KEIN MÜLLER - Ein Magazin über Geflüchtete und deren Geschichten

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KEIN MÜLLER - Ein Magazin über Geflüchtete und deren Geschichten
KEIN MÜLLER

 Ein Magazin über Geflüchtete und deren Geschichten
KEIN MÜLLER - Ein Magazin über Geflüchtete und deren Geschichten
Sommer 2021
KEIN MÜLLER - Ein Magazin über Geflüchtete und deren Geschichten
Für
Geflüchtete,
die es nicht
in die
Schweiz
geschafft
haben.
Liebe
Frau Müller

  Lieber
Herr Müller
Wenn du das liest, bist du vermutlich ein(e) Müller.       Geschichten in der Zeitung zu überblättern. Wenn
                                                           Herr und Frau Müller Verantwortung übernehmen,
Vielleicht heisst du nicht so. Aber du siehst so aus.      die Schweiz in ein solidarisches Zuhause mit Mit-
Du teilst dieselben Wurzeln wie so viele von uns,          gefühl für uns alle zu verwandeln.
eine ähnliche Bildungsreise, ein vergleichbares
Umfeld. Gehst in einen Verein, fährst im Winter Ski
und im Sommer Mountainbike. Und natürlich kennst           Und ein offenes Ohr ist der erste
du auch Probleme. Von Kleinigkeiten des Alltags            Schritt auf dem Weg dorthin.
wie dem platten Reifen bis zu echten Existenzängs-
ten. In der Corona-Krise haben wir alle gelernt zu
verzichten. Aber keines der Probleme resultiert da-
raus, woher du kommst, was du denkst und fühlst
– oder einfach, wie du bist. Kurz: Du bist privilegiert.
Das geht nicht allen so.
                                                           Sébastien Ross & Svenja Tschannen

Denn die Schweiz, das sind wir alle.
Nicht nur Herr und Frau Müller.
68 842 anerkannte Flüchtlinge leben 2021 in unse-
rem Land – Tendenz steigend, Grauzone riesig. Sie
bilden damit immerhin fast ein Prozent unserer Be-
völkerung. Und doch haben die meisten von uns
höchstens Kontakt mit ihnen, wenn wir mal wieder
die Zeitung lesen: « 80 Migranten ertrinken vor der
Küste Italiens » heisst es da, oder « Tausende flüch-
ten vor Hungerkrise. » Erschreckend, ja. Zumindest
anfangs. Mittlerweile nehmen wir solche Meldun-
gen wortlos zur Kenntnis. Wenige Minuten später
geraten sie in Vergessenheit. Und weiter geht es
mit dem Alltag. Ohne sich einmal wirklich mit dem
Thema beschäftigt zu haben.

Doch hinter diesen Zahlen stecken keine Statistiken.
Sondern Menschen. Elvis ist nicht einer der hundert-
tausend Flüchtlinge des Bosnienkrieges, sondern
ein Ehemann, der seine neue Heimat in der Schweiz
gefunden hat (Seite 22). Ghazal ist keine gesichts-
lose junge Frau, die zu uns vor der Unterdrückung
in ihrem Herkunftsland geflohen ist (Seite 78). Sie
haben Geschichten erlebt, die schockieren. Die un-
endlich traurig und unfassbar wütend machen. Die
aber auch Hoffnung wecken, dass wir unser Land
gemeinsam zu einer Heimat für alle Menschen
machen können, die ihre eigene verloren haben. 10
Menschen berichten in diesem Magazin von ihren
mutigen Reisen, bis sie in der Schweiz angekom-
men sind – und wirklich angekommen sind man-
che von ihnen heute noch nicht.

Wir laden dich ein, ihre Perspektive
einzunehmen.
Denn die Spaltung der Gesellschaft überwinden
wir nur, wenn wir uns mit der anderen Seite be-
schäftigen. Sie ernsthaft kennenlernen, statt ihre
Zehn
Geschichten
über zehn
Menschen
Produktion
Sébastien Ross
Svenja Tschannen

Webseite
keinmüller.ch

Portfolio
sebastienross.ch
svenjatschannen.ch

Lob und Kritik
svenja.tschannen@icloud.com
Tashi      14
Elvis      22
Yosan      36
Kiflay     42
Yohannes   48
Ablelom    54
Ramazan    60
Karl       66
Ghazal     78
Sanaz      82
Bist du ein
Schwarz-
Weiss-
Denker?

Editorial			       4
Impressum			       7
Kontributoren		   10
Danksagung		      86
Epilog			         88
« Kein Müller » ist das Ergebnis der gemeinsamen       Wenn Sébastien nicht gerade mit der Kamera han-
Bachelorarbeit von Sébastien Ross und Svenja           tierte, traf man ihn oftmals schwitzend auf dem
Tschannen. Uns beide eint die Liebe und Leiden-        Fussballplatz an – seine zweite grosse Leidenschaft.
schaft für Menschen und ihre Geschichten. Diese        Svenja hingegen layoutete das Magazin während
Leidenschaft ist unser Antrieb, dafür brauchen wir     dem Aufenthalt in einem Yogacamp und wechsel-
kein Depot mit Traubenzucker und Kaffeekapseln.        te zwischen Yogamatte und Laptop hin und her.
Die Themenwahl für die Bachelorarbeit war wie Lie-
be auf den ersten Blick, schnell und fast ohne Worte
haben wir uns für das Thema und das Medium ent-
schieden. Als Sohn eines vietnamesischen Flücht-
lings und einer Unterstützerin der Geflüchtetenhilfe
haben wir beide persönliche Erfahrungen mit den
Themen in « Kein Müller ». Deshalb möchten wir Men-
schen und ihren Geschichten einen Raum bieten,
gehört zu werden. Wir hoffen, dir ein wenig dieser
Motivation mitzugeben.

