KEIN MÜLLER - Ein Magazin über Geflüchtete und deren Geschichten
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Liebe Frau Müller Lieber Herr Müller
Wenn du das liest, bist du vermutlich ein(e) Müller. Geschichten in der Zeitung zu überblättern. Wenn Herr und Frau Müller Verantwortung übernehmen, Vielleicht heisst du nicht so. Aber du siehst so aus. die Schweiz in ein solidarisches Zuhause mit Mit- Du teilst dieselben Wurzeln wie so viele von uns, gefühl für uns alle zu verwandeln. eine ähnliche Bildungsreise, ein vergleichbares Umfeld. Gehst in einen Verein, fährst im Winter Ski und im Sommer Mountainbike. Und natürlich kennst Und ein offenes Ohr ist der erste du auch Probleme. Von Kleinigkeiten des Alltags Schritt auf dem Weg dorthin. wie dem platten Reifen bis zu echten Existenzängs- ten. In der Corona-Krise haben wir alle gelernt zu verzichten. Aber keines der Probleme resultiert da- raus, woher du kommst, was du denkst und fühlst – oder einfach, wie du bist. Kurz: Du bist privilegiert. Das geht nicht allen so. Sébastien Ross & Svenja Tschannen Denn die Schweiz, das sind wir alle. Nicht nur Herr und Frau Müller. 68 842 anerkannte Flüchtlinge leben 2021 in unse- rem Land – Tendenz steigend, Grauzone riesig. Sie bilden damit immerhin fast ein Prozent unserer Be- völkerung. Und doch haben die meisten von uns höchstens Kontakt mit ihnen, wenn wir mal wieder die Zeitung lesen: « 80 Migranten ertrinken vor der Küste Italiens » heisst es da, oder « Tausende flüch- ten vor Hungerkrise. » Erschreckend, ja. Zumindest anfangs. Mittlerweile nehmen wir solche Meldun- gen wortlos zur Kenntnis. Wenige Minuten später geraten sie in Vergessenheit. Und weiter geht es mit dem Alltag. Ohne sich einmal wirklich mit dem Thema beschäftigt zu haben. Doch hinter diesen Zahlen stecken keine Statistiken. Sondern Menschen. Elvis ist nicht einer der hundert- tausend Flüchtlinge des Bosnienkrieges, sondern ein Ehemann, der seine neue Heimat in der Schweiz gefunden hat (Seite 22). Ghazal ist keine gesichts- lose junge Frau, die zu uns vor der Unterdrückung in ihrem Herkunftsland geflohen ist (Seite 78). Sie haben Geschichten erlebt, die schockieren. Die un- endlich traurig und unfassbar wütend machen. Die aber auch Hoffnung wecken, dass wir unser Land gemeinsam zu einer Heimat für alle Menschen machen können, die ihre eigene verloren haben. 10 Menschen berichten in diesem Magazin von ihren mutigen Reisen, bis sie in der Schweiz angekom- men sind – und wirklich angekommen sind man- che von ihnen heute noch nicht. Wir laden dich ein, ihre Perspektive einzunehmen. Denn die Spaltung der Gesellschaft überwinden wir nur, wenn wir uns mit der anderen Seite be- schäftigen. Sie ernsthaft kennenlernen, statt ihre
Zehn Geschichten über zehn Menschen
Produktion Sébastien Ross Svenja Tschannen Webseite keinmüller.ch Portfolio sebastienross.ch svenjatschannen.ch Lob und Kritik svenja.tschannen@icloud.com
Tashi 14 Elvis 22 Yosan 36 Kiflay 42 Yohannes 48 Ablelom 54 Ramazan 60 Karl 66 Ghazal 78 Sanaz 82
Bist du ein Schwarz- Weiss- Denker? Editorial 4 Impressum 7 Kontributoren 10 Danksagung 86 Epilog 88
« Kein Müller » ist das Ergebnis der gemeinsamen Wenn Sébastien nicht gerade mit der Kamera han- Bachelorarbeit von Sébastien Ross und Svenja tierte, traf man ihn oftmals schwitzend auf dem Tschannen. Uns beide eint die Liebe und Leiden- Fussballplatz an – seine zweite grosse Leidenschaft. schaft für Menschen und ihre Geschichten. Diese Svenja hingegen layoutete das Magazin während Leidenschaft ist unser Antrieb, dafür brauchen wir dem Aufenthalt in einem Yogacamp und wechsel- kein Depot mit Traubenzucker und Kaffeekapseln. te zwischen Yogamatte und Laptop hin und her. Die Themenwahl für die Bachelorarbeit war wie Lie- be auf den ersten Blick, schnell und fast ohne Worte haben wir uns für das Thema und das Medium ent- schieden. Als Sohn eines vietnamesischen Flücht- lings und einer Unterstützerin der Geflüchtetenhilfe haben wir beide persönliche Erfahrungen mit den Themen in « Kein Müller ». Deshalb möchten wir Men- schen und ihren Geschichten einen Raum bieten, gehört zu werden. Wir hoffen, dir ein wenig dieser Motivation mitzugeben. 10
Wir wollen Geflüchteten eine Stimme geben und Vorurteile abbauen. 11
Tibet 12
Offiziell gehört das autonome Gebiet Tibet zu Chinas Staatsgebiet. Doch seit Jahrzehnten werden die Rufe nach Freiheit und Unabhängigkeit lauter, trotz der Übermacht Chinas. Es ist ein ungleiches Duell – Tibets Kampf um Autonomie dauert an. 13
Aufbruch nach 14 Chieque
Es ist ein vergessener Kampf, den Tibet gegen das übermächtige China über sich ergehen lassen muss. Fernab des globalen Medienfokus und mit geringer Aufmerksamkeit werden Tibeter unterdrückt und müssen schlimmstenfalls ihre Heimat verlassen – wie auch Tashi Tsangmada (23) aus Nyalam. 15
“Tibet wird von China unterdrückt, das ist ein Fakt.” Tashi, du bist im Tibet, einer autonomen Wie hast du dieses Engagement Region Chinas, aufgewachsen – wie sieht wahrgenommen? eine Kindheit unter solchen Umständen aus? Nach und nach gab es Veränderungen im Alltag, die auch ich mitbekam. Es fing damit an, dass Um ehrlich zu sein relativ normal. Ich bin in einem man in der Schule plötzlich nur noch Chinesisch kleinem Dorf in den Bergen Tibets aufgewachsen, lernen sollte – das Fach Tibetisch wurde Nyalam. Offiziell untersteht die gesamte Region abgeschafft. Es wurden auch vermehrt Kloster – China, es gehört jedoch zum autonomen für uns Tibeter sehr bedeutende Orte – « renoviert ». Gebiet Tibets. Dort lebten wir Tibeter und Chinesen Eigentlich aber wurden sie abgerissen, um auch zusammen, Seite an Seite. Die Chinesen sind dort ein religiöses Statement zu setzen. Mein Vater jedoch in der Minderheit. Als Kind bekommt man sträubte sich dagegen – jahrelang kämpfte er von all dem nicht wirklich viel mit – man kennt es dafür, die tibetische Kultur zu erhalten und setzte ja nicht anders. In der Schule drückten wir sich für Unabhängigkeit ein. Beispielsweise gemeinsam die Schulbank. Konflikte oder sonstige forderte er, dass an Schulen weiter Tibetisch Probleme gab es keine. Uns wurden auch beide unterrichtet wird. Sprachen beigebracht. Welche Folgen hatte dieses politische War der chinesisch-tibetische Konflikt ein Engagement für dich und deine Familie? Thema am Familientisch? Chinas Regierung war natürlich alles andere als Weder ich noch meine beiden kleinen Schwestern erfreut über die politischen Vorstösse meines bekamen viel davon mit. Meine Mutter war Haus- Vaters. Auch ich merkte das mit der Zeit. Es fing frau, das Geld für die Familie verdiente mein Vater damit an, dass Männer vor unserer Haustüre als Koch. Beide versuchten aber, diese politischen standen. Sie befragten meine Eltern; machten Themen von uns fernzuhalten. Nicht ganz einfach, meinem Vater verständlich, dass solche Aktionen denn mein Vater war politisch aktiv, setzte sich für nicht gern gesehen sind. Von Nachbarn musste ein eigenständiges, unabhängiges Tibet ein. Das die Regierung vernommen haben, dass sich mein war für ihn eine Herzensangelegenheit. Vater für ein freies Tibet einsetzt. Sie drohten ihm auch mit Freiheitsstrafen, machten Druck. Das war nicht einfach für uns, doch mein Vater wollte nicht einfach aufgeben. 16
