Der Kanton Tessin Struktur und Perspektiven - Credit Suisse
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Investment Strategy & Research Economic Research Swiss Issues Regionen Juni 2015 Der Kanton Tessin Struktur und Perspektiven
Credit Suisse Economic Research Impressum Herausgeber Loris Centola Global Head of Research and Head of Business Development Tel. +41 44 333 57 89 E-Mail: loris.centola@credit-suisse.com Fredy Hasenmaile Head of Real Estate & Regional Research Tel. +41 44 333 89 17 E-Mail: fredy.hasenmaile@credit-suisse.com Autoren Thomas Rühl Dr. Sara Carnazzi Weber Simon Hurst Pascale de Raemy Sascha Jucker Emanuel Roos Thomas Rieder Fabian Hürzeler Kontakt E-Mail: regionen.economicresearch@credit-suisse.com Tel. +41 44 334 74 19 Titelbild LAC Lugano Arte e Cultura © LAC 2015, Foto Studio Pagi Druck Fratelli Roda SA, Taverne Redaktionsschluss 1. Juni 2015 Besuchen Sie uns auf dem Internet www.credit-suisse.com/research Copyright Die Publikation darf mit Quellenangabe zitiert werden. Copyright © 2015 Credit Suisse Group AG und/oder mit ihr verbundene Unternehmen. Alle Rechte vorbehalten Swiss Issues Regionen 2
Credit Suisse Economic Research Editorial Geschätzte Leserinnen und Leser Es freut uns, Ihnen die neue Regionalstudie über den Kanton Tessin und seine Teilregionen präsentieren zu dürfen. Wir haben unseren Ökonomen den Auftrag gegeben, die Region aus volkswirtschaftlicher Sicht im Detail zu analysieren. Im Vordergrund stehen dabei die Themen Konjunktur, Wirtschaft, Wohnen und Kantonsfinanzen. Die Studie soll unseren Privat- und Fir- menkunden sowie den Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft einen Mehrwert bieten und zu Diskussionen anregen. Als Bank mit einer starken Verwurzelung im Tessin liegt es uns am Herzen, die regionale Wirtschaft im Detail zu verstehen. Wir hoffen, mit diesem Beitrag den wirtschaftlichen Erfolg des Kantons zu unterstützen. Die geografische Lage und die italienische Sprache verleihen dem Tessin eine Sonderrolle unter den Schweizer Kantonen. Mit Lugano als drittgrösstem Schweizer Bankenplatz, einem dynami- schen Industrieportfolio sowie beliebten Tourismusdestinationen nördlich und südlich des Ceneri besteht nicht nur gegenüber dem Rest der Schweiz, sondern auch innerhalb des Kantons eine grosse Heterogenität. Aus der Wirtschaftsstruktur ergeben sich für das Tessin momentan beträchtliche Herausforde- rungen: Die Frankenstärke trifft an erster Stelle den Tourismussektor, den grenznahen Detail- handel und die Exportwirtschaft. Für die Bauwirtschaft stellt die Zweitwohnungsinitiative eine Herausforderung dar. Der Bankenplatz ist von der Umsetzung des Doppelbesteuerungsabkom- mens mit Italien abhängig. Die Personenfreizügigkeit mit der EU hat den Arbeitsmarkt stark be- einflusst; die Grenzgängerzahlen schnellen in die Höhe. Die Umsetzung der «Masseneinwande- rungsinitiative» spielt damit für das Tessin eine besonders wichtige Rolle. In steuerlicher Hinsicht steht ausserdem die Unternehmenssteuerreform III im Fokus. Im Vergleich zu Italien und anderen europäischen Ländern erweist sich die Standortqualität des Tessins weiterhin als hoch. Für italienische Firmen mit Bedürfnis nach Stabilität und günstigen Steuer- und Finanzierungsbedingungen stellt der geografisch, sprachlich und kulturell nahe Südkanton damit eine interessante Alternative dar. Die baldige Eröffnung der Basistunnels unter dem Gotthard und dem Monte Ceneri verkürzt zudem die Fahrzeiten im Bahnverkehr zwischen den beiden Tessiner Ballungsräumen und in die Deutschschweiz. Fragezeichen ergeben sich je- doch in Bezug auf die Strassenverbindung wegen der Sanierung des Gotthardtunnels und der möglichen Teilsperrung. Die Credit Suisse ist seit Langem mit der italienischsprachigen Schweiz verbunden. Die damali- ge Schweizerische Kreditanstalt (SKA) eröffnete 1913 in Lugano die dritte Filiale ausserhalb Zürichs. Seit 1917 residiert die Credit Suisse an der Piazza della Riforma und ist an weiteren zwölf Standorten im Tessin präsent. Als Universalbank mit globaler Vernetzung können wir un- seren Kunden in allen Segmenten umfassende Dienstleistungen anbieten. Wir sind stolz, zahl- reiche Tessiner Privatpersonen und Firmen zu unseren Kunden zählen zu dürfen. Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre. Alberto Petruzzella Gabriele Zanzi Leiter Private & Wealth Management Clients Leiter Firmenkunden Region Tessin Region Tessin Swiss Issues Regionen 3
Credit Suisse Economic Research Das Tessin auf einen Blick Übersicht Standortqualität 2014, synthetischer Indikator, CH = 0 Quelle: BFS, Credit Suisse, Geostat Quelle: Credit Suisse, Geostat Bevölkerung Bruttoinlandprodukt 2013, Fläche entspricht der Bevölkerung 2011, Fläche entspricht dem BIP Quelle: BFS, Credit Suisse, Geostat Quelle: BFS, Credit Suisse, Geostat Grenzgänger Logiernächte 4. Quartal 2014, Fläche entspricht der Anzahl Grenzgänger 2014, Fläche entspricht der Anzahl Logiernächte Quelle: BFS, Credit Suisse, Geostat Quelle: BFS, Credit Suisse, Geostat Swiss Issues Regionen 4
Credit Suisse Economic Research Regionaler Kontext Grenzlage als Chance und Herausforderung Mit rund 350'000 Einwohnern und einer Fläche von 2812 km² zählt das Tessin zu den mittel- grossen Kantonen der Schweiz und deckt rund ein Fünfzehntel der nationalen Fläche ab. Süd- lich des Alpenhauptkamms gelegen, erstreckt sich der Kanton wie ein Brückenkopf in das Nachbarland Italien, wovon er weitgehend umgeben wird. Der Gegensatz zwischen institutionel- ler Zugehörigkeit zur Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und sprachlicher sowie kul- tureller Einbindung in die italienische Realität andererseits prägt seit jeher Charakter und Ent- wicklung dieses Kantons. Zwischen den Deutsch- Der Kanton Tessin positioniert sich als eigenständiger Wirtschaftsraum zwischen den Agglome- schweizer Agglomerationen rationen der Deutschschweiz und der Metropolitanregion Mailand sowie ihren nördlichen Ausläu- und dem Raum Mailand fern bei Como und Varese. Bilden die Alpen im Norden des Kantons eine topografische Barriere zu den Wirtschaftsräumen der Deutschschweiz, werden die Verflechtungen im Süden durch die nationale Grenze erschwert. Je nach Betrachtungsweise kann das Tessin in diesem regionalen Kontext als Peripherie- oder Scharnierkanton angesehen werden. Mehr als nur die Die allgemeine Wahrnehmung des Kantons wird durch seine touristische Ausrichtung geprägt. «Sonnenstube» Von den dank mildem Klima mediterran anmutenden Seelagen über ursprüngliche Täler bis zu den Alpenlandschaften im Norden bietet dieser Kanton zahlreiche touristische Anziehungspunk- te, was sich in einer überdurchschnittlichen Bedeutung dieses Sektors für die kantonale Wirt- schaft widerspiegelt. Das Tessin ist aber auch Standort des drittgrössten