Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften - Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive

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Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften - Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive
Das Verhältnis zwischen
Staat und islamischen
Religionsgemeinschaften
Der Hamburger Staatsvertrag
aus Praxisperspektive
Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften - Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive
Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften - Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive
AIWG-Expertise

Das Verhältnis zwischen
Staat und islamischen
Religionsgemeinschaften
Der Hamburger Staatsvertrag
aus Praxisperspektive
Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften - Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive
Über den Autor

Norbert Müller ist als Rechtsanwalt in     Hamburg. Während der Verhandlungen zum
Hamburg tätig. Er ist Vorstandsmitglied    Staatsvertrag in Hamburg war er Mitglied der
bei SCHURA – Rat der Islamischen           Verhandlungskommission der islamischen
Gemeinschaften in Hamburg e. V.. Dort      Verbände. Ferner ist er Mitglied des Boards
ist er für Rechtsangelegenheiten zustän-   der Akademie für Islam in Wissenschaft und
dig und Beauftragter der islamischen       Gesellschaft (AIWG).
Religionsgemeinschaften bei Senat und
Bürgerschaft der Freien und Hansestadt                                                    Norbert Müller
Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften - Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive
Inhaltsverzeichnis

Einführung                                                                         2

1.­	Vorbedingungen für den Verhandlungsprozess zwischen Staat und
     Muslim_innen                                                                  6
1.1	Binnenislamische Aushandlungsprozesse und die Ausbildung eines islamischen
     Landesverbands6
1.2 Die Verabschiedung des SCHURA Grundsatzpapiers                                11
1.3 Öffentliches Klima und parteipolitische Rahmenbedingungen in Hamburg          12

2.	Staatsvertrag zwischen dem Hamburger Senat und islamischen
    Religionsgemeinschaften14
2.1 Aufnahme der Verhandlungen                                                    14
2.2 Gegenstand der Gespräche                                                      14
2.3 Prüfung der Voraussetzungen für die Anerkennung als Religionsgemeinschaften   18
2.4 Abschluss des Hamburger Staatsvertrags                                        19
2.5 Kooperation zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften            20

3.­	Das Hamburger Modell im Kontext der Entwicklungen in
     anderen Bundesländern                                                        25
3.1 Ausbildung islamischer Landesverbände                                         25
3.2	Der Seevetaler Einheitsprozess und die Gründung des Koordinationsrats
     der Muslime (KRM)                                                            25
3.3 Aufnahme von Gesprächen mit Muslim_innen in verschiedenen Bundesländern       26

4.­	 Hindernisse auf dem Weg – Diskursive Reproduktion ausländischer Konflikte    30
4.1	Gefährdung des Staatsvertrags aufgrund (außen-)politischer Agitation
     und Verflechtung                                                             30
4.2 Die „Facebook-Affäre“                                                         31
4.3 Der Al-Quds-Tag                                                               32

5.­	 Der Staatsvertrag als Objekt politischer Kontroversen                        34

6.­	 Fazit: Von der Religionsgemeinschaft zur Körperschaft?                       36

7.­	   Literaturverzeichnis                                                       39

Impressum46
Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften - Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive
2                                                 AIWG-Expertise: Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften

    Einführung
    Das Verhältnis zwischen
    Staat und Islam in Deutschland

                                                                                                                   Dr. Raida Chbib
                                                                                          Geschäftsführerin an der Akademie für Islam
                                                                                                      in Wissenschaft und Gesellschaft

    Die vorliegende Expertise der AIWG gewährt anhand           religiösen Traditionen über die individuelle All­tags­
    eines Beispiels aus dem Bundesland Hamburg einen            praxis der jeweiligen Religionsanhänger_innen gesell-
    ausführlichen Einblick in die praktische Ausgestaltung      schaftlich verankert.
    des Verhältnisses zwischen Staat und islamischen                Insofern tangiert dieser Beitrag grund­sätz­
    Religionsgemeinschaften in Deutschland, und zwar aus        liche Fra­gen der Entwicklung von Religion im
    der Perspektive des Juristen und Vorstandsmitglieds         Kontext von Immigration, innere Aushandlungs-
    des islamischen Landesverbands SCHURA Hamburg               und Wand­lungsprozesse im Rahmen religiöser
    e. V., Norbert Müller. Über eine Rekonstruktion der         Traditionen und damit konnotierter Praktiken,
    mehrjährigen kommunikativen Prozesse in dich-               Institutionalisierungsweisen nicht kirchlich organi­
    ter Beschreibung der sich wandelnden politischen            sierter Religion, Fragen transnationaler und politischer
    Kontextbedingungen, glaubensgemeinschaftlicher              Verflechtungen mancher islamischer Gemeinschaften,
    Entwicklungen und gesellschaftlich-öffentlicher             aber auch Fragen nach Adaptionsprozessen islamisch-­
    Rahmenbedingungen in Hamburg, liefert Norbert               religiöser Traditionen, nach religiösen Praktiken so-
    Müller Informationen und Einschätzungen zum                 wie nach den Selbstverständnissen islamischer
    Prozess der Verständigung zwischen staatlichen und          Institutionen in Deutschland und der muslimischen
    islamisch-­religiösen Akteuren. Der von ihm dargelegte      Gläubigen vis-à-vis ihrem gesellschaftlichen Umfeld.
    Aushandlungsprozess ist in einen Staatsvertrag gemün-           Nobert Müller wirft in seinem Text exemplarisch
    det, der die Grundlage für die weitere Zusammenarbeit       Licht auf die Bemühungen des Staats, mit religiö-
    zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg, dem             sen Alltagsbelangen der muslimischen Bevölkerung
    DITIB-Landesverband Hamburg, der SCHURA – Rat der           in Kooperation mit ihren bestehenden Institutionen
    Islamischen Gemeinschaften in Hamburg und dem               regulativ umzugehen. Wie voraussetzungsreich,
    Verband der Islamischen Kulturzentren und für ihr poli­     unwegsam, kontrovers und fragil der Prozess der
    tisches Handeln geschaffen hat. Parallel dazu hat der       Vertrauensbildung und der politischen Ausgestaltung
    Hamburger Senat mit der Alevitischen Gemeinde ei-           des Religionsfeldes Islam unter wechselnden
    nen weiteren Staatsvertrag abgeschlossen sowie der          Bedingungen ist, wird in dieser Expertise deutlich.
    Ahmadiyya Muslim Jamaat den Status als Körperschaft         Hierbei wird auch ein Blick auf die Diskussionen un-
    des öffentlichen Rechts verliehen.                          ter den Muslim_innen im Kontext der religionsrecht-
        Aus einem erweiterten Betrachtungswinkel he-            lichen Integration geworfen. Diese finden statt,
    raus bietet sich das dargelegte Länderbeispiel als          können strittig sein und betreffen besonders das
    Anschauungsmaterial für rechtliche und politische           Selbstverständnis des/der einzelnen innerhalb der
    Regulierungsansätze in Anpassung an den Wandel im           deutschen Gesellschaft.
    religiösen Handlungsfeld an. Im Zuge von Migration              Dabei hat Hamburg, anders als manch ande­
    und gesellschaftlichen Veränderungen hat sich               re Bundesländer, im Umgang mit islamischen
    das religiöse Gefüge hierzulande ausdifferenziert:          Glaubensgemeinschaften keinen Sonderweg be-
    Weitere religiöse Gemeinschaften, darunter welche           schritten oder provisorische Einzelmaßnahmen er-
    ostasia­tischen Ursprungs sowie aus dem freikirchlich-­     griffen, sondern ist den religionsrechtlich verbrief­ten
    christlichen und dem islamischen Spektrum, haben            Weg des Abschlusses einer umfassenden Ver­
    sich in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik          einbarung gegangen, wie er üblicherweise auch in
    Deutschland institutionalisiert und die dazu gehöri­gen     Zusammenarbeit mit kirchlichen Gemeinschaften
Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften - Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive
Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive                                                                    3