Bis der Druck schliesslich zur Gefahr wurde. Aufgrund der politischen Lage in Tibet wurden wir schnell angenommen. Wir wurden dann einem Richtig. Diese einstige Unsicherheit wandelte sich Kanton zugewiesen und kamen zufälligerweise mehr und mehr zu einer bedrohlichen Situation. nach Bern – und leben seitdem hier. Das realisierten auch meine Eltern. So kam es, dass sie mir eines Tages sagten: « Tashi, wir Wie kamst du persönlich zurecht? unternehmen mit der ganzen Familie eine Reise. » Ich fragte sie, wohin wir gehen würden. « Chieque », Alles war fremd. Sprache, Kultur und das Wetter. sagten sie. Chieque ist tibetisch und steht für eine Was mir enorm geholfen hat, war der Fussball. Reise, die weit weg führt. Ich war klein und bis Mein Vater meldete mich bei einem lokalen Verein dahin noch nie im Ausland gewesen. Aus dem an – in der Hoffnung, unter anderem die Sprache Fernsehen kannte ich lediglich Amerika, und so schnell zu erlernen. So kam ich zu meinem malte ich mir im Kopf aus, dass wir dort Ferien ersten Fussballverein. Viele andere Mitspieler machen würden. Sie sagten mir, ich dürfte es waren ebenfalls Ausländer und hatten auch meinen Klassenkameraden und auch sonst Mühe mit Deutsch – gemeinsam konnten wir niemandem erzählen. unsere Sprachkenntnisse spielerisch aufbauen. Auch in der Schule half mir das. Ich schloss Wie lief die Flucht ab? meine obligatorische Schulzeit erfolgreich ab und machte eine Ausbildung zum Pfleger – ein Beruf, Zwei Tage lang ging es zu Fuss, mit der Kutsche der mich sehr erfüllt. und mit dem Auto in den Süden. Wir nahmen nicht besonders viel mit – doch an die buddhistischen Fühlst du dich wohl in der Schweiz? Statuen kann ich mich noch gut erinnern. Die waren sehr wichtig für uns. Schliesslich kamen wir Ja, sehr. In der Schweiz erhielt ich die Möglichkeit, in der Hauptstadt von Indien an, Dehli. Es sollte eine Ausbildung zu absolvieren. Das war ein erster nur ein Zwischenhalt werden, davon wusste ich Schritt in ein neues Leben. Dadurch kann ich auch aber nichts. Indien war ein Kulturschock für mich. meine Eltern finanziell unterstützen, gerade wenn Ich bin in einem Dorf in den Bergen aufgewach- sie älter werden. Dafür bin ich der Schweiz sen, einem ruhigen und beschaulichen Ort. Dehli sehr dankbar. ist eine Weltmetropole – chaotisch, heiss und laut. Die Hitze war zu Beginn unerträglich für mich. Vermisst du etwas von deiner alten Heimat? Auch die Menschen waren anders als Zuhau- se, selbstverständlich auch die Sprache. Ich war Dies ist schwer zu sagen. Ich war damals noch ziemlich durcheinander, wusste nicht, ob wir jetzt sehr klein. Als ich dann in der Schweiz ankam, für immer hier bleiben würden. Schule hatten wir war alles neu und aufregend. Neue Sprache, keine – einzig in einem tibetischen und englischen neue Menschen, neue Kultur, neues Land. Lexikon musste ich täglich Wörter lernen. Da Lange Zeit realisierte ich nicht, welchen Hinter- unsere gültigen Dokumente vorbereitet werden grund ich mitbrachte. Dass ich als Flüchtling mein mussten, harrten wir einige Monate in Indien aus. Land verlassen musste. Heute bin ich reflektierter, Nach einigem hin und her durften wir endlich aus- habe auch mehr an die Zeit im Tibet gedacht. reisen – und ich stieg zum ersten Mal in meinem Aber vermissen? Nein, das würde ich nicht sagen. Leben in ein Flugzeug. Ein komisches Gefühl. Ich habe hier alles, was ich brauche. Was waren die ersten Eindrücke in der Wie hast du realisiert, dass du als Flüchtling Schweiz? in die Schweiz gekommen bist? Ich war sehr überrascht von den Menschen in der Ich besuchte für ein Jahr die Klasse für Fremd- Schweiz (lacht). Sie waren alle sehr gross, hatten sprachige KfF, in der Kinder Deutsch lernen. Neben eine andere Hautfarbe und eine merkwürdige mir gab es auch andere Kinder, die ihre Heimat Haarfarbe. Dies kannte ich nur vom Fernseher. verlassen mussten. In einigen Unterrichtssitua- Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mit tionen war ich zwar komplett hilflos und verloren solchen Haaren geboren wurden. Und auch an – wusste aber, dass es denen links und rechts von das erste Essen kann ich mich noch erinnern. mir gleich ging. Wir haben uns verstanden. Und wir Wir bestellten in einem Imbiss einen Dürüm – fühlten uns nicht anders, fühlten uns nicht alleine. für mich ein ganz spezielles Gericht. In Tibet So konnte ich meine Kindheit ausleben und Er- gibt es solche Sachen nicht. Mir schmeckte das fahrungen machen. Später dann machte ich mir überhaupt nicht. « Papa, weshalb essen die Gedanken zu meinen Wurzeln und den Gründen, Menschen hier Gras im Brot? », fragte ich meinen weshalb ich eigentlich hier war. Aber das kam zu Vater. Heute ist Dürüm eine meiner Leibspeisen – einer Zeit, als ich bereit war für solche Gespräche – ich könnte jeden Tag einen verputzen. dies half mir sicherlich. Wie ging es dann für dich weiter? Warst du seither wieder im Tibet? Wir haben dann in der Schweiz Asyl beantragt Nein, das ist leider nicht möglich. Ein Visum zu und waren in Basel in einem Asylheim. erhalten ist für mich reines Wunschdenken. 18
Da ich keinen Schweizer Pass besitze, reise ich als Ich muss nicht in der Angst leben, unterdrückt Tibeter in das Land ein. « Ausweis B » sagt denen zu werden. Schlimmstenfalls um die Sicherheit nichts – die wollen dann wissen, weshalb ich 12 meiner Familie fürchten. Aber die Menschen Jahre weg war. Eine Einreise ohne Schweizer Pass in Tibet leben tagtäglich mit diesem mulmigen ist unmöglich. Bauchgefühl. Wenn ich höre, dass es wieder Aufstände oder Demonstrationen gab und Würdest du gerne wieder einmal gehen? diese niedergeschlagen wurden, tut mir das im Herzen weh. Ja, natürlich. Es ist ja trotz allem meine Heimat. Gerade mein Dorf möchte ich besuchen – sehen, Was möchtest du der Öffentlichkeit gerne was sich all die Jahre verändert hat. In all der Zeit mitteilen? ist bestimmt viel passiert. Auf der ganzen Welt, in so vielen anderen Ländern, Was ist für dich deine Heimat? gibt es ähnliche Probleme. Vielerorts passieren so viele schreckliche Dinge, man muss nur die Augen Ich habe die tibetische Mentalität in mir, den tibe- öffnen. Informiert euch, befasst euch mit dem tischen Humor. Wenn ich mit Schweizern Thema, sprecht darüber. Richtet den Blick auch zusammen bin, kann ich mich gut anpassen und auf unangenehme Themen wie die Situation integrieren – ich fühle mich aber fast noch mehr in Tibet. Das