Finanzplatzes des Landes, welcher seine Entwicklung der Nähe zu Italien und den Vorteilen der Schweizer Stabili- tät in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht verdankt. Dieser Sektor begründet auch die starke Stellung weiterer wertschöpfungsintensiver Branchen im Kanton, die komplementäre Dienstleis- tungen zum Bankenplatz anbieten. Wirtschaftliche und demografische Indikatoren Bevölkerung Beschäftigung Bruttoinlandprodukt Haushaltseinkommen 2012 2012 2015 (Prognose) Anzahl Wachstum Sektor I Sektor II Sektor III Anteil am Pro Be- in CHF, pro Kopf Personen 2013 2003–2013 CH-Total schäftigten, in CHF Gemeinden Locarno 15'671 0.8% 47 2818 7010 - - - Bellinzona 17'962 0.8% 15 1301 11'614 - - - Lugano 56'944 1.1% 43 5054 37'614 - - - Wirtschaftsregionen Mendrisio 50'829 0.7% 316 13'107 20'126 0.8% 143'131 36'936 Lugano 148'758 1.2% 475 19'169 63'714 2.1% 160'536 43'378 Bellinzona 48'345 1.1% 323 4291 18'193 0.6% 156'583 35'358 Locarno 69'202 0.7% 545 8540 17'779 0.7% 154'211 33'590 Tre Valli 29'405 0.4% 522 3760 4416 0.2% 152'421 30'232 Mesolcina (GR) 8301 0.9% 158 1067 1328 0.1% 141'159 37'679 Kantone TI 346'539 0.9% 2180 48'867 124'228 3.8% 128'616 38'257 UR 35'865 0.2% 924 5222 7604 0.3% 125'233 46'169 GR 194'959 0.4% 4493 24'390 68'993 2.0% 118'747 48'024 VS 327'011 1.4% 5254 35'783 88'513 2.9% 130'941 34'127 Schweiz 8'139'631 1.0% 107'863 1'002'233 2'750'989 100% 152'440 51'785 Quelle: BFS, Credit Suisse Swiss Issues Regionen 5
Credit Suisse Economic Research Konjunktur Tessin wird den «Frankenschock» stark spüren Die Exportnachfrage nach Tessiner Produkten ist stark. Aufgrund der Überbewertung des Schweizer Frankens rechnen wir dennoch mit einer Stagnation der Exporte. Die schwache Konjunktur in Italien verstärkt den «Run» auf Tessiner Arbeitsplätze. Vieles hängt am Das Jahr 2015 startete mit einem Paukenschlag: Mit der Aufhebung der EUR/CHF- Euro-Wechselkurs Untergrenze von 1.20 durch die Schweizerische Nationalbank (SNB) wurden Schweizer Unter- nehmen auf einen Schlag in eine neue Realität versetzt. Nach dem anfänglichen Kurssturz weit unter die Parität hat sich der Euro (unter anderem durch Interventionen der SNB) etwas erholt und schwankt seither in einem Bereich zwischen 1.03 und 1.07. Aufgrund seiner Rolle als «Sa- fe Haven» für internationale Anleger gewinnt der Franken besonders in Risikophasen an Wert. Wir schätzen den fairen Wert EUR/CHF bei CHF 1.22; die aktuellen Kurse sind somit Zeichen einer Überbewertung. Exporteure und Tourismus Die Schweizer Wirtschaft ist seit Jahrzehnten auf einen starken Franken eingestellt. Völlig neu sind direkt betroffen an der Situation seit 2010 sind jedoch die enorme Geschwindigkeit der Aufwertung und aktuell der extreme Kurssturz nach der Aufhebung der Untergrenze. Die Aufwertung trifft nicht alle Wirtschaftsbereiche gleichermassen: Direkt betroffen sind Branchen mit ausländischen Kunden und einem hohen Kostenanteil in der Schweiz, also die Exportindustrie, der Tourismus und wei- tere international orientierte Dienstleistungsbranchen.1 Gefährdet sind Unternehmen, die mit ge- ringen Margen arbeiten oder langfristige Aufträge erfüllen, bei denen die Wechselkursrisiken nicht abgesichert werden können. Branchen mit direkten ausländischen Konkurrenten, etwa der Detailhandel nahe der Grenze oder das Autogewerbe, spüren die Aufwertung ebenfalls direkt. Für Schweizer Konzerne mit globaler Wertschöpfungskette, die in CHF abrechnen, reduzieren sich – rein buchhalterisch – die Umsätze und Gewinne. Geringeres BIP-Wachstum, Aufgrund der hohen Volatilität des EUR/CHF-Kurses und der Bedeutung von (nicht prognosti- keine Rezession zierbaren) SNB-Interventionen sind Prognosen im Moment mit einem beträchtlichen Risiko behaftet. Wir rechnen für das laufende Jahr mit einem BIP-Wachstum von 0.8%, was eine Halbierung gegenüber den Erwartungen vor dem «Frankenschock» darstellt (vgl. Abb. 1). Eine Rezession ist aus unserer Sicht aber nicht zu erwarten. Die Inflation wird sich in den negativen Bereich bewegen, und wir rechnen mit –1.3% für 2015 und 0.0% für 2016. Ausserdem gehen wir von einer leichten Erhöhung der Arbeitslosigkeit aus. Abbildung 1 Abbildung 2 Prognosen für die Schweizer Wirtschaft Exportbarometer Kanton Tessin In Standardabweichungen; Jahreswachstumsraten, gleitender Durschnitt über 6 Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent; Arbeitslosenquote: Jahresmittel Monate 4.0 2013 2014 2015p 2016p Exporte TI Barometer TI Exporte CH Wachstumsschwelle 3.0 Bruttoinlandprodukt, real 1.9 2.0 0.8 1.2 Privater Konsum 2.2 1.0 1.5 1.0 2.0 Öffentlicher Konsum 1.4 1.1 1.8 1.5 1.0 Ausrüstungsinvestitionen 2.0 1.8 1.0 1.5 Bauinvestitionen 1.2 0.9 1.5 1.5 0 Exporte (Güter und Dienstl.) 1.0 3.4 0.0 2.0 -1.0 Importe (Güter und Dienstl.) 1.4 1.6 2.0 2.0 -2.0 Konsumentenpreise -0.1 0.0 -1.3 0.0 Arbeitslosenquote 3.2 3.2 3.4 3.8 -3.0 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 Quelle: Seco, Credit Suisse Quelle: EZV, Bloomberg, PMI Premium, Datastream, Credit Suisse 1 Weitere Informationen: Monitor Schweiz: Ein Jahr der Stagnation, März 2015, Credit Suisse. Swiss Issues Regionen 6
Credit Suisse Economic Research Export: Nachfrage intakt, Die Tessiner Wirtschaft ist überdurchschnittlich stark vom EUR/CHF-Wechselkurs abhängig. Wechselkurs bremst 55.1% der Exporte wurden 2014 in die Eurozone geliefert, im Vergleich zu 45.8% auf Landes- ebene. Für den Aussenhandel präsentiert sich die Währungssituation als schwierig, aber fun- damental anders als in der Rezession im Jahr 2009: Während damals die internationale Nach- frage einbrach, ist diese am aktuellen Rand intakt und sogar deutlich stärker als in den letzten zwei Jahren. Dies zeigt unser Exportbarometer, das auf den Einkaufsmanager-Indizes der Ziel- länder von Tessiner Produkten basiert (vgl. Abb. 2). Während die Erholung der US-Wirtschaft bereits länger anhält, erwarten wir für die Eurozone, dass sich der langersehnte Aufschwung in diesem Jahr tatsächlich einstellt. Obschon in der Vergangenheit die Nachfragesituation wichti- ger war als der Wechselkurs, dürfte die Tessiner Wirtschaft im aktuellen Umfeld kaum ein Ex- portwachstum verzeichnen (siehe Kapitel «Exportwirtschaft», S. 20). Arbeitsmarkt: grosse Diffe- Bis zur Jahrtausendwende war die Beschäftigungsentwicklung im Tessin rückläufig. Anschlies- renz zur Situation in Italien send konnte der Kanton jedoch zum Wachstum zurückfinden und weist aktuell eine ähnliche Dynamik wie das Landesmittel auf (vgl. Abb. 4). Die Schweiz verzeichnet mit 3.4% im internati- onalen Vergleich nach wie vor eine sehr tiefe Arbeitslosigkeit. Im Tessin liegt die Quote tenden- ziell leicht über dem Landesmittel, aktuell bei 4.1%. Ganz anders präsentiert sich die Situation in Italien: 2014 hat die Arbeitslosigkeit mit über 12.7% einen