsse oder sind es re- Vielleicht wird man dabei feststellen müssen, dass kursive Schleifen (auch diese Terminologie wird die hierfür notwendige Interdisziplinarität bislang aus dem Umfeld des Computerprogrammierens ver- nicht nur gescheut, sondern misstrauisch betrach- mutlich leichter verstanden), die sich gewisserma- tet wurde. Die Appelle der Kolleginnen Bender und ßen in einer sphärischen Spirale einer nie vollstän- Roettger-Roessler in der Zeitschrift für Ethnolo- dig erreichbaren Wahrheit nähern? Wenn uns klar gie (2010) sollten geeignet sein, die Türen für eine wird, dass wir auf einem “Riff aus toten Metaphern” neue Zusammenarbeit der Ethnologie mit den Kog- (Deutscher 2005: 137) stehen, scheint die Eindeu- nitionswissenschaften aufzustoßen. Unabhängig tigkeit der Begriffe davon zu treiben. Apokalypti- davon dürfen auch für den einzelnen forschenden sche Vorstellungen einer Götterdämmerung des De- Geist, besonders für den eines herkömmlich univer- finitionszeitalters, das zugleich Tod und Neugeburt sell aufgestellten Ethnologen, tangierende Nachbar- der Philosophie der Wissenschaft bedeuten könnte, disziplinen keine “Terrae incognitae” bleiben. durchzucken einen. Wenn Mittelstraß, den man im Vorfeld der Etab- Die Informationen in unserem Gehirn sind so ge- lierung von Eliteuniversitäten und Exzellenzinitia- speichert, dass sie teilweise auch noch nach Jahr- tiven in Deutschland immerhin mit der Evaluierung zehnten wieder abgerufen werden können. Andere wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit der bundes- Informationen werden schon nach Minuten wieder deutschen Universitäten betraut hatte, unter Inter- gelöscht. Warum ist das so? Darüber kann vermut- disziplinarität die Re-Etablierung “größerer diszipli- lich die biologische Gehirnforschung einiges sa- närer Orientierungen oder zunehmendes kognitives gen. Tatsächlich bestätigen Hirnforscher in jüngs- Interesse innerhalb oder über gegebene Fächer und ter Zeit, dass die beiden Arten von Erinnerung von Fakultäten hinaus” (2002) verstehen möchte, so verschiedenen Teilen des Gehirns bearbeitet wer- möge man ihm bitte widersprechen, oder die Blo- den, es sich also nicht wie früher geglaubt, um ver- ckadehaltungen an den ethnologischen Instituten im schiedene Versionen desselben Gedächtnisses han- Interesse des wissenschaftlichen Fortschrittes und delt (Davis 1999: 128). Das Gedächtnis definiert der Selbsterhaltung des Faches bitte aufgeben. sich daher primär nicht durch seine Lokalisierung, sondern durch den Prozess des Abspeicherns und … interdisciplinarity properly understood does not com- Abrufens von Informationen (Sinneseindrücken, Er- mute between fields and disciplines, and it does not hov- kenntnissen, Erfahrungen) durch das Gehirn. Ohne er above them like an absolute spirit. Instead, it removes diesen Prozess resp. diese Prozesse, die wir traditio- disciplinary impasses where these block the development of problems and the corresponding responses of research. nell weiter Gedächtnis nennen, wäre auch jegliches Interdisciplinarity is in fact transdisciplinarity (Mittel- Lernen und damit Überleben unmöglich. Vom Ein- straß 2002) (zitiert nach Callies et al. 2011: 2). zeller bis zum Menschen muss das Nervensystem motorische und sensorische Erinnerungen, eben- In Bescheidenheit und Gründlichkeit sollen hier so wie (bewährte) Reaktionen auf Gefahren spei- zuerst Detailprobleme beleuchtet werden, wofür ge- chern und abrufen. Routinefunktionen wie Gehen wissermaßen oszillierendes Vor- und Zurücksprin- und Essen werden erst durch Formen der Erinne- gen in übergreifende, universale Vor- und Zwi- rung möglich. Man unterscheidet hilfsweise und ab- schenstudien nicht immer vermieden werden kann. strakt zwei Formen: das motorische (implizite) und das eigentliche (explizite) Gedächtnis (Davis 1999: 128 f.). Mit den Fähigkeiten des motorischen Ge- dächtnisses ist es uns möglich, Routinefunktionen Anthropos 111.2016 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kultur als Gedächtnisphänomen 151 (wie Radfahren, Gehen, Schwimmen) auszufüh- Ohne Gedächtnis ist Lernen, der Erwerb von Fä- ren, ohne ständig darüber nachdenken zu müssen. higkeiten, Informationen und Kenntnissen, nicht Mit dem eigentlichen (expliziten) Gedächtnis erin- möglich. Dazu ist das Zusammenspiel von Gehirn, nern wir uns willentlich z. B. an einen Namen oder Nervensystem und Umwelt notwendig. Wir lernen, an eine Telefonnummer, an das, was wir zur Erst- indem wir unsere Sinneseindrücke verarbeiten, ka- kommunion geschenkt bekommen oder bei der Ein- tegorisieren, abspeichern und wiederverwenden. schulung erlebt haben. Man klassifiziert das expli- Das Gedächtnis ist die notwendige Voraussetzung zite Gedächtnis nochmals nach Langzeitgedächtnis des Lernens. Ist sie auch hinreichend? Wir erwähn- (Erstkommunion) und Kurzzeitgedächtnis, mit dem ten bereits die Notwendigkeit des (ritualisierten) wir Information so lange behalten bis z. B. ein Tele- Wiederholens. Ein weiteres wichtiges Merkmal des fonat ausgeführt worden ist. Lernens ist die Fähigkeit, Ideen und Vorstellungen Das Interessante ist nun die Tatsache, dass das zu bilden und Dinge benennen zu können (Davis Kurzzeitgedächtnis wie eine Brücke der Wahrneh- 1999: 134 f.). Wie nebenbei bemerkt Davis diese mungsmodule des Gehirns zum Langzeitgedächt- wesentliche Fähigkeit, Dinge benennen zu können. nis funktioniert (Davis 1999: 129). Alles was man Es ist jedoch ein wichtiger Punkt, da uns “nur ein sich merken soll, kommt zuerst in das Kurzzeitge- Akt der Benennung über die Dinge verfügen lässt” dächtnis, wo es auch landet, wenn einem länger Zu- (Schrott und Jacobs 2011: 223). Wir werden darauf rückliegendes wieder “in den Sinn kommt”. Erin- zurückkommen. Hier nur so viel: Auch