ist das Mindeste, was wir von hier verstanden, wenn ich unter Tibetern bin. Als meine aus tun können. Heimat würde ich Tibet nennen. Und wenn mich Leute im Ausland nach meiner Herkunft fragen, zögere ich keine Sekunde mit der Antwort: « Ich bin Tibeter. » Zumindest, so lange ich noch keinen Schweizer Pass besitze. Kannst du dich noch an deine früheren Freunde deiner Kindheit erinnern? Natürlich, ich kann mich an jedes Gesicht und jeden Namen genau erinnern. Aber ich habe diese Menschen, meine engsten Kinderfreunde, nie wiedergesehen. Ich weiss auch nicht, wo sie heute sind. Entweder immer noch im Tibet oder dann hat sie das gleiche Schicksal wie meine Familie getroffen. Für uns Schweizer sind andere Konflikte präsenter als jener im Tibet - wie muss man sich die Situation vorstellen? Parallelen gibt es sicher mit dem Konflikt zwischen Israel und Palästina. Auch dort wird eine Minder- heit unterdrückt, regelrecht aus ihrem Lebens- raum verdrängt. Was das ganze so heikel macht, ist Chinas Propaganda-Apparat. Die Regierung setzt alles daran, die Medien zu kontrollieren – und die eigenen Aktionen vor ausländischen, unabhängigen Medienvertretern abzuschirmen. Bestes Beispiel dafür ist die Vertreibung der Uiguren – auch dort wird vertuscht und gelogen. Im Tibet kann jederzeit die Chinesische Regierung Anspruch auf ein tibetisches Dorf erheben. Es werden neue Regeln aufgestellt, die den Alltag verändern. Die Polizei stellt die Einhaltung sicher, bei Protest oder gar Aufstand droht einem das Gefängnis. Macht dich dies auch wütend? Tibet wird von China unterdrückt, das ist ein Fakt. Tibeter können deshalb ihre Sprache und Kultur nicht ausleben. Dies macht mich wütend und traurig. Mich betrifft das ja nicht direkt, ich lebe hier in der Schweiz ein gutes, sorgloses Leben. 19
Bosnien 20
Aus Nachbarn wurden Feinde und das ehemalige Jugoslawien zerfällt. In den 90er Jahren wütete in Osteuropa der Bosnienkrieg. Die verübten Kriegsverbrechen wie Internierungslager und Massenmorde gelten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
ZWISCHEN HIMMEL UND TRNOPOLJE 22
Als ich acht Jahre alt war, verbrachte ich einige Monate im berüchtigten Internierungslager « Trnopolje ». Heute feiere ich serbische Weihnachten und erinnere mich zurück – an hasserfüllte Momente und Freudentränen.
Es lag etwas in der Luft. Seit Wochen schon hat- wieder orientieren. Was dann folgte, war ein Gefühl, te sich die Situation zugespitzt, die Fronten waren das ich kaum beschreiben kann. Ich stand inmitten endgültig verhärtet. Das ehemalige Jugoslawien meiner altbekannten Strasse vor meinem Eltern- stand im Frühling 1992 kurz vor einem historischen haus – und um mich herum herrschte komplette Umbruch, das war förmlich spürbar. Ich weiss Verwüstung. Alles brannte lichterloh, überall Rauch. noch, wie ich als kleiner Junge täglich gespannt Die zerstörten Gebäude glichen einem Schlacht- den Nachrichten im Fernseher gelauscht hatte. Sie feld. Ich kriege heute noch Gänsehaut, wenn ich berichteten von einem Krieg, der unausweichlich das erzähle. Mein Heimatdorf war nicht wiederzu- schien. Unser kleines Heimatdorf Kozarac im Nor- erkennen. den Bosnien-Herzegowinas befand sich inmitten der Teilrepubliken Kroatien, Serbien und Montene- gro. Der Alltag wurde vom multikulturellen Aufein- UNS WURDE VON DER STRASSE ZUGE- andertreffen verschiedenster Nationalitäten und RUFEN, DASS WIR FLIEHEN MUSSTEN. Religionen geprägt: Bosnier lebten Seite an Seite mit Serben und Kroaten. Symbolisch für das funkti- Die Serben hätten uns eingekesselt und seien be- onierende Zusammenleben war eine Moschee, die reits vor den Toren der Stadt. Es ging alles sehr mitten in der Stadt stand – einige Meter weiter folg- schnell. Wir gingen los, ziellos liefen wir in eine te eine christliche Kirche. Die Menschen lebten hier Richtung – geradewegs in die Arme serbischer in Einklang miteinander. Uns wurde schon von klein Soldaten. Widerstand zu leisten war zwecklos. Die auf die Prämisse gelehrt: « Einigkeit und Brüderlich- Soldaten brachten uns zu einer riesigen Anlage. keit ». Doch diese Welt begann mit den Kriegswirren Es sah aus wie eine kleine Stadt, die von Stachel- zu bröckeln. Das gegenseitige Misstrauen innerhalb draht umringt war. Überall war Militär. Und beim der Bevölkerung wuchs, Bevölkerungsgruppen ent- Eingang las ich die Aufschrift « Trnopolje ». Ich sah fremdeten sich. Es bildeten sich militante Gruppen, vor mir eine riesige Menschenschlange, hunderte, die abends durch das Dorf patrouillierten. Waffen tausende Menschen standen in Reih und Glied an. wurden gehortet. Auch der Schulunterricht wurde Wir mussten uns dort anschliessen. Vorne ange- auf unbestimmte Zeit abgesetzt. Ich verstand da- kommen, wurden wir Häftlinge sortiert – hier Frau- mals nicht wirklich, was da im Gang war – ledig- en und Kinder, auf der anderen Seite die Männer. lich meinen Eltern merkte ich die Anspannung an. Es ereigneten sich schreckliche, herzzerreissende Wegweisend war die Schliessung der Landesgren- Szenen in diesem Moment. Familien wurden aus- zen im Mai 1992. Ein- und Ausreisen war nicht mehr einandergerissen und sahen sich teilweise nie möglich. Serbien hatte mittlerweile bereits Kroatien mehr wieder. Mit Bussen wurden wir zu einer alten den Krieg erklärt. Es folgte ein Ultimatum der über- Schule gebracht. Das karge Gebäude war zur Un- mächtigen serbischen Armee: Bosnien sollte bis 12 terkunft für die Insassen des Lagers umfunktioniert Uhr Mittags widerstandslos kapitulieren – ansons- worden. Darin sollten wir die Nacht verbringen. An ten würde das Feuer eröffnet werden. Schlaf war jedoch nicht zu denken. Der nackte Bo- den war eiskalt, wir lagen eng aneinandergereiht, Schulter an Schulter. Draussen wurden immer wie- MEIN VATER HATTE IN DEN WOCHEN der Schüsse abgefeuert – psychischer Terror, um ZUVOR BEREITS VORGESORGT. uns nicht schlafen zu lassen. Regelmässig öffneten Soldaten die Türe, leuchteten uns mit Lampen ins Neben unserem Haus hob er eine meterhohe Gru- Gesicht und zerrten junge Frauen aus dem Zimmer. be aus, rund 10 Meter tief. Der improvisierte Bunker Gehört hat man nichts, aber jeder wusste, was folg- wurde mit massiven Baumstämmen gedeckt und te. Es sollte die erste Nacht von vielen werden. Eine sollte uns vor feindlichen Geschossen etwas Schutz grauenhafte Zeit. bieten. Punkt 12 Uhr flog die erste Granate über unsere Köpfe. Zwar schlug die Granate mit einiger Entfernung ein, der Einschlag war aber deutlich zu TRNOPOLJE WAR DIE HÖLLE. hören. Ich geriet in Panik, mein Vater zog mich in den Bunker. Es folgten zugleich meine Mutter und Es handelte sich um ein Kriegsgefangenenlager mein einjähriger Bruder. Mein Vater konnte nicht der Serbischen Armee, primär wurden dort Frau- bleiben. Er griff sich sein Gewehr und lief gerade- en und Kinder gefangen gehalten. Andere