eingeschlagen wird. Fragen des Arrangements von           jedwede Zusammenarbeit und für stabile Verhältnisse
Staat und Religion sind in Deutschland über eine his-     im religionspolitischen Handeln mit den islamischen
torisch gewachsene und verfassungsrechtlich ver-          Gemeinschaften darstellen:
briefte Form der Trennung zwischen Staat und Kirche           Erstens stellt sich die Frage nach dem Umgang mit
mit kooperativer Ausgestaltung religiös konnotier-        der binnenmuslimischen organisatorischen Pluralität
ter Handlungsbereiche geregelt. Zur gemeinsamen           angesichts der migrantischen Prägung der meisten
Ausgestaltung religiöser Belange, die sich vor allem      islamischen Gemeinschaften mit Anhänger_innen
im öffentlichen Raum ergeben, bedarf es der etab-         verschiedener konfessioneller und sprachlicher Hinter­
lierten Religionsgemeinschaften als stabile korpora-      gründe. Dies stellt sowohl die Politik als auch die
tive Partner. In Hamburg ist es gelungen, mit allen       Mus­lim_innen selbst vor Herausforderungen. Das
bestehenden Moscheegemeinschaften und weiteren            Anwachsen einer deutsch geprägten Generation aus
muslimischen Vereinen der großen sunnitischen wie         deutschen Konvertit_innen und Staatsbürger_innen
auch der schiitischen Konfessionen über einen großen      nachfolgender Generationen der ersten Migrant_innen
multiethnischen Landesverband und zwei türkisch-­         bringt weitere Interessen und eine Diversifizierung im
islamische Organisationen nach gutachter­licher           islamisch-organisatorischen Feld hervor.
Prüfung einen Staatsvertrag abzuschließen. Dass dies          In Hamburg konnte über eine innerislamische Ver­
für keine Seite ein leichtes Unterfangen war, liegt in    ständigung und Zusammenarbeit der Landesverband
der Natur der Sache.                                      SCHURA Hamburg e. V. entstehen, in dem sich eine
    Über die Verhandlungen im Vorfeld und die Eini­       Vielfalt an Vereinigungen zusammengeschlossen hat.
gung auf die grundlegenden Inhalte des Vertrags           Für die staatliche Seite wurde die Zusammenarbeit
konnten wichtige Fragen des Zusammenlebens,               dadurch vereinfacht. Doch für die Leitungsebene ei-
wie zum Beispiel die Bestattung von Muslim_in-            ner solchen pluralen Gemeinschaft, die zudem per-
nen nach islamischem Recht auf Hamburger Fried­           sonell und finanziell recht schwach ausgestattet ist,
höfen, die Umsetzung von Projekten, hierunter             war und ist eine solche innere Heterogenität nicht
die Etablierung islam­theologischer Studien an der        einfach zu handhaben. Global wird die Organisation
Universität Hamburg, nachhaltig und für alle in-          mit ihren zahlreichen unterschiedlichen Mitgliedern
volvierten Partner_innen tragbar geregelt werden.         in den Krisenmodus katapultiert, sobald einzelne
Damit wurde für alle Seiten eine Bezugsgrundlage          Mitglieder fragwürdigen politischen Aktivitäten nach-
geschaffen; Ansprechpartner_innen waren für ver-          gehen. Schwierige innere Aushandlungsprozesse
schiedene Fragen verfügbar, um sie in verschiede­         müssen vollzogen werden, von außen her kommt der
ne Aktivitäten im Stadtstaat einzubeziehen. Die           Landesverband in Gänze in Bedrängnis, selbst wenn
Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung war        die meisten Mitglieder nicht in die Konfliktsache in­
von Diskussionsprozessen unter den Muslim_innen           volviert sind. Beispielhaft wird dies geschildert anhand
in Hamburg begleitet, welche ihr Engagement für die       der Teilnahme einzelner Mitglieder des Islamischen
deutsche Gesellschaft betrafen und zugleich Fragen        Zentrums Hamburg an Demonstrationen des soge-
hinsichtlich ihres Verhältnisses zu anderen Staaten und   nannten al-Quds-Tags und der Stellungnahmen von
ihrer Haltung zu politischen Ereignissen in Deutschland   SCHURA-Vertretern zu Ereignissen in der Türkei.
und im Ausland berührten. Die vorliegende Expertise           Es zeigt sich, dass sich in den vergangenen Jahren
gibt auch hier einen Einblick in die transformative       bei diesen inneren Aushandlungsprozessen des
Wirkungsweise von Verantwortungsübernahme, wel-           hete­rogenen Landesverbands letztlich jene Kräfte
che oft aus dem öffentlichen Blick gerät.                 durchsetzen konnten, die radikale Positionen ab­
    Was sich mit einfachen Worten zusammen­fassen         lehnen und die sich für eine gesellschaftszuträgliche
lässt, bleibt dennoch durchgehend kompliziert.            Positionierung des Gesamtverbands eingesetzt haben.
Obwohl das Land Hamburg im bundesweiten Maßstab           Insgesamt hat es die Organisation – als einer der we-
die Gleichstellung islamischer Gemeinschaften weit        nigen islamischen Landesverbände in Deutschland –
voran­getrieben und mit dem Abschluss eines Staats­       geschafft, im Konsens alle ihre Mitglieder dazu zu be-
vertrags ein rechtliches Fundament für ein Verhältnis     wegen, sich aktiv mit Fragen des Selbstverständnisses
auf Augenhöhe und für islambezogene politische            und der Selbstverortung in Bezug auf Staat und
Entscheidungen gelegt hat, bleibt die Lage dort durch-    Grundgesetz auseinanderzusetzen und sich grund­-
gehend angespannt. Dies liegt besonders an drei           ­sätzlich auf ein Bekenntnis zur Werteordnung der
Spannungsfeldern, die eine Herausforderung für             deut­schen Verfassung zu verpflichten, was dann
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    das Bezugsmoment in Krisenmomenten bildete.                  abgesprochen oder dass ihre Verfassungskonformität
    Dieser Prozess ist nicht linear und für alle Zeiten ab-      angezweifelt wird, sofern Verbindungen ihrer Lei­
    geschlossen. Die Expertise wirft ein differenziertes         tungsebene oder eine strukturelle Anbindung zu aus-
    Bild auf die innere Transformation durch öffentliche         wärtigen Insti­tutionen bestehen, nicht immer, doch
    Verantwortung und auf die Störquellen.                       besonders dann, wenn die politische Lage zu den
        Ein zweites Spannungsfeld bilden wieder-                 jeweiligen Ländern angespannt ist. Dies betrifft in
    kehrende Kontroversen rund um Fragen der                     Hamburg in den letzten Jahren besonders den DITIB-
    Legitimität islamischer Dachverbände als korpora­            Landesverband, aber auch immer das weiterhin vom
    tive Ansprechpartner für übergreifende muslimische           Verfassungsschutz beobachtete Islamische Zentrum
    Religionsbelange und, oft damit verbunden, öffent-           Hamburg.
    lich heftig geäußerte Zweifel an der Loyalität islami-            Die Beschreibungen und Einschätzungen Norbert
    scher Dachorganisationen in Deutschland zum deut-            Müllers zu Hamburg, die stellenweise von Raida
    schen Staat. Die damit verwobenen Debatten kreisen           Chbib um Informationen und Einordnungen im
    dabei besonders häufig um sicher­heitspolitisch              bundesweiten Maßstab erweitert wurden, zeigen
    konnotierte, oftmals jedoch unscharfe Begriffe,              Problemlagen auf, skizzieren zugleich aber auch
    wie zum Beispiel früher um den des „islamischen              Herangehensweisen und gemeinsame Arbeitsfelder,
    Fundamentalismus“, später den des „Islamismus“               die in konstruktiver Kooperation und Lösungsfindung
    und heute den des „politischen Islams“. Mit einzel-          zu nachhaltigen Ergebnissen im religionspolitischen
    nen Vorfällen verknüpft, wie unter anderem mit               Bereich geführt haben.
    Anschlägen durch Terrorist_innen, die sich und ihre               Das Besondere an dem vorliegenden Beitrag
    Taten über eine Instrumentalisierung islamischer             ist: Ele­mentare Grundfragen des Verhältnisses zwi-
    Religion legitimieren, werden grundsätzlich und pau-         schen Islam und säkularem Staat, die häufig ab-
    schal Staats- und Verfassungsloyalität und -konfor-          strakt diskutiert werden, werden über eindrück-
    mität bestehender islamischer Gemeinschaften oder            liche Schilderungen von konkreten Ereignissen
    Gruppierungen in Frage gestellt, was ein öffentli-           in beispielhafter Form zu Tage gefördert und er-
    ches Klima erzeugt, welches die Sacharbeit und pro-          halten hierbei ihre lebenswirkliche Kontur. Dabei
    duktive Austauschprozesse vor Ort erschwert oder             werden exemplarisch Wege aufgezeigt, wie sol-
    Dialogprozesse zunichtemacht.                                che Grundfragen im Falle Hamburgs konkret ge-
        Auch am Beispiel Hamburgs zeigt sich, dass mit           löst werden konnten. In plastischer Weise zeigt die
    pauschalen Islamismusvorwürfen, oft verbunden                Expertise auf, wie wichtig verlässliche Akteur_innen
    mit konkreten Vorfällen, rasch die Zuspitzung hin            und Vertrauensbildung untereinander sowie eine auf
    zur poli­tischen Forderung nach einer Aufkündigung           Nachhaltigkeit ausgerichtete Politik sind, um dau-
    des Staatsvertrags erfolgt, häufig von Seiten be-            erhafte Strukturen und Rechtssicherheit in diesem
    stimmter Akteuren_innen aus Parteien, die schon im-          Politikfeld zu gewährleisten, und wie wichtig für die
    mer und grundsätzlich einer Kooperation ablehnend            Stabilität eines solchen Vertrauensverhältnisses die
    gegenüberstanden.                                            Abwehr von Schnellschüssen gegen eine langwieri-
        Mit dem kritischen Loyalitätsdiskurs verbunden           ge Sacharbeit ist. Ein vorausschauender und diffe-
    stellt sich als drittes Spannungsfeld seit Entstehung        renzierter Umgang mit isla­mischen Gemeinschaften
    größerer isla­mischer Gemeinschaften in Deutschland          über eine solche kooperative und rechtliche Basis,
    die Frage des Auslandsbezugs: Zu welchen Akteur_             so wird anhand des Beispiels deutlich, stärkt Kräfte
    innen, Institutionen oder Regierungen eine Orga­             im islamischen Feld, die an der Übernahme gesell-
    nisation in welchem Maße Verbindungen pflegt, wel-           schaftlicher Verantwortung und an einem fried­vollen
    che (politischen) Ideologien hierbei intern zirkulieren      Zusammenleben in Deutschland interessiert und ge-
    und wie sie entsprechend einzuordnen ist, ist nicht          gen außenpolitische Einflussnahmen eingestellt sind,
    abschließend geklärt und wirft regel­mäßig kritische         und schwächt wiederum Segregationsbestrebungen
    Fragen auf. Die Diskussion geht so weit, dass islami-        und Radikalisierungstendenzen unter einzelnen musli-
    schen Institutionen per se ihre religiöse Eigenschaft        mischen Gruppen.
Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften - Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive
Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive                                                                5