eine falsche nerungen werden offenbar massiv von Gefühlen oder willkürliche Benennung würde diesen Lern- beeinflusst. Außerdem erinnert man sich auch bes- effekt erzeugen. Nehmen wir dazu ein alltägliches ser an Informationen, die man über einen längeren Beispiel aus dem Umgang mit Personalcomputern. Zeitraum wahrgenommen hat. Erinnerungen, die Wenn wir ein Dokument abspeichern wollen, müs- nie verstärkt oder durch starke emotionale Assozia- sen wir es benennen. Welchen Namen es bekommt tionen abgerufen wurden, verschwinden eher. Na- ist primär, für den Prozess des Abspeicherns, be- türlich weiß niemand wirklich wie lange Informa- deutungslos. Das wird erst dann relevant, wenn wir tionen im Gehirn abgespeichert werden können. Es die Datei wiederfinden wollen, was uns ohne “spre- wird vermutet, dass es auf zweierlei Art geschieht. chenden” Namen kaum gelingen wird. Wenn wir Als eine Wechselbeziehung zwischen aktiven Ner- die Datei “mMrStuv53n7xsytr.doc” nennen, werden venzellen, wie das gleichzeitige Impulsgeben vieler wir sie wohl kaum wiederfinden, sofern wir nicht Neuronen oder “eine Art oszillierender Neuronen- zusätzliche Informationen wie den Speicherort ken- schaltkreis” (Davis 1999: 131). Der Mechanismus, nen, über ein absolutes Gedächtnis verfügen oder der die Abspeicherung von Informationen in den die kryptische Information willentlich auswendig Synapsen durch Veränderungen der Stärke der syn- gelernt haben. Heißt die Datei jedoch z. B. “heiss. aptischen Reaktionen beinhaltet, wurde ausführlich doc”, so können wir uns das nicht nur merken, son- untersucht (Davis 1999: 132). In der Praxis bedeu- dern wissen gleichzeitig, dass es sich z. B. um den tet das, dass effektives Lernen an Gefühl und vor- Text handelt, der von dem Kind erzählt, das die hei- handenem Wissen (Erinnerungen) anknüpfen muss, ße Herdplatte berührt und sich verbrannt hatte. Ler- effektives Lehren also darin besteht, möglichst viel nen durch Assoziation, wie das Kind, das nicht nur Aufmerksamkeit zu erzeugen und mit dem Lehr- seine Hand reflexhaft zurückzog und den schmerz- stoff an die persönlichen Gefühle und Erfahrungen haften Reiz mit der Wahrnehmung der Herdplatte der Schüler anzukoppeln. und vielleicht auch sofort mit der (zu spät) zuge- Gespeicherte Information lässt sich auf zwei Ar- rufenen Warnung “Vorsicht! Heiß!” verband, wird ten abrufen: Wir erinnern uns bzw. rufen Gelerntes Konditionierung genannt. Konditionierung ist eine ab. Oder wir erkennen etwas wieder, dem wir schon Form des Lernens durch Assoziation, die auf dem einmal begegnet sind (Davis 1999: 132). Erinnern bedingten Reflex beruht. Das klassische Beispiel ist wir uns nur an das Gesicht eines Menschen, aber der Pawlowsche Hund, der 1889 gelernt hatte, beim nicht an seinen Namen, sehen wir daran, dass nur bloßen Ertönen einer Glocke Speichel zu produzie- die eine Art des Abrufens funktioniert. Manche Er- ren, nachdem der Glockenton zuvor eine Zeitlang innerungen werden also behalten, ohne dass wir uns die Futtergabe begleitet hatte (Davis 1999: 135). dessen bewusst sind. Vergessen findet andererseits Beim Beispiel negativen Verstärkens des beding- wohl dann statt, wenn Erinnerungen nicht gepflegt, ten Reflexes, dem vom Kind und der Herdplatte, d. h. durch wiederkehrende Rituale oder Übungen hätte man dem Kind auch zurufen können: “Vor- aktiviert werden. Vergessen ist also ein normaler sicht kalt!” und es hätte sich den falschen Begriff Vorgang, demgegenüber die Amnesie aufgrund von zuerst einmal genauso nachhaltig eingeprägt. Mit Kopfverletzungen etwas völlig anderes ist. dem Aufrufen oder Erinnern an den Begriff “kalt” Anthropos 111.2016 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
152 Gerhard Böck hätte es dann das ganze Schreckensszenario mit der Wirksamkeiten durch Emotionalität heißen Herdplatte wieder nachempfunden. und Aufmerksamkeit Davon wie das Gehirn lernt, wie es die Inhalte abspeichert und als Erinnerungen wieder abruft, war Was bedeutet das nun für unser Erinnerungsver- bis vor kurzem nur wenig bekannt. In den letzten mögen, für unser Lern- und Lehrverhalten? Welche Jahrzehnten erst wurde die Annahme widerlegt, für Schlüsse können wir daraus für die Interpretation das Gedächtnis sei eine einzelne Region im Gehirn ethnologischen Materials ziehen? Welche Informa- zuständig. Wir wissen heute, dass es viele Regio- tion aus dem ethnologischen Fundus können wir nen des Gehirns sind, die beim Lernen und Erinnern zum Diskurs beisteuern? ebenso modular zusammenwirken wie beim Wahr- Der Gehirnforscher Manfred Spitzer betont im nehmen von Sinneseindrücken. Dies geschieht über Interview mit Nicole Ruchlak vom Alpha-Forum ein dichtes Netzwerk von Nervenzellen, deren Ver- des Bayerischen Rundfunks (gesendet am 21. 04. schaltung und Zusammenspiel auch heute noch nur 2010, um 20.15 Uhr) im Prinzip die Wichtigkeit von zum Teil verstanden wird. Ein Organ, das in diesem Emotionen beim Erzeugen von Aufmerksamkeit, als Zusammenspiel eine wichtige Rolle spielt, ist der “Conditio sine qua non” des Lernens durch indivi- Hippocampus, ein Teil des tief im Gehirn liegenden duelle mnemonische Verknüpfung. Im Zitat bezieht limbischen Systems des Großhirns. sich Spitzer auf das Beispiel eines Schülerbesuches Erinnerungen werden also in unterschiedlichen in einem Mittelalter-Museum. Hirnregionen abgespeichert. Das Gehirn ist aber in der Lage, Erinnerungen an Ereignisse, die uns per- Wenn man also als Mensch nicht zuerst einmal ein sol- sönlich widerfahren, zu koordinieren und zusam- ches mit Emotionen verbundenes Ereignis im Kopf hat, dann bleibt das, was man dann lernt, sozusagen im luft- menzusetzen. Im Jahr 1994 konnten erstmals Belege leeren Raum hängen und “verpufft” wieder, d. h. wird in dafür geliefert werden, dass