Lager wegs in die Richtung, aus der die Granate geflo- waren auf männliche Insassen ausgerichtet. Alle gen kam. Ich hatte panische Angst, das Gefühl lässt Kriegsparteien unterhielten im Kriegsgebiet solche sich kaum beschreiben. Es folgte ein riesen Donner- Anlagen, in denen auch ethnische Säuberungen wetter, das Bombengewitter kam näher und näher. und Kriegsverbrechen verübt wurden. Schätzungen Der Boden bebte förmlich. Sie feuerten mit Panzern unabhängiger Organisationen zufolge wurden da- und schweren Kalibern. Das ist ein Gefühl, das ich mals in hunderten Internierungslagern rund 30 000 niemandem wünsche. Hätte es bei uns einge- Menschen ermordet. Erst Monate später erfuhr die schlagen, wäre es mit uns vorbei gewesen, das war Weltöffentlichkeit von der Existenz solcher Lager. Im mir bewusst. Das ging den ganzen Tag so weiter, August 1992 wurde Trnopolje als erstes Lager von stundenlang. Ich weinte endlos. Es war ein banges internationalen Kriegsberichterstattern besucht. Warten auf das Ungewisse. Abends musste ich auf Die Bilder gingen um die Welt und wurden als end- die Toilette. Meine Mutter hob mich aus dem Bunker gültiger Beweis für das Bestehen solcher Lager ge- raus. Es war bereits dunkel, ich musste mich erst sehen. Das berühmteste Bild wurde unter anderem 24
“NOCH HEUTE VERFOLGT MICH DAS GERÄUSCH DER BOMBEN.” Titelbild des TIME Magazines (siehe QR-Code). Es zeigt meinen Cousin Fikret Alic, der ebenfalls mit uns im Camp war. Erst Jahre später, wir waren be- reits in der Schweiz, erkannte ihn mein Vater auf dem Foto. Wir trauten unseren Augen kaum. Es ver- gingen drei Monate. Und dann, eines Tages, wurden wir mit anderen Insassen aus dem Camp heraus- geführt. Vor uns sahen wir plötzlich Zugwaggons stehen. Die Gleise führten ins Nichts. Niemand von uns verstand, was passierte. WIE TIERE WURDEN WIR IN DIE WAGEN GEDRÄNGT. Die Hitze im vollgestopften Zug war unerträglich. An den Innenwänden hatten sie ein Gemisch aus Kalk und Ammoniak angebracht, das die Luft aus- trocknete und die Haut angriff. Dann setzten sich die Waggons in Bewegung. Es gab keine Fenster, die Bedingungen waren katastrophal. Nach einer viertägigen, endlos langen Zugfahrt kamen wir in der Stadt Doboj an. Wir wurden zu einer Brücke ge- bracht, die über einen Fluss ragte. Die Soldaten befahlen uns, über die Brücke zu laufen. Niemand sagte uns, was da gerade vor sich ging. 25
Ich weiss noch genau, wie ich dicht neben meiner stets mich zu beruhigen und sagte: « Es geht ihm Mutter lief, mich an ihrem Kleid festklammerte. Wir gut, ganz bestimmt. Irgendwo wartet er auf uns. » mussten auf den Boden schauen. In all den Mo- Und dann stand er plötzlich vor mir. Irgendwo in der naten im Camp wurde uns das so eingetrichtert. Schweiz, in einem beschaulichen Bahnhof in den Den Soldaten durften wir nie in die Augen schauen. Bergen, sah ich meinen Papa endlich wieder. Ich Plötzlich wurden Stimmen lauter, und wir liefen ge- rannte ihm entgegen, nahm ihn in den Arm. Und radewegs in die Arme serbischer Soldaten. « Run- dann schenkte er mir Schweizer Schokolade, daran terschauen », wurde uns immer wieder gesagt. Ich kann ich mich noch genau erinnern. Ein unglaub- riskierte dennoch einen Blick, und sah zu meinem lich schöner Moment. Verblüffen das Abzeichen des bosnischen Militärs. In dem Augenblick dachte ich, ich träume. « Mama! » sagte ich, « das sind unsere Soldaten! » Sie schnauz- DIESER AUGENBLICK DES WIEDERSE- te mich jedoch nur an und sagte, ich soll ruhig sein. HENS WAR UNBESCHREIBLICH. Doch dann bemerkte auch sie, dass wir tatsäch- lich von bosnischen Soldaten umgeben waren. Heute lebe ich seit 27 Jahren in der Schweiz. Ich Dieser Moment war unbeschreiblich. Ein Gefühl von bin in diesem Land angekommen, fühle mich sehr Sicherheit, fast schon eine innere Wärme, mach- wohl hier. Auch was den Krieg und das Erlebte be- te sich in mir breit. Beim Blick zurück sah ich eine trifft, habe ich viel gelernt. Zu Beginn verspürte ich Gruppe von Kriegsgefangenen, die mittlerweile bei einen unvorstellbaren Hass gegenüber Serben. Das den serbischen Soldaten angekommen war. Die- war auch eine Folge der Kriegspropaganda. Tief in ser Gefangenenaustausch auf der Brücke in Doboj mir drin war diese blinde Ablehnung gegenüber war für mich wie ein symbolischer Übertritt von der Serben verwurzelt. Doch eine ganz spezielle Be- Hölle in den Himmel. Natürlich, wir hatten immer gegnung führte zu einem Umdenken. Ich war da- noch grosse Sorge und die Zukunft war ungewiss – mals 17 Jahre alt und gerade mit meinen Freunden dennoch fühlten wir uns sicher. Wir wurden in eine unterwegs. Ein Junge kam vorbei, er stellte sich als Sporthalle in der benachbarten Stadt Zenica ge- « Sascha » vor, anscheinend war er mit anderen aus bracht. Neun Monate verbrachten wir in diesem der Gruppe befreundet. Er machte einen freund- Flüchtlingslager. lichen Eindruck und machte die Runde. Als er mir seine Hand entgegenstreckte, fiel ihm eine Hals- kette mit dem serbischen Kreuz auf den Boden. In ZWEIMAL TÄGLICH GAB ES REIS, diesem Moment kam dieser Hass in mir auf. Ich JEDEN TAG DASSELBE. sagte ihm, dass ich ihm nie die Hand geben werde und er verschwinden soll – unverzüglich. Ich dachte, Die Bedingungen waren sporadisch, aber im Ver- ihn nie wiedersehen zu müssen. Kurze Zeit später gleich zu den Monaten zuvor waren es Welten. Das habe ich angefangen, bei einem regionalen Klub Rote Kreuz kam sogar mal vorbei und verteilte Ge- Fussball zu spielen. Als ich beim ersten Training schenke und Essen. Einmal pro Tag heulten die auf den Platz lief, sah ich diesen Typen wieder. So Sirenen auf, dann mussten wir uns in den Bunker spielten wir zusammen, mehrmals pro Woche. Ich verkriechen. Es folgten die täglichen Bombardie- war Innenverteidiger, er spielte im Mittelfeld direkt rungen der serbischen Luftwaffe. Doch der Alltag im vor mir. Schnell merkten wir: Das Zusammenspiel Camp war den Umständen entsprechend gut. Nach funktionierte kommentarlos. Wir verabredeten uns neun Monaten schafften wir es mit Bussen, die re- zum Fussballspielen in der Freizeit, wurden Freun- gelmässig organisiert wurden, aus dem Camp her- de. Eines Tages lud er mich zum serbischen Weih- aus. Nach einigem hin und her kamen wir in Zagreb, nachtsfest bei seiner Familie ein. Ich wusste nicht, Kroatien, an. Wir wollten von Kroatien weg, wussten wie ich darauf reagieren sollte, schliesslich war das aber nicht wohin. In ganz Europa hatte es mittler- ein wichtiger Tag für die Serben. Mein Vater sagte weile Bemühungen verschiedener Länder gegeben, mir aber, ich solle unbedingt gehen, solch eine Ein- Flüchtlinge aufzunehmen. Wir erfuhren von einer ladung sei eine grosse Ehre. Es spiele keine Rolle, Liste, wo nach Familienangehörigen vermisster Per- woher man komme – wir seien nun in der Schweiz. sonen gesucht wurde. Meinen