Handelsnation Schweiz: Heimat der Agrargiganten

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Handelsnation Schweiz: Heimat der Agrargiganten
PUBLIC EYE MAGAZIN
                         Nr 18 Juni 2019

 Handelsnation Schweiz:
Heimat der Agrargiganten

     Agrarhandelsexperte Tomaso Ferrando im Interview s.12
    Zum Nutzen weniger: Umstrittene Medikamententests s.18
  Pestizide: Riesenwirbel in Brasilien nach unserer Recherche s.27
Handelsnation Schweiz: Heimat der Agrargiganten
EDITORIAL

                                                                                 An den Schalthebeln
                                                                                 der globalen Landwirtschaft
                                                                                 Die meisten der global wichtigen Agrarrohstoffhändler haben eine
                                                                                 Handelsniederlassung in der Schweiz. Warum, liegt auf der Hand:
                                                                                 Die Schweiz begnügt sich mit tiefen Steuern, bietet eine gute
                                                                                 Infrastruktur, hat zahlreiche Banken – und sie schaut nicht so
                                                                                 genau hin, was die Firmen im Ausland tun.

                                                                                 Viele der von hier aus operierenden Agrarrohstoffgiganten besitzen
                                                                                 Land, verarbeiten ihre Rohstoffe selbst, haben eigene Hafentermi-
                                                                                 nals und Schiffsflotten. Indem sie fast die ganze Wertschöpfungs-
                                                                                 kette kontrollieren, verfügen sie über eine unheimliche Macht. Die
                                                                                 Bäuerinnen und landwirtschaftlichen Arbeiter in den produzieren-
                                                                                 den Ländern haben dieser kaum etwas entgegenzusetzen. Beim
                                                                                 Anbau von Agrarrohstoffen für den globalen Markt kommt es
                                                                                 immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen, wie unsere Titel­
                                                                                 geschichte zeigt. Und die Politik scheint bisher nicht sonderlich
                                                                                 interessiert daran, korrigierend einzugreifen.

                                                                                 Die Schweiz profitiert von ihren Agrarhändlern. Genauso wie von
                                                                                 der Pharmabranche. Novartis und Roche machen ihre Milliarden-
                                          Alice Kohli                            umsätze unter anderem mit unfassbar teuren Krebsmedikamenten.
                                                                                 Vor ihrer Marktzulassung testen sie diese auch in Ländern mit
                                                                                 niedrigen und mittleren Einkommen, um Geld zu sparen. Wenn die
                                                                                 Medikamente auf dem Markt sind, halten sie es aber nicht für nötig,
                                                                                 die Preise an die wirtschaftlichen Verhältnisse der Länder anzupas-
   Dank Ihnen!
                                                                                 sen, wie wir im zweiten Schwerpunkt dieses Magazins zeigen. Die
   Die Reportagen und Analysen in unserem Magazin
   und die Recher­chen, auf denen diese beruhen, sind                            Pharmafirmen wären ethisch dazu verpflichtet, ihre Medikamente
   nur dank der Unterstützung unserer Mitglieder                                 in ehemaligen Testländern zugänglich zu machen.
   möglich.

   Sie sind bereits Mitglied? Herzlichen Dank!
   Und doppelten Dank, falls Sie jemandem eine                                   Schweizer Banken wiederum sind gesetzlich dazu verpflichtet, vor einer
   Mitgliedschaft verschenken.
                                                                                 Kreditvergabe Massnahmen zu treffen, um Straftaten wie Bestechung
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   pro Jahr werden Sie es und erhalten regelmässig                               oder Geldwäscherei zu verhindern. Wie konnte es dennoch dazu
   unser Magazin. Oder lernen Sie uns erst kennen                                kommen, dass Milliardenkredite eines Tochterunternehmens der Credit
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                                                                                 Suisse in Mosambik veruntreut wurden? In dem bitterarmen Land sind
   Wir freuen uns, von Ihnen zu
   hören – per Antwortkarte oder auf                                             deswegen die Staatsschulden explodiert. Weil die Schweizer Bundes-
   www.publiceye.ch/mitglieder
                                                                                 anwaltschaft diesem Fall nicht von sich aus nachgeht, hat Public Eye
                                                                                 eine Strafanzeige gegen die Credit Suisse eingereicht.

                                                                                 Ob im Agrarhandel, bei Pharmafirmen oder Banken: Dieses
                                                                                 Magazin zeigt exemplarisch, wie notwendig die Schaffung verbind-
                                                                                 licher Regeln ist, damit Schweizer Firmen Menschrechte und
                                                                                 Umweltstandards respektieren – hier und überall auf der Welt.

PUBLIC EYE – MAGAZIN         Nr. 18 Juni 2019

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Redaktion (D) & Produktion                      —                                          Dienerstrasse 12,               —
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Raphaël de Riedmatten –
                                                Vogt-Schild Druck AG                                                       erscheint sechs Mal pro Jahr.
Produktion & Redaktion (F)                                                                 Tel. +41 (0) 44 2 777 999
                                                Cyclus Print & Leipa, FSC
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opak.cc                                                                                    ISSN 2504-1266
                                                D: 24 000 Ex. / F: 9000 Ex.
Handelsnation Schweiz: Heimat der Agrargiganten
INHALT

Die Schweiz als
Agrarhandelsplatz
Eine Recherche von Public Eye zeigt erstmals
auf, welche Bedeutung die Schweiz als Han-
delsplatz für Agrarrohstoffe hat – und welche
Probleme die immer grösser werdende Macht
von wenigen Konzernen verursacht. S. 4

Experte Tomaso Ferrando im Interview.     S. 12

Strafanzeige gegen
Credit Suisse
In grossem Stil veruntreute Kredite einer Toch-
terfirma der Credit Suisse brachten Mosambik
in arge Finanznöte. Was wusste das Mutterhaus?
Public Eye verlangt, dass die Bundesanwalt-
schaft dieser Frage nachgeht. S. 16

Medikamentenzugang
– eine Lotterie
Unsere Studie zeigt: Längst nicht alle, die an
klinischen Versuchen von Roche oder Novartis
teilnehmen, profitieren davon. S. 18

                                                                                                                  © Issouf Sanogo/Getty
Die Kampagne zu kranken Medikamentenpreisen
hat eine breite Debatte ausgelöst. Doch die
offizielle Schweiz zeigt sich apathisch. S. 22

Pestizide: Empörung                                 Ivorische Arbeiter leeren am Hafen Abidjans Kakao aus
in halb Brasilien                                   Säcken in einen Container. Der Abnehmer: Cargill, eines der
                                                    grössten Rohstoffhandelsunternehmen der Welt, das seine
Im April machten Public Eye und Repórter Brasil     Handelsabteilung 1956 in Genf angesiedelt hat.
publik, dass sich im brasilianischen Trinkwasser
ein Cocktail von bis zu 21 Pestiziden findet. Die
Reaktionen waren heftig. S. 27

Klare Worte vom UNO-Sonderberichterstatter an
der GV von Public Eye. S. 30

Zudem in diesem Heft

Rückschritt in Bangladesch                          Fortschritt in Benin
Textilindustrie: Gewalt gegen Protestierende,       «Dirty Diesel»: Der westafrikanische Staat senkt
Gebäudesicherheit auf der Kippe. S. 25              seinen Grenzwert drastisch. S. 26
Handelsnation Schweiz: Heimat der Agrargiganten
Handelsdrehscheibe Schweiz –
   Unser Beitrag an eine
    ungerechtere Welt

Die Schweiz beherbergt nicht nur die weltweit grössten Händler von Öl,
Kohle, Erzen und Metallen, sie ist auch ein bedeutender Handelsplatz für
Agrarrohstoffe wie Kaffee, Kakao, Zucker oder Getreide. Die Geschäfte
laufen praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit ab. Public Eye hat die
Branche über Monate analysiert und kann aufzeigen, wie die Handelsfirmen
zu riesigen Agrarkonglomeraten geworden sind – und welche bitteren Aus-
wirkungen das auf Menschen und Umwelt in den Anbauländern hat. Denn
Menschenrechtsverletzungen sind im Anbau von Agrarrohstoffen omniprä-
sent: vom Fehlen existenzsichernder Einkommen und Löhne über Kinder-
arbeit bis zu Vergiftungen durch Pestizide. Auch das Risiko für zweifelhafte
Steuerdeals und Korruption sind im Agrarhandel hoch. Die Schweiz setzt
zur Lösung der in diesem intransparenten Sektor verursachten Probleme
nach wie vor auf das freiwillige Engagement der Konzerne. Dabei sind ver-
bindliche Massnahmen längst überfällig.
                                                                               ©: Diego Giudice/Bloomberg/Getty

