Der Angriff auf die Ukraine und die Militarisierung der russischen Außen- und Innenpolitik - Stiftung Wissenschaft und Politik
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NR. 76 DEZEMBER 2022 Einleitung Der Angriff auf die Ukraine und die Militarisierung der russischen Außen- und Innenpolitik Stresstest für Militärreform und Regimelegitimation Margarete Klein / Nils Holger Schreiber In der Entscheidung Moskaus vom 24. Februar 2022, erneut in die Ukraine einzu- marschieren, kulminiert der seit 2008 zu beobachtende Trend zur Militarisierung der russischen Außenpolitik. Zugleich legt der Krieg die Schwächen der 2008 gestarteten Streitkräftereform offen. Die hohen Verluste der Armee begrenzen die militärischen Machtprojektionsfähigkeiten Russlands zum Beispiel in Syrien und in anderen Kon- flikten. Zudem setzen militärische Rückschläge und Teilmobilmachung einen wich- tigen Pfeiler der Regimelegitimation unter Druck. Seit 2008 lässt sich ein Bedeutungsgewinn ausbauen. Ferner ließ sich über die glaub- militärischer Mittel im außenpolitischen würdige Drohung mit militärischer Eskala- Instrumentenkasten Russlands feststellen. tion abschreckende Wirkung erzielen, zum Die erfolgreiche Durchsetzung nationaler Beispiel hinsichtlich der Nato-Ambitionen Interessen ist zunehmend mit der glaub- Georgiens und der Ukraine. haften Drohung mit militärischer Gewalt- Die Militarisierung der Außenpolitik anwendung (»Zwangsdiplomatie«) oder spiegelt sich auch in der Innenpolitik wider. dem Einsatz militärischer Macht verbunden. So stieg der Anteil von Verteidigungs- Davon zeugen der Krieg gegen Georgien und Rüstungsausgaben am Bruttoinlands- (2008), die erzwungene Annexion der Krim produkt von 3,1% im Jahr 2008 auf 4,1% (2014) sowie die Destabilisierung des Don- im Jahr 2021. Mit einem Anteil von 10,6% bas, die Intervention in Syrien (2015) und am Gesamtbudget (2020) genießt die mili- der Einsatz von Söldnergruppen in Libyen, tärische Modernisierung eindeutig Priorität Mali und der Zentralafrikanischen Repu- vor Sozialausgaben, etwa für Bildung und blik. Infolge dieser Operationen konnte Gesundheit. Außerdem spielt die Militari- Moskau nicht nur Interessen gegen die sierung der Bildungs- und Geschichtspolitik betroffenen Länder oder in ihnen durchset- eine wichtige Rolle bei der Legitimierung zen, sondern auch seinen Einfluss im des autoritären Systems. Nahen und Mittleren Osten und in Afrika
Russlands Militärreform im wird auch auf irreguläre Gewaltakteure Realitätscheck zurückgegriffen, die in enger Koordination mit der Militärführung agieren. In der Folge Der erneute Einmarsch in die Ukraine am baute Moskau seinen Pool dieser sogenann- 24. Februar 2022 setzte den Trend zur Mili- ten Proxys beträchtlich aus. Zu ihnen gehö- tarisierung der Außenpolitik fort, stellte ren neben Freiwilligenverbänden vor allem darin aber zugleich eine qualitativ neue die bis heute formal illegalen privaten Mili- Stufe dar. Denn bis dahin waren alle Militär- tärfirmen wie »Wagner«. interventionen Russlands begrenzt gewesen Das zweite Leitbild der russischen Mili- – entweder zeitlich wie der Fünf-Tage- tärreform ist der »Krieg der 6. Generation«, Krieg gegen Georgien oder funktional wie auch »kontaktlose Kriegsführung« genannt, die Intervention in Syrien, die sich auf Luft- der auch die Debatte zu den militärischen waffe und Militärpolizei sowie Söldner- Endphasen des Krieges neuen Typs domi- gruppen beschränkte. Dagegen handelte es niert. Dahinter steht die Vorstellung, dass sich beim Angriff auf die Ukraine vom künftig militärische Operationen – wie Februar 2022 um den ersten vollumfäng- schon die US-Intervention im Irak 2003 – lichen Kriegseinsatz Russlands gegen ein über lange Distanzen unter besonderer großes Land. Nutzung modernster, vor allem luft- und Gerade deshalb ist dieser der erste wirk- weltraumbasierter Systeme ausgetragen liche Realitätscheck für Russlands militä- werden. risches