Vater hatte ich das Die Familie nahm mich wunderbar auf, ich wurde letzte Mal gesehen, als er aus dem Bunker stieg wie ein Ehrengast behandelt. Es folgte unser Bajram und Richtung serbische Armee stürmte. Das war (Fastenbrechen, Anm. d. Red.), für uns ein äusserst jetzt fast drei Jahre her. Und plötzlich stand da der wichtiges Fest mit grosser Bedeutung. Ich lud ihn zu Name « Alic ». Wir trauten unseren Augen kaum. War unserem Familienfest ein. Endgültig war der Hass in das tatsächlich möglich? Wir mussten uns auswei- mir verflogen. Ich besuchte ihn sogar schon in sei- sen, anschliessend nahmen wir Kontakt mit den Be- ner alten Heimat in Serbien und er mich in Bosnien. hörden auf. Mein Vater war schon seit einiger Zeit in Niemals hätte ich geglaubt, das jemals zu sagen, der Schweiz. Die Schweiz genehmigte innert weni- aber heute bin ich stolz darauf: Sascha ist Serbe – ger Tage unser Gesuch um Asyl und wir flogen mit und Sascha ist mein bester Freund. dem Flugzeug nach Zürich. In Chur erwartete uns mein Vater bereits auf dem Perron. Diesen Moment kann man nicht beschreiben, unmöglich. Über ein Jahr hatten wir nichts voneinander gehört. Ich trug während dieser ganzen Zeit immer ein Bild von ihm eng an meiner Seite. Meine Mutter versuchte 26
“SASCHA IST SERBE – UND SASCHA IST MEIN BESTER FREUND.” 27
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“Dass wir beide von Bosnien kommen, ist unser Sahne- häubchen.” 29
Elvis (37) und Edita (35) Alic flohen vor dem Krieg aus Bosnien in die Schweiz. Hier mussten sie sich gegen Vorurteile behaupten und lernen, was es heisst, eine Chance zu nutzen. Mit ihren Töchtern feiern die beiden Bajram und Weihnachten – wieso auch nicht? Edita, Elvis: Wie habt ihr euch kennengelernt? Edita: Das war vor 14 Jahren in Ems. Ich arbeitete in einer Bank am Schalter. Elvis lief in die Filiale – und als ich ihn erblick- te, wusste ich sofort, dass er für mich etwas Besonderes ist. Fast schon etwas kitschig, aber es war tatsächlich Liebe auf den ersten Blick. Er kam dann immer wieder in die Filiale, so kamen wir ins Gespräch. Seit 2008 sind wir ein Paar, 2017 kam unsere erste Tochter Alea zur Welt. “Es war wie Liebe auf den ersten Blick. Als er zur Tür hinein kam, wusste ich: Das ist er.” Wie habt ihr reagiert, als ihr erfahren habt, dass die andere Person auch als Bosnien kommt? Edita: Als ich das erfuhr, habe ich mich natürlich enorm gefreut. Mir spielte die Nationali- tät eigentlich keine Rolle, meine Familie ist sehr durchmischt. Aber als ich wusste, dass er auch von Bosnien ist, hat sich das wie ein Teil Heimat ange- fühlt. Es war sehr vertraut. 30
was dazugehört: Wir schmücken einen Baum, erzählen Weih- War es wichtig für euch das nachtsgeschichten. Auch das Ist es eine Art zurückge- die andere Person von Bosnien ist uns sehr wichtig. Ich möchte ben, was ihr damals von der kommt? dies meinen Kindern auf den Schweiz erhalten habt? Elvis: Für mich war es wichtig, Weg mitgeben – es ist eine Edita: Ja, genau. Das, was die da bin ich ganz ehrlich. Durch enorme Bereicherung, wenn Schweizerinnen und Schweizer den Krieg und das Erlebte fand man zwei Kulturen so erlebt. für uns getan haben, lässt sich ich es von Vorteil, jemanden nicht in Worte fassen. Ein Danke zu finden, der mich versteht. reicht schlicht und einfach nicht Ich sagte mir schon immer: Irgendwann werde ich eine “Für uns war mehr aus. Bosnierin heiraten. Edita: Bei mir war es mehr ein immer klar, Elvis, wie war die Europäische Flüchtlingskrise für dich? « Nice to have ». Ich wusste zu Beginn auch nicht, woher er dass wir Elvis: Ich konnte mich in die Menschen hineinfühlen. kam – es hat aber auch so gefunkt. In vielen Situationen ist mehr machen Ich wusste genau, wie sie sich fühlen und was auf sie zukommt. es sicherlich hilfreich, da wir die gleiche Mentalität haben müssen als Ich dachte, jetzt gibt es schon wieder so viel Leid auf der Welt. und uns oft gar nicht normale Nach dem Zweiten Weltkrieg absprechen müssen. haben wir gesagt: Nie wieder. Schweizer 1990 im Bosnienkrieg passierte Wenn man euch im Ausland Kinder.” es wieder, und wieder hiess es: fragt, woher ihr kommt, was Nie wieder. Es ist ein Teufelskreis. sagt ihr? Beide: Aus der Schweiz. In deiner Autolackiererei hast Elvis: Wenn es um Gefühle und Ihr seid beide vor dem du vor einem Jahr einen Emotionen geht, dann bin ich Bosnienkrieg geflohen. Was syrischen Flüchtling einge- klar der Bosnier. Zum Beispiel löst das in euch aus, wenn stellt - wie kam es dazu? wenn wir streiten, spreche ich oft ihr im Fernseher Bilder von Elvis: Bei meinem Cousin in meiner Muttersprache. Aber Flüchtlingen seht? absolvierte er ein Praktikum. in Sachen Pünktlichkeit und Edita: Für mich sind solche Er hatte ihn mir empfohlen Leistung bei der Arbeit tendiere Momente unglaublich emo- und meinte, ich solle ihm eine ich zum Schweizer. Ich bin tional, gerade auch weil ich Chance geben. Die Erfahrungen mittlerweile fast pünktlicher als die Geschichte von Elvis ken- sind seit dem ersten Arbeitstag die Schweizer (lacht). ne. Seine Geschichte hat mich ausschliesslich positiv. Er ist Edita: Bei mir sieht das ähnlich sehr mitgenommen, wir haben sehr pünktlich, gibt stets sein aus. Auch ich habe beide Seiten oft zusammen geweint und ich Bestes und ist sehr engagiert. in mir und davon profitiere ich wusste, was er durchgemacht Man merkt, dass er dankbar für schlussendlich. Das versuchen hat und wie hart es war. Wenn die Chance ist. Und mir macht wir auch unseren Kindern man ein empathischer Mensch das auch eine Riesenfreude. weiterzugeben. ist und das Leiden dieser Menschen sieht, dann möchte Wie muss man sich das vor- man am liebsten dorthin reisen stellen, wenn die Kinder mit und helfen. Während der Flücht- beiden Kulturen aufwachsen? lingskrise 2015 war es dann sehr Elvis: Wir erziehen unsere Kinder extrem. Ich wollte unbedingt zweisprachig, wobei wir aber helfen, irgendwie. Elvis und ich schon deutlich mehr Schwei- wollten damals eine Flüchtlings- zerdeutsch mit ihnen sprechen. familie bei uns aufnehmen. Die Schon nur, weil ich mit Edita Anforderungen für einen Unter- Schweizerdeutsch spreche. halt waren für uns mit zwei Edita: Seit wir Kinder haben, kleinen Kindern nicht zu wird mir das Pflegen von Tradi- stemmen – doch wir spenden tionen wichtiger. Der Ramadan regelmässig Geld und ist ein grosses Fest, da feiern wir engagieren uns wo wir können. zusammen Bajram (Fastenbre- chen, Anm. d. Red.) Solche Feste möchte ich ausgiebig feiern, das sind schöne Momente mit der Familie. Aber genauso feiern wir auch Weihnachten, mit allem 31