TEXT: ALICE KOHLI
MITARBEIT: THOMAS BRAUNSCHWEIG UND SILVIE LANG
Handelsnation Schweiz: Heimat der Agrargiganten
AGRARHANDELSPLATZ SCHWEIZ               5

Die Schweiz hat sich zu einer der global wichtigsten Han-      kurs ist. Dieser Trend lässt sich bei vielen Unternehmen
delsdrehscheiben für Agrarrohstoffe entwickelt – und           feststellen. Im Getreidehandel teilten sich bis vor Kurzem
kaum jemand hat es gemerkt. Oder wussten Sie, dass rund        die vier grössten Konzerne gegen 90 Prozent des Markts
50 Prozent des weltweiten Getreidehandels und mindestens       auf, im Teehandel zeichnen drei Firmen für 80 Prozent,
40 Prozent des globalen Zuckerhandels über die Schweiz         im Bananenhandel vier Firmen für knapp die Hälfte der
laufen? Dass mindestens jede dritte aller Kakao- und Kaffee­   globalen Handelstätigkeit verantwortlich. Doch die M&A's
bohnen auf dem Weltmarkt von hier aus gehandelt wird?          beschränken sich nicht auf den Handel allein.
Oder dass mindestens ein Viertel des globalen Handels mit              In den meisten Fällen geht es um eine Ausweitung
Baumwolle über die Schweiz abgewickelt wird?                   der Geschäftstätigkeit entlang aller Stufen der Wertschöp-
        Und das sind nur die konservativen Schätzungen         fungskette von Agrargütern, etwa in den Anbau, aber auch
von Public Eye auf Grundlage einer Analyse von 16 der          in die Verarbeitung von Agrarrohstoffen und die Herstel-
weltweit wichtigsten Agrarhändler und deren Aktivitäten        lung von Lebensmitteln (siehe dazu auch unser Experten-
in der Schweiz, die wir Anfang Monat veröffentlicht haben.     interview ab Seite 12). Archer Daniels Midland (ADM) bei-
Die Handelsanteile, die der Branchenverband STSA (Swiss        spielsweise, ein amerikanisches Unternehmen mit globaler
Trading and Shipping Association) angibt, liegen sogar         Handelsabteilung in Rolle im Kanton Waadt, besitzt rund
noch höher. In den letzten Jahrzehnten haben viele der welt-   zehn Hochseeschiffe, 1800 Lastkähne, 100 Boote, 12 000
weit führenden Firmen in diesem Sektor ihren Hauptsitz         Eisenbahnwaggons, 360 Lastwagen und 1200 Anhänger.
oder wichtige Handelsabteilungen am Genfersee oder in
der Zentralschweiz eröffnet. So haben heute praktisch alle                        Die düstere Seite
grossen Agrarrohstoffhändler einen Sitz in der Schweiz.        Wer die Geschäftsberichte der Unternehmen studiert,
Angelockt wurden die Multis von einer attraktiven Steuer-      könnte meinen, dass alles rund läuft. Die Firmen zeigen
politik, einem diskreten und geschäftsfreundlichen Umfeld      seitenweise Bilder von lachenden Bauern und zufriede-
– und fehlender Regulierung in Bezug auf die menschen-         nen Erntehelferinnen. Doch die Konzentrationsprozes-
rechtlichen Auswirkungen ihrer Geschäfte im Ausland.           se im Agrarsektor haben weitreichende Folgen für die

                 Kaum bekannte Riesen
2011 hat Public Eye das erste Buch über die unbekannte
und verschwiegene Branche des Rohstoffhandels in der           Je mächtiger die Firmen werden, desto grösser wird
Schweiz veröffentlicht. Seither konnten wir mit unseren        ihre Verhandlungsmacht. Entsprechend können sie
Recherchen und Analysen immer wieder aufzeigen, wie            vorgeben, was unter welchen Bedingungen angebaut
Schweizer Händler von Öl, Kohle, Erzen und Metallen            wird – und vor allem, was sie dafür bezahlen.
zu Korruption, Veruntreuung und Menschenrechtsver-
letzungen beitragen. Konzerne wie Glencore, Vitol und
Trafigura – die drei umsatzstärksten aller Schweizer
Firmen – sind mittlerweile vielen ein Begriff.                 Menschen, die in der Herstellung der Exportgüter tätig
       Das gilt weniger für Cargill (die Nummer vier           sind; seien es die Pflückerinnen auf Kakaoplantagen, die
der umsatzstärksten Schweizer Firmen), COFCO oder              Arbeiter auf Maisfeldern oder die Kleinbäuerinnen und
Bunge – dem Namen nach könnten diese Unternehmen               Kleinbauern weltweit. Denn je mächtiger die Firmen wer-
auch mit Autoersatzteilen handeln. Doch auch wenn              den, desto grösser wird ihre Verhandlungsmacht. Entspre-
ein Maisfeld für gewöhnlich weit weniger bedrohlich            chend können sie vorgeben, was unter welchen Bedingun-
aussieht als eine Kupfermine: Die Aktivitäten der Agrar-       gen angebaut wird – und vor allem, was sie dafür bezahlen.
rohstoffhändler sind keineswegs per se weniger proble-                Unsere Recherche förderte die düstere Seite des glo-
matisch als jene von Öl- oder Metallhändlern.                  balen Handels mit Agrarrohstoffen zutage. Was die bunten
       Etwas, das sofort auffällt, wenn man sich mit der       Prospekte nämlich verschleiern: Die Arbeitsbedingungen
in der Öffentlichkeit noch sehr wenig bekannten Branche        in der Landwirtschaft sind vielerorts ausbeuterisch – ins-
des Agrarrohstoffhandels auseinandersetzt: Sie ist überaus     besondere im Anbau arbeitsintensiver Exportgüter wie
stark konzentriert. Durch Firmenzusammenschlüsse, Ko-          Kakao, Kaffee, Baumwolle, Bananen oder Orangen. Gejätet,
operationsabkommen und Übernahmen werden die weni-             gesprüht, geschnitten und geerntet wird meist von Hand –
gen Unternehmen immer mächtiger: Für Bunge etwa, eine          und das für einen Lohn, der nicht zum Leben reicht. Im Hin-
amerikanische Firma mit Handelsabteilung in Genf, lassen       blick auf die Firmen, die Agrarrohstoffe über die Schweiz
sich dreissig Geschäftszusammenschlüsse und -übernah-          handeln, haben wir Berichte von NGOs und Medien aus-
men (Mergers & Acquisitions, M & A) dokumentieren – und        gewertet. Die Anzahl Fälle, auf die wir gestossen sind,
das in nur sechs Jahren, von 2013 bis 2018. Bunge ist nicht    ist so hoch, wie die Probleme vielfältig sind. In diesem
die einzige Agrarrohstoffhändlerin, die auf Expansions-        Magazin reicht der Platz nur für eine kleine Auswahl.
Handelsnation Schweiz: Heimat der Agrargiganten
6                                                                                                                                                                                                    PUBLIC EYE MAGAZIN                  Nr. 18     Juni 2019

    Die Schweiz und der globale Agrarrohstoffhandel

    Der gehandelte Anteil einzelner Agrarrohstoffe                                                                                                                                   Der Marktanteil der Schweiz am globalen Handel mit …
    an der Gesamtproduktion

                                                                                                                                                                           Getreide über 50%

                                                                                                                                                                             Zucker über 40%

                                                                                                                                                                              Kakao über 30%
              5%

                            13%

                                   18%

                                               25%

                                                           29%

                                                                     35%

                                                                                   35%

                                                                                             38%

                                                                                                       40%

                                                                                                                70%

                                                                                                                          71%

                                                                                                                                    77%

                                                                                                                                                 78%
                                                                                                                                                                              Kaffee über 30%

                                                                                                                                                                         Baumwolle über 25%

                                                                                                                                                                        Konservative Schätzungen
                                                                                                                                                                                   von Public Eye
               Reis

                            Mais

                                    B ananen

                                               Weizen

                                                            Tee

                                                                      B aumwolle

                                                                                    Zucker

                                                                                              Tabak

                                                                                                        S oja

                                                                                                                 Kakao

                                                                                                                           Palmöl

                                                                                                                                     Kaffee

                                                                                                                                               Orangensaf t
              Reis

                            Mais

                                   Bananen

                                               Weizen

                                                           Tee

                                                                     Baumwolle

                                                                                   Zucker

                                                                                             Tabak

                                                                                                       Soja

                                                                                                                Kakao

                                                                                                                          Palmöl

                                                                                                                                    Kaffee

                                                                                                                                              Orangensaft

    Lesebeispiel: Während über drei Viertel des global angebauten Kaffees in den
    internationalen Handel kommt, ist es beim Reis gerade mal ein Zwanzigstel.