Modernisierungsprogramm. Dabei Im Sinne des Krieges neuen Typs lässt offenbaren sich nicht nur Defizite bei sich der Einmarsch in die Ukraine am Planung und Durchführung der Invasion, 24. Februar 2022 als Folge des Scheiterns sondern auch strukturelle Schwächen des nichtmilitärischer Mittel der Einflussnahme militärischen Reformprogramms. im Vorfeld begreifen. Versuche, Teile der Dieses war 2008 nach dem Georgienkrieg ukrainischen Streitkräfte und Bevölkerung gestartet worden und zielte darauf ab, die mit Desinformation und Subversion auf russischen Streitkräfte von der veralteten, Russlands Seite zu ziehen, waren weitge- traditionellen Mobilisierungs- in eine moder- hend erfolglos geblieben. Als die Entschei- ne Einsatzarmee umzuwandeln. Sie sollte dung zum erneuten, diesmal offenen und die ganze Bandbreite möglicher Militärope- massiven militärischen Eingreifen getroffen rationen abdecken, von der Bekämpfung wurde, beruhten die Planungen offensicht- transnationaler Bedrohungen bis hin zur lich auf einer fehlerhaften strategischen regionalen Kriegsführung. Aufklärung. Sie ging davon aus, dass die Die Reform war eingebettet in die seit ukrainischen Streitkräfte schwach seien den frühen 2000er Jahren geführte Debatte und die politische Führung in Kyjiw rasch darüber, wodurch sich moderne Kriege aus- kollabieren werde. zeichnen und auf welche Art von Kriegs- Im Verlauf des Krieges zeigte sich indes, führung sich Russland vorbereiten müsse. dass Russlands Streitkräfte enorme Schwie- Dabei standen, vereinfacht gesprochen, rigkeiten hatten, Kernelemente des Krieges zwei miteinander verbundene Leitbilder der 6. Generation umzusetzen. Zwar waren moderner Kriegsführung im Vordergrund. der Anteil »moderner« Waffen am Gesamt- Der »Krieg neuen Typs« basiert auf einem arsenal 2020 offiziell mit über 70% ange- holistischen Verständnis von Krieg. In den geben sowie auf Rüstungsmessen und Para- frühen, nichtmilitärischen Phasen geht es den medienwirksam Modernisierungs- darum, den Gegner durch »aktive Maßnah- erfolge präsentiert worden. Nicht wenige men« wie Desinformation und Subversion der neuen Systeme, etwa der T-14-Armata- im Sinne »mentaler Kriegsführung« zu Kampfpanzer und das Su-57-Kampfflug- schwächen. Sobald der Krieg in die militä- zeug, sind aber noch nicht in die Massen- rische Phase übergeht, werden nicht nur fertigung gegangen. Problematischer als reguläre Soldaten eingesetzt, sondern es Verzögerungen bei der Produktion einzel- SWP-Aktuell 76 Dezember 2022 2
ner Systeme ist der unzureichende Grad an Aussagekraft für den tatsächlichen Pool Digitalisierung von Führungs-, Aufklärungs- an gut ausgebildeten, einsetzbaren Zeit- und Kommunikationssystemen in den rus- soldaten, die nicht nur für das Bedienen sischen Streitkräften. Berichte von der Front komplexer Waffensysteme, sondern in zeigen, dass russische Soldaten anstelle digi- westlichen Armeen als Unteroffiziere auch taler Karten Straßenatlanten aus der Sowjet- essentiell für die Aufrechterhaltung der zeit benutzten oder mangels verschlüsselter Disziplin sind. Das russische Programm zur Nachrichtensysteme auf offene Handy- Ausbildung professioneller Unteroffiziere verbindungen zurückgreifen mussten. In war an der Persistenz der traditionellen verlassenen Panzern fehlten wichtige elek- Militärkultur gescheitert, die nicht auf das ronische Komponenten. Das dürfte auch Delegieren militärischer Führungsaufgaben eine Folge der endemischen Korruption in jenseits des Offizierskorps ausgerichtet ist. den Streitkräften sein. In der Folge war die Invasion in der Ukraine Die geringe digitale Vernetzung in den oftmals mehr durch Chaos (»bardak«) und russischen Streitkräften erschwert das ko- Schludrigkeit (»rasgildiatstwo«) gekenn- ordinierte Zusammenwirken von Luftwaffe, zeichnet statt durch effiziente Umsetzung Luftabwehr, Artillerie- und Infanterieein- moderner Konzepte von Kriegsführung. heiten. In der Folge