Der Hamburger Staatsvertrag
aus Praxisperspektive

Die rechtliche und institutionelle Anerkennung         für den Hinweis darauf nutzte, dass es in der Hanse­
des Islams beziehungsweise der islamischen Ge­         stadt so viele Muslim_innen wie Katho­lik_innen gebe
mein­­den und Verbände in Deutschland hat insbe­       und ihnen auch auf dieser Ebene Gleichbehandlung
son­dere mit dem Beginn der im Jahr 2006 vom           zustehe. Der Bürgermeister reagierte darauf positiv:
Bundesinnenministerium etablierten Deutschen Islam     Er könne sich einen Staatsvertrag durchaus auch mit
Konferenz wesentliche Schritte nach vorne gemacht.     Muslim_innen vorstellen und sei für Verhandlungen
Nach Beobachtung der Islamwissenschaftlerin Riem       offen. Diese begannen dann tatsächlich im Juli 2007.3
Spielhaus stagniere dieser Prozess jedoch seit etwa        Der Beginn des Verhandlungsprozesses in
2016, und an manchen Orten seien sogar Rückschritte    Hamburg lässt sich auf eine Reihe innermuslimi-
zu registrieren.1 In der Beschreibung der Prozesse     scher, gesamtgesellschaftlicher wie politischer
der rechtlichen Anerkennung werden von ihr die in      Voraussetzungen zurückführen, die scheinbar so nur
den Stadtstaaten Hamburg (2012) und Bremen (2013)      in der Hansestadt gegeben waren: Insbesondere
mit den jeweiligen islamischen Landesverbänden         die Existenz eines multiethnischen repräsenta-
geschlossenen Staatsverträge hervorgehoben von         tiven Landesverbands der Moscheegemeinden
SCHURA, der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt     in Hamburg bot sich mit seinen transparenten
für Religion (DITIB) und dem Verband Islamischer       Strukturen als Ansprechpartner an und hatte be-
Kulturzentren (VIKZ). Insbesondere der Hamburger       reits im Vorfeld der politischen Gespräche ein viel-
Vertrag ist unter dem Aspekt gesellschaftlicher        fältiges Engagement in diversen gesellschaftlichen
Integration und Anerkennung von Muslim_innen im-       und politischen Zusammenhängen vorzuweisen.
mer wieder als beispielhaft und wegweisend gewür-      Dadurch war eine erste Vertrauensgrundlage gera-
digt worden – und dies aus unterschiedlichen gesell-   de zur Politik vorhanden. Letztere war in vielen Teilen
schaftlichen Bereichen.2 Deshalb sollen im Folgenden   zum Zeitpunkt der Iftar-Rede des Bürgermeisters
Voraussetzungen und Inhalte wie auch bisheri-          Ole von Beust parteiübergreifend offen auch für in-
ge Erfahrungen und mögliche Perspektiven dieses        novative Wege hin zu einer besseren gesellschaft­
Vertrags näher betrachtet werden.                      lichen Integration von Muslim_innen. Dieses Zusam­
    Als Initialzündung für die Staatsvertrags­ver­     menspiel zwischen muslimischer Zuwendung hin
hand­lungen lässt sich der Besuch des dama­ligen       zur Hamburger Stadtgesellschaft auf der einen Seite
Hamburger Bürgermeisters Ole von Beust (CDU)           sowie die Bereitschaft der Politik auf der anderen
beim Empfang zum Fastenbrechen im muslimi-             Seite, auf die Muslim_innen zuzugehen, bot eine gute
schen Fastenmonat Ramadan (Iftar) in der Centrum-      Voraussetzung und Grundlage für den nachfolgenden
Moschee im Jahr 2006 anführen. Hamburg hat-            Verhandlungsprozess.
te gerade als letztes Bundesland Staatsverträge
mit der Evangelisch-Lutherischen und der Katho­
lischen Kirche geschlossen, so dass der damali-
ge Gemeindevorsitzende der Centrum-Moschee,
Ramazan Uçar, in seiner Ansprache diesen Umstand

1   Spielhaus 2020.
2   TAZ 2012; Reimann 2012; Müller 2012.
3   Islamische Zeitung 2007.
Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften - Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive
6                                                              AIWG-Expertise: Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften

             1. Vorbedingungen für den Verhandlungsprozess
                 zwischen Staat und Muslim_innen

    1.1 Binnenislamische Aushandlungsprozesse und die Ausbildung
        eines islamischen Landesverbands
    Bereits in den 1990er-Jahren wies Hamburg – wie an-                          Die meisten dieser Moscheen pflegten bis in die
    dere westdeutsche Großstädte auch – eine sehr viel-                      1990er-Jahre hinein weder Beziehungen unterein-
    fältige und sich wandelnde Moscheenlandschaft auf.                       ander noch zur sie umgebenden Stadtgesellschaft.
    Als Produkte von Migrationsbewegungen aus ver-                           Doch mit zunehmender Zahl an Muslim_innen und ih-
    schiedenen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten wa-                       rer beständigen Präsenz in der Stadt begann man in
    ren die Moscheegemeinden meist durch die ethnisch-                       Öffentlichkeit und Politik auf verschiedenen Ebenen, die
    sprach­liche Herkunft ihrer Mitglieder geprägt. Die                      Realität einer zunehmend pluralen Gesellschaft wahr-
    türkisch­islamischen Gemeinden gehören den mit                           zunehmen und sich damit auseinanderzusetzen. Dabei
    Institutionen oder Bewegungen in der Türkei ver-                         realisierten viele erstmals die dauerhafte Erscheinung
    bundenen Organisationen an, wie der Türkisch-                            einer muslimischen Minderheit. Umgekehrt wuchs in
    Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB),                      den Moscheegemeinden eine in Deutschland soziali-
    der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) und                      sierte „zweite Generation“ der Kinder aus immigrier-
    dem Verband Islamischer Kulturzentren (VIKZ). Diese                      ten Familien heran, die sich als muslimisch und Teil
    wirkten lange Zeit als eine Art „Transmissionsriemen“                    der deutschen Gesellschaft verstand, zunehmend den
    zwischen Herkunftsland und Muslim_innen in                               Wunsch nach Teilhabe entwickelte und diesbezüglich
    Deutschland. Daneben gründeten sich immer mehr                           Forderungen stellte.5 Gemeindebezogen wirkte sich
    Moscheen etwa von afghanisch-, afrikanisch-, pakis­                      dies dahingehend aus, dass sich hierdurch ethnisch
    tanischstämmigen Muslim_innen ohne übergeord-                            übergreifende Aktivitäten junger Muslim_innen und
    nete organisatorische Einbindung. Gerade diese, die                      davon geprägte deutsch-muslimische Projekte heraus-
    tatsächliche Vielfalt des Islams in einer Großstadt                      bildeten. Zudem wuchsen die Moscheegemeinden und
    zunehmend bestimmenden, „dachverbandslosen“                              übernahmen über die rituellen und lehrbezogenen
    Moscheevereine4 zeigten den Bedarf nach einer neu-                       Aktivitäten in den Gebetsräumen hinaus zunehmend
    en übergreifenden Institutionalisierung. Obwohl                          vielfältige Aufgaben in der Bildungs-, Jugend- und
    auch in Hamburg die Mehrheit der Moscheen sun-                           Frauenarbeit. Es entstand der Wunsch nach größeren
    nitisch geprägt und nur eine Minderheit schiitisch                       und auch repräsentativeren Räumen, wofür Gebäude
    war, erscheint die Relevanz des Schiitentums in                          gekauft und umgebaut oder auch Neubauten errichtet
    Hamburg sicherlich größer als in anderen Städten                         wurden. Damit stießen sie wiederholt auf Ablehnung
    oder Bundesländern. Dies lässt sich auf die relativ                      in der Nachbarschaft und die Konfliktfälle verdichte-
    große Zahl schiitischer Einwohner_innen Hamburgs                         ten sich zu sogenannten Moscheebaukonflikten, die
    und auf das Islamische Zentrum Hamburg als zentra-                       auf medialer und politischer Ebene diskutiert wurden.6
    le Institution der Schia in Europa seit den 1960er-Jah-                  Mit zunehmender Verortung der Lebensperspektive
    ren zurückführen.                                                        auf Deutschland bekam die Schulbildung der

    4   Vgl. hierzu Chbib 2017.
    5   Zur Situation zum Zeitpunkt der Gründung der SCHURA s. Schura Hamburg e. V. 2021. Allgemein zum Wandel in islamischen Gemeinden s. Halm et
        al. 2012 und Rohe 2001: 199 ff.
    6   Fels, Killguss und Puls 2012.
Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive                                                              7

Kinder eine größere Relevanz und damit verbun-           Während die IGMG quasi Initiatorin des Gründungs­
den keimte auch der Wunsch nach einem islamischen        prozesses war, nahmen DITIB und der Verband der
Religionsunterricht auf. Schließlich wollten sich ver-   Islamischen Kulturzentren (VIKZ) eine Sonderrolle
mehrt Muslim_innen nach ihrem Tod nicht mehr im          ein: DITIB-Vertreter hatten nur sporadisch an
Herkunftsland der Eltern, sondern in Deutschland         Vorbereitungssitzungen teilgenommen, während
bestatten lassen, wodurch der Bedarf nach islami-        VIKZ-Gemeinden dort noch engagiert mitwirk-
schen Bestattungen auf muslimischen Gräberfeldern        ten und auch zu den Gründungsmitgliedern ge-
entstand.                                                hörten. Wenige Monate später traten jedoch sämt-
    Mit der Zeit wuchsen also die Anliegen von Muslim_   liche VIKZ-Gemeinden wieder aus, was zeitgleich
innen in Hamburg, die sie nur in Zusammenarbeit          mit dem Austritt des VIKZ aus dem Zentralrat der
mit öffentlichen Institutionen lösen konnten. Die da-    Muslime (ZMD) zusammenfiel. Ihr Austritt aus
mit verbundenen praktischen Schritte und gesell-         dem Prozess der Gründung eines gemeinsamen
schaftlichen Diskussionen konnten nicht von einzel-      Landesverbands in Hamburg folgte damit einer grund-
nen Moscheegemeinden bewältigt werden. Zudem             sätzlichen Entscheidung der VIKZ-Bundeszentrale,
waren staatliche Institutionen ohne muslimische          ihre Gemeinden nicht in verbandsübergreifende isla-
„Ansprechpartner“ nur sehr beschränkt handlungs­fähig,   mische Dachverbände einzubringen, sondern orga-
um entsprechende Regelungen treffen zu können.           nisatorisch, auch auf Länderebene, nur noch eigen-
                                                         ständig zu agieren. Da DITIB und VIKZ in Hamburg
Gründung und Etablierung der SCHURA Hamburg              nur über jeweils sieben Gemeinden verfügten und
Diese Umstände veranlassten Ende 1998 den regiona-       zudem mit auf die deutsche Gesellschaft bezoge-
len Zusammenschluss der IGMG-Gemeinden (Bündnis          nen Aktivitäten wenig in Erscheinung traten, wa-
der Islamischen Gemeinden in Nord­deutschland) die       ren sie zwar Teil der Verhandlungen und am Ende
Hamburger Moscheen zu einem Diskussionsprozess           des Prozesses Vertragsunterzeichner, aber für die
zwecks Gründung eines gemeinsamen Verbands ein-          weitere Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen
zuladen. Wenngleich die Resonanz beim ersten Treffen     Staat, Gesellschaft und Muslim_innen in Hamburg im
noch gering war, konnten in den folgenden Monaten        Vergleich zum Engagement der SCHURA weniger aktiv.
nahezu alle örtlichen Moscheen in einen intensiven           Mit den 14 Gemeinden der DITIB und des VIKZ
Diskussionsprozess um die Satzung und die Struktur       bildeten die 42 Gründungsmitglieder von SCHURA
einbezogen werden. Am Ende standen im Juli 1999 die      das gesamte damalige Spektrum von Moschee­­
Verabschiedung einer Satzung und die Gründung von        gemeinden und islamischen Vereinen Hamburgs
SCHURA Hamburg als Landesverband, zu dem sich            ab. Prägend auch gerade für das eigene Selbst­
diverse Vereine von Muslim_innen unterschiedlicher       verständnis waren der Zusammenschluss und
Herkunft aus dem sunnitischen wie auch aus dem           die Zusammenarbeit von sunnitischen wie auch
schiitischen Spektrum zusammengeschlossen haben.7        schiitischen Gemeinden.8

           „Maßgebliche Voraussetzung für Verhandlungen eines Staatsvertrags zwischen
           Muslim_innen und dem Hamburger Stadtstaat waren innerislamische Kooperations-
           und Verständigungsprozesse, ins­be­sondere die damit verbundene Gründung von
           SCHURA – Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg e. V. im Juli 1999“.