10
Wir wollen
Geflüchteten
eine Stimme
geben und
Vorurteile
abbauen.

           11
Tibet
12
Offiziell gehört das
autonome Gebiet
Tibet zu Chinas
Staatsgebiet. Doch
seit Jahrzehnten
werden die Rufe
nach Freiheit und
Unabhängigkeit
lauter, trotz der
Übermacht Chinas.
Es ist ein ungleiches
Duell – Tibets Kampf
um Autonomie
dauert an.              13
Aufbruch
nach

14
     Chieque
Es ist ein vergessener Kampf, den Tibet
gegen das übermächtige China über
sich ergehen lassen muss. Fernab des
globalen Medienfokus und mit geringer
Aufmerksamkeit werden Tibeter unterdrückt
und müssen schlimmstenfalls ihre
Heimat verlassen – wie auch Tashi
Tsangmada (23) aus Nyalam.

                                      15
“Tibet wird
 von China
 unterdrückt,
 das ist ein
 Fakt.”
     Tashi, du bist im Tibet, einer autonomen             Wie hast du dieses Engagement
     Region Chinas, aufgewachsen – wie sieht              wahrgenommen?
     eine Kindheit unter solchen Umständen
     aus?                                              Nach und nach gab es Veränderungen im Alltag,
                                                       die auch ich mitbekam. Es fing damit an, dass
Um ehrlich zu sein relativ normal. Ich bin in einem    man in der Schule plötzlich nur noch Chinesisch
kleinem Dorf in den Bergen Tibets aufgewachsen,        lernen sollte – das Fach Tibetisch wurde
Nyalam. Offiziell untersteht die gesamte Region        abgeschafft. Es wurden auch vermehrt Kloster –
China, es gehört jedoch zum autonomen                  für uns Tibeter sehr bedeutende Orte – « renoviert ».
Gebiet Tibets. Dort lebten wir Tibeter und Chinesen    Eigentlich aber wurden sie abgerissen, um auch
zusammen, Seite an Seite. Die Chinesen sind dort       ein religiöses Statement zu setzen. Mein Vater
jedoch in der Minderheit. Als Kind bekommt man         sträubte sich dagegen – jahrelang kämpfte er
von all dem nicht wirklich viel mit – man kennt es     dafür, die tibetische Kultur zu erhalten und setzte
ja nicht anders. In der Schule drückten wir            sich für Unabhängigkeit ein. Beispielsweise
gemeinsam die Schulbank. Konflikte oder sonstige       forderte er, dass an Schulen weiter Tibetisch
Probleme gab es keine. Uns wurden auch beide           unterrichtet wird.
Sprachen beigebracht.
                                                          Welche Folgen hatte dieses politische
     War der chinesisch-tibetische Konflikt ein           Engagement für dich und deine Familie?
     Thema am Familientisch?
                                                       Chinas Regierung war natürlich alles andere als
Weder ich noch meine beiden kleinen Schwestern         erfreut über die politischen Vorstösse meines
bekamen viel davon mit. Meine Mutter war Haus-         Vaters. Auch ich merkte das mit der Zeit. Es fing
frau, das Geld für die Familie verdiente mein Vater    damit an, dass Männer vor unserer Haustüre
als Koch. Beide versuchten aber, diese politischen     standen. Sie befragten meine Eltern; machten
Themen von uns fernzuhalten. Nicht ganz einfach,       meinem Vater verständlich, dass solche Aktionen
denn mein Vater war politisch aktiv, setzte sich für   nicht gern gesehen sind. Von Nachbarn musste
ein eigenständiges, unabhängiges Tibet ein. Das        die Regierung vernommen haben, dass sich mein
war für ihn eine Herzensangelegenheit.                 Vater für ein freies Tibet einsetzt. Sie drohten ihm
                                                       auch mit Freiheitsstrafen, machten Druck. Das war
                                                       nicht einfach für uns, doch mein Vater wollte nicht
                                                       einfach aufgeben.