gelang es den russi- schen Streitkräften nicht, den Luftraum in der Ukraine zu kontrollieren, wie es das Materielle Verluste und Konzept des Krieges der 6. Generation vor- Kompensationsstrategien sieht. Dazu kommen Koordinationsproble- me zwischen den regulären Streitkräften Inwieweit Russlands Führung zur Durch- und den Proxys. Da es den nur zu 75% setzung außenpolitischer Interessen auch bemannten Bataillonskampfgruppen vor künftig glaubhaft auf militärische Drohun- allem an Infanterieeinheiten fehlte, über- gen bzw. Machtanwendung setzen kann, nahmen oftmals Söldnergruppen und Natio- wird entscheidend davon abhängen, ob es nalgardisten deren Aufgabe. Zu Letzteren ihr gelingt, die materiellen und personellen gehören die sogenannten Kadyrowzy, eine Verluste der Streitkräfte des Landes aus- Art Privatarmee des tschetschenischen zugleichen. Dies gilt umso mehr, als sich Machthabers Ramsan Kadyrow, wenngleich der Krieg gegen die Ukraine zum längeren formal der Nationalgarde unterstellt. Abnutzungskrieg entwickelt. Der Krieg offenbarte zudem, dass der Nach Angaben der unabhängigen Ana- reale Trainings- und Professionalisierungs- lysewebsite Oryx, die nur durch Bild- stand der russischen Streitkräfte deutlich material dokumentierte Verluste bei schwe- geringer war als auf dem Papier. Zwar ren Waffenkategorien zählt, verlor Russ- hatten Russlands Streitkräfte seit 2008 Zahl, lands Militär bis zum 6. Dezember 2022 Frequenz, Umfang und Komplexität größe- 1.541 Kampfpanzer, 1.814 Schützenpanzer, rer Militärübungen massiv ausgeweitet. In 66 Kampfflugzeuge, 72 Helikopter und der Ukraine eingesetzte Soldaten berichten 12 Schiffe. Die Zahlen des ukrainischen jedoch, dass besonders in den Bataillons- Verteidigungsministeriums für denselben kampfgruppen zu wenig, zu kurz oder Zeitraum liegen deutlich darüber. manchmal nur für Fotozwecke trainiert Die materiellen Verluste wiegen unter- wurde. Dies unterminiert auch die auf den schiedlich schwer. Hardware in manchen ersten Blick erfolgreichen Professionalisie- Kategorien lässt sich rasch ersetzen, da rungsbemühungen der russischen Streit- entweder die industriellen Produktions- kräfte. Hatte das Verteidigungsministerium kapazitäten nicht durch Sanktionen betrof- 2008 mit 124.000 Vertragssoldaten, soge- fen oder Lagerbestände vorhanden sind. nannten Kontraktniki, geplant, waren es Das trifft besonders auf Artilleriesysteme nach offiziellen Angaben 2020 bereits und -munition sowie gepanzerte Fahrzeuge 405.000. Die bloße Zahl besitzt aber wenig zu. Schwieriger sind moderne Systeme zu SWP-Aktuell 76 Dezember 2022 3
ersetzen, deren Produktion und Wartung Frühjahr 2022 zunächst »still« zu mobilisie- auf Komponenten angewiesen ist, deren ren, das heißt Soldaten und Söldner über Ausfuhr von EU und USA sanktioniert wur- kurzfristige Zeitverträge mittels hoher mone- den. Moskaus Führung setzt nun auf eine tärer Anreize anzuwerben. Dazu bediente Mischung aus Importsubstitution, ökono- sich der Kreml sowohl der regionalen Füh- mischer Mobilisierung und Sanktionsum- rungen als auch der Proxys. So wurden die gehung. Ersteres stellt aufgrund der wenig Föderationssubjekte angewiesen, jeweils ein innovationsfreundlichen Industriebasis regionales »Freiwilligenbataillon« aus Russlands den schwächsten Teil der Kom- ungefähr 400 Mann aufzustellen. Darüber pensationsstrategie dar. Bereits nach 2014 hinaus rekrutierten private Militärfirmen war es Moskau nur in sieben von 127 Güter- wie Wagner oder Redout gezielt Männer kategorien gelungen, diese Güter erfolg- mit Kampferfahrung. Stellenanzeigen, die reich zu substituieren. Daran kann auch die in Telegram-Kanälen geteilt wurden, boten zunehmende Mobilisierung der Wirtschaft dabei das Mehrfache des regulären Soldes. zugunsten der Rüstungsindustrie nichts Wie hoch der Personalbedarf in den russi- Grundlegendes ändern, auch wenn die Pro- schen Streitkräften ist, lässt sich an einer duzenten von