neuen Höchststand erreicht. In den direkt angrenzenden Regionen Lombardei (8.2%) und Piemont (11.3%) liegen die Werte zwar unter dem nationalen Mittel. Gleichwohl besteht ein beträchtliches Überangebot an Arbeit. Das Tessin mit einem deutlich attraktiveren Arbeitsmarkt wird also auch in Zukunft Ziel von italieni- schen Grenzgängern und Zuwanderern sein. Im Gegensatz dazu sind die Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland geringer geworden. In der Folge sind die Migrationsbewegun- gen aus Deutschland (insbesondere in die Deutschschweiz) zurückgegangen. Nach wie vor sind die Aussichten für die italienische Konjunktur durchzogen: Nach der rückläufigen BIP- Entwicklung von –0.4% 2014 rechnen wir für die kommenden Jahre mit einem geringen Wachstum von 0.7% (2015) und 1.3% (2016). Tessiner Wirtschaftsstruktur Der Einkaufstourismus dürfte 2015 in der Schweiz um rund 10% zunehmen. Während Anbieter ist anfällig auf den starken langlebiger Güter landesweit konkurrenziert werden, werden nahe den Landesgrenzen auch Franken Lebensmittel im Ausland eingekauft. Aufgrund der hohen Bedeutung des Tourismus und der Exportindustrie im Tessin dürfte die regionale Konjunktur vom Frankenschock somit stärker gebremst werden als in anderen Kantonen. thomas.ruehl@credit-suisse.com Abbildung 3 Abbildung 4 Dynamik im Wohnungsbau schwächer als in Vorjahren Beschäftigtenentwicklung Baubewilligungen Vollzeitäquivalente, Index 1996 = 100, gleitende Durchschnitte über 4 Quartale 3'000 130 Gesuche EFH Tessin Tessin Bewilligungen EFH Tessin 2'500 125 Genferseeregion Gesuche MFH Tessin Ostschweiz Bewilligungen MFH Tessin 120 Zentralschweiz 2'000 Schweiz 115 1'500 110 105 1'000 100 500 95 0 90 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 Quelle: Baublatt, Credit Suisse Quelle: BFS, Credit Suisse Swiss Issues Regionen 7
Credit Suisse Economic Research Wirtschaft | Standortqualität Berge, Täler, Städte: Ein heterogener Kanton Der Kanton Tessin erreicht auf der Skala der Schweizer Kantone eine unterdurch- schnittliche Standortqualität. Mendrisio und Lugano liegen im Landesmittel, die Kan- tonsteile nördlich des Ceneri jedoch darunter. Standortqualität als Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eines Standortes bestimmen die langfristige Basis für Wohlstand Entwicklung von Wertschöpfung und Wohlstand. An attraktiven Orten siedeln sich neue Unternehmen an, und bereits ansässige Firmen investieren stärker als in weniger attraktiven Gebieten. Neben den unveränderbaren natürlichen Voraussetzungen zählen staatliche Regulierungen, die Verfügbarkeit von Arbeitskräften sowie das Geschäftsumfeld zu den zentralen Kriterien der Standortqualität.2 Steuern, Arbeitskräfte und Um die Attraktivität der Schweizer Regionen und Kantone aus Unternehmersicht zu messen, Erreichbarkeit im Fokus haben wir einen Standortqualitätsindikator (SQI) entwickelt. Dieser basiert auf den folgenden sieben quantitativen Teilindikatoren und stellt die Attraktivität eines Gebiets in Form eines relati- ven Index dar: Steuerbelastung der natürlichen und juristischen Personen, Verfügbarkeit von Hochqualifizierten und Fachkräften sowie Erreichbarkeit der Bevölkerung, der Beschäftigten und von Flughäfen. Landpreise und Lohnkosten werden bewusst nicht berücksichtigt, da sie in gewissem Sinne nichts anderes als das Spiegelbild der Attraktivität sind. Südliche Kantonsteile Der Kanton Tessin positioniert sich mit einem Wert von –0.83 auf dem 21. Rang der 26 profitieren von der Nähe Schweizer Kantone (vgl. Abb. 1). Die Standortqualität des Kantons präsentiert sich damit ähn- zu Mailand lich wie diejenige der anderen Gotthardkantone (Uri, Graubünden, Wallis). Mendrisio und Luga- no erreichen Werte im Landesmittel und liegen unter den 110 Schweizer Wirtschaftsregionen auf dem 43. bzw. 47. Platz. Die teilweise gebirgigen Regionen nördlich des Monte Ceneri bele- gen unter dem Landesmittel die Ränge 70 (Bellinzona), 81 (Locarno) und 103 (Tre Valli). Steuerlich attraktiv für Ein Blick auf die Teilindikatoren der Standortqualität zeigt die Hintergründe der regionalen SQI- Private, nicht aber für Werte (vgl. Abb. 3). Seitens der Steuerbelastung positioniert sich das Tessin als attraktiv für Firmen natürliche Personen, nur bedingt jedoch für Unternehmen. Neben Zürich ist es damit der einzige Kanton mit einer asymmetrischen Steuerpolitik (vgl. Abb. 2). Aufgrund der Tatsache, dass der Steuerwettbewerb bei Unternehmen tendenziell intensiver geführt wird, kann dies deren Ansied- lungs- und Investitionstätigkeiten bremsen. Dieser Nachteil trifft insbesondere die weniger zent- ralen Regionen im Kanton, da diese wenig andere Standorttrümpfe bieten können wie etwa die Abbildung 1 Abbildung 2 Standortqualität der Schweizer Kantone 2014 Steuerbelastung 2014 Index, CH = 100; natürliche Personen: Einkommens- und Vermögenssteuer, Synthetischer Indikator, CH = 0 juristische Personen: Reingewinn- und Kapitalsteuer 2.5 140 ZG Steuerbelastung der juristischen Personen 2.0 130 GE ZH BS 1.5 120 VD JU 1.0 BS ZH BE 110 TI FR Mesolcina Bellinzona NW LU SO BL Lugano Tre Valli 0.5 OW 100 VS BL SH SO UR VD NE GR NE 0 90 SZ AG AR TG AG SG Mendrisio AI SG GE 80 TG -0.5 UR SH GL BE GL 70 -1.0 ZG SZ AI TI FR GR OW LU -1.5 60 NW AR Locarno -2.0 VS 50 JU 50 60 70 80 90 100 110 120 130 140 -2.5 Steuerbelastung der natürlichen Personen Quelle: Credit Suisse Quelle: Braingroup, Credit Suisse 2 Weitere Informationen: «Standortqualität der Schweizer Kantone und Regionen: Ein Wegweiser für Unternehmen und Politik», Credit Suisse, September 2013. Swiss Issues Regionen 8
Credit Suisse Economic Research Regionen Lugano und Mendrisio. Die Unterschiede in der Steuerbelastung innerhalb des Kan- tons sind relativ gering. Locarno und Tre Valli weisen eine leicht höhere Belastung von natürli- chen und juristischen Personen auf. Lugano mit hoher Die Verfügbarkeit von Fachkräften und Hochqualifizierten präsentiert sich im gesamten Kanton Verfügbarkeit qualifizierter als unterdurchschnittlich. Das Wirtschaftszentrum Lugano kann sich jedoch nahe am Landes- Arbeitskräfte mittel positionieren und weist diesbezüglich eindeutige Vorteile gegenüber den anderen Kan- tonsteilen auf. Mendrisio profitiert von der Die Erreichbarkeitsindikatoren verdeutlichen die beträchtliche Heterogenität des Tessins: Men- Nähe zum Raum drisio zählt landesweit zu den zehn Regionen mit der höchsten Erreichbarkeit von Bevölkerung Mailand und Beschäftigten. Die Nähe zum dicht besiedelten und wirtschaftlich potenten Ballungsraum Mailand ist Ursache für dieses Resultat. Die Topografie des Tessins mit malerischen Tälern, Bergen und Seen begründet die touristische Attraktivität des Kantons. Gleichzeitig äussert sie sich jedoch auch in einer geringeren verkehrstechnischen Erreichbarkeit der nördlichen