16
Bis der Druck schliesslich zur Gefahr wurde.      Aufgrund der politischen Lage in Tibet wurden wir
                                                       schnell angenommen. Wir wurden dann einem
Richtig. Diese einstige Unsicherheit wandelte sich     Kanton zugewiesen und kamen zufälligerweise
mehr und mehr zu einer bedrohlichen Situation.         nach Bern – und leben seitdem hier.
Das realisierten auch meine Eltern. So kam es,
dass sie mir eines Tages sagten: « Tashi, wir              Wie kamst du persönlich zurecht?
unternehmen mit der ganzen Familie eine Reise. »
Ich fragte sie, wohin wir gehen würden. « Chieque »,   Alles war fremd. Sprache, Kultur und das Wetter.
sagten sie. Chieque ist tibetisch und steht für eine   Was mir enorm geholfen hat, war der Fussball.
Reise, die weit weg führt. Ich war klein und bis       Mein Vater meldete mich bei einem lokalen Verein
dahin noch nie im Ausland gewesen. Aus dem             an – in der Hoffnung, unter anderem die Sprache
Fernsehen kannte ich lediglich Amerika, und so         schnell zu erlernen. So kam ich zu meinem
malte ich mir im Kopf aus, dass wir dort Ferien        ersten Fussballverein. Viele andere Mitspieler
machen würden. Sie sagten mir, ich dürfte es           waren ebenfalls Ausländer und hatten auch
meinen Klassenkameraden und auch sonst                 Mühe mit Deutsch – gemeinsam konnten wir
niemandem erzählen.                                    unsere Sprachkenntnisse spielerisch aufbauen.
                                                       Auch in der Schule half mir das. Ich schloss
     Wie lief die Flucht ab?                           meine obligatorische Schulzeit erfolgreich ab und
                                                       machte eine Ausbildung zum Pfleger – ein Beruf,
Zwei Tage lang ging es zu Fuss, mit der Kutsche        der mich sehr erfüllt.
und mit dem Auto in den Süden. Wir nahmen nicht
besonders viel mit – doch an die buddhistischen            Fühlst du dich wohl in der Schweiz?
Statuen kann ich mich noch gut erinnern. Die
waren sehr wichtig für uns. Schliesslich kamen wir     Ja, sehr. In der Schweiz erhielt ich die Möglichkeit,
in der Hauptstadt von Indien an, Dehli. Es sollte      eine Ausbildung zu absolvieren. Das war ein erster
nur ein Zwischenhalt werden, davon wusste ich          Schritt in ein neues Leben. Dadurch kann ich auch
aber nichts. Indien war ein Kulturschock für mich.     meine Eltern finanziell unterstützen, gerade wenn
Ich bin in einem Dorf in den Bergen aufgewach-         sie älter werden. Dafür bin ich der Schweiz
sen, einem ruhigen und beschaulichen Ort. Dehli        sehr dankbar.
ist eine Weltmetropole – chaotisch, heiss und laut.
Die Hitze war zu Beginn unerträglich für mich.             Vermisst du etwas von deiner alten Heimat?
Auch die Menschen waren anders als Zuhau-
se, selbstverständlich auch die Sprache. Ich war       Dies ist schwer zu sagen. Ich war damals noch
ziemlich durcheinander, wusste nicht, ob wir jetzt     sehr klein. Als ich dann in der Schweiz ankam,
für immer hier bleiben würden. Schule hatten wir       war alles neu und aufregend. Neue Sprache,
keine – einzig in einem tibetischen und englischen     neue Menschen, neue Kultur, neues Land.
Lexikon musste ich täglich Wörter lernen. Da           Lange Zeit realisierte ich nicht, welchen Hinter-
unsere gültigen Dokumente vorbereitet werden           grund ich mitbrachte. Dass ich als Flüchtling mein
mussten, harrten wir einige Monate in Indien aus.      Land verlassen musste. Heute bin ich reflektierter,
Nach einigem hin und her durften wir endlich aus-      habe auch mehr an die Zeit im Tibet gedacht.
reisen – und ich stieg zum ersten Mal in meinem        Aber vermissen? Nein, das würde ich nicht sagen.
Leben in ein Flugzeug. Ein komisches Gefühl.           Ich habe hier alles, was ich brauche.

     Was waren die ersten Eindrücke in der                 Wie hast du realisiert, dass du als Flüchtling
     Schweiz?                                              in die Schweiz gekommen bist?

Ich war sehr überrascht von den Menschen in der        Ich besuchte für ein Jahr die Klasse für Fremd-
Schweiz (lacht). Sie waren alle sehr gross, hatten     sprachige KfF, in der Kinder Deutsch lernen. Neben
eine andere Hautfarbe und eine merkwürdige             mir gab es auch andere Kinder, die ihre Heimat
Haarfarbe. Dies kannte ich nur vom Fernseher.          verlassen mussten. In einigen Unterrichtssitua-
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mit          tionen war ich zwar komplett hilflos und verloren
solchen Haaren geboren wurden. Und auch an             – wusste aber, dass es denen links und rechts von
das erste Essen kann ich mich noch erinnern.           mir gleich ging. Wir haben uns verstanden. Und wir
Wir bestellten in einem Imbiss einen Dürüm –           fühlten uns nicht anders, fühlten uns nicht alleine.
für mich ein ganz spezielles Gericht. In Tibet         So konnte ich meine Kindheit ausleben und Er-
gibt es solche Sachen nicht. Mir schmeckte das         fahrungen machen. Später dann machte ich mir
überhaupt nicht. « Papa, weshalb essen die             Gedanken zu meinen Wurzeln und den Gründen,
Menschen hier Gras im Brot? », fragte ich meinen       weshalb ich eigentlich hier war. Aber das kam zu
Vater. Heute ist Dürüm eine meiner Leibspeisen –       einer Zeit, als ich bereit war für solche Gespräche –
ich könnte jeden Tag einen verputzen.                  dies half mir sicherlich.

     Wie ging es dann für dich weiter?                     Warst du seither wieder im Tibet?

Wir haben dann in der Schweiz Asyl beantragt           Nein, das ist leider nicht möglich. Ein Visum zu
und waren in Basel in einem Asylheim. 		               erhalten ist für mich reines Wunschdenken.