Waffen und militärischer Reihe von Indizien ablesen. So wurde im Ausrüstung nun prioritären Zugriff auf rare Sommer 2022 die Altersgrenze für Zeit- Güterkategorien erhalten. Die Möglichkei- soldaten über das bis dahin geltende Höchst- ten, aus dem Ausland Rüstungsgüter zu alter von 40 Jahren bis zum Ende des beziehen, sind durch die westlichen Sank- Erwerbsalters erhöht. Zudem wurde es dem tionen und die Zurückhaltung möglicher Unternehmen Wagner gestattet, selbst in Lieferländer wie etwa China begrenzt. Die Gefängnissen »Freiwillige« anzuwerben. einzigen Ausnahmen bilden bislang Belarus Ferner wurde für ausländische Kontrakt- und der Iran, der Russland Drohnen liefert. niki, die mindestens ein Jahr in den russi- schen Streitkräften dienen, im September 2022 die Möglichkeit des beschleunigten Von der »stillen Mobilisierung« Erwerbs der russischen Staatsbürgerschaft zur Teilmobilmachung als Anreiz gesetzt. Letzteres richtet sich vor allem an Migranten aus Zentralasien. Hoch sind auch die personellen Verluste Die erfolgreiche ukrainische Gegenoffen- der russischen Streitkräfte. Verteidigungs- sive im Nordosten bei Charkiw im August minister Sergej Schojgu gab am 21. Septem- 2022 demonstrierte dann eindrücklich, dass ber 2022 bekannt, es seien 5.937 russische die stille Mobilisierung allein nicht aus- Soldaten gefallen. Doch bis zum 25. Novem- reicht, um die Personallücken zu füllen. In ber 2022 haben der russische Dienst der der Folge rief Präsident Putin am 21. Sep- BBC und das unabhängige russische Medien- tember 2022 die Teilmobilmachung aus. unternehmen Mediazona bereits 9.311 Bevor diese am 31. Oktober 2022 suspen- gefallene russische Soldaten namentlich diert wurde, sollen nach offiziellen Angaben identifiziert. Dabei gehen sie von doppelt 318.000 Reservisten eingezogen worden sein. so hohen Gefallenenzahlen aus – also Nach der parallel zur Teilmobilmachung etwa 20.000 – und von insgesamt 84.000 von Moskau proklamierten Annexion der gefallenen, verwundeten und in Kriegs- vier ukrainischen Oblaste Donezk, Luhansk, gefangenschaft befindlichen russischen Sol- Saporischschja und Cherson können seit- daten. Das entspräche einer Ausfallquote dem auch Wehrpflichtige zu deren »Vertei- von 44% der Invasionstruppe, die im Febru- digung« in der Ukraine eingesetzt werden. ar 2022 rund 190.000 Soldaten umfasste, Dabei umfasst der Begriff Verteidigung so- bzw. von ungefähr 10% der gesamten russi- wohl die Abwehr ukrainischer Befreiungs- schen Streitkräfte. versuche als auch die offensive Einnahme Um die personellen Lücken zu füllen, ver- der noch nicht von Russland eroberten suchte Russlands Führung ab dem späten Teile der vier Gebiete. SWP-Aktuell 76 Dezember 2022 4
Weder der nun mögliche Einsatz von ralstab für Januar/Februar 2023 erwartet – Wehrpflichtigen noch die Mobilisierung die Probleme der hastig und vielfach impro- von Reservisten werden kurzfristig die visierten ersten Mobilmachungsrunde über- Kampfkraft der russischen Streitkräfte er- winden ließen. Denn es fehlen die organisa- höhen. Zwar steht diesen theoretisch ein torischen und personellen Grundlagen, also Reservoir von rund 1,6 Millionen Männern Trainingseinrichtungen und Ausbilder, für zur Verfügung, die in den vergangenen eine längere Ausbildung der Reservisten, fünf Jahren als Wehrpflichtige und Zeitsol- oder sie sind durch den Kriegseinsatz ge- daten gedient haben oder über »militäri- bunden. Die Mitte Oktober 2022 vereinbar- sche Erfahrung« verfügen, da sie beispiels- te Nutzung belarussischer Trainingseinrich- weise paramilitärische Kurse absolviert tungen fällt bislang kaum ins Gewicht. haben. Doch dies ist nicht mit einer aktiven Daher ist zu erwarten, dass die Invasion in Reserve gleichzusetzen, in der die Reservis- der Ukraine noch stärker als bisher mit ver- ten regelmäßig an Übungen teilnehmen. In alteten, hauptsächlich auf Masse beruhen- den fünf Jahren nach ihrem Ausscheiden den