Kan- tonsteile. Im öffentlichen Verkehr dürfte das Tessin stark vom Ceneri-Basistunnel profitieren, der in den nächsten Jahren eröffnet werden sollte. Die Fahrzeiten zwischen den beiden Tessiner Ballungszentren werden deutlich verkürzt und Locarno erhält einen direkten Anschluss nach Lugano (siehe Kapitel «NEAT»). Luftverbindungen mit Bei der Erreichbarkeit von Flughäfen ist das Tessin ungünstig positioniert. Einerseits weist der Verbesserungspotenzial Flughafen Agno nur eine beschränkte Zahl von Verbindungen auf, und seine Zukunft ist unsi- cher. Anderseits ist im Vergleich zu anderen Schweizer Wirtschaftszentren der nächstgelegene Flughafen mit einem breiten Angebot an Direktflügen (Mailand Malpensa) relativ weit entfernt. Insbesondere im öffentlichen Verkehr ist die Verbindung vom Tessin zum Mailänder Flughafen heute klar mangelhaft, dürfte mit dem NEAT-Anschluss in den nächsten Jahren jedoch verbes- sert werden. thomas.ruehl@credit-suisse.com Abbildung 3 Komponenten der Standortqualität 2014, synthetische Indikatoren, grössere Kreissegmente stellen eine höhere Attraktivität dar. Steuerbelastung 2013 Erreichbarkeit der Bevölkerung Erreichbarkeit der Beschäftigten Erreichbarkeit von Flughäfen Kanton Tessin Region Mendrisio Region Lugano SQI-Wert: –0.83 SQI-Wert: –0.11 SQI-Wert: –0.25 Rang: 21/26 Rang: 43/110 Rang: 47/110 Verfügbarkeit von Hochqualifizierten Verfügbarkeit von Fachkräften Steuerliche Attraktivität für juristische Personen Steuerliche Attraktivität für natürliche Personen Schweizer Mittel Region Bellinzona Region Locarno Region Tre Valli SQI-Wert: –0.89 SQI-Wert: –1.35 SQI-Wert: –1.87 Rang: 71/110 Rang: 80/110 Rang: 103/110 Quelle: Credit Suisse Swiss Issues Regionen 9
Credit Suisse Economic Research Wirtschaft | Standortqualität Die bremsende Wirkung des Monte Ceneri Verkehrstechnische Erreichbarkeit Synthetischer Indikator, nach km², Basis: öffentlicher Verkehr, Strassenverkehr Die verkehrstechnische Erreichbarkeit betrachtet die Summe Oberwald Airolo aller erreichbaren Potenziale an einem bestimmten Standort. Damit stellt sie die Zentralität eines Standorts dar. Die Nähe zum Grossraum Mailand und die gut ausgebauten Verbindun- Biasca gen auf Schiene und Strasse äussern sich in einer hohen Er- reichbarkeit der Zentren im südlichen Tessin. Deutlich geringe- re Werte weisen die nördlichen Kantonsteile auf. Obschon Bellinzona Locarno diese näher an der Deutschschweiz gelegen sind, sind die Giubiasco Erreichbarkeit Fahrzeiten – etwa für Pendler – lang. Der Ceneri-Basistunnel hoch führt zu einer Verkürzung der Fahrzeiten zwischen Lugano und Lugano Bellinzona bzw. Locarno und dürfte die Erreichbarkeit dieser Räume erhöhen. Strassennetz Chiasso tief Schienennetz thomas.ruehl@credit-suisse.com Quelle: Credit Suisse, Geostat Tessin investiert in die Universität Anteil Hochqualifizierte an der Bevölkerung 2012, Wohnbevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren In der Schweiz hat sich der Anteil der Einwohner mit einem Sc haffhausen 16.6% - 20% tertiären Bildungsabschluss seit 1980 verdreifacht. Die Zu- 20.1% - 25% Base l Frauenfeld wanderung trägt stark dazu bei. Hauptsächlich ist dies jedoch 25.1% 30.1% - 30% - 35% Liestal Aarau Zü rich St.Gallen Herisau Delém ont darauf zurückzuführen, dass jüngere Bevölkerungsgruppen 35.1% - 40% Ap penzell 40.1% - 50.5% Solo thurn deutlich höhere Bildungsstände aufweisen als Generationen, Zug Luzer n Glarus die das Pensionierungsalter erreichen. Das Angebot an Hoch- Neuc hâtel Bern Stans Sc hwyz Sarnen schulen und Fachhochschulen wurde landesweit ausgebaut. Frib ourg Altdorf Chur 1996 wurde die Università della Svizzera Italiana in Lugano gegründet. Mittlerweile besitzt die Universität vier Fakultäten Lau sanne und hat aktuell rund 3000 Immatrikulierte. Der Anteil an Hoch- qualifizierten an der Bevölkerung in Lugano hat seit 2000 um Genève Sion Bellinzona ca. 14 Prozentpunkte zugenommen und liegt mit 35% leicht über dem Landesmittel. thomas.ruehl@credit-suisse.com Quelle: Credit Suisse Tessin günstigerer als andere Zentrumskantone Gewinnsteuersätze im internationalen Vergleich 2014 in Prozent, inkl. Bundessteuer, ausgewählte Länder Angesichts der Bestrebungen der OECD, Steuerprivilegien Isle of Man abzuschaffen, dürften die ordentlichen Gewinnsteuersätze Guernsey Montenegro stärker in den Fokus rücken. Einige Schweizer Kantone sind Bosnien/Herzegowina Liechtenstein Irland auf den Systemwechsel, der mit der Unternehmenssteuerre- OW NW form III vorgesehen ist, bestens vorbereitet: Bezüglich Gewinn- SZ ZG steuer sind sie bereits ähnlich positioniert wie Irland und Liech- Lettland UR GR tenstein. Das Tessin ist leicht attraktiver positioniert als die NE TI Zentrumskantone Genf, Waadt, Basel und Zürich. Der Vor- Grossbritannien ZH sprung auf Italien ist sehr gross. Gleichwohl kann der Kanton VS BE nicht mit den günstigsten Standorten mithalten. Einzelne Kan- BS VD GE tone – etwa Genf – haben zudem massive Steuersenkungen Niederlande Deutschland angekündigt. Das Tessin könnte daher gefordert sein, darauf Italien Frankreich zu reagieren. Belgien 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% thomas.ruehl@credit-suisse.com Quelle: KPMG Swiss Issues Regionen 10
Credit Suisse Economic Research Internationale Standortqualität Attraktivitätsvorsprung zu Italien als Chance Im internationalen Vergleich sind Schweizer Standorte attraktiv, aber teuer. Zentrale Regulierung für das Tessin ist das Doppelbesteuerungsabkommen mit Italien. Die Un- ternehmenssteuerreform III und die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative erhöhen die Unsicherheit für ausländische Investoren. Der attraktivste Standort Als Grenzkanton steht das Tessin in einem Wettbewerb zu den Regionen Norditaliens und wei- südlich der Alpen? teren südeuropäischen Gebieten. Bereits in der Vergangenheit hat sich der Kanton als Standort zahlreicher italienischstämmiger Unternehmen, etwa aus der Modewelt oder der Spitzenindust- rie, etabliert. Angesichts der anhaltend schwierigen Schuldensituation in der südlichen Eurozone und deren Auswirkungen auf die Standortqualität dürfte diese Rolle für das Tessin weiter an Bedeutung gewinnen. Kostenvorteile für Haupt- In verschiedenen globalen Ranglisten positioniert sich die Schweiz unter den attraktivsten Wirt- sitze und Handelsfirmen schaftsstandorten (vgl. Abb. 1). Wermutstropfen und vermutlich Hinderungsgrund für einzelne Ansiedlungen sind die vergleichsweise hohen Arbeits- und Landkosten, die mit der Aufwertung des Schweizer Frankens weiter gestiegen sind. Arbeits- und landintensive Tätigkeiten können sich hierzulande nur behaupten, wenn die Kostennachteile durch Innovation oder Spezialisierung wettgemacht werden können. Gleichwohl weist die Schweiz aus Kostensicht zwei namhafte Vorteile