Was denkt ihr, was brauchst es für eine gute Integration? Elvis: Meiner Meinung nach gibt Edita: Dies ist eine schwierige es am Anfang Vorurteile, das Frage, wir hatten es sehr einfach. ist normal. Es gilt für uns, die Wir wurden von den Menschen Leute mit unserer Leistung und Edita: Meine Eltern sagten stets, sehr gut aufgenommen. Persönlichkeit im Gespräch zu ich muss für einen 10er lernen, Heute ist das Verständnis in der überzeugen. Und das funktio- um einen 6er zu bekommen. Bevölkerung anders: Viele niert. 95 % meiner Kunden sind Und das hat mir eingeleuchtet. kennen fremde Kulturen nicht Schweizer. Meine Lackiererei Ich war neu hier, musste mich und wollen sie auch nicht trägt den Namen « Elvis Alic noch etablieren und mehr kennenlernen. Dieses Unwissen Lackiererei » – und zwar bewusst. leisten. Das war so akzeptiert, schafft eine gewisse Distanz Ich wollte meinen Namen und schon früh. zwischen den Menschen. Ich meine Herkunft nicht verstecken. versuche bereits jetzt unseren In der Schweiz kriegst du deine Wofür seid ihr dankbar? Töchtern beizubringen, dass es Chance, wenn du deine Sache Edita: Ich bin jeden Morgen verschiedene Kulturen, gut machst. dankbar. Dankbar für das Leben, Kontinente, Hautfarben und so Edita: Ich finde die Schweiz ist das ich hier in der Schweiz weiter gibt. Vielleicht wäre dies im Vergleich zu anderen führen kann. Und dankbar, dass ein Lösungsansatz: Von klein auf Ländern sehr sozial. Der Rassis- mir die Schweizer ein solches einen bewussten Umgang mit mus in Bosnien und in anderen Leben ermöglicht haben. Sie verschiedenen Kulturen zu Ländern ist viel grösser als hier haben mir ermöglicht, dass ich lehren. Aber ich finde, die in der Schweiz. Die Menschen studieren kann, dass ich eine Schweiz macht eigentlich schon geben dir eine Chance, man Arbeit habe, mich weiterbilde. sehr viel für Integration. muss sie nur nutzen. Jeder, der Elvis konnte eine Firma gründen, sagt, ich habe die Stelle nicht zusammen haben wir zwei erhalten, weil ich ein « –ic » wunderbare Töchter. “Meiner bin, lügt. Das stimmt einfach nicht – die Leistung war nicht Elvis: Trotz unserer Herkunft, trotz der Stolpersteine, haben Meinung ausreichend, Punkt. wir es geschafft. Dafür bin ich enorm dankbar. nach gibt es “In der Nacht am Anfang wachte Elvis Vorurteile, immer wieder das ist auf und schrie normal.” und weinte.” Habt ihr Rassismus erlebt? Edita: Durch unseren Nach- Denkt ihr, ihr musstet mehr namen « Alic » gibt es glaube machen als ein Schweizer, ich schon oft Vorurteile, die sich damit eure Leistung über die Jahre in den Köpfen der anerkannt wird? Leute festgesetzt haben. Wenn Elvis: Ja, das ist möglich. dann mal ein blöder Spruch fällt, Unsere Eltern haben uns gesagt, tut das weh und macht einen dass wir mehr machen müssen, wütend. Am Anfang haben damit wir gleichgestellt werden. einige Kunden in der Bank Aber das ist auch in Ordnung. distanziert reagiert, aber Wie gesagt, du erhältst hier dies hatte auch mit meinem eine Chance – du musst sie Alter, Geschlecht und Aussehen nur nutzen. zu tun. Aber nach dem ersten, zweiten Gespräch war das Eis gebrochen. 32
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Eritrea 34
Eritrea gehört zu den ärmsten Ländern der Welt – mit Einparteiensystem, Diktatur und Repression. Der allgemeine Wehrdienst mit unbegrenzter Dauer ist symbolisch für die Umstände im Land. Eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht. 35
In Eritrea war mein Papa praktisch wenn wir in der Stadt waren, gab Zeit weg. Also verabschiedete nie Daheim. Er musste ins Militär, es überall viele schwer bewaff- ich mich von meinen Grosseltern wie alle Männer und Frauen. Ich nete Soldaten. Einmal kam die und meiner Tante. Traurig war habe gehört, dass man hier in Polizei zu uns nach Hause. Sie ich nicht, wir würden ja bestimmt der Schweiz nach einigen Mo- fragten uns, wo mein Papa sei. bald wiederkommen. Wir stie- naten Militärdienst wieder nach Vor einigen Tagen war er wieder gen in einen Bus, dann ging es zu Hause darf. Bei uns ist das nicht abgereist – uns sagte er, er wür- Fuss weiter. Es war bereits dunkel, so. Am Anfang sagte man uns, er de zurück ins Militär. Scheinbar als wir bei einem grossen Wald würde nach eineinhalb Jahren kam er aber nie dort an. Aber wir ankamen. « Auf der anderen Seite zu uns zurückkommen. Aber fast wussten auch nicht, wo er war. befindet sich Äthiopien », sagten alle Männer kehren jahrzehnte- Vom einen auf den anderen Tag uns andere Leute. Dies war unser lang nicht mehr zu ihren Familien war er verschwunden. Ziel. Der endlose Wald war düster zurück. Das ist normal in Eritrea. und machte mir Angst. Wir lie- Nur ab und zu kam Papa für ein fen geradewegs hinein. Plötzlich paar Wochen nach Hause. Zwar Wir hörten nichts mehr hörten wir Stimmen. Soldaten war mein Papa nie daheim, an- von meinem Papa. kamen auf uns zu. Wir standen sonsten hatte ich aber eine rela- wie angewurzelt da. Beinahe tiv sorglose Kindheit. Ich ging zur Meine Mama erklärte mir immer kommentarlos befahlen sie uns, Schule und hatte viele Freunde. wieder, wie schwer die Situation mitzukommen. Sie führten uns zu Mit ihnen spielte ich vor unserem in Eritrea für eine alleinerzie- einem riesigen Flüchtlingscamp. Haus oft mit Barbies. Ich lebte hende Mutter sei. Einen Job zu Es gab dort fast nur Baracken, dort mit meiner Mama und mei- finden und für die Familie selb- keine richtigen Häuser. Alles ner kleinen Schwester. Manchmal ständig aufzukommen, sei prak- sah sehr heruntergekommen hörte ich von weit weg Explosio- tisch unmöglich. Eines Tages war aus. Die Menschen darin hatten nen und Schüsse. Erst hatte ich ich draussen am Spielen. Meine einen traurigen Blick. Um die An- Angst, meine Mama erklärte mir Mama kam zu mir und sagte: lage waren viele hohe Zäune ge- aber, dass dies nur eine Übung « Wir müssen gehen. » Ich dach- spannt. Und draussen standen sei. Sie übten aber sehr viel. Auch te, wir würden nur für eine kurze Soldaten, die alles bewachten. Aufbruch ins Nichts Hier mag ich die Schule mehr als Zuhause. Man lernt viele verschiedene Sprachen. Mehr als in Eritrea. Und auch den Sportunterricht finde ich toll. Obwohl vieles anders ist, fühle ich mich hier wohl. Sogar Schweizerdeutsch verstehe ich mittlerweile. Und das, obwohl ich eigentlich nie von Zuhause weg wollte. 37
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“Ich war doch noch ein Kind.” 39