Konzepten von Kriegsführung fortge- aus den Streitkräften erhalten nur 10% der setzt wird. Damit verlöre das Reformprojekt einstmaligen Wehrpflichtigen ein Auffri- von 2008 weiter an praktischer Relevanz. schungstraining. Für die ab September 2022 eingezogenen Reservisten war laut geleak- ten Informationen nur ein dreiwöchiger Begrenzter militärischer Kurs vorgesehen, der nicht selten viel kürzer Handlungsspielraum nach außen ausfiel. Das zeigt, dass Russlands Führung mo- Die materiellen und personellen Verluste mentan vor allem bestrebt ist, die Personal- Russlands und die Schwierigkeiten, diese lücken rein quantitativ zu füllen, damit die auszugleichen, begrenzen kurz- bis mittel- russischen Streitkräfte in der Ukraine nicht fristig die Fähigkeiten des Kremls, außen- weiter zurückgedrängt werden. Als Notmaß- politische Interessen wie bisher durch die nahme in diesem Sinne ist auch das im Teil- Drohung mit militärischer Gewalt oder den mobilmachungs-Dekret verankerte Verbot Einsatz konventioneller Streitkräfte sowie für Kontraktniki zu sehen, ihre Verträge über den Anreiz einer Militärkooperation vor Vollendung der »militärischen Spezial- durchzusetzen. Probleme dürfte Moskau operation« zu kündigen. Zwar wird dadurch vor allem damit haben, neue personal- und sichergestellt, dass genau diejenigen Solda- hardwareintensive Einsätze zu realisieren ten, die als Spezialisten für das Bedienen sowie Operationen durchzuführen, die auf komplexer Waffensysteme nur schwer zu schnell einsatzbereite Einheiten oder die ersetzen sind, unbegrenzt eingesetzt wer- Schwarzmeerflotte angewiesen sind. Nach den können. Nach Monaten im Kampfein- amerikanischen Angaben sind mittlerweile satz dürfte ihre Einsatzbereitschaft aber mehr als 85% der einsatzbereiten Einheiten erheblich gesunken sein. in der Ukraine gebunden, wobei vor allem Der militärische Nutzen von Putins Luftlandetruppen und Marineinfanterie Dekret ist daher kurzfristig gering, das Risi- überproportional hohe Verluste verzeich- ko militärischer Folgekosten dagegen hoch. neten. Die Schwarzmeerflotte wiederum So dürfte es künftig deutlich schwerer hat mehrere Schiffe, darunter den Raketen- werden, neue Kontraktniki zu rekrutieren kreuzer »Moskwa«, verloren und hat wegen oder in Dienst stehende Zeitsoldaten zur des beschränkten Zugangs durch die Darda- Verlängerung ihres Vertrags zu bewegen. nellen auch kaum mehr Manövrierraum Auch dürften Moral, Kohäsion und Einsatz- außerhalb des Schwarzen Meeres. bereitschaft der eilig durch Reservisten Dies dürfte Moskaus Machtprojektions- verstärkten Einheiten gering bleiben. Es ist fähigkeiten im Nahen und Mittleren Osten fraglich, ob sich bei einer neuen Einberu- und in Nordafrika (MENA) reduzieren. Zwar fungswelle – wie sie der ukrainische Gene- ist zu erwarten, dass Russland seinen Ein- SWP-Aktuell 76 Dezember 2022 5
satz in Syrien fortführt. Zugleich muss es vertrag auf dem Versprechen von Stabilität versuchen, eine Eskalation zu vermeiden und wirtschaftlicher Prosperität im Aus- und mit reduziertem Personal, gerade auch tausch für politische Loyalität oder Apathie. Proxys, die Präsenz aufrechtzuerhalten. Als dieses Modell, beginnend mit der Wirt- Der Krieg unterminiert zudem Moskaus schafts- und Finanzkrise 2009, ins Wanken Bemühungen, über Ausbildungshilfe und geriet, schwenkte der Kreml zum Zweck der Rüstungsverkäufe in der MENA-Region, Kompensation auf die Inszenierung russi- Afrika und Asien seinen politischen Einfluss scher Großmachtpolitik um. Dabei nahm auszubauen. Nicht nur sinkt das Vertrauen die Demonstration militärischer Erfolge in die Effektivität russischer Waffensyste- eine Schlüsselrolle ein. Die Effekte zeigten me, sondern auch in die Verlässlichkeit der sich eindrücklich nach der Krim-Annexion, Lieferungen angesichts hohen russischen als die Zustimmungswerte für Präsident Eigenbedarfs. Davon zeugt, dass Russlands Putin von 61% im November 2013 auf 88% Waffenexporte