    Der Exportwert der wichtigsten
    Agrarrohstoffe

60 Mrd.
               $                                                                                                                              $
                                                                                                                                                                                                         Die Marktkonzentration
30 Mrd.
                                                                                                                                                                                                         bei der Ver­arbeitung von
                                                                                                                                                                                                         Kakao und Orangensaft
15 Mrd.

                                                                                                                                              $
                                                                                                                                                                                                                                             Kakao
             Orangensaf t

                            Tee

                                   Kakao

                                                B ananen

                                                            Tabak

                                                                     B aumwolle

                                                                                   Kaffee

                                                                                             Reis

                                                                                                       Mais

                                                                                                                Zucker

                                                                                                                          Palmöl

                                                                                                                                    Weizen

                                                                                                                                              S oja
             Orangensaft

                            Tee

                                   Kakao

                                               Bananen

                                                           Tabak

                                                                    Baumwolle

                                                                                   Kaffee

                                                                                             Reis

                                                                                                       Mais

                                                                                                                Zucker

                                                                                                                          Palmöl

                                                                                                                                    Weizen

                                                                                                                                              Soja

                                                                                                                                                                                                                                             17%
    Durchschnittswert 2015 bis 2017 in US-Dollar                                                                                                                                                                                             19%
                                                                                                                                                                                                                                             29%

                                                                                                                                                                                                                                             35%    Andere

    Die Marktkonzentration beim Handel von Agrarrohstoffen
                                                                                                                                                                                                                                             Orangensaft

                                               100%                                                                                                           100%                          100%

                                                                                                                                                              90%                                                                            15%
                                               80%                                                                                                            80%                           80%
                                                                                                                                                                                                                                             25%
                                               60%                                                                                                            60%                           60%

        4                                      44%
                                                                                                                                                              40%                           40%
                                                                                                                                                                                                                                             33%

                                                                                                                          4                                                      3
                                               20%                                                                                                            20%                           20%
                                                                                                                                                                                                                                             27%    Andere

                                               0%                                                                                                             0%                            0%

            Bananen                                                                                                      Getreide                                              Tee
                                                                                                                                                                                                    Von den sechs Konzernen, die die Verarbeitung von Kakao und
    4 Firmen kontrollierten                                                                           4 Firmen kontrollierten                                        3 Firmen kontrollierten        Orangensaft grösstenteils unter sich aufteilen, operieren bis auf
    2014 44% des Handels.                                                                             2012 90% des Handels.                                          2017 80% des Handels.          die brasilianische Citrosuco alle aus der Schweiz.

                                                                                                                                                                                                              Quelle
                                                                                                                                                                                                              Sämtliche hier dargestellten Zahlen finden sich im
                                                                                                                                                                                                              englischen Fachbericht «Agricultural Commodity
                                                                                                                                                                                                              Traders in Switzerland – Benefitting from Misery?»
Handelsnation Schweiz: Heimat der Agrargiganten
MAGAZIN      7
          Klum/National Geographic/Getty
  Diego Giudice/Bloomberg

                                           Haribhau Kumbhekar wurde im Oktober beim Ausbringen eines Pes-
                                           tizidmixes vergiftet — und hat sich nicht mehr vollständig erholt.
© Mattias

                                           «Er ist nicht mehr derselbe», sagt seine Tochter Annapurna.
                                           Indonesischer Arbeiter bei der Ernte von Ölpalmfrüchten auf der malaiischen Insel Borneo.

                                                              HUNGERLÖHNE                                                              KRANK MACHENDE ARBEIT

                                           2016 untersuchte die investigative NGO Repórter                        Die Arbeit in der Landwirtschaft ist oft gesundheits-
                                           Brasil, mit der Public Eye kürzlich auch zum Thema                     schädigend. Abgesehen vom körperlichen Verschleiss
                                           Pestizide kooperiert hat, die Arbeitsbedingungen auf                   wegen der schweren Plackerei auf Plantagen und
                                           Kaffeefarmen in Brasilien. Was sie vorfand, war skan-                  Feldern gehören durch Pestizide verursachte Vergif-
                                           dalös: Die Plantagenbesitzer zogen den Arbeitern und                   tungen und chronische Krankheiten zu den grössten
                                           Arbeiterinnen Vorschüsse von den Gehältern ab, die                     gesundheitlichen Gefahren dieser Arbeit.
                                           sie nie ausbezahlt hatten. Zudem führten Abwesen-                              Viele der hochgefährlichen Pestizide, die in Län-
                                           heiten zu Gehaltsreduktionen – auch für Tage, an denen                 dern wie Brasilien, Argentinien oder Indien allen voran
                                           die Ernte witterungsbedingt unmöglich war. Manche                      vom Basler Multi Syngenta verkauft werden, sind in der
                                           der Angestellten auf den untersuchten Farmen kamen                     Schweiz und in der EU schon längst verboten, wie eine
                                           wegen dieser Praktiken auf nicht einmal die Hälfte                     im April veröffentlichte Recherche von Public Eye unter
                                           des gesetzlichen Mindestlohns – von einem existenz-                    dem Titel «Highly Hazardous Profits» aufgezeigt hat.
                                           sichernden Lohn ganz zu schweigen. Was das mit unse-                           Ein krasser Fall von gefährlichem Pestizidein-
                                           ren Schweizer Firmen zu tun hat? Der Kaffee aus die-                   satz wurde 2017 auf Bananenplantagen in Ecuador
                                           sen Farmen wurde auch einer Tochtergesellschaft von                    dokumentiert. Die Pestizide – unter anderem der Syn-
                                           ECOM Agroindustrial verkauft, einem der wichtigsten                    genta-Bestseller Gramoxone mit dem in der Schweiz
                                           Kaffeehändler mit Hauptsitz in Pully im Kanton Waadt.                  seit 30 Jahren verbotenen Wirkstoff Paraquat – wurden
                                                  Das Fehlen von existenzsichernden Einkommen                     flächendeckend aus der Luft ausgebracht. Weder erging
                                           und Löhnen ist eines der grundlegendsten Probleme in                   eine vorgängige Warnung an die Arbeitenden, noch
                                           der globalisierten Landwirtschaft. Die Armutslöhne und                 wurden geeignete Schutzvorkehrungen getroffen. Das
                                           -einkommen reichen nicht aus für ein würdevolles Leben                 dänische Medien- und Forschungszentrum Danwatch,
                                           der Arbeitnehmenden und ihrer Familien und führen vie-                 spezialisiert auf investigativen Journalismus, dokumen-
                                           lerorts zu Verletzungen grundlegender Menschenrechte.                  tierte in seiner Recherche, dass diese Plantagen auch
                                           Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Bauern und Bäue-                Chiquita belieferten. Der weltgrösste Bananenhändler
                                           rinnen aufgrund der viel zu tiefen Einkommen Abstri-                   ist in Etoy im Kanton Waadt beheimatet und gehört zur
                                           che bei der Arbeitssicherheit machen müssen oder sich                  Hälfte dem ebenfalls in der Schweiz ansässigen Banker
                                           gezwungen sehen, für die Arbeit Kinder oder Menschen                   Joseph Safra, der mit der Bank Safra Sarasin hierzu-
                                           ohne Arbeitserlaubnis zu Tieflöhnen einzusetzen.                       lande auch über eine Bankenlizenz verfügt.
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8                                                                                          PUBLIC EYE MAGAZIN   Nr. 18   Juni 2019

                                                                                                                                     © Edgard Garrido/Reuters
Zwei Knaben mit Körben frisch geernteter Kaffeebohnen auf einer Plantage Im Südosten von Honduras.