auf: Die Steuerbelastung und das Zinsniveau (d.h. die Kapitalkosten) erweisen sich als deutlich günstiger als im näheren europäischen Umfeld. Kapitalintensive (z.B. Grosshandel, Fi- nanzdienstleistungen) oder steuersensitive Tätigkeiten (z.B. Hauptsitze) profitieren neben der hohen Standortqualität hierzulande also auch von Kostenvorteilen. USR III von entscheidender Die Schweiz steht mit der Unternehmenssteuerreform (USR) III aktuell vor einer fundamentalen Bedeutung Revision des Steuersystems. Die privilegierte Besteuerung der ausländischen Gewinne von Statusgesellschaften soll aufgehoben werden. Das Tessin ist überdurchschnittlich stark von der Abschaffung der Steuerprivilegien betroffen (vgl. Abb. 2).3 Um die steuerliche Attraktivität und die Steuereinnahmen zu sichern, sind verschiedene Begleitmassnahmen geplant, etwa die Ein- führung von «Lizenzboxen» und Abzüge für Forschung und Entwicklung. Sofern die Reform die politischen Hürden übersteht und ausländische Standorte vergleichbare Anpassungen an ihren Steuermodellen vornehmen, dürfte die Schweiz ihre steuerliche Attraktivität verteidigen können. thomas.ruehl@credit-suisse.com Abbildung 1 Abbildung 2 Geschäftsumfeld im internationalen Vergleich Handlungsbedarf der Kantone bei Einführung der USR III Indikative Darstellung, rot: Struktur des Steuersubstrats oder aktuelle Steuerpolitik 2014 – 2018, in Klammern Rang auf der Skala der 82 betrachteten Ländern löst einen Handlungsbedarf aus, blau: geringer Handlungsbedarf. 12 Struktur Steuersubstrat Deutschland (12) TI ZH LU GE BS VS GR Hong Kong (3) Neuseeland (8) Niederlande (16) Dänemark (10) Norwegen (11) Singapur (1) Schweden (6) Australien (5) Österrreich (18) Schweiz (2) Anteil Statusgesellschaften an Frankreich (24) Finnland (9) Kanada (4) Steuerertrag ### ### ### ### ### ### ### Spanien (25) Irland (15) 10 USA (7) Rumänien (47) Griechenland (62) Wertschöpfung aus geistigem Eigentum Bulgarien (46) Portugal (38) UK (22) (Lizenzbox) ### ### ### ### ### ### ### Italien (48) China (50) 8 Aktuelle Steuerpolitik Venezuela (82) Bedeutung Steuerattraktivität für Standortpolitik 1 2 1 2 2 0 0 6 Iran (81) Ordentliche Gewinnsteuersätze ### ### ### ### ### ### ### Empfehlung Gewinnsteuersätze bei 4 Einführung USR III grosser Handlungsbedarf geringer Handlungsbedarf 2 abwarten moderat senken stark senken 0 Quelle: Economist Intelligence Unit Quelle: BFS, EFV, KPMG, Credit Suisse 3 Weitere Informationen: Monitor Schweiz, Juni 2015, Credit Suisse. Swiss Issues Regionen 11
Credit Suisse Economic Research Wirtschaft | NEAT Verbesserter Anschluss durch NEAT Die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels steht nach 16 Jahren Bauzeit kurz bevor. Weitere Bauprojekte erhöhen die Erreichbarkeit durch Fahrzeitverkürzungen und Ka- pazitätsausbau. Ihre Fertigstellung ist aber mit Termin- und Kostenrisiken behaftet. Güterverkehr über die Die Schweiz nimmt aufgrund ihrer geografischen Lage eine Sonderstellung im europäischen Schweizer Alpen hat sich Verkehrsnetz ein. Ein bedeutender Teil des internationalen Güterverkehrs zwischen Nord- und Südeuropa passiert die Schweizer Alpenübergänge. Von Mt. Cenis/Fréjus in Frankreich bis zum seit 1980 verdoppelt Brenner in Österreich, dem sogenannten inneren Alpenbogen, überqueren 37% der Güter Schweizer Alpenübergänge, 41% werden über Österreich transportiert und 22% über die fran- zösischen Alpen. 2013 belief sich die auf Schienen und Strassen über die Schweizer Alpen transportierte Gütermenge auf 38.2 Millionen Nettotonnen. Die Gesamtmenge hat sich seit der Eröffnung des Gotthard-Strassentunnels im Jahr 1980 mehr als verdoppelt (vgl. Abb. 1). Im Vergleich zu unseren Nachbarstaaten ist der Anteil auf Strassen transportierter Güter gering (vgl. Abb. 2). Ziel und Umsetzung der Die Annahme der «Alpen-Initiative» im Februar 1994 hat eine neue Ausgangslage für den al- Alpenschutzinitiative penquerenden Güterverkehr geschaffen: Einerseits soll der Transitgüterverkehr von der Strasse auf die Schiene verlagert werden, andererseits darf die Kapazität der Transitstrassen nicht wei- ter ausgebaut werden. Im Rahmen der Umsetzung des Verlagerungsziels wurde 1999 der Bau der neuen Eisenbahn-Alpentransversalen (NEAT) beschlossen. Das Projekt NEAT schliesst den Bau der Basistunnels am Gotthard, Lötschberg, Ceneri und Zimmerberg sowie den Anschluss der Ostschweiz an die Gotthardlinie im Raum Zürichsee ein. Der Lötschberg-Basistunnel ist seit 2007 fahrplanmässig in Betrieb. Der Bau des Gotthard-Basistunnels hat 1999 begonnen. Die- ser wird am 11. Dezember 2016 in Betrieb genommen. Die Inbetriebnahme des Ceneri- Basistunnels ist für 2019 geplant, dürfte sich jedoch verzögern. Anschluss an die Durch den NEAT-Ausbau erhöht sich die Kapazität des alpenquerenden Personen- und Güter- Deutschschweiz verkehrs massiv. Das Bundesamt für Statistik hat den Zuwachs in Anzahl Zügen pro Tag ge- schätzt. Durch die NEAT kann die Anzahl alpenquerender Züge im Personenverkehr um 27%, im Güterverkehr um 42% erhöht werden. Neben den ausgebauten Kapazitäten ermöglicht die NEAT auch einen Zeitgewinn. Ab dem Fahrplanwechsel 2020 können die Kunden der SBB vo- raussichtlich voll von kürzeren Fahrzeiten und der Verdichtung des Fahrplans profitieren. Von Basel, Zürich und Luzern wird sich die Fahrzeit ins Tessin um rund eine Stunde verkürzen. Zu- dem wird die Strecke Zürich–Tessin durchgehend im Halbstundentakt bedient. Die SBB nimmt an, dass sich die Zahl der Zugreisenden über den Gotthard bis 2025 von heute 9000 Personen pro Tag mehr als verdoppeln wird. Abbildung 1 Abbildung 2 Schweizer Bahnnetz schon heute zentral für den europäi- Alpenquerender Güterverkehr schen Güterverkehr Güterverkehr in Millionen Nettotonnen über die Schweizer Alpen Güterverkehr in Millionen Nettotonnen über den inneren Alpenbogen, 2012 30 100% Strasse Schiene 35 Strasse Schiene Anteil Strasse (rechte Achse) Anteil Schiene (rechte Achse) 90% 25 30 80% 70% 25 20 60% 20 15 50% 40% 15 10 30% 10 20% 5 5 10% 0 0% 0 1980 1983 1986 1989 1992 1995 1998 2001 2004 2007 2010 Frankreich Schweiz Österreich Quelle: ASTRA Quelle: BFS Swiss Issues Regionen 12