18
Da ich keinen Schweizer Pass besitze, reise ich als     Ich muss nicht in der Angst leben, unterdrückt
Tibeter in das Land ein. « Ausweis B » sagt denen       zu werden. Schlimmstenfalls um die Sicherheit
nichts – die wollen dann wissen, weshalb ich 12         meiner Familie fürchten. Aber die Menschen
Jahre weg war. Eine Einreise ohne Schweizer Pass        in Tibet leben tagtäglich mit diesem mulmigen
ist unmöglich.                                          Bauchgefühl. Wenn ich höre, dass es wieder
                                                        Aufstände oder Demonstrationen gab und
    Würdest du gerne wieder einmal gehen?               diese niedergeschlagen wurden, tut mir das
                                                        im Herzen weh.
Ja, natürlich. Es ist ja trotz allem meine Heimat.
Gerade mein Dorf möchte ich besuchen – sehen,              Was möchtest du der Öffentlichkeit gerne
was sich all die Jahre verändert hat. In all der Zeit      mitteilen?
ist bestimmt viel passiert.
                                                        Auf der ganzen Welt, in so vielen anderen Ländern,
    Was ist für dich deine Heimat?                      gibt es ähnliche Probleme. Vielerorts passieren so
                                                        viele schreckliche Dinge, man muss nur die Augen
Ich habe die tibetische Mentalität in mir, den tibe-    öffnen. Informiert euch, befasst euch mit dem
tischen Humor. Wenn ich mit Schweizern                  Thema, sprecht darüber. Richtet den Blick auch
zusammen bin, kann ich mich gut anpassen und            auf unangenehme Themen wie die Situation
integrieren – ich fühle mich aber fast noch mehr        in Tibet. Das ist das Mindeste, was wir von hier
verstanden, wenn ich unter Tibetern bin. Als meine      aus tun können.
Heimat würde ich Tibet nennen. Und wenn mich
Leute im Ausland nach meiner Herkunft fragen,
zögere ich keine Sekunde mit der Antwort:
« Ich bin Tibeter. » Zumindest, so lange ich noch
keinen Schweizer Pass besitze.

    Kannst du dich noch an deine früheren
    Freunde deiner Kindheit erinnern?

Natürlich, ich kann mich an jedes Gesicht und
jeden Namen genau erinnern. Aber ich habe
diese Menschen, meine engsten Kinderfreunde,
nie wiedergesehen. Ich weiss auch nicht, wo sie
heute sind. Entweder immer noch im Tibet oder
dann hat sie das gleiche Schicksal wie meine
Familie getroffen.

    Für uns Schweizer sind andere Konflikte
    präsenter als jener im Tibet - wie muss man
    sich die Situation vorstellen?

Parallelen gibt es sicher mit dem Konflikt zwischen
Israel und Palästina. Auch dort wird eine Minder-
heit unterdrückt, regelrecht aus ihrem Lebens-
raum verdrängt. Was das ganze so heikel macht,
ist Chinas Propaganda-Apparat. Die Regierung
setzt alles daran, die Medien zu kontrollieren –
und die eigenen Aktionen vor ausländischen,
unabhängigen Medienvertretern abzuschirmen.
Bestes Beispiel dafür ist die Vertreibung der
Uiguren – auch dort wird vertuscht und gelogen.
Im Tibet kann jederzeit die Chinesische
Regierung Anspruch auf ein tibetisches Dorf
erheben. Es werden neue Regeln aufgestellt,
die den Alltag verändern. Die Polizei stellt die
Einhaltung sicher, bei Protest oder gar Aufstand
droht einem das Gefängnis.

    Macht dich dies auch wütend?

Tibet wird von China unterdrückt, das ist ein Fakt.
Tibeter können deshalb ihre Sprache und Kultur
nicht ausleben. Dies macht mich wütend und
traurig. Mich betrifft das ja nicht direkt, ich lebe
hier in der Schweiz ein gutes, sorgloses Leben.

                                                                                                         19
Bosnien
20
Aus Nachbarn
wurden Feinde und
das ehemalige
Jugoslawien zerfällt.
In den 90er Jahren
wütete in Osteuropa
der Bosnienkrieg.
Die verübten
Kriegsverbrechen wie
Internierungslager
und Massenmorde
gelten als Verbrechen
gegen die
Menschlichkeit.
ZWISCHEN
HIMMEL
UND