beide Hirnhemisphären zwei Tagen bereits wieder vergessen. Wir brauchen also beim Speichern und Abrufen solcher Erinnerungen einerseits die Emotionen und die damit gelernten Ein- eine Rolle spielen und zwar dass “eine Hemisphä- zelereignisse. Und dann können wir andererseits auch re aktiv ist, wenn die Erinnerungen abgespeichert systematisch verknüpfte Dinge lernen (12). werden, die andere aber, wenn man sie abruft” (Da- vis 1999: 138). Endel Tulving (2000), vertrat schon Da wir das systematisch vermittelte Wissen länger die Theorie, das Gedächtnis bestehe aus zwei ebenso bräuchten, schlägt Spitzer den Schulen eine getrennten Funktionen, die von verschiedenen Tei- enge Kooperation mit Theatern und Museen vor. len des Gehirns gesteuert würden. Dies sei zum ei- nen der Vorgang, mit dem das Gehirn Erinnerun- Wenn man mit den Schülern nur ins Museum geht – gen anlege und abspeichere. Der andere Teil sei der “wow!, war das spannend!” – und hinterher nichts da- mit anstellt im Unterricht, dann verpufft dieser emotiona- Prozess des Abrufens der Erinnerungen. Die Tat le “Baustein” wieder. Man hat dann zwar ein paar Pflöcke sache, dass man sich bisweilen nicht an ein Wort eingerammt – wir wissen inzwischen auch wo, nämlich erinnern könne, bedeute nicht zwangsläufig, dass es im Hippocampus –, aber wenn man an diesen Pflöcken nicht vorhanden sei. Tulving entdeckte auch, dass nichts festmacht, dann versumpfen die irgendwann und Wörter, die der Bedeutung nach analysiert wurden, das war’s (12). besser erinnert wurden als solche, die sich an for- malen Kriterien wie dem Anfangsbuchstaben ori- Was aber sind “emotionale Bausteine”? Was sind entierten. Er konnte zeigen, dass bei semantischen Emotionen? Worauf lassen sie sich zurückführen? Gedächtnisaufgaben die Aktivität im linken inneren, In der Schlussfolgerung seiner brillanten philoso- präfrontalen Cortex wesentlich stärker zunahm als phiehistorischen Studie stellt Dominik Perler fest, bei der blanken Wahrnehmungsaufgabe. Von die- wie sehr der Rahmen unserer Intentionen und Ent- sem Teil der äußeren Schicht des Gehirns, hinter scheidungen “von fundamentalen metaphysischen der Stirn und genau vor der linken Schläfe verbor- und methodologischen Annahmen abhängt und wie gen, glaubt Tulving, dass er aktiv an der Speiche- veränderbar diese Rahmen sind”. Dadurch werde rung neuen Wortmaterials beteiligt sei – vor allem man auch “auf die historische Bedingtheit heutiger wenn das neue Material im Licht vorherigen Wis- Erklärungsrahmen aufmerksam”. Deswegen wolle sens interpretiert werde (Davis 1999: 140). er sich auch nicht auf die Existenz von Basisemotio nen festlegen lassen, zumal es “auch in den heuti- gen psychologischen und kognitionstheoretischen Debatten kein[en] Konsens darüber [gebe], ob es Basisemotionen gibt und worin sie bestehen”. Er müsse es für philosophiehistorische Untersuchun- Anthropos 111.2016 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kultur als Gedächtnisphänomen 153 gen auch nicht tun, da die Aufgabe und der besonde- geht, sie dafür auch die Grenzen der “Mnemonic”, re Reiz derartiger Untersuchungen darin lägen, “den wie oben schon angedeutet, enger ziehen, so scheint jeweiligen theoretischen Rahmen zu rekonstruieren, es mir innerhalb der ethnologischen und kulturhis- in dem eine Benennung [445] von Basisemotionen torischen Forschung sinnvoller, den Rahmen wei- erst möglich oder unmöglich [werde]” (Perler 2011: ter zu stecken und alles was man unter Merk- und 444 f.). Gedächtnishilfen, Notations- und Schreibsyste- Also wo greifen Empfindungen, wo greifen men versteht, inklusive moderner Technik wie digi Emotionen an? Wo fängt es an? Ab wann sind sie tale Organizer und andere Computersysteme, un- da? Wann (und wie) koppeln sie an was? Welche Er- ter Mnemotechnik zu fassen. Andererseits führt, folgsmeldungen werden für welches Wissen wohin wie man sehen wird, die Betrachtung von exter- zurückgemeldet? Und wie weiter? Auf der Suche ner Mnemotechnik ebenso wie das neuere Studi- nach Variablen, die geeignet erscheinen, die Auf- um von Objekten materieller Kultur (Hahn 2005) nahme von Informationen, also den Kodierungspro- zu grundlegenden Einsichten in die Funktionsweise zess wirkungsvoll zu unterstützen, geraten wir lei- der Blackbox unseres Gedächtnisses, Bewusstseins der an diese Kampfzone grundsätzlichster Art. und Selbst. Perler nennt entschuldigend Autoren (vor allem Für den anrollenden breiteren Forschungsansatz Ekman and Davidson 1995), die mit Verweis auf bevorzuge ich den vom angelsächsischen mnemon- einen kulturinvarianten Gesichtsausdruck versuch- ic abgeleiteten, eingedeutschten Begriff “mnemo- ten, eine Reihe von Basisemotionen zu bestimmen, nisch” für alles das Gedächtnis Betreffende. Wie während andere darauf insistierten, dass die Klassi- wir sehen werden, reichen kleindimensionierte Be- fikation von Emotionen immer Ausdruck eines kul- griffe wie Merkhilfen oder Eselsbrücken auf Dau- turell geprägten Interpretationssystems sei. Ändere er nicht aus, den universalen Ansatz von Kultur als sich dieses System, ändere sich auch die Liste der Gedächtnisphänomen (Wassmann 2003: 164) zu Basisemotionen. Die ebenso zugespitzte wie apo- bezeichnen, geschweige denn zu erklären. diktisch vorgetragene Aussage Averills (1982: 14) Das Studium der Merkhilfen ist jedoch für das “Basic emotions have no more place in psychology Verständnis des menschlichen Gedächtnisses nicht than basic animals in zoology or basic diseases in nur hilfreich, sondern unverzichtbar. Es kann als medicine” (zit. in Perler 2011: 444 f., 499 f.) scheint mehrdimensionaler Auslöser für eine Wissenschaft ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben. vom Gedächtnis benützt und betrachtet werden. Wir können aber, ohne