                                                                    porterlöse aus. Die Regierungen zwingen während der
                                                                    Erntesaison Angestellte von staatlichen Unternehmen,
                   MODERNE SKLAVEREI                                auf den Baumwollfeldern zu arbeiten. Angesichts der
                                                                    hohen Arbeitslosenquote wagen sich viele nicht, Wider-
Ein gravierendes Problem in der landwirtschaftlichen                stand zu leisten, und ihr Einkommen reicht nicht, um sich
Produktion ist Zwangsarbeit. Gemäss der Internationa-               von dieser Arbeit freizukaufen. Trotzdem handelt der in
len Arbeitsorganisation ILO ackern weltweit mehr als 3,5            der Schweiz ansässige Baumwollhändler Paul Reinhart
Millionen Menschen unter sklavenähnlichen Bedingun-                 mit Baumwolle aus Turkmenistan, wo auch Kinderarbeit
gen in der Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft.           nach wie vor ein systemisches Problem darstellt – obwohl
        Die deutsche NGO Christliche Initiative Romero              der turkmenische Präsident 2008 ein Verbot erlassen hat.
und die österreichische NGO Global 2000 berichteten
von Arbeiterinnen und Arbeitern auf einer Orangen-
plantage in Brasilien, die mehrere Wochen nicht bezahlt
wurden. Ihre Schulden stiegen täglich an, da ihnen                                     KINDERARBEIT
gleichzeitig die Kosten für Transport, Unterkunft und
Verpflegung vom Plantagenbesitzer zu extrem hohen                   Auf den Agrarsektor entfallen 71 Prozent der miss-
Ansätzen in Rechnung gestellt wurden. Die Arbeiten-                 bräuchlichen Kinderarbeit weltweit, dies entspricht
den konnten sich deshalb die Busfahrt nach Hause nicht              knapp 108 Millionen Kindern. Zum Vergleich: In allen
leisten und hatten keinerlei Möglichkeit, die Plantage              Staaten der EU zusammen leben zurzeit rund 70 Millio-
zu verlassen. Der Bericht bezeichnet dies als moder-                nen Kinder zwischen 5 und 17 Jahren, der Altersspanne,
ne Sklaverei. Und das brasilianische Arbeitsministe-                welche die ILO zur Berechnung der Anzahl arbeitender
rium hat Sucocitrico Cutrale, den Orangensaftriesen                 Kinder verwendet. Unter Kinderarbeit werden nicht,
mit Handelsniederlassung in Lausanne, der von diesen                wie manchmal falsch dargestellt wird, Arbeiten ver-
Plantagen Orangen bezog, auf die «schmutzige Liste»                 standen, bei denen Kinder gelegentlich ihren Eltern
von Firmen gesetzt, die von Sklavenarbeit profitieren.              auf Familienbetrieben helfen. Die missbräuchliche
        In den Baumwollfeldern Zentralasiens ist Zwangs-            Kinderarbeit, wie sie in der Landwirtschaft noch viel
arbeit ein endemisches Problem. Die Zwangsmobilisie-                zu häufig vorkommt, ist von der ILO klar definiert und
rung von Arbeitenden in Usbekistan und in Turkmenis-                umfasst Arbeiten, welche Kinder ihrer Kindheit, ihres
tan ist ein Überbleibsel aus der Sowjetzeit. Beide Länder           Entwicklungspotenzials und ihrer Würde berauben und
werden von autoritären Regimen geführt, und Baum-                   physisch sowie mental schädigend sind. Solche Tätig-
wollverkäufe machen einen erheblichen Teil ihrer Ex-                keiten halten Kinder vom Zugang zu Bildung ab und
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© Diego Giudice/Bloomberg
© Pascal Maitre/Panos

                        Arbeiterinnen bei der Kakaoernte in der Elfenbeinküste.

                        nehmen ihnen Perspektiven auf ein besseres Leben. So        unorganisierten Kleinproduzenten und Arbeiterinnen.
                        wird die Armut über Generationen hinweg zementiert.         Diese haben gegenüber den riesigen Agrarkonglomera-
                              Der französische Fernsehsender France 2 berich-       ten in der Regel kaum Verhandlungsmacht, um bessere
                        tete Anfang dieses Jahres über den illegalen Kakao­         Arbeits- und Produktionsbedingungen für sich auszu-
                        anbau in Schutzgebieten in Côte d'Ivoire. Jede dritte       handeln oder sich gegen Risiken abzusichern.
                        Person, die auf diesen Plantagen arbeitete, war ein                 Wie die Händler ihre Macht ausspielen können,
                        Kind. Die Journalisten dokumentierten auch Fälle von        zeigt sich beispielsweise beim Thema Landaneignungen.
                        Kinderhandel aus dem benachbarten Burkina Faso.             Zwischen 2006 und 2016 dokumentierte die Organisa-
                        Unter anderem kaufte der Handelskonzern Cargill, der        tion GRAIN weltweit fast 500 Fälle von Landraub, die
                        eine wichtige Handelsniederlassung in Genf betreibt,        zusammen über 30 Millionen Hektar Land betreffen.
                        Kakao, der auf diesen Plantagen angebaut wurde.             Oft geht es um Land, das ursprünglich von Kleinbauern­
                                                                                    familien bewirtschaftet wurde, traditionelle Weideland-
                                                                                    schaften gehören dazu, geschützter Wald, aber auch
                                                                                    dicht besiedeltes Land. Die riesigen Flächen, wie sie
                                            LANDRAUB                                etwa für den Soja-­, Palmöl- oder Maisanbau benötigt
                                                                                    werden, sind nicht einfach frei verfügbar. Aber die
                        Wie eingangs erwähnt, sind viele der aus der Schweiz        Händler dieser Rohstoffe wissen sich zu helfen. Die bri-
                        operierenden Handelsunternehmen nicht nur im                tische NGO Oxfam hat etwa nachgewiesen, wie Cargill
                        ­Handel tätig, sondern dringen auch in die Produktion       zwischen 2010 und 2012 trotz gesetzlicher Beschrän-
                         und Verarbeitung der Rohstoffe ein. Manche besitzen        kungen riesige Landflächen in Kolumbien akquirierte.
                         Land, andere pachten es oder gehen Verträge ein, die       Der Konzern gründete nicht weniger als 36 Briefkasten-
                         es ihnen ermöglichen, die Produktion zu kontrollieren.     firmen, die es erlaubten, eine gesetzlich vorgeschriebene
                         Viele der Agrarrohstoffhändler mit Sitz in der Schweiz     Maximalgrösse für den Erwerb von staatlichem Land
                         sind sogenannte Global Value Chain Managers, die an        zu überschreiten. Mit über 50 000 Hektaren erwarb
                         der gesamten Wertschöpfungskette beteiligt sind – vom      Cargill schliesslich mehr als das 30-Fache des für einen
                         Feld bis zur Gabel, «From Farm to Fork», wie es die Lou-   einzelnen Eigentümer gesetzlich zulässigen Landes.
                         is Dreyfus Company (LDC), die ihre grösste Handels-                Einer der berüchtigtsten Fälle von Landraub be-
                         niederlassung in Genf betreibt, stolz von sich behaup-     trifft die Kaffeeproduktion in Uganda. Das Food First
                         tet. Mit dem Zugriff auf die Produktionsstufe stehen       Information and Action Network hat den Fall minutiös
                         mächtige Händler in direkten – und allzu oft alles an-     recherchiert, der damit begann, dass die ugandische Ar-
                         dere als fairen – Geschäftsbeziehungen mit weitgehend      mee 2001 die Einwohnerinnen und Einwohner von vier
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PUBLIC EYE MAGAZIN      Nr. 18   Juni 2019

                                                                                                                                          © Dado Galdieri/Bloomberg/Getty
Ein Cargill-Frachter wird im brasilianischen Hafen Santarem mit Soja beladen.