TRNOPOLJE
22
Als ich acht Jahre alt war,
verbrachte ich einige
Monate im berüchtigten
Internierungslager
« Trnopolje ». Heute feiere
ich serbische Weihnachten
und erinnere mich zurück –
an hasserfüllte Momente
und Freudentränen.
Es lag etwas in der Luft. Seit Wochen schon hat-        wieder orientieren. Was dann folgte, war ein Gefühl,
te sich die Situation zugespitzt, die Fronten waren     das ich kaum beschreiben kann. Ich stand inmitten
endgültig verhärtet. Das ehemalige Jugoslawien          meiner altbekannten Strasse vor meinem Eltern-
stand im Frühling 1992 kurz vor einem historischen      haus – und um mich herum herrschte komplette
Umbruch, das war förmlich spürbar. Ich weiss            Verwüstung. Alles brannte lichterloh, überall Rauch.
noch, wie ich als kleiner Junge täglich gespannt        Die zerstörten Gebäude glichen einem Schlacht-
den Nachrichten im Fernseher gelauscht hatte. Sie       feld. Ich kriege heute noch Gänsehaut, wenn ich
berichteten von einem Krieg, der unausweichlich         das erzähle. Mein Heimatdorf war nicht wiederzu-
schien. Unser kleines Heimatdorf Kozarac im Nor-        erkennen.
den Bosnien-Herzegowinas befand sich inmitten
der Teilrepubliken Kroatien, Serbien und Montene-
gro. Der Alltag wurde vom multikulturellen Aufein-      UNS WURDE VON DER STRASSE ZUGE-
andertreffen verschiedenster Nationalitäten und         RUFEN, DASS WIR FLIEHEN MUSSTEN.
Religionen geprägt: Bosnier lebten Seite an Seite
mit Serben und Kroaten. Symbolisch für das funkti-      Die Serben hätten uns eingekesselt und seien be-
onierende Zusammenleben war eine Moschee, die           reits vor den Toren der Stadt. Es ging alles sehr
mitten in der Stadt stand – einige Meter weiter folg-   schnell. Wir gingen los, ziellos liefen wir in eine
te eine christliche Kirche. Die Menschen lebten hier    Richtung – geradewegs in die Arme serbischer
in Einklang miteinander. Uns wurde schon von klein      Soldaten. Widerstand zu leisten war zwecklos. Die
auf die Prämisse gelehrt: « Einigkeit und Brüderlich-   Soldaten brachten uns zu einer riesigen Anlage.
keit ». Doch diese Welt begann mit den Kriegswirren     Es sah aus wie eine kleine Stadt, die von Stachel-
zu bröckeln. Das gegenseitige Misstrauen innerhalb      draht umringt war. Überall war Militär. Und beim
der Bevölkerung wuchs, Bevölkerungsgruppen ent-         Eingang las ich die Aufschrift « Trnopolje ». Ich sah
fremdeten sich. Es bildeten sich militante Gruppen,     vor mir eine riesige Menschenschlange, hunderte,
die abends durch das Dorf patrouillierten. Waffen       tausende Menschen standen in Reih und Glied an.
wurden gehortet. Auch der Schulunterricht wurde         Wir mussten uns dort anschliessen. Vorne ange-
auf unbestimmte Zeit abgesetzt. Ich verstand da-        kommen, wurden wir Häftlinge sortiert – hier Frau-
mals nicht wirklich, was da im Gang war – ledig-        en und Kinder, auf der anderen Seite die Männer.
lich meinen Eltern merkte ich die Anspannung an.        Es ereigneten sich schreckliche, herzzerreissende
Wegweisend war die Schliessung der Landesgren-          Szenen in diesem Moment. Familien wurden aus-
zen im Mai 1992. Ein- und Ausreisen war nicht mehr      einandergerissen und sahen sich teilweise nie
möglich. Serbien hatte mittlerweile bereits Kroatien    mehr wieder. Mit Bussen wurden wir zu einer alten
den Krieg erklärt. Es folgte ein Ultimatum der über-    Schule gebracht. Das karge Gebäude war zur Un-
mächtigen serbischen Armee: Bosnien sollte bis 12       terkunft für die Insassen des Lagers umfunktioniert
Uhr Mittags widerstandslos kapitulieren – ansons-       worden. Darin sollten wir die Nacht verbringen. An
ten würde das Feuer eröffnet werden.                    Schlaf war jedoch nicht zu denken. Der nackte Bo-
                                                        den war eiskalt, wir lagen eng aneinandergereiht,
                                                        Schulter an Schulter. Draussen wurden immer wie-
MEIN VATER HATTE IN DEN WOCHEN                          der Schüsse abgefeuert – psychischer Terror, um
ZUVOR BEREITS VORGESORGT.                               uns nicht schlafen zu lassen. Regelmässig öffneten
                                                        Soldaten die Türe, leuchteten uns mit Lampen ins
Neben unserem Haus hob er eine meterhohe Gru-           Gesicht und zerrten junge Frauen aus dem Zimmer.
be aus, rund 10 Meter tief. Der improvisierte Bunker    Gehört hat man nichts, aber jeder wusste, was folg-
wurde mit massiven Baumstämmen gedeckt und              te. Es sollte die erste Nacht von vielen werden. Eine
sollte uns vor feindlichen Geschossen etwas Schutz      grauenhafte Zeit.
bieten. Punkt 12 Uhr flog die erste Granate über
unsere Köpfe. Zwar schlug die Granate mit einiger
Entfernung ein, der Einschlag war aber deutlich zu      TRNOPOLJE WAR DIE HÖLLE.
hören. Ich geriet in Panik, mein Vater zog mich in
den Bunker. Es folgten zugleich meine Mutter und        Es handelte sich um ein Kriegsgefangenenlager
mein einjähriger Bruder. Mein Vater konnte nicht        der Serbischen Armee, primär wurden dort Frau-
bleiben. Er griff sich sein Gewehr und lief gerade-     en und Kinder gefangen gehalten. Andere Lager
wegs in die Richtung, aus der die Granate geflo-        waren auf männliche Insassen ausgerichtet. Alle
gen kam. Ich hatte panische Angst, das Gefühl lässt     Kriegsparteien unterhielten im Kriegsgebiet solche
sich kaum beschreiben. Es folgte ein riesen Donner-     Anlagen, in denen auch ethnische Säuberungen
wetter, das Bombengewitter kam näher und näher.         und Kriegsverbrechen verübt wurden. Schätzungen
Der Boden bebte förmlich. Sie feuerten mit Panzern      unabhängiger Organisationen zufolge wurden da-
und schweren Kalibern. Das ist ein Gefühl, das ich      mals in hunderten Internierungslagern rund 30 000
niemandem wünsche. Hätte es bei uns einge-              Menschen ermordet. Erst Monate später erfuhr die
schlagen, wäre es mit uns vorbei gewesen, das war       Weltöffentlichkeit von der Existenz solcher Lager. Im
mir bewusst. Das ging den ganzen Tag so weiter,         August 1992 wurde Trnopolje als erstes Lager von
stundenlang. Ich weinte endlos. Es war ein banges       internationalen Kriegsberichterstattern besucht.
Warten auf das Ungewisse. Abends musste ich auf         Die Bilder gingen um die Welt und wurden als end-
die Toilette. Meine Mutter hob mich aus dem Bunker      gültiger Beweis für das Bestehen solcher Lager ge-
raus. Es war bereits dunkel, ich musste mich erst       sehen. Das berühmteste Bild wurde unter anderem

24
“NOCH HEUTE
 VERFOLGT
 MICH DAS
 GERÄUSCH
 DER BOMBEN.”