dieses Minenfeld betre- Was an Gedächtnisprozessen im Kopf des Indivi- ten zu müssen, festhalten, dass es Emotionen gibt, duums abläuft, scheint eine (Dreiecks-)Beziehung die den Grad der Aufmerksamkeit bei der Enkodie- zu (Erinnerungs-)Gegenständen und den Köpfen rung von Information wirkungsvoll erhöhen kön- der anderen zu führen. Auch Halbwachs’ kollektives nen. Emotionen, Gefühle bleiben Voraussetzung Gedächtnis (1985b) passt hierzu, nenne man es nun der Intentionalität unseres Denkens und Handelns. Kultur oder gemeinsames Epistem. Darüber hinaus Wie Damasio (1998) gezeigt hat, gibt es für diese kann es uns den Schlüssel zu tieferem Verständnis Annahme inzwischen schlagende Beweise. Der in- materieller Kultur, der Objektumwelt und dem Be- terdisziplinäre “Cluster of Excellence” der Freien wusstsein liefern. Die von Hahn (2005) und Feest Universität Berlin, der Zusammenhänge zwischen (2003) schon avisierte Vorstellung umfassenden Emotionen und Zeichenpraktiken erforscht und an Objektinventars des Alltags als selbstverständliche, dem die Ethnologie beteiligt ist, kündet vom Auf- z. T. unbewusst wahrgenommene Erinnerungsaus- bruch. löser zur alltäglichen Orientierung und Selbstfin- dung, kann zusammen mit den Konzepten eines geografischen memoryscape der (Ethno-)Archäo- Zum Gedächtnis im Allgemeinen logen (z. B. Clack 2007) zu einem allumfassenden memoryscape, einem universalen Gedächtnisraum, Von den aktuellen Publikationen rund um das Ge- von der Küche bis zum Kosmos, erweitert werden. dächtnis geben Worthen und Hunt auf den ersten 30 Jeder Akt der Kommunikation und Performation, Seiten in ihrer “Mnemonology. Mnemonics for the von der Gebärde über den Tanz, tangiert demnach 21st Century” einen gut lesbaren ersten Überblick einzelne oder zahlreichere menschliche individuelle über die evolutionären Stadien unserer menschli- Wissensspeicher und baut damit an einer Epistemo- chen Gedächtnisentwicklung. Während es Worthen logie, die wächst, sich ständig verändert, sich zahl- and Hunt (2011: 29 f.) als Psychologen bei der Be- reicher Medien und (externer) Speicher bedient und trachtung des menschlichen Gedächtnisses in dieser sich selbstverständlich auch schon in den ältesten Studie hauptsächlich um interne Mnemotechniken Artefakten als “geronnene Idee” (Schrott 2011) ne- Anthropos 111.2016 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
154 Gerhard Böck ben der unmittelbaren Funktion zusätzlich als ex- Das Gedächtnis terner Wissensspeicher, als vielleicht unbewusstes als universaler Erklärungsansatz mnemonisches (nicht mnemotechnisches) Artefakt wiederfindet. Es ist auf Anhieb einsichtig, dass Menschen seit je- her sich auf ihr Gedächtnis verlassen mussten und sie es folglich auch zu verbessern suchten. Frühe Jä- Das Gedächtnis als Kulturphänomen ger und Sammler mussten das jahreszeitliche Auf- treten von Wild und pflanzliche Nahrungsgründe im Wenn wir mit Worthen and Hunt (2011: 1) feststel- Gedächtnis behalten. Archäologische Funde zeigen len, dass “Mnemonics” eine besondere Erfindung uns, dass mnemonics schon vor 28.000 Jahren be- sind, um einen natürlichen psychologischen Pro- nutzt worden sind (Worthen and Hunt: 3).1 Exter- zess, der bereits in seiner natürlichen Form perfekt ne mnemonics kenne man als (Stein-)Pflöcke, die funktioniert, zu unterstützen – den des Gedächtnis- man in der Umgebung platziert habe, um dem Ge- ses –, so müssen wir den Autoren in ihrer Begrün- dächtnis auf die Sprünge zu helfen. Moderne Bei- dung für diese Besonderheit, nämlich “weil kein spiele schlössen solche Dinge wie das Notieren auf anderes Artefakt … zu dem einzigen Zweck herge- einem Zettel oder das Einkreisen eines Kalender- stellt” worden ist, nicht blindlings folgen, weil wir tages mit ein. Archäologische Funde zeigten, dass inzwischen mit Hahn (2005), Feest (2003), Wass- frühe Menschen des jüngeren Paläolithikums Holz mann (2003) und Oppitz (2008) zu der Erkenntnis und Knochen mit Kerben versehen hätten, um zu- gekommen sind, dass es sich eben nicht um ein, sammenfassende Berichte von zyklisch auftreten- sondern um alle Artefakte handelt, die auf die eine den Ereignissen zu haben.2 Natürlich kennen wir die oder andere Art unser Gedächtnis unterstützen. Alle mit den Kerben markierten Ereignisse der prähisto- Artefakte sind externe Mnemonik. Manchmal sind rischen Vergangenheit nicht. Es erscheint jedoch auf es sogar die “Naturfakte” (Feest 2003: 239 f.). Anhieb plausibel, sich diese einfachen Merkhilfen Jedoch kann man zustimmen, dass die bloße in einem ähnlichen Zusammenhang vorzustellen Existenz von willentlich eingesetzter “Mnemonik” wie die Zuhilfenahme eines Kalenders oder einer ein Beweis für die zentrale Bedeutung des Gedächt- Tabelle der Sonnenstände und Mondphasen durch nisses im menschlichen Überlebenskampf ist, wie einen modernen Jäger, der Zeit und Standort des in feinsinnigem Widerspruch dazu die Herstellung Wildes bestimmen will. Ob es naheliegt, anzuneh- von Merkhilfen den Glauben an die Unzulänglich- men, dass auch prähistorische Jäger die Zyklen von keit dieses natürlich entwickelten biopsychologi- Tierwanderungen irgendwie festhalten wollten und schen Prozesses des Gedächtnisses beim Lösen vie- die Erinnerungshilfen (z. B. Kerben im Stock) ihnen ler Aufgaben aufzeigt. Um den vermuteten Mangel das wiederholte Auffinden von Nahrungsressourcen des natürlichen Gedächtnisvorganges zu kompen- erleichtert haben, könnte vielleicht ein Vergleich mit sieren, habe der Mensch das mnemotechnische Arte- den Merktechniken rezenter Jäger und Sammler er- fakt erfunden. Über lange geschichtliche Zeiträume hellen. So eine Studie müsste aber erst noch geleis- hinweg habe der Mensch viele spezifische Geräte tet werden. Auf jedem Fall ist es interessant, wenn und