Dörfern gewaltsam vertrieb. Die Regierung hatte das Land                fungsketten von in der Schweiz ansässigen Rohstoffhänd-
zuvor an die Kaweri Coffee Plantation Ltd. verpachtet,                  lern zu verhindern. Die mächtigen Agrarhändler agieren
eine Tochtergesellschaft der Deutschen Neumann Kaffee                   weitgehend ausserhalb der öffentlichen Wahrnehmung.
Gruppe, die ihre Plantagen über das NKG Tropical Farm                   Das hat auch damit zu tun, dass der Agrarrohstoffhandel in
Management mit Sitz in Baar im Kanton Zug verwaltet.                    der Schweiz fast gänzlich aus sogenanntem Transithandel
Bis heute kämpfen die Vertriebenen für ihre Rechte.                     besteht, der in den Handelsstatistiken nicht auftaucht, da
                                                                        die Rohstoffe dabei nicht physisch in die Schweiz gelan-
                                                                        gen. Viele der Firmen sind zudem privat gehalten – ohne
                                                                        öffentliche Rechenschaftspflicht an Aktionärinnen und
                    KORRUPTION                                          Aktionäre. Einem Kontrollorgan, wie sie der Staat mit der
                                                                        Finanzmarktaufsicht FINMA für Banken und Versicherun-
Schon angesichts der bislang erwähnten Fälle verwun-                    gen kennt, müssen Rohstoffhändler auch keine Auskünfte
dert es, mit welcher Sorglosigkeit die Schweiz ihre                     erteilen: Ein solches existiert nicht. Public Eye hat mit der
Agrarrohstoffhändler gewähren lässt. Die offizielle
­                                                                       Idee einer Rohstoffmarktaufsicht Schweiz (ROHMA) schon
Schweiz setzt sich aktiv dafür ein, dass sich Agrarroh-                 2014 eine Lösung präsentiert, wie unser Land diesem Man-
stoffhändler hier niederlassen – jedoch ohne sicherzu-                  gel entgegenwirken könnte. Denn solange der Staat nicht
stellen, dass diese ihre Sorgfaltspflichten in Bezug auf die            genauer hinschaut, dürfen sich die Händler fast alles erlau-
Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards                      ben. Das zeigen auch die zahlreichen Fälle von Korruption
wahrnehmen. Im Mai 2017 unterzeichnete der Kanton                       und Geschäften mit politisch exponierten Personen, auf die
Genf eine Absichtserklärung mit dem staatlichen chi-                    wir bei unserer Recherche gestossen sind.
nesischen Agrarrohstoffhändler COFCO und sicherte                              Einer der grössten Korruptionsfälle, die ans Licht
dem Unternehmen die volle Unterstützung für seine                       kamen, betrifft den Getreideriesen Archer Daniels Mid-
Geschäftsausweitung zu. Der Kanton verpflichtete sich                   land (ADM). Eine ADM-Tochtergesellschaft bekannte sich
ausserdem, dem Unternehmen ein «freundliches Ge-                        schuldig, im Jahr 2013 ukrainische Regierungs­beamte mit
schäftsumfeld» bereitzustellen. COFCO eröffnete dar-                    rund 22 Millionen Dollar bestochen zu haben. Aufgrund
aufhin seinen internationalen Handelshauptsitz in Genf.                 eines Bundesgesetzartikels in den USA, dem Foreign Cor-
       Die Schweiz verlässt sich einzig auf verantwortungs-             rupt Practices Act, musste das Unternehmen in der Folge
volles unternehmerisches Handeln, also die sogenannte                   eine Busse von 17 Millionen Dollar zahlen.
Corporate Social Responsibility. Sie setzt somit weiterhin                     Im November 2017 berichtete die französische
auf Freiwilligkeit und kennt bis heute keine Vorschriften,              Fernsehsendung «Cash Investigation» über die prob-
um Menschenrechtsverletzungen entlang der Wertschöp-                    lematischen Geschäfte der Louis Dreyfus Company in
© Simon Dawson/Bloomberg/Getty

                                 Trader von Glencore, dem weltweit grössten Rohstoffhändler mit Hauptsitz im Kanton Zug, an der Arbeit im Handelszentrum in Rotterdam.

                                 Brasilien. Die Genfer Agrarhändlerin ging im Jahr 2010               Dabei ist die im globalen Agrar- und Ernährungssystem
                                 mit einer Tochtergesellschaft des weltgrössten Sojapro-              beobachtete Machtasymmetrie keine Zufälligkeit. Im Ge-
                                 duzenten Amaggi ein Joint Venture ein. Diese Firma wie-              genteil, sie ist strukturell bedingt. Damit ist die Politik
                                 derum gründete im selben Jahr eine auf den Cayman Is-                gefordert. Sie muss mächtige Unternehmen zu verantwor-
                                 lands ansässige Treuhandgesellschaft. Die wirtschaftlich             tungsvollem Handeln zwingen, indem sie diese zur ver-
                                 Begünstigten dieses Trusts waren allesamt Familienmit-               bindlichen Einhaltung der Menschenrechte bei all ihren
                                 glieder von Blairo Maggi, dem als «Sojakönig» bekannten              Geschäftstätigkeiten verpflichtet, stringente Transparenz-
                                 Besitzer der Firma Amaggi und damaligen Gouverneur                   vorschriften erlässt und wettbewerbspolitische Massnah-
                                 des Staates Mato Grosso. Der Gouverneur hatte also in                men ergreift, welche die Verhandlungsmacht der Agrar-
                                 seiner exponierten Position als Politiker seine privaten             rohstoffhändler gegenüber Bauernfamilien einschränkt.
                                 und geschäftlichen Interessen vermischt, was bei LDC                        Letztlich braucht es eine fundamentale Verschie-
                                 die Alarmglocken hätte läuten lassen müssen.                         bung der Machtverhältnisse zwischen den Händlern und
                                        Gegen Maggi, der zwischenzeitlich Landwirt-                   den Menschen, die im Anbau der Agrarrohstoffe tätig
                                 schaftsminister Brasiliens war, wurde 2018 Anklage                   sind, um grundlegende Menschenrechte wie das Recht
                                 erhoben, weil er in jener Zeit als Gouverneur ein Sys-               auf einen angemessenen Lebensstandard zu sichern.
                                 tem monatlicher Bestechungszahlungen aufgebaut ha-                   Genau hier müssen Bundesrat und Parlament ansetzen,
                                 ben soll – im Austausch für politische Unterstützung.                wenn sie sicherstellen wollen, dass der Schweizer Agrar-
                                                                                                      handelssektor nicht länger im Dunkeln auf Kosten von
                                          Was muss in der Schweiz passieren?                          Mensch und Umwelt Geschäfte macht. Die Annahme
                                 Hübsche Bilder in Jahresberichten, bunte Websites und                der Konzernverantwortungsinitiative wäre ein wichtiger
                                 schmissige Slogans können nicht darüber hinweg-                      Schritt: Sie würde dafür sorgen, dass sich aus der Schweiz
                                 täuschen, wie viel im globalen Agrarrohstoffsektor                   heraus operierende Konzerne künftig proaktiv um Men-
                                 schiefläuft. Aber im Gegensatz zu den Millionen von                  schenrechts- und Umweltrisiken kümmern müssten. �
                                 Kleinbauern und Landarbeiterinnen sind die wenigen
                                 riesigen multinationalen Unternehmen in der Lage, die
                                 Spielregeln und die jetzt schon ungleichen Geschäfts­                    Welche Rolle spielt die Schweiz im globalen Agrarhandel?
                                 beziehungen weiter zu ihren Gunsten zu formen oder                       Finden Sie es heraus und testen Sie Ihr Wissen in unserem
                                 auszulegen. Die Resultate sind ein unzureichender Men-                   Online-Quiz unter www.publiceye.ch/agrarhandel, wo
                                 schenrechtsschutz, fehlende Transparenzvorschriften                      Sie auch den Fachbericht «Agricultural Commodity Traders
                                 und eine Wettbewerbspolitik, die dem zunehmenden                         in Switzerland – Benefitting from Misery?» sowie weitere
                                 Machtungleichgewicht wenig entgegenzusetzen hat.                         Informationen zum Thema finden.
PUBLIC EYE MAGAZIN   Nr. 18   Juni 2019

«Sollen wir akzeptieren, dass sich das
Ernährungssystem danach richtet, wo am
meisten für ein Lebensmittel bezahlt wird?»

Tomaso Ferrando, Experte für die Zusammenhänge zwischen Recht und Ernährung, sieht zwei do-
minierende Trends im globalen Agrarhandelssystem: Konzentrationsprozesse auf allen Stufen der
Nahrungskette und den zunehmenden Einfluss von Finanzakteuren. Im Interview spricht er über die
Folgen dieses globalisierten Systems für Bäuerinnen, Konsumenten und die Umwelt – und skizziert
Ansätze, wie den daraus erwachsenden Ungerechtigkeiten begegnet werden kann.
                                                                                                            © Tom Pilston/Panos