Titelbild des TIME Magazines (siehe QR-Code). Es
zeigt meinen Cousin Fikret Alic, der ebenfalls mit
uns im Camp war. Erst Jahre später, wir waren be-
reits in der Schweiz, erkannte ihn mein Vater auf
dem Foto. Wir trauten unseren Augen kaum. Es ver-
gingen drei Monate. Und dann, eines Tages, wurden
wir mit anderen Insassen aus dem Camp heraus-
geführt. Vor uns sahen wir plötzlich Zugwaggons
stehen. Die Gleise führten ins Nichts. Niemand von
uns verstand, was passierte.

WIE TIERE WURDEN WIR IN DIE
WAGEN GEDRÄNGT.
Die Hitze im vollgestopften Zug war unerträglich.
An den Innenwänden hatten sie ein Gemisch aus
Kalk und Ammoniak angebracht, das die Luft aus-
trocknete und die Haut angriff. Dann setzten sich
die Waggons in Bewegung. Es gab keine Fenster,
die Bedingungen waren katastrophal. Nach einer
viertägigen, endlos langen Zugfahrt kamen wir in
der Stadt Doboj an. Wir wurden zu einer Brücke ge-
bracht, die über einen Fluss ragte. Die Soldaten
befahlen uns, über die Brücke zu laufen. Niemand
sagte uns, was da gerade vor sich ging.

                                                     25
Ich weiss noch genau, wie ich dicht neben meiner        stets mich zu beruhigen und sagte: « Es geht ihm
Mutter lief, mich an ihrem Kleid festklammerte. Wir     gut, ganz bestimmt. Irgendwo wartet er auf uns. »
mussten auf den Boden schauen. In all den Mo-           Und dann stand er plötzlich vor mir. Irgendwo in der
naten im Camp wurde uns das so eingetrichtert.          Schweiz, in einem beschaulichen Bahnhof in den
Den Soldaten durften wir nie in die Augen schauen.      Bergen, sah ich meinen Papa endlich wieder. Ich
Plötzlich wurden Stimmen lauter, und wir liefen ge-     rannte ihm entgegen, nahm ihn in den Arm. Und
radewegs in die Arme serbischer Soldaten. « Run-        dann schenkte er mir Schweizer Schokolade, daran
terschauen », wurde uns immer wieder gesagt. Ich        kann ich mich noch genau erinnern. Ein unglaub-
riskierte dennoch einen Blick, und sah zu meinem        lich schöner Moment.
Verblüffen das Abzeichen des bosnischen Militärs.
In dem Augenblick dachte ich, ich träume. « Mama! »
sagte ich, « das sind unsere Soldaten! » Sie schnauz-   DIESER AUGENBLICK DES WIEDERSE-
te mich jedoch nur an und sagte, ich soll ruhig sein.   HENS WAR UNBESCHREIBLICH.
Doch dann bemerkte auch sie, dass wir tatsäch-
lich von bosnischen Soldaten umgeben waren.             Heute lebe ich seit 27 Jahren in der Schweiz. Ich
Dieser Moment war unbeschreiblich. Ein Gefühl von       bin in diesem Land angekommen, fühle mich sehr
Sicherheit, fast schon eine innere Wärme, mach-         wohl hier. Auch was den Krieg und das Erlebte be-
te sich in mir breit. Beim Blick zurück sah ich eine    trifft, habe ich viel gelernt. Zu Beginn verspürte ich
Gruppe von Kriegsgefangenen, die mittlerweile bei       einen unvorstellbaren Hass gegenüber Serben. Das
den serbischen Soldaten angekommen war. Die-            war auch eine Folge der Kriegspropaganda. Tief in
ser Gefangenenaustausch auf der Brücke in Doboj         mir drin war diese blinde Ablehnung gegenüber
war für mich wie ein symbolischer Übertritt von der     Serben verwurzelt. Doch eine ganz spezielle Be-
Hölle in den Himmel. Natürlich, wir hatten immer        gegnung führte zu einem Umdenken. Ich war da-
noch grosse Sorge und die Zukunft war ungewiss –        mals 17 Jahre alt und gerade mit meinen Freunden
dennoch fühlten wir uns sicher. Wir wurden in eine      unterwegs. Ein Junge kam vorbei, er stellte sich als
Sporthalle in der benachbarten Stadt Zenica ge-         « Sascha » vor, anscheinend war er mit anderen aus
bracht. Neun Monate verbrachten wir in diesem           der Gruppe befreundet. Er machte einen freund-
Flüchtlingslager.                                       lichen Eindruck und machte die Runde. Als er mir
                                                        seine Hand entgegenstreckte, fiel ihm eine Hals-
                                                        kette mit dem serbischen Kreuz auf den Boden. In
ZWEIMAL TÄGLICH GAB ES REIS,                            diesem Moment kam dieser Hass in mir auf. Ich
JEDEN TAG DASSELBE.                                     sagte ihm, dass ich ihm nie die Hand geben werde
                                                        und er verschwinden soll – unverzüglich. Ich dachte,
Die Bedingungen waren sporadisch, aber im Ver-          ihn nie wiedersehen zu müssen. Kurze Zeit später
gleich zu den Monaten zuvor waren es Welten. Das        habe ich angefangen, bei einem regionalen Klub
Rote Kreuz kam sogar mal vorbei und verteilte Ge-       Fussball zu spielen. Als ich beim ersten Training
schenke und Essen. Einmal pro Tag heulten die           auf den Platz lief, sah ich diesen Typen wieder. So
Sirenen auf, dann mussten wir uns in den Bunker         spielten wir zusammen, mehrmals pro Woche. Ich
verkriechen. Es folgten die täglichen Bombardie-        war Innenverteidiger, er spielte im Mittelfeld direkt
rungen der serbischen Luftwaffe. Doch der Alltag im     vor mir. Schnell merkten wir: Das Zusammenspiel
Camp war den Umständen entsprechend gut. Nach           funktionierte kommentarlos. Wir verabredeten uns
neun Monaten schafften wir es mit Bussen, die re-       zum Fussballspielen in der Freizeit, wurden Freun-
gelmässig organisiert wurden, aus dem Camp her-         de. Eines Tages lud er mich zum serbischen Weih-
aus. Nach einigem hin und her kamen wir in Zagreb,      nachtsfest bei seiner Familie ein. Ich wusste nicht,
Kroatien, an. Wir wollten von Kroatien weg, wussten     wie ich darauf reagieren sollte, schliesslich war das
aber nicht wohin. In ganz Europa hatte es mittler-      ein wichtiger Tag für die Serben. Mein Vater sagte
weile Bemühungen verschiedener Länder gegeben,          mir aber, ich solle unbedingt gehen, solch eine Ein-
Flüchtlinge aufzunehmen. Wir erfuhren von einer         ladung sei eine grosse Ehre. Es spiele keine Rolle,
Liste, wo nach Familienangehörigen vermisster Per-      woher man komme – wir seien nun in der Schweiz.
sonen gesucht wurde. Meinen Vater hatte ich das         Die Familie nahm mich wunderbar auf, ich wurde
letzte Mal gesehen, als er aus dem Bunker stieg         wie ein Ehrengast behandelt. Es folgte unser Bajram
und Richtung serbische Armee stürmte. Das war           (Fastenbrechen, Anm. d. Red.), für uns ein äusserst
jetzt fast drei Jahre her. Und plötzlich stand da der   wichtiges Fest mit grosser Bedeutung. Ich lud ihn zu
Name « Alic ». Wir trauten unseren Augen kaum. War      unserem Familienfest ein. Endgültig war der Hass in
das tatsächlich möglich? Wir mussten uns auswei-        mir verflogen. Ich besuchte ihn sogar schon in sei-
sen, anschliessend nahmen wir Kontakt mit den Be-       ner alten Heimat in Serbien und er mich in Bosnien.
hörden auf. Mein Vater war schon seit einiger Zeit in   Niemals hätte ich geglaubt, das jemals zu sagen,
der Schweiz. Die Schweiz genehmigte innert weni-        aber heute bin ich stolz darauf: Sascha ist Serbe –
ger Tage unser Gesuch um Asyl und wir flogen mit        und Sascha ist mein bester Freund.
dem Flugzeug nach Zürich. In Chur erwartete uns
mein Vater bereits auf dem Perron. Diesen Moment
kann man nicht beschreiben, unmöglich. Über ein
Jahr hatten wir nichts voneinander gehört. Ich trug
während dieser ganzen Zeit immer ein Bild von
ihm eng an meiner Seite. Meine Mutter versuchte