7   Hierzu auch Spielhaus 2011.
8   Zum Gründungsprozess s. Müller 2000: 182.
8                                                       AIWG-Expertise: Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften

          SCHURA – Rat der islamischen Gemeinden in Hamburg e. V.

          Der SCHURA – Rat der islamischen Gemeinden in               Laut Satzung ist Ziel und Zweck des Zusammen­
          Hamburg ist ein eingetragener Verein, der sich              schlusses, das muslimisch-religiöse Leben in
          als ein Zusammenschluss verschiedener mus­                  Hamburg durch die Ausbildung von Lehrkräften,
          limischer Gemeinden der Stadt Hamburg ver­                  die Beteiligung an der Gestaltung des islam­
          steht. Das Besondere an der SCHURA ist, dass es             ischen Religionsunterrichts in den Schulen und die
          Moscheegemeinden unterschiedlicher ethnischer               Organisation von öffentlichen Diskussions- und
          Zusammensetzung und Glaubensrichtungen sowie                Informationsveranstaltungen zu fördern.9
          weitere muslimische Vereine (wie Frauen- und
          Jugendvereine) der in Hamburg lebenden Muslim_in­           Der SCHURA sind 39 Moscheegemeinden und
          nen vereint. Dazu zählen Moscheegemeinden tür­              24 weitere muslimische Vereine in Hamburg ange­
          kischer, arabischer, albanischer, bosnischer, iranis­       schlossen, darunter Jugend-, Frauen-, Bildungs- und
          cher, kurdischer, pakistanischer und afrikanischer          Studentenvereine.10 Der Rat ist seit 2012 im Rahmen
          Herkunft sowohl sunnitischer als auch schiitischer          des Staatsvertrags mit der Stadt Hamburg einer
          Ausrichtung.                                                der Kooperationspartner des Landes und damit als
                                                                      Religionsgemeinschaft anerkannt.

        Bei der Gründung und Etablierung der SCHURA                   Die Annahme Dietrich Thränhardts et al. bezogen
    Hamburg wirkten im Grunde zwei gegensätzliche                     auf plurale Migrantenselbstorganisationen, sol-
    Entwicklungstendenzen innerhalb des islamischen                   che Formen also, in denen sich Migrantengruppen
    Organisationsfeldes zusammen: Einerseits eine weitere             aus verschiedenen Herkunftsländern zusammen-
    Pluralisierung der Moscheenlandschaft anhand spezifi-             schlossen und so aufgrund ihrer internen Vielfalt in-
    scher ethnischer und kultureller Kriterien, die zum Teil          tegrativ zur Gesamtgesellschaft hin wirkten,12 be-
    auch Konfliktlinien in den Herkunftsländern widerspie-            wahrheitete sich bei SCHURA. Die nachfolgenden
    gelten. So gründeten beispielsweise kurdische Muslim_             Jahre brachten eine Annäherung sehr unterschied-
    innen aus der Türkei oder afrikanische Muslim_innen               licher Moscheegemeinden auf Basis eines gemein-
    in den 1990er-Jahren eigene Moscheegemeinden,                     samen religiösen und gesellschaftspolitischen
    was insgesamt zu einer Fragmentierung der                         Selbstverständnisses mit sich. Von Anfang an wur-
    Moscheenlandschaft entlang ethnischer, kultureller,               de daran gearbeitet, erstens möglichst alle Moscheen
    konfessioneller oder ideo­logischer Organisationslinien           vor Ort einzubinden und die kleinen und schwachen
    führte. Andererseits vollzog sich ein Prozess gemein-             Gemeinden organisatorisch zu stärken und zweitens
    samer gemeinde­übergreifender Identitätsbildung                   eine identitätsbildende Gemeinschaft über herkunfts-
    als deutsche Muslim_innen Hamburgs, im Zuge des-                  nationale und anderen Grenzen hinweg zu schaffen.
    sen sich her­kunftslandbe­zogen ethnische, kulturel-                  Die Annäherung und Zusammenarbeit wurde
    le und ideo­logische Par­ti­kularitäten und Unterschiede          nicht zuletzt dadurch herbeigeführt und ermöglicht,
    bei Teilen der ver­gemeinschafteten Muslim_innen                  dass die beteiligten großen Zentren und islamischen
    zwar nicht auflösten, aber allmählich verblassten                 Dachverbände wie die IGMG die eigenen Gemeinden
    beziehungs­weise in den Hintergrund traten.11 Diese               ermutigten, sich in die SCHURA organisatorisch einzu-
    polaren Kräfte, ethnoreligiöse Fragmentierung versus              bringen und diese als Repräsentantin aller, auch ih-
    ethnisch übergreifende Identitätsbildung, durchzogen              rer Gemeinden in Hamburg anzuerkennen und folg-
    seitdem den innerislamischen Aushandlungsprozess                  lich auf eigenprofilierendes Verhalten weitgehend zu
    und die Zusammenarbeit innerhalb von SCHURA und                   verzichten.
    darüber hinaus mit DITIB- und VIKZ-Gemeinden.

    9    SCHURA Hamburg: Satzung 2011.
    10   SCHURA Hamburg: Mitglieder 2021.
    11   Färber, Spielhaus und Binder 2012: 70.
    12   Tränhardt et al. 1999: 3.
9

Gemeinsames Fastenbrechen in der kurdischen Moschee Hamburg während des Ramadans. Seit 2017 legt die Versammlung der Imame einheitliche
tägliche Fastenzeiten fest.

Gemeinschaftsbildende Maßnahmen                                        voraus: Der islamische Kalender ist ein Mondkalender
Für das religiöse Zusammenwachsen ihrer in ethni-                      und über die Frage der richtigen Mondsichtung gibt
scher wie auch glaubensbezogener Hinsicht hetero-                      es unterschiedliche theologische Auffassungen un-
genen Mitglieder entfaltete die SCHURA Hamburg                         ter Muslim_innen.13 Dies führte in Deutschland dazu,
verschiedene Aktivitäten: Alle zwei bis drei Monate                    dass, je nach Herkunft der Gläubigen, in den unter-
fand unter Anleitung des dafür zuständigen Vor­                        schiedlichen Moscheegemeinden der Ramadan an
standsmitglieds eine Versammlung der Imame                             verschiedenen Tagen begonnen und das Fest zum
der einzelnen Mitgliedsmoscheen statt, in der                          Ende des Fastenmonats, ʿīd al-fiṭr, nicht gemeinsam
diese theologische Fragen sowie Themen ihrer prakti-                   am gleichen Tag begangen wurde. Dieser Zustand
schen Gemeindearbeit besprechen und koordinieren                       wurde nicht nur unter Muslim_innen als unbefriedi-
konnten.                                                               gend empfunden, sondern führte darüber hinaus in
                                                                       der Öffentlichkeit zu Fragen oder Problemen, wenn
•  Versammlung der Imame und der
                                                                       etwa für die Kinder am Festtag um Befreiung vom
   Ramadankalender:
                                                                       Schulunterricht nachgesucht wurde. Eine gemein-
Seit dem Jahr 2007 wird von diesem Gremium bei-
                                                                       same Festlegung der Fastenzeiten zumindest in ei-
spielsweise jährlich ein sogenannter Ramadan­
                                                                       nem Bundesland war zum damaligen Zeitpunkt
kalender erstellt – ein Kalender, der für alle
                                                                       ein Novum und war zudem eine wichtige Voraus­
Mitgliedsgemeinden gemeinsam und einheitlich
                                                                       setzung für die später im Staatsvertrag ge­troffene
den Beginn und das Ende des Fastenmonats sowie
                                                                       Feier­tags­regelung.
die täglichen Fastenzeiten festlegt. Dem ging eine
Diskussion durchaus komplexer theologischer Fragen

13 Yücel o. J.
10                                                               AIWG-Expertise: Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften

     •   Gemeindeübergreifender Religionsunterricht:                           Der gefestigte interreligiöse Dialog wirkte
     Gegenstand der Koordination im Imame-Gremium                              beispielhaft und erleichterte es der Politik,
     ist zudem der Religionsunterricht für Kinder und
                                                                               ihrerseits Dialogprozesse mit Muslim_innen zu
     Jugendliche in den einzelnen Gemeinden. Manche
                                                                               beginnen, wobei die Kirchen nicht selten schlicht
     Gemeinden erteilen den Unterricht inzwischen ge-
     meinsam und nutzen dafür am Wochenende die                                als Referenzgeberinnen fungierten.
     Räume städtischer Schulen. Seit 2001 findet ein-
     mal im Jahr ein von der SCHURA veranstalte-
     ter Koranrezitationswettbewerb für Kinder und
                                                                               • Antirassistische Initiativen:
                                                                               Als ein wichtiges Feld zur gesellschaftspolitischen
     Jugendliche statt.14 Zu besonderen Anlässen und
                                                                               Partizipation erwies sich für SCHURA das Engagement
     Themen werden die Freitagsansprachen in den
                                                                               gegen Rassismus und Rechtsradikalismus, das sich
     SCHURA-Moscheen koordiniert,15 beispielsweise
                                                                               unter anderem mit dem linken „Hamburger Bündnis
     Aufrufe zur Teilnahme an Wahlen oder Initiativen zu
                                                                               gegen Rechts“ entwickelte.19 Hieraus ergaben sich
     Themen wie häusliche Gewalt.
                                                                               Erfahrungen im zivilgesellschaftlichen Engagement ge-
                                                                               meinsam mit nichtreligiösen Migrantenorganisationen
     • Interreligiöse Arbeit:                                                  sowie mit linken anti­rassistischen und antifaschisti-
     Die Zusammenführung von Personen, von ih-                                 schen Gruppen.
     rem Einsatz und von Ressourcen verschiedener
     Gemeinden ermöglichte ein intensives gesellschaft­
     liches wie auch interreligiöses Engagement von
                                                                               • Politische Gespräche:
                                                                               Seit ihrer Gründung hat die SCHURA kontinuierlich
     Muslim_innen im Stadtstaat: SCHURA war am
                                                                               das Gespräch mit verschiedenen politischen Parteien
     20.  November 2000 Gründungsmitglied des Inter­
                                                                               in Hamburg gesucht, so dass der politische Dialog
     religiösen Forums Hamburg, eines gemeinsamen
                                                                               zu einem wichtigen Bestandteil ihrer gemeinsa-
     Gremiums der beteiligten Religions­gemeinschaften
                                                                               men Aktivitäten wurde. Zudem luden die Mitglieder
     der Evangelisch-Lutherischen Nordkirche, der Katho­
                                                                               der SCHURA Politiker_innen zu Veranstaltungen am
     lischen Kirche, der Jüdischen und der Alevitischen
                                                                               „Tag der offenen Moschee“ oder zu Iftar-Empfängen
     Gemeinde sowie der Buddhisten, Hindus und
                                                                               ein. Seit den Bürgerschaftswahlen 2001 organisiert
     Bahai.16 Mit der Gründung des Forums wurde ein
                                                                               die SCHURA außerdem zu jeder Bürgerschafts- und
     inter­religiöser Dialog institutionalisiert, der sich ein
                                                                               Bundestagswahl die Veranstaltung „Muslime
     Jahrzehnt lang fest in der Hansestadt etabliert hat-
                                                                               vor der Wahl“ mit Kandidat_innen der Parteien.20
     te. Darüber hatte sich auch eine Beteiligung der
                                                                               Während die CDU zunächst die Einladung zu solchen
     Muslim_innen wie auch von Jüdinnen und Juden,
                                                                               Veranstaltungen vor der Bundestagswahl 2002 noch
     Hindus und Buddhist_innen an der Ausgestaltung
                                                                               mit der Begründung absagte, Kirchen und Moscheen
     an dem damals noch allein von der Nordkirche ver-
                                                                               seien keine geeigneten Orte für parteipolitische
     antworteten schulischen Religionsunterricht in
                                                                               Auseinandersetzungen21, sind Gesprächsangebote
     Hamburg ergeben (Gesprächskreis Interreligiöser
                                                                               in Moscheen für die Parteien allmählich zum festen
     Religionsunterricht).17 Wenn festgestellt wird, dass
                                                                               Bestandteil ihres normalen Wahlkampfprogramms
     der interreligiöse Dialog ein Vehikel ist, um die multi­
                                                                               geworden.
     kulturelle Gesellschaft regierbar zu machen18 – der
     interreligiöse Dialog also poli­tische Prozesse vorbe-
     reitet und begleitet –, so gilt dies auch für die weite-
     re Entwicklung in Hamburg hin zum Staatsvertrag:

     14   Schura Hamburg e. V. 2017a.
     15   Schura Hamburg e. V. 2020a.
     16   Interreligiöses Forum Hamburg 2021.
     17   Doedens o. J.
     18   Tezcan 2006.
     19   Islamische Zeitung 2015; Schura Hamburg e. V. 2017b.
     20   Schura Hamburg e. V. 2020b.
     21   Ahrens 2002.
Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive                                                                                      11

Hamburger Muslim_innen bei der Demo „Kein Aufmarsch von Nazi-Hooligans“ im September 2015.

1.2 Die Verabschiedung des SCHURA Grundsatzpapiers

Nach den Terroranschlägen des 11. Septembers                                  Muslim_innen. Hierzu hatte die SCHURA beispiels-
2001 sahen sich Muslim_innen in Hamburg ei-                                   weise eine Veranstaltung am 31. Januar 2003 an der
nem Generalverdacht ausgesetzt.22 In der Folgezeit                            Universität Hamburg organisiert, wozu sie unter ande-
verabschiedete die Bundesregierung Pakete an                                  rem Rolf Gössner als Redner einlud. Unmittelbar nach
Sicherheitsgesetzen, die konkrete behördliche                                 den Anschlägen, am 3. Oktober 2001, lud sie zum all-
Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus nach                                 jährlichen „Tag der offenen Moschee“ ein und bot für
sich zogen und die von vielen Muslim_innen als be-                            die Presse und andere Interessierte einen Moschee-
drohlich empfunden wurden. Sie sahen sich einem                               Rundgang durch den Stadtteil St.  Georg an. Dies zog
Generalverdacht ausgesetzt.23 Vonseiten einzelner                             einen großen Besuchertross mit vielen Kameras und
Bürgerrechtler_innen wurden diese stark kritisiert,                           Fotoapparaten an, den der Vorstand durch die kleinen
etwa vom damaligen Vorsitzenden der Internationalen                           und größeren Gebetsstätten führte. Damals waren sie
Liga für Menschrechte, Rolf Gössner.24 Die SCHURA                             noch teilweise in Kellern oder Tiefgaragen unterge-
bemühte sich in der Zeit nach dem 11. September                               bracht.25 Ziel war es, muslimisches Leben sichtbar und
generell verstärkt um eine öffentliche Diskussion zu                          erfahrbar zu machen, um Misstrauen zu begegnen.
den Maßnahmen und ihrer Wahrnehmung durch                                     Zu einem Hauptproblem für islamische Verbände