INTERVIEW: SILVIE LANG UND ALICE KOHLI
TOMASO FERRANDO           13

Das globale Agrar- und Ernährungssystem hat sich in            Finanzakteure Anteile an mehreren Unternehmen halten,
den letzten Jahren erheblich gewandelt. Was sind aus           die auf demselben Markt tätig sind. Das heisst: Unterneh-
Ihrer Sicht die wichtigsten Veränderungen?                     men, die eigentlich miteinander konkurrenzieren sollten,
Ich würde sagen, es gibt zwei Hauptdynamiken. Die eine         kooperieren mit dem Ziel, möglichst hohe Gewinne für
ist die zunehmende Konzentration, das heisst, dass im-         oftmals dieselben Aktionärinnen und Aktionäre zu gene-
mer weniger Firmen einzelne Sektoren oder Wertschöp-           rieren. Das Handeln dieser Akteure zielt nicht auf einen
fungsstufen dominieren, etwa im Saatgut- und Chemie-           möglichst guten Preis für Konsumentinnen und Konsu-
sektor. Nehmen wir die Übernahme von Monsanto durch            menten ab, sondern auf eine möglichst hohe Rendite.
Bayer. Die Tatsache, dass Wettbewerbsbehörden sowie
Politikerinnen und Politiker die Fusion dieser beiden          Sind Sie demnach für einen hart umkämpften Markt
Riesenkonzerne zuliessen, ist emblematisch. Sie zeigt,         mit aggressiver Preispolitik?
dass es trotz einer verstärkten Aufmerksamkeit für die         Ich sage nicht, dass die Senkung von Preisen oder eine
problematischen Aspekte unseres Ernährungssystems              aggressive Preispolitik per se gut sind. Aber die von den
leider offensichtlich nach wie vor grosse politische und       Finanzakteuren provozierte Dynamik hat das klassische
rechtliche Lücken gibt. Obwohl Monsanto seit Jahren            Ernährungssystem komplett durcheinandergebracht.
für öffentliche Empörung sorgte, kam es zur Übernahme          Entscheidungen werden nicht mehr danach getroffen,
und somit zur Fortführung dieses problematischen Ge-           wer welche Nahrung benötigt, sondern danach, was den
schäftsmodells. Die zweite Hauptdynamik ist die zuneh-         höchsten Profit einbringt.
mende Finanzialisierung des ganzen Ernährungssystems.
                                                               Wer ist am stärksten negativ betroffen von dieser Finanz-
Finanzialisierung? Was bedeutet das genau?                     ialisierung und diesen Konzentrationsprozessen?
Insbesondere in den letzten vier bis sechs Jahren ist eine     Bei der horizontalen Integration, beispielsweise im Saat-
viel stärkere Präsenz von Finanzakteuren in der Nahrungs-      gutsektor, sind in erster Linie die Bäuerinnen und Bauern
mittelkette zu beobachten. Dabei geht es nicht mehr nur um     betroffen, die dieses Saatgut benötigen. Die Saatgutprei-
den Handel mit Derivaten und anderen Wertpapieren aus          se sind höher, weil die Unternehmen, die sie verkaufen,
dem Agrarsektor. Finanzakteure kaufen mittlerweile buch-       nicht in Konkurrenz zueinander stehen. Betrachtet man
stäblich ganze Teile der Nahrungskette auf. Sie erwerben       die Finanzialisierung als ganzheitliches Phänomen, sieht
Land, sie sind an den Inputmärkten beteiligt, an der Verar-    man, dass es nur ein Ernährungssystem geben kann, das
beitung und Lieferung von Lebensmitteln, im Einzelhandel.      sieben bis zwölf Prozent Kapitalrendite verspricht. Dieses
Das verändert das globale Ernährungssystem grundsätz-          System ist auf grenzüberschreitenden Handel ausgerichtet
lich. Die Finanzakteure involvieren sich im System, weil sie   und basiert auf Monokulturen mit intensiven Inputs und
daraus finanziellen Wert schöpfen wollen. Doch sie ziehen      hohen Outputs. Für die Gesellschaft und die Umwelt ist
nicht nur Wert aus dem System ab, sie verwandeln es auch       dies unglaublich problematisch. Alle jene, die versuchen,
in der für sie gewinnbringendsten Weise. Und das geschieht     alternative Formen von Landwirtschaft zu entwickeln,
mit grosser Intensität und Geschwindigkeit.                    welche weniger Profit für die Finanzinvestoren verspre-
                                                               chen, werden kaum an Kapital kommen, nicht mit Infra-
Warum haben sich die Finanzakteure plötzlich so                struktur unterstützt werden, nicht wettbewerbsfähig sein.
sehr für den Agrar- und Lebensmittelsektor zu inte-
ressieren begonnen?                                            Welche sozialen und ökologischen Probleme verur-
Weil mehr Lebensmittel produziert werden, und weil es          sacht diese hochintensive Landwirtschaft konkret?
auf globaler Ebene zu Umstellungen bei der Ernährung wie       Die grösste unmittelbare Sorge sind die Treibhausgase,
etwa einem höheren Fleischkonsum kommt, gibt es mehr           die beim Transport von Gütern produziert werden. Das
Geld zu verdienen. Die Finanzinvestoren haben erkannt,         globale Handelssystem allein ist bereits heute für fünf
dass sie am meisten Gewinn generieren können, wenn sie         bis sieben Prozent aller Treibhausgase verantwortlich.
auf allen Stufen des Produktionsprozesses investieren, vom     Wenn sich der Handel im gleichen Tempo intensiviert,
Saatgut bis zum Einzelhandel. Was daraus resultiert, ist ein   werden es 2050 schon 23 Prozent aller Treibhausgase
sehr spezifisches Agrarsystem. Eines, das sehr kapitalinten-   sein. Die global ausgerichtete Landwirtschaft erfordert
siv ist, auf Massenproduktion setzt und global vernetzt ist.   zudem eine aufwendige, teure Infrastruktur, was be-
                                                               deutet, dass nur sehr wenige Akteure überhaupt Zu-
Sie haben Konzentrationsprozesse erwähnt. Können               gang zu ihr haben. Je länger die Entfernungen sind und
Sie diese beschreiben?                                         je weniger sichtbar die Wertschöpfungskette ist, desto
Diese sogenannte horizontale Integration ist eine der          mehr wird es zu einer Machtkonzentration bei eini-
Folgen von Finanzinvestitionen entlang der Wertschöp-          gen wenigen Schlüsselkonzernen kommen, die über
fungskette von Lebensmitteln. Also davon, dass dieselben       die nötige Infrastruktur verfügen, um Güter zu lagern,
14                                                                           PUBLIC EYE MAGAZIN    Nr. 18   Juni 2019

zu verarbeiten und zu transportieren. Das hat Konse-      Was könnte getan werden, um dieses Machtun-
quenzen für kleinere Händler, Kleinbäuerinnen und         gleichgewicht zwischen Konzernen und Bauern­
Konsumierende weltweit.                                   familien zu mindern?
                                                          Das ist die 100-Millionen-Dollar-Frage. Nehmen Sie
Welche Konsequenzen?                                      Kaffee als Beispiel: Es gibt mindestens fünfzehn Länder,
Der globale Handel verlangt nach spezifischen Pro-        in denen Kaffee produziert wird, aber jedes Land hat ein
dukten. Gewisse Lebensmittel und bestimmte Sorten         anderes Arbeitsrecht, andere Produktionskosten, eine
sind resistenter und deshalb besser geeignet, über        andere Qualität, erhält auf dem Markt einen anderen
weite Strecken transportiert zu werden. Es gibt nur       Preis. In manchen Ländern beschäftigen Grossgrund-
eine Sorte Ananas, die weltweit gehandelt wird, genau     besitzer und -besitzerinnen Landarbeitende, in anderen
dasselbe gilt für die bekannte Cavendish-Banane. Das      sind die Händler bei der Produktion auf Kleinbauern-
hat natürlich Auswirkungen auf die landwirtschaftli-      familien angewiesen. Das heisst, wir können keine glo-
che Produktion und die Biodiversität. Bäuerinnen und      bale Lösung finden – und erst recht nicht eine, die auf
Bauern müssen produzieren, was das System will – und      alle Rohstoffe anwendbar ist.
nicht, was dem Boden guttut oder was der biologische
Kreislauf erfordern würde. Ich war vor Kurzem im spa-     Das klingt nicht sehr ermutigend.
nischen Murcia, wo sie eine Tomate anbauen, die sich      Es gibt natürlich Möglichkeiten. Viele Wettbewerbs­
gut eignet, um verschifft zu werden. Das Problem ist,     expertinnen und -experten versuchen, die Politik dazu
dass die Früchte sehr hoch an der Pflanze wachsen.        zu bewegen, die Marktmacht der Konzerne, deren Grös-
In der Folge leiden die Arbeiterinnen und Arbeiter an     se und Dominanz zu beschränken. Auch eine stärke-
Rücken- und Nackenschmerzen, weil sie die ganze Zeit      re Koordination und Kooperation auf der Ebene der
nach oben schauen müssen, um die Tomaten über ihren       Kleinbäuerinnen und lokalen Produzenten gibt diesen
Köpfen abzuschneiden. Nur weil der Markt nach einer       die Möglichkeit, ihre Verhandlungsmacht gegenüber
bestimmten Tomate verlangt, die haltbar ist und über      den Konzernen zu stärken. Wenn sie sich zusammen-
längere Distanzen transportiert werden kann, opfern       tun und kollektiv einen Preis bestimmen, können sie
wir die Gesundheit der Arbeitenden auf den Plantagen.     ihre Position gegenüber den Handelsunternehmen und
Und, wie gesagt, die Biodiversität.                       Grossverteilern verbessern, statt sich von diesen gegen-
                                                          einander ausspielen zu lassen.
Auch im Einzelhandel gibt es starke Konzentrations-
prozesse. Welche direkten Konsequenzen haben diese        Was kann in den Sitzstaaten dieser mächtigen Firmen
für Bäuerinnen und Kleinproduzenten?                      getan werden?
Schauen Sie, was in Sardinien geschah. Die Milch-         Es ist immer eine politische Entscheidung, ob inter-
bauern und -bäuerinnen gerieten durch die Händler         veniert werden soll oder nicht. Dabei kommt es darauf
und Grossverteiler derart stark unter Druck, dass sie     an, ob man überzeugt davon ist, dass sich der Markt
ihre Milch zu einem Preis verkaufen mussten, der          selbst ausreichend reguliert – oder nicht. Ob man sich
unter den Produktionskosten lag. Aus dem einfachen        einig ist, dass die Effizienz des Markts das Ziel der
Grund, dass es eine grosse Machtkonzentration auf der     Gesellschaft ist – oder nicht. Es hängt von der wirt-
Ebene der Handelsfirmen und des Einzelhandels gab.        schaftlichen und finanziellen Lage der Regierung eines
Die Bäuerinnen und Bauern gingen auf die Strasse, es      Landes ab und davon, ob alternative Modelle politisch
kam zu Ausschreitungen. Aber viele Bauern, etwa im        attraktiv sind. Ein erster wichtiger Schritt wäre, dass
Süden Italiens, wählen eine andere Option: Sie stellen    eine Regierung überhaupt erkennt, in welche Richtung
Migrantinnen und Migranten ohne Papiere an, ohne          sich das Ernährungssystem entwickelt hat. Und dann
ihnen irgendeine Form von Unterstützungsleistungen,       überlegt, welche Rolle das Land bei einer Änderung
Renten oder Sozialversicherungen zu bezahlen. Um bei      dieses Systems spielen soll.
so niedrigen Preisen profitabel wirtschaften zu können,
muss man die Produktionskosten irgendwie senken.          Welche Weichen sollten konkret in der Schweiz
Das kann auf Kosten der Arbeitnehmenden, aber auch        gestellt werden?
auf Kosten der Natur geschehen. In Vietnam zum Bei-       Die Schweiz als einer der wichtigsten Rohstoffhandels-
spiel werden für die Ausweitung der Kaffeeproduktion      plätze der Welt sollte versuchen, die Handelsunterneh-
grosse Teile des Regenwalds abgeholzt. Dasselbe ge-       men zur Übernahme der sozialen und ökologischen
schah im Cerrado, der Savannenlandschaft Brasiliens,      Kosten ihres Tuns zu zwingen. Das könnte zum Bei-
für Soja. Der Druck von Grossverteilern und Handels-      spiel bedeuten, dass die Unternehmen bei ihren globa-
unternehmen hat immer soziale oder ökologische Aus-       len Einkaufspraktiken existenzsichernde Löhne und
wirkungen.                                                Einkommen gewährleisten müssen.
TOMASO FERRANDO          15