26
“SASCHA IST
 SERBE – UND
 SASCHA IST
 MEIN BESTER
 FREUND.”  27
28
“Dass wir
 beide von
 Bosnien
 kommen,
 ist unser
 Sahne-
 häubchen.”

          29
Elvis (37) und Edita (35) Alic
     flohen vor dem Krieg aus
     Bosnien in die Schweiz.
     Hier mussten sie sich gegen
     Vorurteile behaupten und
     lernen, was es heisst, eine
     Chance zu nutzen. Mit ihren
     Töchtern feiern die beiden
     Bajram und Weihnachten –
     wieso auch nicht?

     Edita, Elvis: Wie habt ihr euch
     kennengelernt?
     Edita: Das war vor 14 Jahren in
     Ems. Ich arbeitete in einer Bank
     am Schalter. Elvis lief in die
     Filiale – und als ich ihn erblick-
     te, wusste ich sofort, dass er für
     mich etwas Besonderes ist. Fast
     schon etwas kitschig, aber es
     war tatsächlich Liebe auf den
     ersten Blick. Er kam dann immer
     wieder in die Filiale, so kamen
     wir ins Gespräch. Seit 2008 sind
     wir ein Paar, 2017 kam unsere
     erste Tochter Alea zur Welt.

     “Es war wie
       Liebe auf den
       ersten Blick.
       Als er zur Tür
       hinein kam,
       wusste ich:
       Das ist er.”
     Wie habt ihr reagiert,
     als ihr erfahren habt, dass die
     andere Person auch als
     Bosnien kommt?
     Edita: Als ich das erfuhr, habe
     ich mich natürlich enorm
     gefreut. Mir spielte die Nationali-
     tät eigentlich keine Rolle, meine
     Familie ist sehr durchmischt.
     Aber als ich wusste, dass er
     auch von Bosnien ist, hat sich
     das wie ein Teil Heimat ange-
     fühlt. Es war sehr vertraut.