von 2021 auf 2022 um ge- im Oktober 2014 kletterten. schätzt 40% schrumpfen dürften. Parallel dazu wuchs das Prestige der Auch im postsowjetischen Raum gerät Streitkräfte in der Bevölkerung, das in den das Militär als Pfeiler russischer Hegemoni- 1990er Jahren aufgrund ausbleibender alpolitik unter Druck, das für den Kreml Soldzahlungen, materiellen Verfalls und aufgrund schwindender ökonomischer Ab- hoher Personalverluste gerade unter Wehr- hängigkeiten vieler Länder von Russland pflichtigen in den Tschetschenienkriegen immer wichtiger wird. Moskau kann seine massiv gelitten hatte. So stieg der Anteil Truppenpräsenz in Armenien, Kirgisistan jener, die den Dienst eines Verwandten und Tadschikistan sowie den abtrünnigen oder Freundes in den Streitkräften positiv Gebieten Abchasien, Südossetien, Transnis- beurteilen, von 20% im Jahr 2002 auf 52% trien und Berg-Karabach nicht verringern, im Jahr 2020. In der letzten Dekade gehör- ohne den eigenen Anspruch zu konterka- ten die Streitkräfte zudem stets zu jenen rieren, in der Region als Sicherheitsgarant drei Institutionen neben Präsident und zu wirken. Zugleich vermindern sich die orthodoxer Kirche, denen die Befragten am Kapazitäten, auf Krisen zu reagieren. Noch meisten vertrauen. Dabei ist der Populari- im Januar 2022 hatte Moskau unter dem tätszuwachs der Streitkräfte Teil eines brei- Dach der Organisation des Vertrags über teren Trends zur Militarisierung des Be- kollektive Sicherheit (OVKS) in Kasachstan wusstseins in der russischen Gesellschaft. interveniert. Als aber im September 2022 Abzulesen ist er an der Inkorporation mili- die Kämpfe zwischen Armenien und Aser- tärisch-patriotischer Elemente in die Bil- baidschan wieder aufflammten und kurz da- dungs- und Geschichtspolitik sowie am rauf die Spannungen zwischen Kirgisistan breiten Raum militärischer Siege im staat- und Tadschikistan eskalierten, vermied der lichen Feiertagskalender. Kreml weiteres militärisches Engagement. Vor diesem Hintergrund birgt die Mög- Daher verliert die von Moskau dominierte lichkeit einer militärischen Niederlage in OVKS rapide an Bedeutung. der Ukraine das Risiko, dass ein zentraler Pfeiler der Putinschen Legitimationsstrate- gie unterminiert wird. Zwar ist die Aussage- Krieg und Regimelegitimität kraft von Meinungsumfragen beschränkt, aufgrund der seit Februar 2022 weiter ver- Der Verlauf des Krieges begrenzt nicht nur schärften Repressionen und des fast völli- den außenpolitischen Handlungsspielraum gen Verschwindens freier Medien. Dennoch Russlands. Er droht auch die etablierte Legi- lassen sich Trends erkennen. Während die timationsstrategie des Putinschen Regimes Umfragen weiterhin hohe Unterstützung zu erodieren. für die Aktivitäten der russischen Streit- In den ersten beiden Amtszeiten Putins kräfte in der Ukraine ausweisen, sinkt diese beruhte der ungeschriebene Gesellschafts- bereits – von 80% im März 2022 auf 74% SWP-Aktuell 76 Dezember 2022 6
im November 2022. Vor allem aber glauben erfordernisse zu rechtfertigen. Aus der For- immer weniger Befragte an einen erfolgrei- schung über autoritäre Systeme ist bekannt, chen Abschluss der sogenannten militäri- dass diese selbst lange Kriege überstehen schen Spezialoperation – anstelle von 68% können; nur desaströse Niederlagen wirken im April 2022 nur mehr 54% im November regimegefährdend. Dass sich Russland auf 2022. Besonders auffällig ist, dass seit der einen längeren Krieg gegen die Ukraine Entscheidung zur Teilmobilmachung nega- vorbereitet, offenbart der Haushaltsentwurf tive Gefühle und individuelle Betroffenheit für 2023 und 2024. Er sieht vor, die Aus- deutlich zugenommen haben. Lediglich gaben für Verteidigung und innere Sicher- 23% der Befragten sahen im Oktober 2022 heit massiv, nämlich um 50% zu steigern. mit Stolz auf die Entwicklung des letzten Darüber hinaus werden Vorbereitungen Monats, während 47% der Befragten Angst, getroffen, die Wirtschaft