Ich hatte so etwas noch nie ge- es keine Menschenseele weit und sehen. Es war monströs. Ich hörte breit, geschweige denn Strassen jemanden sagen, dass dort über oder Ähnliches. Wir waren eine 20 000 Menschen wohnen. Wir Gruppe, die anderen Leute woll- erhielten eine Unterkunft, die wir ten auch nach Libyen. Und dann mit anderen teilen mussten. Sie waren da noch andere Männer, bestand aus Steinen und Bla- die uns sagten, wo wir durch- chen. Meine Mama sagte mir, gehen mussten. Ihnen mussten dass wir vorerst hier bleiben wür- wir Geld bezahlen. Ich mochte den. Für die nächsten acht Mo- diese Männer nicht. « Schneller! nate war das unser Zuhause. Ich Vorwärts! » riefen sie uns immer ging in eine Art Schule, spielte wieder zu. Wenn jemand zurück- viel mit anderen Kindern. Es ging blieb, der prallen Sonne nicht mir nicht schlecht, aber ich ver- mehr standhielt, liessen sie ihn stand nicht wirklich, weshalb wir einfach zurück. nicht mehr Zuhause waren. Nach einigen Monaten durften wir wei- Nach einigen Tagen terreisen. Wir hatten es bereits einmal versucht, doch weil wir kamen wir schliesslich keine gültigen Dokumente hat- in Libyen an. ten, wurden wir wieder zurück- geschickt. Meine Mama sagte Wir wurden an einen Ort geführt, mir, dass wir zu meiner Tante in der aussah wie ein Gefängnis: den Sudan gehen würden. Auf Hohe Mauern, drinnen gab es nur dem Weg erlebten wir viele ge- einen grossen, kargen Raum. Und fährliche Momente. Einmal muss- draussen versteckte sich ein win- ten wir nachts einen hohen Zaun ziger Innenhof. Man sah von dort überqueren. zwar den Himmel, aber überall waren meterhohe Mauern. Frei bewegen durften wir uns nicht. Plötzlich hörten wir Das « Camp » durfte nur verlas- Schüsse, die ganz nah sen, wer Geld bezahlen konnte. an uns vorbeischossen. In diesem grossen Raum waren sehr viele andere Leute. Sie ka- Es war damals sehr knapp, na- men von überall her. Wir schlie- türlich hatte ich grosse Angst. fen dort wie Sardellen, Schulter Ich versuchte in solchen Situa- an Schulter. Einige, so erfuhren tionen immer, an etwas anderes wir, waren bereits über ein Jahr zu denken, mich abzulenken. Ob- lang dort und durften nicht weg. wohl das natürlich meistens nicht Zu Essen gab es monatelang nur funktionierte. Ich war ja schliess- Nudeln mit nichts – kein Salz, kein lich erst 10 Jahre alt. Und einmal Gemüse, keine Sauce. Es war al- mussten wir einen reissenden les, das wir kriegten. Sanitäre Fluss durchqueren. Niemand Anlagen gab es praktisch keine, von uns konnte schwimmen. Das geschweige den Medikamente. Wasser war eiskalt und kam mir Es verbreiteten sich immer wie- bis zum Hals. Die Strömung riss der Krankheiten. Viele Menschen mich immer wieder von den Bei- sind daran gestorben. nen, ich musste mich an meiner Mutter festhalten. Schliesslich ka- men wir bei meiner Tante im Su- Unsere Aufpasser dan an. Einige Wochen waren wir zogen die toten dort, dann ging es weiter Rich- Menschen einfach tung Libyen. « Libyen », hörte ich meine Mama sagen, « ist das Tor reglos an uns vorbei zu Europa. » Wenn wir es bis dort nach draussen. schaffen würden, war unser Ziel zum Greifen nah. Ich erfuhr das Ich hatte zuvor noch nie einen erste Mal, wohin wir eigentlich toten Menschen gesehen und wollten. Von Khurtan, der Haupt- dort sah ich dann ganz viele auf stadt Sudans, ging es auf der La- einmal. Die Leute, die lange kein defläche eines Lastwagens weiter Geld bezahlt hatten, wurden im- Richtung libysche Grenze. Das mer wieder nach draussen ge- gesamte Gebiet ist eine karge, zerrt und geschlagen. Das war riesige Wüste. Kilometerweit gibt die schwierigste Zeit auf der Rei- 40
se. Nach einem halben Jahr durf- hier waren wir wieder in ver- ten wir diesen schrecklichen Ort schiedenen Camps. Aber nach endlich verlassen. Man brachte einigen Wochen durften wir eine uns mit ein paar anderen Leu- eigene, richtige Wohnung bezie- ten in einen Lastwagen. Es war hen. Nach unserer endlos langen bereits dunkel. Wir sahen nichts, Flucht sind wir endlich angekom- durften weder sprechen noch men. sonst irgendeinen Laut von uns geben. Ich hatte trotzdem ein Zwei Jahre lang gutes Gefühl, weil wir endlich von dort weg waren. Stundenlang haben wir uns fuhren wir durch die Nacht. Dann durchgekämpft. ging es zu Fuss weiter. Ich hörte, wie das Geräusch von Wellen Trotzdem beschäftigen mich immer näher kam. noch viele Sachen. Mit meiner Familie in Eritrea kann ich nur einmal pro Monat kurz telefonie- Auch der salzige ren. Ich habe sie vor sechs Jah- Meergeruch wurde ren, am Tag des Abschieds, das intensiver. letzte Mal gesehen. Ich vermisse sie sehr. Von meinem Vater ha- Ich sah gerade, wie einige Män- ben wir praktisch nie mehr etwas ner dabei waren, zwei Boote auf- gehört. Im Camp in Libyen hatten zupumpen. Es waren zwei kleine wir kurz telefoniert. Anscheinend Gummiboote, vielleicht 20 Me- wollte er nicht zurück ins Militär ter lang. Mit uns standen sicher und ist nach Israel geflohen. Das 300 Leute am Strand. « Da sollen war vor vier Jahren. Wo er heu- wir alle drauf? » dachte ich mir. te ist, weiss niemand. Hier in der Viel Zeit, uns Gedanken zu ma- Schweiz gefällt es mir gut. Man chen, hatten wir nicht. kann hier sicher leben, “Wohin Um 2 Uhr morgens be- ohne Angst. Aber meine fahlen sie uns, in die Mama hat gesagt, dass Boote einzusteigen. Wir wir anscheinend nicht alle schauten in die- hier bleiben dürfen. Ich se Dunkelheit, die einen verstehe nicht genau, gehen wir förmlich auffrass. Es war weshalb. Wir haben ei- ein Aufbruch ins nichts. nen zweiten negativen Alle Taschen und Ruck- Asylbescheid erhalten – säcke mussten wir zu- bis im September 2021 jetzt?” rücklassen. Wir stiegen, dürfen wir noch bleiben. nur mit unseren Kleidern Aber wir wissen nicht, am Leib, in das wackeli- wohin wir nachher ge- ge Boot. Es wurde enger hen sollen. Ich würde und enger. Meine Füsse gerne bleiben. Mittler- wurden richtiggehend weile habe ich hier ein eingequetscht. Der Wind misch- ein zweites, grösseres Schiff. Sie neues Zuhause gefunden. Gehe te sich zu den eiskalten Tempe- holten einen nach dem anderen zur Schule und habe gute Freun- raturen. Das Wasser schwappte auf das Boot. Wir erhielten etwas de. Und ich verstehe sogar, was immer wieder ins Innere. Immer zu Essen und trockene Kleider. die anderen Kinder auf Schwei- wieder mussten sich Leute über- Ich war so erleichtert. Nach ei- zerdeutsch sagen. Durch all die geben, der beissende Gestank nigen Stunden Fahrt erreichten Länder, in denen ich war, kann lag in der Luft. So steuerten wir in wir die Küste Siziliens. Ich betrat ich viele Sprachen sprechen: dieses schwarze Nichts. Bereits zum ersten Mal europäischen Äthiopisch, Arabisch, Tigrinya, nach einigen Minuten verloren Boden. Auch meine Mama war Türkisch, Französisch, Italienisch, wir das andere Boot aus den Au- sichtlich erleichtert. Wir wurden etwas Englisch und Deutsch. In gen. Wir trieben stundenlang auf zu einem Flüchtlingscamp ge- der Schule gebe ich mir Mühe, dem Meer. Dann, bei Tagesan- bracht. Es war ein schönes Ge- ich möchte viel lernen. Das ist bruch sah ich am Horizont plötz- fühl, denn dort durften wir uns auch wichtig für meine Zukunft. lich die Umrisse eines Schiffs. Es endlich wieder frei bewegen. Ich Mein Traumberuf ist nämlich Ärz- war die italienische Marinepolizei, konnte sogar zur Schule gehen. tin oder Polizistin. Wieso? Weil ich die sich uns rasch näherte. Hät- Nach einigen Monaten mussten dann anderen Menschen helfen ten sie uns nicht gefunden, wä- wir weitergehen. In Italien hatten kann. ren wir wahrscheinlich ertrunken sie keinen Platz für uns. So gingen – das war auch mir bewusst. Eini- wir weiter in die Schweiz, da mein ge Minuten später erreichte uns Onkel bereits hier wohnte. Auch 41