Techniken erdacht und in manchen Fällen sei schon nicht zu beweisen, so doch sich vorzustellen, ihre Effizienz auch mehr oder weniger überzeugend dass diese frühen externen Mnemotechniken offen- als “bona fide” Gedächtnisprothese dokumentiert bar demselben Zweck gedient haben könnten wie worden (Worthen and Hunt 2011: 1). unsere heutigen Merkhilfen, nämlich um die Be- Die besondere Rolle für die wissenschaftliche lastung unseres Arbeitsgedächtnisses zu reduzie- Forschung bezieht sich aber eben auf diese schein- ren und die Abhängigkeit von unserem Langzeitge- bare Einzigartigkeit mnemotechnischer Objekte. dächtnis sowie der Abruffunktion zu minimieren.3 Sie sind in besonderem Maße geeignet, das so uni- Um dem Geheimnis des Zusammenhangs zwi- versale Gedächtnisphänomen in halbwegs über- schen Gedächtnis und Kultur auf die Spur zu kom- schaubarem Maßstab unter die Lupe zu nehmen, es men und im Bestreben bisherige Mutmaßungen und in Studien über Einzelobjekte zu zerteilen, nötigen- Thesen dem Reich der Spekulation zu entreißen, falls auch in interkulturelle Betrachtungen einzube- eignen sich in besonderem Maße Detailstudien an ziehen. 1 Die Autoren beziehen sich hier auf Francesco d’Errico (2001). 2 Worthen and Hunt (2011: 3) belegen das mit einem Hinweis auf Wynn and Coolidge (2003). 3 Worthen and Hunt (2011: 3) unter Bezug auf Wynn and Coolidge (2003). Anthropos 111.2016 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kultur als Gedächtnisphänomen 155 Objekten, die willentlich und bewusst zur Optimie- hinzurechnen und uns ausrechnen, dass es weite- rung dieses Zweckes, das Gedächtnis zu unterstüt- re nicht nur in Artefakten (sondern auch in Natur- zen, eingesetzt worden sind. Deren Datierungen rei- fakten) abgelegte mnemonische Hilfen externer und chen nicht nur bis weit vor die Anfänge der Schrift schließlich auch solche interner Natur gegeben ha- vor etwa 7.000 Jahren (Haarmann 1998: 70) zurück, ben mag, so bekommen wir endlich eine realisti- oder wenn wir gewisse Analogismen zwischen re- schere Vorstellung von der zeitlichen Entwicklung zenten externen Mnemotechniken (z. B. australi- des menschlichen Geistes und der menschlichen schen Tschuringas)4 mit den erst 2009 und 2010 ge- Natur. Eine Vorstellung, die geeignet ist, kühnste fundenen, bemalten Steinen 5 von der Schwäbischen archäologische Phantasien aufgrund von Schä Alb zulassen wollen, bis in den Zeitraum vor 15.000 delfunden mindestens zu bestätigen, wahrschein- Jahren, sondern eventuell sehr viel weiter bis in die lich aber sogar zu übersteigen, wie wir es auch an Anfänge der Menschheitsgeschichte vor mindestens den ständigen zeitlichen Korrekturen der Mensch 1,5 Millionen Jahren (älteste steinerne Werkzeug- heitsursprünge aufgrund von neuen Knochenfun- funde). Betrachten wir z. B. ein frühes Artefakt, wie den immer wieder bestätigt sehen. Der Beginn der den Faustkeil, als geronnene Idee, als manifestierten Menschheit und des menschlichen Denkens muss Teil des urjägerischen Epistems, als mit der Blau- also vermutlich noch sehr viel weiter als 1,5 Millio- pause identische Ausführung, als noch vollständige nen Jahre (Leaky 1995: xiv) in die Vergangenheit Überlagerung der zugedachten und der funktiona- zurückverlegt werden. len, realen dinglichen Hälfte, die noch nicht aus sich Interne Merkhilfen sollen hier nur insoweit er- herausgetretene natürliche und ursprüngliche Dop- wähnt werden, als sie auch zum Verständnis der pelfigur aus Bedeutung und Ding aller Artefakte, als externen notwendig sind. Einmal werden ihre noch von der, später in Natur und Geist geschie- Zeugnisse umso rarer, je weiter man in der Mensch- denen Dichotomie, verschontes Urobjekt, und das heitsgeschichte zurückgeht. Bei den archäologi- müssen wir, weil es genau das ist, so wird vielleicht schen Fundstücken hört es dann ganz auf. Zum an- allmählich auch klar, dass wir mit diesem Objekt deren muss interne Mnemonik in Kombination mit ein mnemotechnisches, aber eben nicht ausschließ- oraler Kultur in einem weit größeren Zusammen- lich mnemotechnisches, Objekt vor uns haben, das hang aufgearbeitet werden. Ein Forschungsfeld, das bisher in seiner mnemonischen Funktion nur kaum noch weitere Räume eröffnen könnte. Die Beschäf- gewürdigt worden ist. tigung mit den leichter auf Anhieb feststellbaren Natürlich setzte der Mensch nicht nur interne Objekten der materiellen Kultur bietet demgegen- und auch nicht nur komplementär externe Merkhil- über eine einigermaßen sichere Forschungsgrund- fen ein. Wir begreifen allmählich, dass wir von ei- lage und könnte gewissermaßen auch als Vorübung nem Kosmos von metaphorischen Bedeutungen von und vorbereitende Grundlage für die spätere Be- Objekten, Handlungen und Ritualen umgeben sind, schäftigung mit den Wirkungen interner Mnemo- die oftmals in ihrer Zusatz- oder Doppelbedeutung nik auf orale Kultur gesehen werden. unserem Gedächtnis auf die Sprünge helfen: Ergo Interne Mnemonik ist also kognitive Strategie haben alle Artefakte auch zugleich einen mnemo- zum Zweck des wirkungsvollen Einbettens von In- technischen Anteil und bisweilen werden auch Ob- formationen im Gedächtnis. Der Theorie nach sol- jekten der Natur mnemotechnische Aufgaben zuge- len sie, sofern sie beim Enkodieren erfolgreich sind, wiesen. Wahrscheinlich umgeben uns in vertrauter auch das Speichern und den Wiederabruf erleich- Umgebung mehr mnemotechnische Objekte, de- tern. So gesehen kann man eine interne Merkhilfe als ren z. T. unbewusst aufgenommene Reize unsere Methode betrachten, entsprechende Informationen menschlichen Erinnerungsinstanzen häufiger an- so aufzubereiten, dass sie sauber und ordentlich im sprechen als ein beschränkter Wortschatz. Gedächtnis abgelegt und bei Bedarf wieder hervor- Wenn wir obige zeitliche Einordnung ernst neh- geholt werden können (Worthen and Hunt 2011: 3). men, zusätzlich noch einen Faktor x für die bis heu- Die Entwicklung der psychosozialen Prozesse, te noch nicht entdeckten noch älteren Fundstücke besonders Sprache und Kommunikation, hat ein Ge- dächtnis für Detailinformationen erfordert, wie es 4 Tschuringas sind Gegenstände aus Stein oder Holz, meist von der biologischen Evolution (noch) nicht erreicht oval oder abgerundet, in die oft symbolische Zeichen ein- worden ist.6 Worthen und Hunt weisen zu Recht da- graviert sind; ein Tschuringa repräsentiert den Körper eines rauf hin, dass die Anforderungen, die frühe orale Ahnen und wird von Generation zu Generation demjenigen Traditionen an das reproduktive Gedächtnis stell- übergeben, den man für die Verkörperung dieses Ahnen hält (vgl. Bühl 1982: 246). 