22   Yoldas 2004.
23   Carini 2006.
24   Gössner 2021.
25   Als „versteckte Moscheen“ wurden sie später in der Presse betitelt. Vgl. Wilsdorf 2001.
12                                                      AIWG-Expertise: Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften

     wurde – trotz wiederholter Distanzierungen vom                   Normgebung, sie seien nach Maßgabe islamischer
     Terrorismus nach Anschlägen – die Unterstellung                  Rechtsgrundlagen vielmehr geboten, heißt es darin.
     fehlender ideologischer Abgrenzung zu extremisti-                Muslim_innen seien deshalb dazu aufgerufen, diese
     schen Strömungen. Ein Defizit war aber tatsächlich,              Werte mitzutragen, weiterzuentwickeln und jederzeit
     dass es seitens islamischer Verbände kaum fundier-               aktiv zu verteidigen.
     te Erklärungen über das eigene Selbstverständnis, die                Zusammen mit der kurz zuvor veröffentlichten
     Sichtweise auf Staat und Gesellschaft in Deutschland             „Islamischen Charta“ des Zentralrats der Muslime
     sowie die gesellschaftliche Rolle der Muslim_innen               in Deutschland (ZMD)27 war das Grundsatzpapier
     im Land gab. Um dem abzuhelfen, beschloss der                    das erste Dokument dieser Art vonseiten eines isla-
     SCHURA-Vorstand Mitte 2003, eine Arbeitsgruppe zur               misch-religiösen Verbands in Deutschland. Während
     Erstellung eines Grundsatzpapieres einzurichten, in              die „Charta“ öffentlich kontrovers und kritisch dis-
     dem insbesondere Fragen der eigenen Verortung im                 kutiert wurde,28 erfuhr das Grundsatzpapier kaum
     demokratischen Rechtsstaat und in der Gesellschaft               Resonanz. Für die innerislamische Verständigung auf
     aufgegriffen und thematisiert werden sollten. Es folg-           einen gemeinsamen Wertekonsens und auf die ei-
     te ein mehrmonatiger Diskussionsprozess, bis auf                 gene Haltung in Bezug auf die säkulare Verfassung
     einer Mitgliederversammlung am 18. April 2004 ein                der Bundesrepublik Deutschland war es dagegen ein
     Grundsatzpapier vorgelegt werden konnte, welches                 wichtiger Schritt, weil hier bisher nicht hinreichend
     mit großer Mehrheit angenommen wurde.                            geklärte Positionen ausdiskutiert und festgeschrie-
         Mit der Verabschiedung des Grundsatzpapiers                  ben wurden. Insbesondere war das Grundsatzpapier
     Muslime in einer pluralistischen Gesellschaft26 hat              nicht Nachvollzug etwa einer staatlichen Vorgabe,
     sich die SCHURA eindeutig zu einem gemeinsamen                   sondern eigeninitiatives Produkt eines selbstverant-
     Islamverständnis im Einklang mit der Werteordnung                worteten Diskussionsprozesses unter Vertreter_innen
     des Grundgesetzes bekannt. Das Grundsatzpapier                   verschiedener islamischer Glaubensgemeinschaften
     bekräftigt, dass Muslim_innen sich als Teil der deut-            in Hamburg. Dieses Grundlagenpapier sollte sich spä-
     schen Gesellschaft verstehen und dass sie das                    ter sowohl in Bezug auf den Staatsvertrag als auch in
     Grundgesetz mit den Prinzipien der Menschenrechte,               Fällen religiöser wie auch ideologischer oder politi-
     der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der                  scher Konflikte in den eigenen Reihen als nützlich und
     Säkularität als rechtliche Basis des Zusammenlebens              wertvoll erweisen.
     auffassen. Diese Grundwerte ständen in kei-
     nem Widerspruch zu den Prinzipien islamischer

     1.3 Öffentliches Klima und
         parteipolitische Rahmenbedingungen in Hamburg

     Als SCHURA 1999 gegründet wurde, regierte in                     Amtsrichters Ronald Schill holte aus dem Stand 19,4 %
     Hamburg ein rot-grüner Senat unter dem SPD-                      der Stimmen und bildete unter dem Bürgermeister
     Bürgermeister Ortwin Runde. Zu beiden Parteien wur-              Ole von Beust (CDU) eine Koalition mit CDU und FDP.
     den schnell gute Kontakte geknüpft. Bündnis 90/Die               Schill wurde Innensenator. Er und seine Partei waren
     Grünen und die SPD standen dem neuen Verband                     frühe Vorläufer der AfD, Schills ehemaliger Mitstreiter
     grundsätzlich positiv gegenüber, vor allem, weil sich            Dirk Nockemann ist heute AfD-Fraktionsvorsitzender
     mit ihm nun für die Angelegenheiten der Muslim_innen             in der Hamburgischen Bürgerschaft. Die Partei
     der Stadt ein akzeptabler Ansprechpartner bereithielt.           hatte im Wahlkampf mithilfe einiger Medien eine
         Einen Einschnitt brachte die Bürgerschaftswahl               Sicherheitsdebatte entfacht. Diese bekam weiteren
     vom 23. September 2001: Die rechtspopulistische                  Schub, als bekannt wurde, dass einige der Attentäter
     Partei Rechtsstaatlicher Offensive des ehemaligen                des 11. Septembers zuvor in Hamburg gelebt hatten.29

     26   Schura Hamburg e. V. 2004.
     27   Zentralrat der Muslime in Deutschland 2002.
     28   Zum Beispiel von Brunner 2003.
     29   Wunder 2020.
Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive                                                                 13

    Zwischen der Hamburger Regierung und den isla-       seine viel beachtete und diskutierte Rede zum Tag der
mischen Verbänden herrschte in den folgenden drei        deutschen Einheit. In beiden Fällen war die zentrale
Jahren Eiszeit. Es kamen keinerlei Gespräche mehr        Botschaft, der Islam gehöre zu Deutschland. Ebenfalls
zustande. Anfragen und Einladungen vonseiten der         2010 erschien Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft
islamischen Gemeinschaften wurden nicht beant-           sich ab32 und beförderte maßgeblich eine Art integra-
wortet. Stattdessen trat der Hamburger Senat aus         tionspolitischen Gegendiskurs, dieser schien zum da-
Sicht der Muslim_innen ihnen nahezu ausschließlich       maligen Zeitpunkt zwar medial präsent, aber nicht
in Form seiner Sicherheitsbehörden gegenüber. Ein        poli­tisch bestimmend zu sein.
erster Schritt zur Änderung dieser Situation vollzog         Bei den Bürgerschaftswahlen 2008 verlor die CDU
sich im August 2003, als die Regierungskoalition aus     ihre absolute Mehrheit, während die Linke neu in
CDU, FDP und Schill-Partei zerbrach. Bei der folgen-     die Bürgerschaft kam und die FDP den Einzug ver-
den Neuwahl der Bürgerschaft am 29. Februar 2004         passte. Anschließend bildeten unter dem Ersten
verliert die sogenannte Schill-Partei, und die CDU er-   Bürgermeister Ole von Beust die CDU und Bündnis
reicht mit dem Ersten Bürgermeister Ole von Beust        90/Die Grünen den Senat und damit die erste
die absolute Mehrheit. In der Bewertung war man          schwarz-grüne Landesregierung in Deutschland.
sich in der Hansestadt einig, dass dieses Ergebnis nur   Für die zu diesem Zeitpunkt schon angelaufenen
dem Spitzenkandidaten von Beust geschuldet war,          Gespräche über einen möglichen Staatsvertrag er-
was diesem in der Folgezeit eine nahezu unangefoch-      wiesen sich diese Veränderungen auf der politi-
tene Stellung verlieh.30 Aus dieser Stellung heraus      schen Bühne als positiv: Zwischen SCHURA und den
und befreit vom vormaligen rechtspopulistischen          Hamburger Grünen hatte von Anbeginn an durchge-
Koalitionspartner positionierte die CDU sich nun als     hend eine positive Gesprächsebene bestanden und
liberal-konservative Großstadtpartei.31                  die Grünen hatten wiederholt eine Gleichstellung isla-
    Damit verbunden veränderte sich das Verhältnis       mischer Religionsgemeinschaften gefordert. Vor allem
der Regierungspartei zu den Muslim_innen in              war die nunmehrige grüne Schulsenatorin und Zweite
der Hansestadt und es entwickelten sich diverse          Bürgermeisterin Christa Goetsch eine überzeugte
Gesprächskontakte. Um diesen Prozess zu unter­           Verfechterin des Hamburger Religionsunterrichts
stützen, wurde Bürgermeister von Beust im Ramadan        für alle unter gleichberechtigter Einbeziehung der
2006 zum Iftar-Empfang in die Centrum-Moschee            Muslim_innen.33
eingeladen. Angesichts der vorherigen Situation              Auch zu der Partei Die Linke hin bestand bei
und des sich nur langsam entwickelnden Dialogs           SCHURA schon vor deren Einzug in die Hamburgische
mit dem Senat wirkte von Beusts Gesprächsangebot         Bürgerschaft ein guter Kontakt, der sich anschließend
über einen möglichen Staatsvertrag geradezu sen-         noch verstärkte. Da auch die sich zu dieser Zeit eben-
sationell. Es kam aber in einem bundesweiten poli­       falls in der Opposition befindliche SPD die Gespräche
tischen Klima, welches sich zunehmend für eine           mit den islamischen Verbänden unterstützte, gab
Integration des Islams offen zeigte und nach konst-      es in der entscheidenden Verhandlungsphase (2008
ruktiven Lösungen suchte. So startete im selben Jahr     und 2010) zwischen Islamischen Gemeinschaften und
auch die Deutsche Islam Konferenz. 2010 hielt der        dem Hamburger Senat einen fraktionsübergreifenden
damalige Bundespräsident Christian Wulff sodann          Konsens in der Hamburger Bürgerschaft.