Haben die Gesetze und Vorschriften mit den radika-            globalen Ernährungssystem, in Bezug auf den welt-
len Veränderungen im Ernährungssystem überhaupt               umspannenden Handel oder den Marktzugang nicht
Schritt gehalten?                                             wirklich in Angriff genommen.
Manche Gesetze und Vorschriften haben diese Entwick-
lungen erst möglich gemacht. Es besteht ein politisches       Können wir das Gespräch dennoch mit einem Beispiel
Interesse daran, ein System zu stützen, das günstige          abschliessen, das Hoffnung macht?
Lebensmittel produziert. Die Idee dahinter ist, dass          Nehmen wir Kolumbien als Beispiel, den Kaffeesektor.
Menschen, die sich gut ernähren können, nicht auf die         Der Preis für Kaffee ist so tief wie nie seit 13 Jahren,
Strasse gehen, wie das in Nordafrika während des Arabi-       tiefer als die Produktionskosten in Kolumbien. Also
schen Frühlings geschah oder in verschiedenen Ländern         gingen die Bauernfamilien auf die Strasse und protes-
Südamerikas. In Europa hat dieses Ernährungssystem            tierten, und schliesslich sprach die Regierung 30 Mil-
in den letzten fünfzig Jahren den Zugang zu erschwing-        lionen US-Dollar, um die Einkommensverluste auszu-
lichen Lebensmitteln für eine Mehrheit gewährleistet          gleichen. Vor einigen Wochen trafen sich Kaffeehändler
– aber auf Kosten der Menschen anderswo, der Umwelt           und -röster in Genf, und auch sie kamen zum Schluss,
und auch der Produzentinnen und Produzenten. Die              dass sie existenzsichernde Preise anstreben müssen.
Grundsatzfrage ist doch: Sollen wir akzeptieren, dass         Und die Internationale Kaffeeorganisation verlangt als
die Entscheidungen im Agrarhandel nach der Prämisse           Folge der Vorkommnisse in Kolumbien nach einer Be-
gefällt werden, Lebensmittel möglichst effizient dort ab-     obachtungsstelle für den Kaffeepreis. Es ist das erste
zusetzen, wo die Menschen am meisten dafür bezahlen?          Mal, dass die Organisation das anerkennt: Produzen-
Oder wollen wir, dass die grossen Akteure zumindest           tinnen und Produzenten können nicht einfach einem
die Rechte der Menschen in den Ländern, in denen sie          internationalen Preissetzungsmechanismus ausgesetzt
einen Rohstoff beziehen, respektieren? Wenn sie das tun       werden, der durch die finanzielle Dynamik auf globaler
würden – würden sie dann weiterhin Rohstoffe über             Ebene bestimmt wird. Der Fall zeigt: Wenn sich die
die halbe Welt transportieren, um sie etwa in China an        Bäuerinnen und Bauern zusammentun, können sie ihr
Schweine zu verfüttern oder in Europa als Ethanol zu          Anliegen von den Strassen Kolumbiens bis nach Genf
verfeuern? Oder würden sie diese Güter eher dort belas-       und auf die internationale Ebene bringen. Die Dinge
sen, wo sie sind, was die Verfügbarkeit dort erhöhen und      können sich ändern, wenn der Druck von unten auf
so den Preis senken würde? Lebensmittel global zu han-        verschiedenen Ebenen des Ernährungssystems ausge-
deln bedeutet letztlich: Du nimmst gewissen Menschen          übt wird – vom Bauern bis zur Konsumentin. Das ist
ein zentrales Gut weg und bringst es zu anderen Leuten.       ermutigend. Aber es geschieht nicht einfach so. �
Wenn die Handelsunternehmen auch diesen Aspekt und
nicht nur die Kaufkraft berücksichtigen müssten, würde
sich die Dynamik im globalen Handel verändern. Aber
das werden sie nicht freiwillig tun. Sie sind in erster Li-
nie am Gewinn interessiert, nicht an Menschenrechten.

Das bedeutet?
Ich denke, sie müssten dazu gezwungen werden. Oder
zumindest müssten sie davon überzeugt werden, dass
auch sie ein Interesse daran haben, die Situation der               Zur Person
Plantagenarbeiter oder der Kleinbäuerinnen zu ver-                  Tomaso Ferrando
bessern. Diese stellen die Produkte her, mit denen die
Unternehmen handeln. Es ist ganz einfach: Wenn du                   Dr. Tomaso Ferrando, geboren 1985 in Turin, ist
den Bauern oder die Arbeiterin verhungern lässt, wird               Dozent für Rechtswissenschaften an der
niemand mehr den Rohstoff produzieren. Und aus einer                Universität Bristol in England und Rechtsbera-
Umweltperspektive: Wenn man keine nachhaltigeren                    ter der UN-Sonderberichterstatterin für das
Anbaumethoden etabliert, wird es in fünf, zehn Jah-                 Recht auf Nahrung, Hilal Elver. Er hat mit dem
ren gewisse Rohstoffe nicht mehr zu kaufen geben. Ich               International Panel of Experts on Sustainable
glaube, manche Handelsunternehmen haben das auch                    Food Systems (IPES-Food) zusammengearbei-
erkannt. Nur: Wenn ein Umdenken lediglich deshalb                   tet und an der Formulierung einer gemeinsa-
geschieht, weil das Geschäft mächtiger Akteure davon                men Lebensmittelpolitik der EU mitgewirkt. In
abhängt, und wenn es nach deren Vorstellungen ge-                   seiner jüngsten wissenschaftlichen Arbeit hat
schieht, dann werden die grundsätzlichen Probleme                   er die Finanzialisierung des globalen Ernäh-
rund um die Machtverteilung und -konzentration im                   rungssystems unter die Lupe genommen.
16                                                                              PUBLIC EYE MAGAZIN     Nr. 18   Juni 2019

Schulden für Mosambik: Public Eye reicht
Strafanzeige gegen Credit Suisse ein
Kredite von über zwei Milliarden US-Dollar, die in grossem Stil veruntreut wurden, haben im bit-
terarmen Mosambik die Staatsschulden explodieren lassen. Die Hälfte dieser Summe stellte die
britische Tochtergesellschaft der Credit Suisse bereit. Public Eye hat deshalb Ende April in Bern
eine Strafanzeige gegen Credit Suisse eingereicht: Die Bundesanwaltschaft soll abklären, ob die
Bank ihrer Verpflichtung zur Überwachung der Tochtergesellschaft nachgekommen ist.