5 Siehe die gleichnamige Sonderausstellung vom 10. 11. 2011– 6 Siehe Worthen and Hunt (2011: 3) unter Bezug auf Teilhart 29. 01. 2012 im Museum der Universität Tübingen. de Chardin (1959). Anthropos 111.2016 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
156 Gerhard Böck ten, schon gut dokumentiert worden seien (2011: 3). Mnemonik, was ist das? Die als Beispiele genannten Rubin (1995) und Yates (1966) sollten möglicherweise an dieser Stelle aber Möglicherweise muss aber dennoch zuerst ein Ex- etwas ausführlicher zu Wort kommen. Nach ihnen kurs auch in die Sphären interner Merktechniken habe sich das natürliche Gedächtnis eben nicht für erfolgen – und vorher natürlich auch in die Sphären den Zweck oraler Tradition entwickelt. Um orale der neurobiologischen und (evtl. psychologischen) Genre zu entwickeln und aufrecht zu erhalten, habe Grundlagen unseres Gedächtnisses –, um die An- der natürliche Prozess künstliche Unterstützung knüpfungspunkte und Wirkungsweisen der externen benötigt. Durch das Fehlen einer weitverbreiteten Gedächtnishilfen besser zu verstehen. Gleichzeitig Schriftlichkeit seien externe mnemonics für die neu- wird der Versuch von Worthen und Hunt, die Mne- en Anforderungen an das Gedächtnis nicht verfüg- mologie im Kreis der Kognitionswissenschaften zu bar gewesen. Unsere Studien aber zeigen gerade rehabilitieren, nachhaltig unterstützt. Sie kann viel- und werden zeigen, dass die Behauptung fehlender leicht auch – wie von Bender und Roettger-Roessler vorschriftlicher externer Mnemonik nicht stimmt. u. a. in der Zeitschrift für Ethnologie (2010) gefor- Im Gegenteil, es hat sie nicht nur gegeben, und sie dert – ein Beitrag für die Heimkehr der Ethnologie waren nicht nur äußerst zahlreich, sondern sie sind in den Kreis der Kognitionswissenschaften leisten. über unglaublich lange Zeiträume hinweg auf histo- Wenn dies der vorliegenden Arbeit oder den davon risch eindeutige Weise feststellbar und haben über ausgehenden Studien gelingen sollte, so hat sich die die Zeit mächtig an Effizienz zugenommen, bis sie Mühe gelohnt. es schließlich heute zu beachtlicher technischer Auf vielfältige Weise – von Homer, Ovid und Höhe gebracht haben (z. B. Höchstleistungsrechner Herodot bis Cicero – ist von mehreren Autoren auf Bayern 2 (HLRB 2) mit 26 TeraFLOPS = 26.000 gezeigt worden, dass interne Mnemonik in a lten Milliarden Rechenoperationen pro Sekunde).7 Kulturen (mit Schrifttradition) ein allgegenwärtiges, Worthen und Hunt folgern aber eigensinnig wei- vorwiegend rhetorisches Phänomen war. Es wird ter, dass sich daher die Entwicklung kognitiver Stra- daher auch nicht mehr verwundern, dass es sogar tegien zur Unterstützung so eines (unzureichenden) bedeutende Theorien der Oralität (Ong 2002) gibt, Gedächtnisses als wichtige psychologische Adap- die den Gebrauch von Mnemotechniken als bestim- tion an die neuen soziokulturellen Herausforderun- mendes Kriterium in ihre Definition oraler Kultur gen konstituiert habe (2011: 3). Die Autoren meinen einschließen. Eine dominante Technik bei den inter- damit interne Merktechniken und man kann ihnen nen Merkhilfen antiker griechischer und römischer in dieser Hinsicht vielleicht zustimmen – mit der Redner war der Gebrauch mentaler Bilder bzw. Einschränkung, dass diese gerade bei einer Rück- mentaler Bildvorstellungen. Sie unterstützte die an schau in vorgeschichtliche Zeiträume als Beweis- strenge orale Traditionen und Regeln gebundene an- mittel überhaupt nicht zur Verfügung stehen und tike Redekunst. Worthen and Hunt (2011: 3 ff.) brin- somit die wesentlich größere spekulative Herausfor- gen von Marcus Tullius Cicero über das Mittelalter, derung darstellen. Darüber hinaus lässt sich externe die Renaissance und bis zur Neuzeit viele interes- Merktechnik sogar noch in rezenten Kulturen (Be- sante Beispiele, die sich überwiegend auf Publika- richtszeitraum der letzten 170 Jahre), in jüngster Ge- tionen von Assmann, Blum und Yates stützen, die schichte und bis auf den heutigen Tag feststellen und interessante historische Synopsien der “Mnemonik erlaubt daher wahrscheinlich auch Analogieschlüsse von Aristoteles bis Shakespeare” (Yates 1990) wie- für archäologische Funde aus älteren Zeiten. dergeben. Sie sind aber für die vorliegende Studie Bemerkenswert ist außerdem, man muss dies nicht von vorrangiger Bedeutung. Auch der Exkurs wiederholt sagen, dass auch Kollegen, die sich zur Wissenschaftsgeschichte der Mnemonik, die (ebenfalls) mit materieller Kultur beschäftigt ha- Worthen und Hunt künftig lieber als Mnemonology ben, die mnemonische Zusatzfunktion von Artefak- (2011: 16) sehen würden, ist an dieser Stelle und ten nicht verborgen geblieben ist (Hahn 2005: 33 f., dem schon erwähnten Heimruf der Ethnologie in 40) und sogar die Nutzung von “Naturfakten”, also die Runde der Kognitionswissenschaften nicht mehr z. B. von geologischen Formationen, Landschafts- von erstrangiger Bedeutung und könnte