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Die Kunst, alles Für Kiflay Mengestabe (28) war Mittelmass niemals eine Option. Der passionierte Läufer vereint Ehrgeiz und Wille – bei der Betreuung von ambitiösen Projekten und auf der Laufbahn. Ein Gespräch über Bestzeiten, Frühaufsteher und den Drang, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. zu geben 43
Es ist ihm schon fast unangenehm, darüber zu Sein Ehrgeiz verleitete ihn zu ungewöhnlichen sprechen. « Ja, in der Schule war ich meist Klassen- Mitteln: « Mir war bewusst, dass die Sprache der bester. Ich war stets ein vorbildlicher Schüler », er- Schlüssel für alles weitere war. Also investierte innert sich Kiflay Mengestabe an seine Schulzeit in ich entsprechend viel Zeit darin. Ich hatte jedoch Eritrea zurück. Vor allem Mathe lag ihm, aber auch den ganzen Tag Schule, nachmittags standen die für Sprachen interessierte er sich. Schrieb er keine Hausaufgaben an und abends hatte ich Fussball- Bestnoten in der Schule, fand man ihn stets draus- training. Also stand ich täglich um 4 Uhr morgens sen an. Er war schon seit jeher bewegungsfreudig, auf und lernte für einige Stunden. » Sein Plan ging rannte rum und spielte mit seinen Freunden: « Ich auf. Täglich verbesserten sich seine Deutschkennt- war immer ein aktives Kind, hatte einen Bewe- nisse, nach ein paar Monaten las er bereits prob- gungsdrang, den ich in unserem Quartier gut aus- lemlos Kinderbücher auf Deutsch. leben konnte. Und Sport interessierte mich sowieso schon immer. » Mit seinen Eltern wohnte Kiflay am Stadtrand. Eine schöne Kindheit sei es gewesen – Seine guten Leistungen in der doch auch dort war die verstrickte politische Situa- Schule öffneten ihm weitere Türen. tion Eritreas spürbar. Er schloss erfolgreich eine Polymechaniker-Lehre ab, anschliessend studierte er Maschinenbauin- Eritrea ist ein autoritärer Staat, genieur an der Fachhochschule. Seinen Traum, In- zählt zu den undemokratischsten genieur zu werden, erreichte Kiflay – doch das war Regimen der heutigen Zeit. ihm nicht genug. « Natürlich war ich zufrieden. Es fühlt sich so an, wie wenn man im Sport einen wich- Ein zentraler Machtapparat der Regierung ist das tigen Wettkampf gewinnt », erklärt Kiflay, « doch ich Militär, zu dem jeder Bürger seinen Teil beizutra- interessierte mich auch für andere Dinge. » Sein Ta- gen hat. Auch Kiflays Vater, Inhaber eines erfolg- tendrang führt ihn zu einer Firma, die sich auf Inno- reichen Geschäfts in der Hauptstadt, wurde für die vationsarbeit spezialisiert hat. Hier findet Kiflay neue Armee einberufen. Eine festgelegte Mindestdauer Möglichkeiten, sich zu entfalten. Er betreut mehre- gibt es nicht, entsprechend sind die Folgen für die re Projekte, ist an immer neuen Ideen beteiligt. In Familie. Seine Mutter hatte Jura studiert, mit dem seinem Alltag unterstützt er beispielsweise Unter- Ziel, im Land Gerechtigkeit und Ordnung sicher- nehmen dabei, Visionen zu entwickeln und Innova- zustellen. Sie haderte jedoch mit der alltäglichen tion aktiv in ihrem Geschäftsalltag unterzubringen. Korruption in Eritreas Rechtssystem. Die Eltern ent- Und das neueste Herzensprojekt ist ein Startup, bei schieden sich 2002 zu einem drastischen Schritt dem er an vorderster Front mitwirkt: « Ein Startup und flüchteten aus Eritrea. Kiflay blieb bei Bekann- aufzubauen, war schon immer ein Traum. Selbst- ten zurück, mit dem Ziel, ihn möglichst rasch nach- verständlich möchte auch ich eines Tages ein ei- zuholen. Doch der Kontakt brach ab, Kiflay war auf genständiges Startup gründen, Schliesslich kann sich alleine gestellt. In Eritrea hielt ihn nicht viel. man sich dabei voll entfalten, das liegt mir. » Er- Mit 13 Jahren gelangte er mit einem Schlepper in folg in seiner Karriere sei ihm wichtig – persönliche den Nachbarstaat Sudan. Er war alleine in einem Entwicklung und Entfaltung liege jedoch an erster fremden Land, verbrachte dort neun Monate und Stelle: « Lebensfreude ist mein Antrieb. Ich mache musste früh erwachsen werden. « Was ich dort er- täglich das, was ich wirklich machen möchte – wa- lebt habe, wünsche ich keinem anderen Menschen. rum sollte ich dort sparen? Es gibt mir Energie, wenn Ich war komplett auf mich alleine gestellt. Das war ich solche Projekte mit viel Herzblut angehen kann. » hart », erinnert er sich zurück. Nach einer gefühlten Und auch die Motivation, Grosses zu leisten, ist tief in Ewigkeit konnte er schliesslich mithilfe eines Unicef- ihm verwurzelt. Der Anspruch ist hoch – und das sei Büros den Kontakt zu seinen Eltern aufnehmen. Sie auch gut so: « Ich persönlich finde es anstrengen- waren mittlerweile in der Schweiz. Hilfswerke stell- der, nur mittelmässig zu sein. » Nur Mittelmass, das ten den Kontakt her, kurze Zeit später sass er im ist für Kiflay auch im Sport keine Option. Seit jeher Flieger Richtung Genf. Nach fünf Jahren bangen schon mag er den Wettkampf. der Sport gibt ihm Wartens sah er seine Eltern das erste Mal wieder: die Möglichkeit, sich zu entfalten. Über Schulfreun- « Das war natürlich sehr emotional, ein unglaub- de findet er den Weg in einen lokalen Fussballclub. licher Moment. Ich war erleichtert, wieder bei ih- Schnell merkt er jedoch, seine wahre Leidenschaft nen zu sein. » Fortan lebt Kiflay in Büren nahe Biel gehört dem Laufen. So beginnt er zu trainieren, lan- bei seinen Eltern. Viel Zeit wollte er nicht verlieren, det schliesslich beim angesehenen TV Länggasse schliesslich hatte er einiges vor: Er wollte unbedingt Bern. Rasch steigt er zu den Spitzenathleten des weiter lernen, ein Studium abschliessen und dann Vereins auf. Erste Erfolge lassen sich feiern: Er ver- Pilot oder Ingenieur werden. Das war sein Traum bessert seine persönliche Bestzeiten und startet – dafür war eine gute Ausbildung essentiell: « Zwei an den Schweizermeisterschaften. « Ich bin davon Wochen nach meiner Ankunft in der Schweiz fing überzeugt », erklärt Kiflay, « dass der Mensch einen ich mit der gewöhnlichen Schule an. « Ich konnte es gewissen Bewegungsdrang ausleben sollte. Ge- selbst kaum glauben, war aber unglaublich dank- rade für mich persönlich ist das wichtig, um vom bar. » Ohne jegliche Deutschkenntnisse arbeitete er mental sehr fordernden Job-Alltag abzuschalten. » sich hoch, legte eine bemerkenswerte Entwicklung Wer denkt, dass in Kiflays vollem Terminplan der zurück. Mit Händen und Füssen verständigte er sich Sport nur eine Randnotiz ist, liegt falsch. In seinen mit Klassenkameraden und dem Lehrpersonal. vollen Alltag packt Kiflay täglich ein bis zwei Einhei- 44
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