für Kriegszwecke Furcht und Horror, 23% Schock und 13% zu mobilisieren. Ukrainische Medien Wut und Empörung äußerten. Dies trifft berichten außerdem, es sei eine möglicher- vor allem auf die jüngeren Befragten zu. weise weit umfangreichere zweite Mobili- 58% der 18- bis 24-Jährigen lehnen die Teil- sierung von Reservisten in Planung. Um die mobilmachung ab. mit einem längeren Krieg verbundenen Daraus ergibt sich noch keine unmittel- Kosten zu rechtfertigen und die Risiken für bare Gefahr für die Stabilität des Putin- die Regimestabilität zu reduzieren, baut schen Regimes. Die anfänglichen Proteste der Kreml den Repressionsapparat aus und nach der Teilmobilmachung wurden von passt die Narrative an. So rahmen Präsi- den Sicherheitsdiensten niedergeschlagen. dent, Verteidigungsminister und staatliche Die Flucht von geschätzt bis zu 700.000 gelenkte Medien den Krieg gegen die Ukra- Russen erschwert zwar die Einberufung von ine zunehmend als existentielle und zu- Reservisten, bedeutet kurzfristig aber auch, gleich schicksalhafte Auseinandersetzung dass potentiell protestbereite Personen das mit einem wesentlich größeren Gegner – Land verlassen. dem »kollektiven Westen«. Auf diese Weise Dennoch geraten wesentliche Elemente werden die bisherigen militärischen der bisherigen Legitimationsstrategie des Schwierigkeiten erklärt und die Bevölke- Kremls unter Druck. Die hohen Verluste rung auf die Notwendigkeit eines langen, und militärischen Rückschläge kratzen am kostspieligen Krieges eingeschworen. Nimbus der erfolgreichen Wiedererrichtung der Großmacht Russland. Und mit der Ein- berufung von Reservisten bricht der Kreml Herausforderungen für deutsche das Versprechen des ungeschriebenen und europäische Politik Gesellschaftsvertrags, wonach militärische Abenteuer sich nicht negativ auf das Die enge Wechselwirkung zwischen den Alltagsleben der Bevölkerung auswirken. nach innen und außen gerichteten Milita- Zugleich kann Putin die legitimatori- risierungsprozessen Russlands hat nicht schen Defizite nicht durch einen Rückgriff nur Konsequenzen für dessen Krieg gegen auf den Status quo ante überwinden – die Ukraine. Sie birgt auch Risiken und ganz im Gegenteil. Die westlichen Sanktio- Gefahren für deutsche und europäische nen und die Effekte der energiepolitischen Politik. Umorientierung europäischer Märkte weg Im Gegensatz zu Russlands weiteren von Russland unterhöhlen seine Möglich- Militäreinsätzen wirkt sich der seit dem keiten, wirtschaftliche Erfolge zu präsentie- 24. Februar 2022 erneut geführte Krieg ren. Daher wächst für den Kreml der Anreiz, gegen die Ukraine auf Russlands Regime- den Krieg gegen die Ukraine fortzusetzen. stabilität aus. Verliert Russland den Krieg, Dieser bietet die Möglichkeit, sozioöko- stehen nicht nur seine außenpolitische nomische Härten und verstärkte politische Rollenkonzeption als Großmacht und sein Repression mit dem Verweis auf Kriegs- Anspruch auf eine hegemoniale Einfluss- SWP-Aktuell 76 Dezember 2022 7
zone im postsowjetischen Raum zur Dispo- In Anbetracht dieser Lage kommt es für sition, sondern auch die bisherige Legitima- deutsche und europäische Politik erstens tionsstrategie nach innen. darauf an, Resilienz gegen hybride russi- Vor diesem Hintergrund ist davon aus- sche Bedrohungen zu stärken sowie in zugehen, dass der Kreml nur dann zu ernst- Kapazitäten für militärische Rückversiche- haften Verhandlungen bereit sein wird, rung und glaubhafte Abschreckung zu in- wenn er entweder eine desaströse Nieder- vestieren. Dabei gilt es auch, Moskau die lage seiner Streitkräfte vermeiden oder der Kosten der nuklearen Eskalationsdrohun- Ukraine einen Kapitulationsfrieden oktroy- gen klar zu kommunizieren. ieren will. Substantielle Zugeständnisse Zweitens sollten die EU und ihre Mit- © Stiftung Wissenschaft dazwischen ergeben gemäß der Logik russi- gliedstaaten ihre wirtschaftlichen, finan- und Politik, 2022 scher Regimelegitimation