in nachfol- teilen, Felsen, Bäumen etc., für solche Bedeutungs- genden Diskursen (und vielleicht auch Rückzugs- zwecke in grundlegende Betrachtungen und sogar debatten à la iconic turn) wissenschaftsgeschicht- in Anleitungen zum Studium der materiellen Kultur lich ausführlicher abgehandelt werden. Hier mag eingeflossen ist (Feest 2003: 239). der Hinweis auf die relative Vernachlässigung der Mnemonik durch die Gedächtniswissenschaften ge- 7 Das heißt, er ist 4.000 Mal leistungsfähiger als ein moderner nügen, die im Zuge der Ebbinghaus’schen (1992) PC mit drei Gigahertz Taktfrequenz (6 GFLOPS). Hervorhebung der scheinbar einzig überzeugen- Anthropos 111.2016 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Kultur als Gedächtnisphänomen 157 den Mnemo- und Lerntechnik durch Wiederholung dung kommt. An Termine erinnernde akustische aus dem Blickwinkel der Wissenschaft und in der und optische Signale, Skizzen, Bilder sowie an Folge auch für hundert Jahre aus der öffentlichen bestimmten Orten als erinnernde Alarmbilder ab- Wahrnehmung verschwunden waren – sieht man gelegte Gegenstände und Weckrufe sind häufiger. einmal von der Flut der jüngst entstandenen popu- Worthen und Hunt sind sogar der Meinung, dass lären Anleitungen im Laufe der letzten zehn Jahre Notizen (mnemonic lists) und die Platzierungsme- ab. Worthen und Hunt weisen aber ganz zu Recht thode (place method ) die bevorzugten Gedächtnis- darauf hin, dass der Begriff der “Mnemonik” nicht hilfen von “Nichtpsychologen seien” (2011: 32 un- durch Techniken formaler Mnemonik erschöpft ter Bezug auf Park, Smith, and Cavanaugh 1990). sein kann, sondern im eigentlichen Wortsinne (von Solch einseitige Psychologensicht ist deplatziert. griechisch mnēmoniká, “Gedächtnis”) in größe- Wenn die beiden dann aufgrund von “Forschungen” rem Kontext gesehen und untersucht werden sollte weiterhin feststellen, dass externe mnemonics gene- (2011: 16). Und genau darum geht es letztendlich rell häufiger als interne benutzt werden (sie zitieren auch bei der Hinwendung zu “materieller Kultur”, Cavanaugh, Grady, and Perlmutter 1983), so kann wie Hahn (2005), Feest (2003), Wassmann (2003) das inzwischen wohl nur noch sie selbst überra- und in gewissem Sinne auch Oppitz (2008) be- schen. Dass dies zum einen am fehlenden Wissen merkt oder geahnt haben mögen und beim hier ver- über die Fülle verfügbarer interner mnemonischer fochtenen mnemonischen Forschungsansatz für die Techniken, zum anderen an der leichten Handhabe Ethnologie. externer Mnemoniken läge, mag man Worthen and Die Betrachtung mnemotechnischer Objekte Hunt (2011: 32) gerne glauben. Aber diese leichte- vorschriftlicher Gesellschaften hilft dabei, den grö- re Handhabung, sprich überlegene Effizienz, war ja ßeren mnemonischen Zusammenhang des mensch- offenbar der Grund, warum sie sich seit Bestehen lichen Gedächtnisses und damit den des Denkens der Menschheit so durchgesetzt haben und weiter- und der Kultur überhaupt, sozusagen den mnemo- hin, gerade heute – freilich im erweiterten definito- nischen Kosmos, zu verstehen. Bei der solcherart rischen Sinne –, in rasantem Fortschreiten begrif- hilfsweisen Betrachtung auf Anhieb erkennbarer, fen sind. Worthen und Hunt bestätigen zwar, dass externer Mnemonik wird von Worthen und Hunt die Verwendung externer Mnemonik im Allgemei- zunächst Wert auf die Unterscheidung zwischen nen die kognitive Belastung reduziert und dem Ler- “echter” externer Mnemonik und der blanken Auf- nenden nur einen Bruchteil seiner Erinnerungslast stellung von Informationen gelegt (2011: 29 ff.). aufbürdet. Und diese Möglichkeiten könnten auch Demnach sei eine Einkaufsliste, die jeden Posten suggerieren, dass externe Mnemonik effektiver als einzeln aufführt, keine externe Mnemonik; eine Lis- interne sei. Nach den beiden Autoren sei das aber te aber, die eher Stichworte als vollständige Aufzäh- nicht zwangsläufig der Fall (2011: 32). lungen enthalte, schon. Wenn dann Worthen und Hunt gar noch schluss- folgern, die Entscheidung für externe oder interne It is not a mnemonic because it does not aid memory – Mnemonik sei eine Frage persönlicher Präferenz, it simply replaces the need to remember (Worthen and Hunt 2011: 30). so führt dies auf geradezu grandiose Weise in die Irre. Zwar könnte man ihnen noch zu Hilfe kom- Wie im Zuge der Studien festgestellt werden men und betonen, diese persönliche Präferenz ist konnte, ist es eher zweifelhaft, dass diese Unter- eben gerade der Jahrmillionen alte, ständig präsen- scheidung für eine Untersuchung mnemonischer te, oben beschriebene intentionale Bedarf zur exter- Objekte sinnvoll ist. Das Gegenteil scheint sogar nen Speicherung, zur entlastenden Auslagerung un- ergiebiger zu sein. Mindestens beim ersten Zu- seres Wissens, also die Triebfeder der Zivilisation. sammentragen von mnemotechnischen Objekten Sie zeigen aber, dass sie den kosmischen Komplex im weiteren Sinne und aus verschiedenen Kultu- zwischen Gedächtnis und materieller Kultur im Ge- ren könnte dies eine hinderliche, eliminatorische gensatz zu den Ethnologen (schon erwähnt wurden Einengung bedeuten. Die wiederkehrende Neigung Hahn, Feest u. a.) nicht erkannt haben, oder dass der Menschen zu noch präziserer Notation, also der solche Vorstellungen eben nicht in ihre Arbeitsbe- Schriftlichkeit, darf und muss natürlich als bleiben- schreibung passen, indem sie Intons-Peterson und der, latenter mnemotechnischer Bedarf, als nie ganz Fourniers (1986) Liste von Lernsituationen, die für befriedigte ebenfalls zivilisationstreibende Intention den Gebrauch externer Mnemonik prädestiniert sei- noch sehr gründlich untersucht werden. en, zwar anerkennen, aber zugleich betonen, dass Der sprichwörtliche Knoten im Taschentuch sie diese ihre Liste mit einer anderen als von ihnen ist ein bekanntes mnemonisches Beispiel, das je- bevorzugten Definition erstellt hätten, insbesondere doch in der alltäglichen Praxis selten zur Anwen- da sie auch geschriebene Listen zu externer Mnemo- Anthropos 111.2016 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59. 