Credit Suisse Economic Research Grosser Einfluss des Für das Tessin sind neben den verbesserten Anschlüssen in die Deutschschweiz vor allem die Ceneri-Basistunnels verkürzten Fahrzeiten dank des Ceneri-Basistunnels ein grosser Vorteil. Zwischen Locarno und Lugano werden ab 2020 halbstündlich direkte Züge in weniger als 30 Minuten verkehren. Heu- te beträgt die Fahrzeit zwischen den Städten mit Umsteigen rund eine Stunde. Auch die Fahr- zeit zwischen Bellinzona und Lugano halbiert sich und beträgt künftig noch 15 Minuten. Rücken Sotto- und Sopra- Diese Effizienzsteigerung hat zwei mögliche Auswirkungen auf das Tessin: Einerseits bieten die ceneri näher zusammen? kürzeren ÖV-Verbindungen eine bessere Alternative zum motorisierten Individualverkehr. Im Vergleich zu anderen urbanen Regionen der Schweiz verkehrt im Tessin ein Grossteil der Pend- ler mit dem Auto (vgl. Abb. 3). Dies könnte sich durch den Ceneri-Basistunnel ändern. Zudem ermöglichen die intrakantonalen Verbindungen eine Annäherung der Tessiner Regionen. Die Pendlerströme zwischen den Regionen oberhalb des Monte Ceneri und jenen unterhalb können sich durch die NEAT intensivieren (vgl. Abb. 4). Vor allem die Regionen Bellinzona und Lugano sind künftig besser verknüpft, wovon viele Arbeitnehmer Gebrauch machen dürften. Wir schät- zen, dass eine Verkürzung der Fahrzeiten von 30 auf 15 Minuten zu einer Verdopplung der Pendlerströme führen wird. Ein deutlich stärker integrierter Arbeitsmarkt scheint ein plausibles Zukunftsszenario zu sein. Bauverzögerungen in Italien Neben verkürzten Wegen innerhalb des Tessins und der Schweiz ist vor allem die bessere Er- reichbarkeit des Mailänder Flughafens Malpensa ein grosser Vorteil. Eine neue S-Bahn-Linie wird das Tessin direkt mit diesem verbinden. Die Nähe zu einem internationalen Flughafen er- höht sowohl die Erreichbarkeit des Tessins (siehe Kapitel «Standortqualität») als auch das touris- tische Potenzial. Die Erreichbarkeit des Mailänder Flughafens und der Grossstadt selbst hängt aber massgeblich von der italienischen Infrastruktur ab. Die Zufahrt zum Flughafen ist auf Schweizer Seite fast vollständig gebaut, auf der italienischen Seite hingegen stehen die Bauma- schinen still. Ursprünglich war die Fertigstellung im Jahr 2015 geplant. Neben dem öffentlichen Verkehr ist vor allem auch der Gütertransport auf einen Ausbau der Bahnstrecke auf der italieni- schen Seite angewiesen. Um diesen voranzutreiben, unterstützt die Schweiz die Finanzierung des Italienischen Bauprojekts mit zinsvergünstigten Darlehen. pascale.deraemy@credit-suisse.com Abbildung 3 Abbildung 4 Pendlerverkehrsmittel Intrakantonale Pendlerverflechtungen Anteil Pendler nach Transportmittel, 2013 In 1000 Personen, 2012 80% Langsamverkehr Motorisierter Individualverkehr Öffentlicher Verkehr 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% ZH BE GL ZG GR TI VD JU Quelle: BFS Quelle: BFS, Credit Suisse Swiss Issues Regionen 13
Credit Suisse Economic Research Wirtschaft | Gotthard-Strassentunnel Geister scheiden sich an zweiter Röhre Die Sanierung des Gotthard-Strassentunnels wird Unternehmen beeinträchtigen, die nicht flexibel genug auf die Einschränkung reagieren können. Chancen ergeben sich für lokale Bauunternehmen und Tunnelausstatter. Bundesrat will die zweite Der Gotthard-Strassentunnel ist Teil der Nationalstrasse A2 und verbindet Basel und Chiasso Röhre und somit das Tessin und die Deutschschweiz. 2008 wurde angekündigt, dass der bestehende Tunnel sanierungsbedürftig ist. Mehrere Vorschläge zur Umsetzung stehen im politischen und öffentlichen Diskurs. Die Sperrung kann mit oder ohne Sommeröffnung stattfinden, zur Umlei- tung des Verkehrs würde eine Verlademöglichkeit eingerichtet. Eine weitere Option ist der Bau einer zweiten Tunnelröhre mit anschliessender Sanierung des bestehenden Tunnels. Sowohl der Bundesrat als auch die Kommissionen im Parlament sprachen sich für diese Variante aus. Planbarkeit und zeitliche Durch die zeitliche Begrenztheit und die Planbarkeit des Projekts können die ökonomischen Begrenztheit erleichtern Verluste voraussichtlich gering gehalten werden. Trotzdem wären einzelne Branchen von einer den Umgang Sanierung mit mehrjähriger Schliessung des Tunnels existenziell betroffen. Allen voran rechnet die Tourismusbranche durch die erschwerte Erreichbarkeit mit massiven Ertragseinbussen. Die Belieferung des Tessins mit Waren aus der Deutsch- und Westschweiz sollte kein Problem dar- stellen, da die grösseren Transportunternehmen andere Transportmittel und -wege finden können. Dies gilt auch für grosse Logistikunternehmen. Die Eröffnung des Ba- sistunnels 2016 wird zusätzliche Kapazitäten und Ausweichmöglichkeiten schaffen. Problema- tisch könnte eine Sperrung für kleinere Unternehmen sein, die auf zeitkritische Transporte spe- zialisiert sind und somit schlecht auf Alternativen ausweichen können. Dies gilt zum Beispiel für den Transport von Frischgütern aus dem Tessin in die Deutschschweiz. Auch die Planbarkeit der Sperrung wird an der Einschränkung wenig ändern. Ebenfalls betroffen ist die Attraktivität für Neuansiedelungen. Standortentscheide könnten, vor allem in Branchen mit intensivem Standortwettbewerb, von einer Tunnelsanierung betroffen sein. Die Unsicherheit über die Sa- nierungsvariante stellt einen Nachteil dar. Profitieren können hingegen Unternehmen, die sich auf den Bau und die Ausstattung von Tunnels und deren Sanierung spezialisiert haben, sofern diese die Baulose zugesprochen bekommen. 2001: Kosten in Höhe von Nach einem Unfall musste der Tunnel 2001 für zwei Monate gesperrt werden. Eine Studie CHF 33.4 Mio. (Rudel 2002, zitiert in INFRAS «Gotthard-Strassentunnel» 2010) untersuchte die Auswirkungen auf den Produktions- und Distributionssektor sowie den Tourismus im Kanton Tessin und schätzt die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten auf CHF 33.4 Mio. Diese setzen sich aus der Wahl von Alternativrouten für den Gütertransport, Zusatzkosten für Geschäftsreisen und Ein- nahmenrückgänge in der Tourismusbranche zusammen. Zu beachten ist jedoch, dass die Un- ternehmen durch die plötzliche Sperrung des Tunnels keinen Planungsvorsprung hatten. Zusätz- lich hat die Studie keine strukturellen Auswirkungen – Betriebsschliessungen und Standortver- legungen – miteinbezogen. Zweite Röhre: erhöhte Der Bau einer zweiten Röhre würde den Anschluss des Tessins an die Deutschschweiz gewähr- Sicherheit vs. befürchtete leisten. Abgesehen von einer kurzen Sperrung für eine Notsanierung von etwa 140 Tagen blie- Kapazitätserhöhung be der Tunnel durchgehend befahrbar. Nach der Fertigstellung des zweiten Tunnels und der Sanierung des bestehenden Tunnels würden beide Röhren einspurig befahren werden. Eine Erhöhung der Kapazität ist durch den Alpenschutzartikel in der Bundesverfassung ausgeschlos- sen. Debattiert wird vor allem über die hohen Kosten für den Bau der zweiten Röhre und die Notsanierung. Zudem befürchten die Gegner, dass langfristig trotz Alpenschutzinitiative ein Ka- pazitätsausbau resultiert. Die Befürworter hingegen sehen die zweite Röhre als Möglichkeit, die Sicherheit im Tunnel zu erhöhen und auf kommende Sanierungsarbeiten und Unfälle ohne Wei- teres reagieren zu können. Die Risiken würden sich für das Tessin durch den «Sanierungstun- nel» verringern und Unsicherheiten würden minimiert. pascale.deraemy@credit-suisse.com Swiss Issues Regionen 14