DAVID MÜHLEMANN

Im Frühling 2016 hat das Wall Street Journal einen mas-    sambikanische Amtsträger sowie zwei Kader von Pri-
siven Kredit- und Schuldenskandal in Mosambik auf-         vinvest Anklage. Alle sollen sich bei der Kreditvergabe
gedeckt. Es ging um Kredite in der Höhe von über zwei      durch Bestechungs- und sogenannte Kickbackzahlun-
Milliarden Dollar, die die britische Tochtergesellschaft   gen bereichert haben. Die amerikanischen Ermittler
der Credit Suisse (CS), Credit Suisse International, und   gehen davon aus, dass mindestens 200 Millionen
die russische Bank VTB drei halbstaatlichen mosambi-       US-Dollar von der Kreditsumme abgezweigt wurden.
kanischen Unternehmen gewährt hatten. Die Kreditge-
schäfte waren durch Staatsgarantien gesichert, ausge-                      Credit Suisse in schiefem Licht
stellt durch den damaligen Finanzminister. Vorgesehen      Seit 2017 verfolgt das US-amerikanische Justizministe-
waren die Gelder in erster Linie für den Aufbau einer      rium – als oberste Anklagebehörde der USA – die Strategie,
Thunfisch-Fangflotte und für Schnellbote für den Küs-      dass die Strafverfolgung ihren Fokus auf die Individuen
tenschutz.                                                 richten soll und nicht mehr in erster Linie auf Unterneh-
                                                           men. Gleichwohl kommen die CS und ihre Compliance-
             500 verschwundene Millionen                   Abteilung, die mit der Sorgfaltsprüfung im Rahmen der
Die Banken zahlten die Kreditsummen aber nicht di-         Kreditvergabe betraut gewesen war, in der Anklageschrift
rekt an Mosambik oder die mosambikanischen Unter-          nicht gut weg. Diese hält zwar fest, dass die drei Ban-
nehmen aus, sondern an die Schiffbaugruppe Privinvest      ker der Compliance-Abteilung gegenüber falsche Anga-
aus Abu Dhabi. Diese war auch die treibende Kraft, dass    ben gemacht hatten. Die internen Kontroll­mechanismen
die Kredite überhaupt zustande kamen. Die schliess-        hätten allerdings verlangt, dass die Mitarbeitenden der
lich gelieferten Schiffe waren zum Teil jedoch massiv      ­Compliance das Korruptionsrisiko innerhalb der Kredit-
überteuert und auch Monate nach Auslieferung nicht          projekte abklären und die involvierten Personen über-
betriebsbereit. Zu diesem Schluss kam die unabhängi-        prüfen. Die CS hatte zudem als Teil ihrer internen Kon-
ge Prüfgesellschaft Kroll, die den Kreditskandal unter-     trollen Bedingungen für die Gewährung des Kredits an
suchte. Was sie ebenfalls konstatierte: Von mindestens      ­Mosambik aufgestellt: die Genehmigung der Kreditverga-
500 Millionen US-Dollar fehle jegliche Spur.                 be durch die Zentralbank Mosambiks, deren Bestätigung
       Da die Investitionen ohne Ertrag blieben, konnten     durch das mosambikanische Verwaltungsgericht sowie
die drei mosambikanischen Unternehmen ihren Kre-             eine Mitteilung an den IWF. Nur: Gemäss dem Prüfungs-
ditverpflichtungen ebenso wenig nachkommen wie               bericht wurde keine dieser Bedingungen eingehalten, die
der schon stark verschuldete Staat. Die lange geheim         Kredite wurden aber dennoch ausbezahlt. Die amerika-
gehaltenen Kredite und die staatliche Absicherung            nischen Straf­verfolger kommen zum Schluss, dass die
flogen schliesslich auf, und der internationale Wäh-         Compliance­Abteilung der CS zwar kritische Fragen ge-
rungsfonds (IWF) sowie weitere Geberländer – unter           stellt habe. Sie habe die Antworten jedoch nicht überprüft
ihnen auch die Schweiz – stoppten ihre Budgethilfe.          und «es verpasst, ihre Untersuchungen weiterzuziehen».
Die daraufhin gestiegene Inflation und die Sparmass-                 Die schweizerische Bundesanwaltschaft hat bis-
nahmen der Regierung trafen die Bevölkerung eines            her auf Medienanfragen verlauten lassen, dass sie keine
der ärmsten Länder der Welt.                                 Strafuntersuchung gegen die CS eröffnet habe. Auch als
       Die amerikanischen Strafverfolgungsbehörden           Mosambik anfangs 2018 ein Rechtshilfeersuchen an die
erhoben am 19. Dezember 2018 gegen drei ehemalige            Schweiz stellte, seien für die Eröffnung eines Strafver-
Manager der britischen CS-Tochter, den ehemaligen            fahrens nicht genügend Hinweise auf ein strafbares
mosambikanischen Finanzminister, zwei weitere mo-            Verhalten vorgelegen.
VERUNTREUTE KREDITE           17

                                      Ist die Schweiz zuständig?                   ihre Tochtergesellschaft CS International vollständig, und
                      Eine wichtige Frage für die strafrechtliche Aufarbeitung     Aufgaben in Sachen Risk Management und Compliance
                      des Falls in der Schweiz ist jene nach der Zuständigkeit     sind bei den beiden Banken eng verbunden. Zudem gab
                      der hiesigen Strafverfolgungsbehörden. In Korruptions-       es im fraglichen Zeitraum diverse personelle Überschnei-
                      fällen gilt eine Straftat als am Ort des Handelns (oder      dungen; nicht nur bei den Verwaltungsräten, sondern
                      Unterlassens) begangen. Bei der Zuständigkeit im Be-         auch im geschäftsführenden Management. So war etwa
                      reich der strafrechtlichen Unternehmenshaftung gilt aber     die Verwaltungsratspräsidentin in Grossbritannien auch
                      Folgendes: Die Schweiz kann nicht nur Begehungsort           Verwaltungsrätin bei der CS Group AG in Zürich, der Chief
                      der Straftat sein, sondern auch der Ort des Organisa-        Risk Officer der Gruppe zugleich auch Verwaltungsrat der
                      tionsmangels des beteiligten Unternehmens. Es war die        britischen Tochter. Auch der CEO der CS International
                      Bundesanwaltschaft selbst, die in einem Entscheid zum        übte am Hauptsitz eine geschäftsführende Position aus.
                      französischen Transportkonzern Alstom die Praxis eta-
                      blierte, dass die Zuständigkeit der schweizerischen Justiz            Bundesanwaltschaft soll aktiv werden
                      bei multinationalen Unternehmensgruppen auch damit           Wenn die Unternehmensführung von den Modalitäten der
                      begründet werden kann, dass das Organisationsversagen        Kreditvergabe wusste, entlastet es die Bank nicht per se,
                      in der Schweiz anzusiedeln ist. Für den Fall der Credit      dass es drei Angestellte in London waren, welche die kor-
                      Suisse und Mosambik gilt das ebenso: In unserer Straf-       rupten Geschäfte abgeschlossen haben. Gemäss schwei-
                      anzeige zeigen wir auf, dass es genügend Hinweise dafür      zerischem Strafrecht haftet das Unternehmen unabhängig
                      gibt, dass die Unternehmensführung in Zürich Informa-        von der Strafbarkeit der natürlichen Personen, wenn es
                      tionen über die Kreditvergabe gehabt haben muss und          nicht alle zumutbaren und erforderlichen organisatorischen
                      trotz klarer Warnzeichen nicht eingeschritten ist.           Massnahmen getroffen hat, um Straftaten wie Bestechung
                                                                                   fremder Amtsträger und Geldwäscherei zu verhindern.
                                 Enge Verbindung Zürich–London                            Mit der Strafanzeige fordert Public Eye die Bun-
                      Gemäss Privatrecht verfügt eine juristische Person bereits   desanwaltschaft nun auf, die Frage zu klären, ob die CS
                      dann über rechtlich relevante Kenntnis eines Sachverhalts,   Group AG ihren organisatorischen Pflichten zur Über-
                      wenn das betreffende Wissen innerhalb ihrer Organisation     wachung der Tochtergesellschaft und zur Verhinderung
                      objektiv abrufbar ist. Dafür gibt es verschiedene Hinwei-    illegaler Verhaltensweisen nachgekommen ist – so wie
                      se: Nach eigenen Angaben kontrolliert die CS Group AG        es das Schweizer Strafrecht von Unternehmen verlangt. �
© Mark Henley/Panos

                      Die Credit Suisse in Zürich: Was wusste man hier?
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