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158 Gerhard Böck nik zählten. Diese Scheuklappen “der Kognitions- weiterführenden, ausgreifenden kulturtheoretischen wissenschaftler” gegen die ethnologische Sicht wa- Rahmen, geschenkt hatten, wie etwa der ehemalige ren auch schon Wassmann (2003: 163) aufgefallen. Direktor des Kopenhagener Ethnographischen Mu- Wir sehen also, dass Interdisziplinarität bitter nö- seum, Kaj Birket-Smith (1948: 452). Wenn dieser in tig und die Ethnologie in der Pflicht ist. den Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts fest- gestellt hat, dass alle Schrift nur eine Stütze des Ge- dächtnisses sei, so eröffnete er damit einen weiteren Die Rolle der Ethnologie Horizont als Worthen und Hunt mit ihrer einschrän- kenden Definition. Allein schon im Spannungsfeld Die Ethnologie hat ihr Dasein als Geisteswissen- dieser beiden Haltungen, zwischen denen knapp schaft lange Zeit reflexhaft gegen (vermeintliche) achtzig Jahre liegen, verspricht eine eingehende Biologismen aller Art verteidigt. Es müssen die Studie die Sichtweise der Ethnologie auf das Thema Nachwirkungen dieser Reflexe gewesen sein, die “Gedächtnis” auf interessante und spannende Weise zugleich eine Abstinenz von den anderen Fächern mitten in den Fokus der Kognitionswissenschaften der Kognitionswissenschaften, ja von der Kogni- zu bringen und damit auch das Mitspracherecht der tionsethnologie selbst für lange zwei Jahrzehnte Ethnologie und gar ihre Unverzichtbarkeit im Dis- verursacht haben. Die Einsichten und Appelle der kurs unter Beweis zu stellen. Kollegen (Bender und Roettger-Roessler 2010) Auch schon vor den Brandbriefen der Kollegin- kommen spät und bestätigen in ihrem Eifer den zu- nen Bender und Roettger-Roessler (2010) war ein rückliegenden Mangel. schüchterner Versuch mit ungenauen Vorzeichen ge- Dabei waren es nicht ausschließlich die anderen, macht worden, als Jürg Wassmann 2003 in seinem die auf die “Exoten” aus dem “Orchideenfach” Völ- Beitrag “Kognitive Methoden” “Individuelles Ge- kerkunde (mitleidig) herabblickten. Die Ethnologen dächtnis” (164) und “Kulturelles Gedächtnis” (167) schotteten sich selbst ab. Selbst der (notwendige) in den Fokus seiner theoretischen und methodischen Blick in die Nachbarwissenschaften war suspekt. Betrachtungen genommen hatte. Ohne auf den Wert Insbesondere den nichtgeisteswissenschaftlichen seiner Ableitungen für die praktische Feldforschung Fächern galt ein tiefsitzendes Misstrauen. Wenn einzugehen, müssen hier zuerst zwei Kritikpunk- heute der Gehirnforscher Manfred Spitzer (2010) te angebracht werden, bevor die Laudatio auf sei- zum Mangel an interdisziplinärer Zusammenarbeit ne Ausführungen vorgetragen wird. Auf der Suche mit den Kognitionswissenschaften feststellt, “[d]ie nach dem Stichwort “Gedächtnis” im Rahmen der Sozialwissenschaften haben sich traditionellerwei- Forschungen zu mnemotechnischen Objekten kann se sogar eher abgegrenzt von der Neurowissenschaft ein Feldforschungsleitfaden schnell durch die Ma- als Teil der Naturwissenschaft”, so wird man ihm schen fallen. Auch die Betitelung des Beitrags mit daher nicht grundsätzlich widersprechen können. “Kognitive Methoden” zieht nicht zwangsläufig die Es muss geradezu phantastisch anmuten, sich die Aufmerksamkeit auf sich, nicht einmal die des ex- Frage zu stellen, ob denn die Ethnologie der letzten plizit suchenden Lesers – sofern man nicht auch Jahre sich mit einem Thema wie dem Gedächtnis eine vorbereitende omniphagische Einlesephase oder wenigstens mit Gedächtnistechniken, also mit zum weitgespannten Thema “Kognitive Anthro- “Mnemonik” bzw. Merk- und Gedächtnishilfen be- pologie” eingeplant hat. Wassmann selbst scheint schäftigt haben könnte. Evolutionistische Ansätze sich der grundlegenden Wichtigkeit des Themas waren als biologistisch verpönt, ethnohistorische “Gedächtnis” im Rahmen seines theoretischen Vor- und kulturhistorische als antiquiert und altbacken spanns zur praktischen Feldforschungsanleitung und Merkhilfen waren nun spätestens seit der Ab- wohl bewusst gewesen zu sein. Immerhin widmet schaffung der einführenden Rhetorikkurse für Stu- er dieser einleitenden theoretischen Fragestellung dienanfänger an den (deutschen) Universitäten fast die Hälfte der 19 Seiten seines Aufsatzes. Was um 1900 ungefähr so hoch im Ansehen wie es das er damit sagt, ist mit einfachen und verständlichen durchaus pejorativ gedachte Wort von der “Esels- Worten so grundlegend, dass es als Prolog einer brücke” ausdrückt. Studie zum Thema “Gedächtnis und Ethnologie” Mit dem Ablegen des Begriffs Völkerkunde (zu- vorangestellt werden könnte. Wenn Wassmann den gunsten anderer Begriffe wie Ethnologie, Ethno Ethnologen Ralph Reimann (1998: 149) mit fol- soziologie etc.) scheint auch ein Abstand zur histo- genden Worten zitiert: “Ohne die Möglichkeit, In- rischen Völkerkunde entstanden zu sein. Dennoch formationen zu erhalten, gäbe es kein Leben und waren es die Vertreter dieser Richtung, die zuletzt keine Evolution, keine sinnvolle Objekt- oder Situ- noch dem Phänomen gedächtnisunterstützender ationswahrnehmung, kein konzeptuelles Verstehen, Objekte Beachtung und dies durchaus in einem keine Sprache, keine Kultur und auch keine Iden- Anthropos 111.2016 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-1-149 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 21.11.2021, 04:09:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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