30   Ebd.
31   Gall 2011.
32   Sarrazin 2010.
33   Weiße et al. 2008.
14                                                  AIWG-Expertise: Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften

             2. Staatsvertrag zwischen dem Hamburger Senat
                 und islamischen Religionsgemeinschaften

     2.1 Aufnahme der Verhandlungen

     Der Gesprächsprozess begann Ende 2006 mit ei-                    Seitens der Senatskanzlei wurde das Gespräch
     nem Anschreiben der Hamburger Senatskanzlei an               von ihrem damaligem Chef Dr. Volkmar Schön ge-
     die Verbände SCHURA, DITIB und VIKZ, in dem die-             leitet. SCHURA, DITIB und VIKZ waren durch eigene
     se um Darlegung ihrer Positionen zu Inhalten und             Verhandlungsdelegationen vertreten. Hinsichtlich des
     Perspektiven gemeinsamer Gespräche ersucht wur-              weiteren Vorgehens verständigte man sich darauf,
     den. Angeschrieben wurde auch die Alevitische Ge­            zunächst regelungsbedürftige Sachthemen zu bear-
     meinde Hamburg. Da diese hieraufhin erklärte, sich           beiten und dafür die Klärung von Grundsatzfragen  –
     nicht als islamisch, sondern als eigenständige religiö­      nämlich, ob die Verbände die Voraussetzungen ei-
     se Gemeinschaft zu verstehen, wurden später geson-           ner Religionsgemeinschaft erfüllten und am Ende ein
     derte Gespräche mit den Alevit_innen geführt und mit         Staatsvertrag geschlossen werden kann – zunächst
     ihnen ein eigenständiger Staatsvertrag geschlossen.          einmal zurückzustellen. Ebenso war man sich einig,
     Obgleich DITIB und VIKZ, wie eingangs beschrieben,           dass es hier um religionsspezifische Fragestellungen
     in Hamburg wenig stark engagiert waren, wurden               gehen sollte und nicht um solche allgemeiner inte­
     sie neben der SCHURA gleichberechtigt als regiona-           grationspolitischer Art. Damit folgte die Senatskanzlei
     le Vertreter bundesweiter Dachverbände, die auch             ausdrücklich der gleichen Vorgehensweise wie in den
     in der Deutschen Islam Konferenz vertreten waren,            Verhandlungen mit den Kirchen und der Jüdischen
     einbezogen.                                                  Gemeinde.
         Auf die Anfrage antwortete SCHURA mit ei-                    Diese Vorgehensweise sollte sich als konstruktiv
     nem mehrseitigen Positionspapier, in dem sie das             und am Ende erfolgreich erweisen. Eine Entscheidung
     eige­ne Selbstverständnis als islamische Religions­          etwa über den rechtlichen Charakter der Verbände
     gemeinschaft darlegte und begründete. Als Ziel der           oder ihre politische Bewertung gleich zu Beginn der
     Gespräche wurde der Abschluss eines Staatsvertrags           Gespräche hätte diese möglicherweise zum Scheitern
     genannt und als zu regelnde Inhalte jene Punkte, die         gebracht. So verständigte man sich zunächst über
     sich später fast alle im Vertragswerk wiederfanden.          eine Reihe zu behandelnder Sachthemen, die in wei-
     Daraufhin folgte die Einladung der Senatskanzlei zum         ten Teilen dem eingereichten SCHURA-Positionspapier
     Auftaktgespräch am 8. Juni 2007.                             entsprachen.

     2.2 Gegenstand der Gespräche

     Im Anschluss an die Entscheidung, wichtige Sach­             Fächern, zum Religionsunterricht an öffentlichen
     themen anzugehen, wurden verschiedene religions-             Schulen sowie zu islamischen Feiertagen und von
     bezogene Themen gemeinsam diskutiert. Mit dem                Fragen zum Rechtsstatus der Imame. Nicht zuletzt
     Themenkomplex des Moscheebaus wurden die ge-                 wandten sich die Gesprächsbeteiligten der Frage
     meinsamen Gespräche begonnen und fortgesetzt mit             der gemeinsamen Wertegrundlagen zu, wobei das
     der Erörterung von Fragen des Bestattungswesens,             Grundsatzpapier der SCHURA eine gute Grundlage
     der Hochschulausbildung in islamtheologischen                schuf.
15

Gegenstand der Gespräche zwischen dem Hamburger Staat und den islamischen Religionsgemeinschaften waren unter anderem auch die islamischen
Feiertage. Dieses Bild ist während des muslimischen Neujahrsfest 2019 in der Ayasofya Moschee entstanden.

In mehreren Fällen hatte man in den politischen                        sollten: Der Hamburger Senat bestand darauf, dass
Gesprächen bereits einige Aspekte angerissen und                       ihre Mitwirkung lediglich in Form eines Rechts auf
teilweise geregelt, sodass gewissermaßen nur noch                      Anhörung und über Stellungnahmen zu gewährleis-
an eine bestehende Praxis angeknüpft werden muss-                      ten sei, sie aber hierbei keine Bestimmungs- und
te, um sie vertraglich zu fixieren. Ein Beispiel bilde-                Vetorechte hätten. Letzteres wäre ein gegenüber
te die Frage von Ausnahmeregelungen für sarglose                       der Universität Hamburg nicht vertretbarer Eingriff
Bestattungen auf muslimischen Gräberfeldern nach                       in die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und
islamischen Riten auf den städtischen Friedhöfen.                      Lehre und sei in Hamburg auch für die Kirchen nicht
Ebenso wurde in der Frage der Einführung islami-                       vorgesehen.
scher Theologie und Religionspädagogik an der                              Als ein neuartiges Thema wurde schließlich
Universität Hamburg an bisherige Gespräche mit und                     die Aufnahme der beiden höchsten konfessions-
innerhalb der Universität angeknüpft. Es herrsch-                      übergreifenden islamischen Feiertage, das heißt
te Konsens darüber, dass die Einrichtung entspre-                      des Opferfestes und des Festes zum Ende des
chender Lehrstühle primär zur Ausbildung islami-                       Fastenmonats Ramadan, sowie des im Schiitentum
scher Religionslehrer_innen vom Stadtstaat gefördert                   zentralen Trauertages Aschura, in das Hamburgische
werden solle. Meinungsverschiedenheiten zwischen                       Feiertagsgesetz erörtert. Mit der Folge, dass im
dem Senat und den islamischen Verbänden erga-                          Staatsvertrag die Möglichkeit der Befreiung vom
ben sich im Zuge der Verhandlungen allerdings                          Schulunterricht und von der Arbeit festgelegt wurden.
auch, wie etwa hinsichtlich der Frage, ob islamische                       Des Weiteren wurden Fragen zum Rechtsstatus der
Verbände bei der Besetzung der Lehrstühle sowie                        Imame oder zur Gefängnisseelsorge besprochen, wo-
bei der Festlegung der Lehrinhalte für die islamische                  bei keine besonderen Probleme oder Konflikte in der
Religionslehre als Studienfach einbezogen werden                       Diskussion darüber auftraten.
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