Credit Suisse Economic Research Wirtschaft | Mittelmeerhäfen Importe: Mittelmeerhäfen als Alternative Zunehmende Handelsverflechtungen mit Asien erhöhen die Attraktivität der Mittel- meerhäfen in Ligurien und Südfrankreich. Die Nutzung dieser Häfen verkürzt die Land- und Seewege und ermöglicht eine bessere Auslastung der NEAT. Verdreifachung der Die Ressourcenarmut der Schweiz gibt seit jeher Anlass, mit anderen Ländern Handel zu trei- Importe aus Asien ben. Allein seit 1990 hat sich der Wert der importierten Waren fast verdoppelt, das aus Asien stammende Volumen hat sich sogar verdreifacht. 15% aller Warenimporte und knapp die Hälfte aller Importe aus Übersee stammen aus Asien (vgl. Abb. 1). Von den lokalen Fertigungsstätten aus werden die Güter grösstenteils über asiatische Häfen wie Singapur, Busan oder Schanghai verschifft. Die klassische Route führt über den indischen Ozean, durch den Suezkanal und über das Mittelmeer zu den Nordseehäfen. In die Schweiz gelangen die Produkte letztlich per Schie- ne, Strasse oder Flussschifffahrt. Nordsee- versus Eine Alternative zu den hochfrequentierten Nordseehäfen bieten die Mittelmeerhäfen in Genua, Mittelmeerhäfen La Spezia und Marseille. Aufgrund der vorhandenen Infrastruktur und der vorteilhaften Lage könnten diese Häfen eine zunehmende Bedeutung für den Handel zwischen Asien und Europa einnehmen. Auf eine Umfahrung Europas könnte verzichtet werden und die Überfahrt von Asien würde um vier bis fünf Tage verkürzt. Zudem liegen die Mittelmeerhäfen näher an der Schweiz als die Nordseehäfen. Die Strecke Zürich−Genua beträgt auf dem Landweg gut 400 km, bis an die Nordsee sind es hingegen knapp 700 km. Sinnvoll wäre eine verstärkte Nutzung der Mittel- meerhäfen auch, da die NEAT die Kapazität für den alpenquerenden Güterverkehr signifikant erhöhen wird. Verlagerungsziel Der Transport der Güter müsste grösstenteils auf Schienen abgewickelt werden, da das im beschränkt Gesetz verankerte Verlagerungsziel keinen Kapazitätsausbau des Strassennetzes zwischen dem Transportmöglichkeiten Tessin und der Nordschweiz zulässt. Eine zunehmende Bedeutung der Mittelmeerhäfen und die Eröffnung der NEAT könnten somit die Struktur der Import- und Exportverkehrsträger verändern (vgl. Abb. 2). Denkbar ist auch der kombinierte Transport der Güter. Ähnlich wie die Gebiete um Basel heute als Eingangstor für Güter aus dem Norden dienen, könnte das Tessin als Logistik- basis für Waren aus dem Süden stark an Bedeutung gewinnen. pascale.deraemy@credit-suisse.com Abbildung 1 Abbildung 2 Importe nach Herkunft Warentransporte über die Schweizer Grenze In CHF Mio., nur Übersee-Importe Mengenmässiger Anteil nach Verkehrszweig, 2014 30'000 80% Afrika Asien Amerika Ozeanien Import Export 70% 25'000 60% 20'000 50% 15'000 40% 30% 10'000 20% 5'000 10% 0 0% 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 Strassenverkehr Pipeline Bahnverkehr Schiffverkehr Luftverkehr Quelle: EZV, Credit Suisse Quelle: EZV, Credit Suisse Swiss Issues Regionen 15
Credit Suisse Economic Research Wirtschaft | Branchenstruktur Eine zweigeteilte Branchenlandschaft Neben dem Finanzplatz weist Lugano ein chancenreiches Portfolio an Dienstleis- tungsbranchen auf. Mendrisio und Locarno können sich als High-Tech-Regionen be- haupten. Die nördlichen Kantonsteile sind strukturell klar schwächer positioniert. Branchenportfolio ist die Die Branchenstruktur ist von zentraler Bedeutung für das Leistungspotenzial einer Region. Die Basis für Wertschöpfung branchenmässige Zusammensetzung der Wirtschaft, ihre Wettbewerbsfähigkeit und ihre Wachstumsstärke liefern nicht nur Hinweise zur heutigen Wirtschaftskraft einer Region, sondern ermöglichen auch Rückschlüsse auf das zukünftige Wachstumspotenzial der Wertschöpfung. Die Entwicklung der Beschäftigung zeigt zudem gesamtwirtschaftliche und weitere Veränderun- gen auf, die für die Region kennzeichnend sind und stark von der vorherrschenden Branchen- struktur geprägt werden. Handel und Banken prägen Das Tessin bietet Arbeit für über 175'000 Beschäftigte. Aufgeteilt nach Branchen zeigt sich ein den Dienstleistungssektor breit diversifiziertes Portfolio (vgl. Abb. 1). Über 70% der Beschäftigten sind im Dienstleistungs- sektor tätig. Das günstigste Verhältnis von Chancen auf Wertschöpfungswachstum und Risiken rechnen wir den unternehmensnahen Dienstleistungen sowie dem Grosshandel zu. Lugano und Mendrisio können sich im Umfeld des Finanzplatzes auch als Standort für Importeure und inter- national orientierte Handelsfirmen etablieren. Diese dürften die Zugpferde des zukünftigen Wirt- schaftswachstums sein. Die strukturell schwächeren Branchen Hotellerie und Gastronomie sind dagegen auf die Region Locarno konzentriert. Der Staat nimmt einen Anteil im Rahmen des Landesmittels ein und konzentriert sich insbesondere auf Bellinzona. Andere Kantone haben deutlich grössere Anteile an staatsnahen Branchen, etwa im Gesundheits- und Bildungssektor. Industrie: Elektronik und Neben dem Baugewerbe weist das Tessin interessante industrielle Schwerpunkte in der Elekt- Textilien ronik und in der Bekleidungsindustrie auf. Die Bauwirtschaft ist nach wie vor einer der wichtigen Arbeitgeber, insbesondere in den nördlichen Kantonsteilen. Die Branche schaut auf Jahre der Hochkonjunktur zurück, dennoch ist das Potenzial für Wertschöpfungswachstum eher gering. Strukturschwache Unsere Gesamtbewertung der Chancen und Risiken der regionalen Branchenportfolios zeigt ein Bergregionen eindeutiges Bild: Die Regionen Lugano, Mendrisio und Bellinzona sind chancenreich und dürften von einem landesweiten Konjunkturaufschwung stark profitieren können. Locarno und insbe- sondere Tre Valli dürften dagegen weiterhin mit einem Strukturwandel konfrontiert sein und weisen ein geringeres Wachstumspotenzial auf. thomas.ruehl@credit-suisse.com Abbildung 1 Abbildung 2 Chancen-Risiken-Profil der Branchenstruktur Regionale Branchenschwerpunkte Kanton Tessin, Chancen-Risiken-Profil der 15 grössten Branchen, 2015 Die beiden bedeutendsten Branchen nach Region, 2015, Kreisgrösse: Beschäftigung Elektronik und Tre Valli hoch Grosshandel hoch Heime Uhren Ausbaugewerbe Locarno Gesundheits- Architekten, wesen Bellinzona Ingenieure Advokaten, Lugano Öffentliche Wirtschaftsprüfer Mendrisio Verwaltung Öffentliche Branchenbewertung Branchenbewertung Verwaltung Unterrichts- Grosshandel Elektronik und wesen Uhren Banken Banken Landverkehr Hochbau Landverkehr Detailhandel Hochbau Öffentlicher Sektor Landwirtschaft Autogewerbe Bau und Industrie Hotellerie Gastronomie Dienstleistungen niedrig niedrig -2.0% -1.0% 0.0% 1.0% 2.0% 3.0% -1.0% 1.0% 3.0% 5.0% 7.0% 9.0% 11.0% Beschäftigung: Abweichung vom Landesdurchschnitt Beschäftigung: Abweichung vom Landesdurchschnitt Quelle: BFS, Credit Suisse Quelle: BFS, Credit Suisse Swiss Issues Regionen 16