keinen Sinn, ziellen und zusammen mit der Nato auch Alle Rechte vorbehalten aber sehr wohl taktisch motivierte Verhand- militärischen Unterstützungsleistungen für lungsangebote, die bloß dazu dienen, den die Ukraine auf Langfristigkeit ausrichten. Das Aktuell gibt die Auf- personell und materiell erschöpften russi- Da Russlands Führung an ihren Maximal- fassung der Autorin und des Autors wieder. schen Streitkräften Zeit zur Umgruppierung zielen gegenüber der Ukraine festhält, ist und Verstärkung zu verschaffen. ein längerer Abnutzungskrieg zu befürch- In der Online-Version dieser Zu erwarten ist, dass Russland seine ten. Dabei können sich Phasen intensiver Publikation sind Verweise Kriegsführung nicht nur fortsetzt, sondern Kriegsführung mit solchen reduzierter auf SWP-Schriften und weiter brutalisiert, um den Druck auf die Intensität abwechseln, zum Beispiel wenn wichtige Quellen anklickbar. Ukraine zu erhöhen. Diesem Ziel dienen Russlands Streitkräfte eine Pause für Um- SWP-Aktuells werden intern bereits die seit Herbst 2022 massiv verstärk- gruppierungen oder zur Konsolidierung einem Begutachtungsverfah- ten Angriffe auf deren zivile Infrastruktur. ihrer Besatzungsherrschaft benötigen. ren, einem Faktencheck und Flächenbombardierungen wie in Syrien Deswegen sind für die Ukraine Hilfen zur einem Lektorat unterzogen. wären ein weiterer Schritt. Zudem warnt Aufrechterhaltung staatlicher Funktionen Weitere Informationen Moskau vor einer Eskalation des Krieges ebenso essentiell wie verlässliches sicher- zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- über die Grenzen der Ukraine hinaus und heitspolitisches und militärisches Engage- Website unter https://www. droht auf diese Weise den EU- und Nato- ment. Dazu sollte ein ernsthafter Dialog swp-berlin.org/ueber-uns/ Mitgliedern. Damit will der Kreml deren über die Ausgestaltung möglicher Sicher- qualitaetssicherung/ politische, wirtschaftliche, finanzielle und heitsgarantien für die Ukraine geführt wer- militärische Unterstützung für die Ukraine den. Dringlich sind auch die weitere Liefe- SWP Stiftung Wissenschaft und unterminieren. Während der Einsatz von rung von Waffensystemen und Ausrüstung Politik Nuklearwaffen aufgrund hoher Folgekosten sowie militärische Ausbildungsprogramme. Deutsches Institut für eher unwahrscheinlich ist, sind die Möglich- Da sich der Kreml ohnehin im Krieg gegen Internationale Politik und keiten hybrider Eskalation größer. Cyber- den »kollektiven Westen« sieht, sollten sich Sicherheit angriffe, Täuschungsmanöver mit falscher Umfang und Qualität der Waffenlieferun- Identität (»false flag attacks«) und verstärkte gen weniger an Moskaus Drohungen mit Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Subversionsbemühungen könnten dabei Gegenmaßnahmen orientieren, sondern Telefon +49 30 880 07-0 Bausteine sein. Darüber hinaus bestehen vielmehr an den Erfordernissen der ukra- Fax +49 30 880 07-100 Anreize für Russland, Konflikte mit Spill- inischen Streitkräfte bei ihrem Bestreben, www.swp-berlin.org over-Potential auf EU-Länder planvoll anzu- Russlands militärische Aggression abzu- swp@swp-berlin.org heizen, zum Beispiel in Bosnien-Herzego- wehren. Letztlich entscheidet sich in der ISSN (Print) 1611-6364 wina, Libyen, Syrien oder Mali. Zwar ist der Ukraine, ob die Militarisierung der russi- ISSN (Online) 2747-5018 Kreml in internationalen Konflikten derzeit schen Außenpolitik gestärkt oder gebro- DOI: 10.18449/2022A76 eher status-quo-orientiert, doch um bewusst chen wird. Öl ins Feuer schwelender oder manifester Konflikte zu gießen, ist meist kein großes militärisches Engagement nötig. Dr. Margarete Klein ist Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Nils Holger Schreiber ist Masterstudent an der London School of Economics & Political Science im Fach »Internationale Politische Ökonomie«. SWP-Aktuell 76 Dezember 2022 8
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