Credit Suisse Economic Research Wirtschaft | Branchenstruktur Tessin leicht unter dem Schweizer Durchschnitt Produktivität Bruttoinlandprodukt pro Beschäftigten in CHF, 2012 Das Bruttoinlandprodukt pro Beschäftigten ermöglicht einen 240'000 Vergleich der Wirtschaftskraft der Regionen und ist eine Be- 220'000 ZG wertung der Resultate des jeweiligen Branchenportfolios. Auf SH Bellinzona kantonaler Ebene sind bisher nur Zahlen bis 2012 verfügbar. 200'000 BS Lugano Locarno ZH Mendrisio Tre Valli Sie weisen für den Kanton Zug den höchsten Wert auf, gefolgt 180'000 CH 160'000 TI NW von Schaffhausen und Basel-Stadt. Das Tessin positioniert SZ GR JU UR VS sich mit CHF 155'000 pro Beschäftigten − getrieben durch die 140'000 Pharmaindustrie, den Bankensektor und Unternehmensdienst- 120'000 leistungen − leicht unter dem Schweizer Mittel. Damit ist das 100'000 Tessin weit produktiver als die angrenzenden Kantone; die 80'000 Bergkantone Uri und Wallis befinden sich auf den beiden letz- 60'000 ten Plätzen im Produktivitätsranking, Graubünden belegt den 40'000 viertletzten Platz. 20'000 0 pascale.deraemy@credit-suisse.com Quelle: BFS, Credit Suisse Boom der Unternehmensdienste in Lugano Strukturwandel Wachstumsbeiträge der Branchengruppen, 2008–2012, in Prozent, 2./3. Sektor In einem Prozess schöpferischer Zerstörung bewirken die 20% Traditionelle Industrie Spitzenindustrie Märkte die Abwanderung oder den Untergang unproduktiver Bau Energieversorgung Wirtschaftsbereiche. Dadurch werden Raum und Kapazität für Handel und Verkauf Verkehr, Transport, Post 15% Information, Kommunikation, IT Finanzdienstleistungen die Produktion neuer, höherwertiger Güter und Dienstleistun- Unternehmensdienstleistungen Unterhaltung und Gastgewerbe gen geschaffen. Im Tessin haben die Unternehmensdienste 10% Administrative und soziale Dienste von 2008–2012 am meisten Stellen geschaffen, das Gastge- werbe hat an Beschäftigten eingebüsst. Die Stadt Lugano 5% wächst mehr als doppelt so stark wie das Landesmittel, wobei auch das Baugewerbe kräftig expandiert. Im Gegensatz zum 0% Landesmittel haben die staatsnahen administrativen und sozia- -5% len Dienste unterdurchschnittlich stark zugenommen. Der Strukturwandel verläuft somit in Richtung wertschöpfungsstar- -10% ker Branchen. Stadt ZH GR BS TI VS CH BE UR Lugano thomas.ruehl@credit-suisse.com Quelle: Credit Suisse Hohe Diversifikation im Branchenportfolio Konzentrationsindex Herfindahl-Index (2011); Beschäftigte (Kreisgrösse) Im Vergleich zu anderen Kantonen weist das Tessin keine hohe 1.2 150'000 Konzentration auf einzelne Branchen und Unternehmen auf. hoch UR BS 20'000 Damit ist der wirtschaftliche Erfolg in geringerem Mass von den 1.0 Entscheidungen einzelner Unternehmensleitungen abhängig als NW FR JU Unternehmenskonzentration etwa in Uri oder Basel-Stadt. Bei einer konjunkturellen Abküh- 0.8 GE OW lung in einzelnen Branchen schützt eine diversifizierte Wirt- AR NE SH schaftsstruktur davor, dass die kantonale Wirtschaft übermäs- 0.6 BE AI GL VD VS sig in Mitleidenschaft gezogen wird. So hat etwa die Uhrenkrise LU 0.4 SO Anfang der Achtzigerjahre den Jurabogen sehr stark getroffen. TI BL AG ZG Die geringe Konzentration auf Branchen erschwert jedoch die 0.2 SG ZH GR SZ Etablierung als «Cluster»: Wirtschaftsräume, die sich durch TG Ballung von Wissen über bestimmte Branchen von anderen 0.0 Standorten abheben können. 2.5 3 3.5 4 4.5 5 5.5 6 tief tief Branchenkonzentration hoch thomas.ruehl@credit-suisse.com Quelle: BFS, Credit Suisse Swiss Issues Regionen 17
Credit Suisse Economic Research Wirtschaft | Grenzgänger Wachsende Anziehungskraft auf Italiener Das Tessin verzeichnet einen markanten Zufluss an Grenzgängern aus Italien. Deren Profil hat sich stark gewandelt. Ein wachsender Teil der Grenzgänger verfügt über ein hohes Bildungsniveau. Das neue Potenzial trägt zu erhöhtem Wachstum bei, aber auch zu Druck auf den Tessiner Arbeitsmarkt. Tessin für Grenzgänger Ausländer spielen seit jeher eine wichtige Rolle auf dem Schweizer Arbeitsmarkt. Für die Grenz- attraktiver denn je regionen gilt dies in doppelter Hinsicht. Sie weisen nicht nur einen hohen Anteil niedergelasse- ner ausländischer Erwerbstätiger auf, sondern auch eine wachsende Zahl Grenzgänger. Der Kanton Tessin ist für internationale Pendler – vorrangig aus der Lombardei – in den vergange- nen Jahren besonders attraktiv geworden: Steigende Arbeitslosigkeit in Italien, die Abwertung des Euro gegenüber dem Franken und ein wachsendes Lohngefälle haben den Zustrom der frontalieri erhöht. Jeder vierte Erwerbstäti- Seit dem Jahr 2000 hat sich die Zahl der Grenzgänger im Tessin mehr als verdoppelt. Waren es ge kommt täglich von damals noch knapp 30'000, gingen 2014 mehr als 60'000 italienische Pendler im Tessin einer Italien Arbeit nach. Jeder zweite Tessiner Erwerbstätige ist Ausländer, mehr als jeder vierte ist Grenz- gänger (vgl. Abb. 1). Um die Jahrtausendwende betrug der Anteil der Grenzgänger noch gut 15%, jener der niedergelassenen Ausländer verharrte seither bei rund 20%. Ähnlich hoch ist der Anteil der Grenzgänger mit 24% nur im Kanton Genf, wo rund 70'000 französische Pendler beschäftigt sind. Steigende Qualifikation … Bemerkenswert ist nicht nur die Zunahme, sondern auch die sich wandelnde Zusammensetzung und berufliche Ausrichtung der italienischen Grenzgänger im Tessin. Zwar verfügen die Schwei- zer Erwerbstätigen im Kanton generell über eine höhere Ausbildung als ihre ausländischen Kol- legen, letztere haben in den vergangenen Jahren aber aufgeholt. Der Anteil Grenzgänger mit Hochschulabschluss ist zwischen 2000 und 2010 von 6% auf 17% gestiegen, der Anteil jener mit Maturität oder abgeschlossener Berufslehre von rund 20% auf 25%. … und Verschiebung in den Mit der Erhöhung der Qualifikation verschiebt sich auch die berufliche Ausrichtung: 2008 hat Dienstleistungssektor der Dienstleistungssektor die Industrie als wichtigstes Tätigkeitsfeld der Grenzgänger im Tessin abgelöst (vgl. Abb. 2). Seit 2000 hat sich die Anzahl Erwerbstätiger im Dienstleistungssektor mehr als verdreifacht, von gut 10'000 auf 35'000. Während die Frauen bereits ab 2001 vor- rangig im dritten Sektor tätig waren, dauerte dies bei den Männern bis 2014. Abbildung 1 Abbildung 2 Jeder vierte Erwerbstätige ist Grenzgänger Starke Zunahme im Dienstleistungssektor Anteil an Erwerbstätigen im Kanton Tessin in Prozent (2014) Anzahl Grenzgänger nach Wirtschaftssektor 70'000 Total Landwirtschaft Bau und Industrie Dienstleistungen 60'000 Grenzgänger 50'000 27% 40'000 Ausländer Schweizer 49% 51% 30'000 Aufenthalter, 22% Niedergelassene u.a. 20'000 10'000 0 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 Quelle: BFS, Ustat, Credit Suisse Quelle: BFS, Ustat, Credit Suisse Swiss Issues Regionen 18
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