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was dazugehört: Wir schmücken
                                      einen Baum, erzählen Weih-
War es wichtig für euch das           nachtsgeschichten. Auch das        Ist es eine Art zurückge-
die andere Person von Bosnien         ist uns sehr wichtig. Ich möchte   ben, was ihr damals von der
kommt?                                dies meinen Kindern auf den        Schweiz erhalten habt?
Elvis: Für mich war es wichtig,       Weg mitgeben – es ist eine         Edita: Ja, genau. Das, was die
da bin ich ganz ehrlich. Durch        enorme Bereicherung, wenn          Schweizerinnen und Schweizer
den Krieg und das Erlebte fand        man zwei Kulturen so erlebt.       für uns getan haben, lässt sich
ich es von Vorteil, jemanden                                             nicht in Worte fassen. Ein Danke
zu finden, der mich versteht.                                            reicht schlicht und einfach nicht
Ich sagte mir schon immer:
Irgendwann werde ich eine
                                      “Für uns war                      mehr aus.

Bosnierin heiraten.
Edita: Bei mir war es mehr ein
                                        immer klar,                      Elvis, wie war die Europäische
                                                                         Flüchtlingskrise für dich?
« Nice to have ». Ich wusste zu
Beginn auch nicht, woher er
                                        dass wir                         Elvis: Ich konnte mich in die
                                                                         Menschen hineinfühlen.
kam – es hat aber auch so
gefunkt. In vielen Situationen ist
                                        mehr machen                      Ich wusste genau, wie sie sich
                                                                         fühlen und was auf sie zukommt.
es sicherlich hilfreich, da wir
die gleiche Mentalität haben
                                        müssen als                       Ich dachte, jetzt gibt es schon
                                                                         wieder so viel Leid auf der Welt.
und uns oft gar nicht                   normale                          Nach dem Zweiten Weltkrieg
absprechen müssen.                                                       haben wir gesagt: Nie wieder.
                                        Schweizer                        1990 im Bosnienkrieg passierte
Wenn man euch im Ausland
                                        Kinder.”
                                                                         es wieder, und wieder hiess es:
fragt, woher ihr kommt, was                                              Nie wieder. Es ist ein Teufelskreis.
sagt ihr?
Beide: Aus der Schweiz.                                                  In deiner Autolackiererei hast
Elvis: Wenn es um Gefühle und         Ihr seid beide vor dem             du vor einem Jahr einen
Emotionen geht, dann bin ich          Bosnienkrieg geflohen. Was         syrischen Flüchtling einge-
klar der Bosnier. Zum Beispiel        löst das in euch aus, wenn         stellt - wie kam es dazu?
wenn wir streiten, spreche ich oft    ihr im Fernseher Bilder von        Elvis: Bei meinem Cousin
in meiner Muttersprache. Aber         Flüchtlingen seht?                 absolvierte er ein Praktikum.
in Sachen Pünktlichkeit und           Edita: Für mich sind solche        Er hatte ihn mir empfohlen
Leistung bei der Arbeit tendiere      Momente unglaublich emo-           und meinte, ich solle ihm eine
ich zum Schweizer. Ich bin            tional, gerade auch weil ich       Chance geben. Die Erfahrungen
mittlerweile fast pünktlicher als     die Geschichte von Elvis ken-      sind seit dem ersten Arbeitstag
die Schweizer (lacht).                ne. Seine Geschichte hat mich      ausschliesslich positiv. Er ist
Edita: Bei mir sieht das ähnlich      sehr mitgenommen, wir haben        sehr pünktlich, gibt stets sein
aus. Auch ich habe beide Seiten       oft zusammen geweint und ich       Bestes und ist sehr engagiert.
in mir und davon profitiere ich       wusste, was er durchgemacht        Man merkt, dass er dankbar für
schlussendlich. Das versuchen         hat und wie hart es war. Wenn      die Chance ist. Und mir macht
wir auch unseren Kindern              man ein empathischer Mensch        das auch eine Riesenfreude.
weiterzugeben.                        ist und das Leiden dieser
                                      Menschen sieht, dann möchte
Wie muss man sich das vor-            man am liebsten dorthin reisen
stellen, wenn die Kinder mit          und helfen. Während der Flücht-
beiden Kulturen aufwachsen?           lingskrise 2015 war es dann sehr
Elvis: Wir erziehen unsere Kinder     extrem. Ich wollte unbedingt
zweisprachig, wobei wir aber          helfen, irgendwie. Elvis und ich
schon deutlich mehr Schwei-           wollten damals eine Flüchtlings-
zerdeutsch mit ihnen sprechen.        familie bei uns aufnehmen. Die
Schon nur, weil ich mit Edita         Anforderungen für einen Unter-
Schweizerdeutsch spreche.             halt waren für uns mit zwei
Edita: Seit wir Kinder haben,         kleinen Kindern nicht zu
wird mir das Pflegen von Tradi-       stemmen – doch wir spenden
tionen wichtiger. Der Ramadan         regelmässig Geld und
ist ein grosses Fest, da feiern wir   engagieren uns wo wir können.
zusammen Bajram (Fastenbre-
chen, Anm. d. Red.) Solche Feste
möchte ich ausgiebig feiern,
das sind schöne Momente mit
der Familie. Aber genauso feiern
wir auch Weihnachten, mit allem

                                                                                                         31
Was denkt ihr, was brauchst
es für eine gute Integration?        Elvis: Meiner Meinung nach gibt
Edita: Dies ist eine schwierige      es am Anfang Vorurteile, das
Frage, wir hatten es sehr einfach.   ist normal. Es gilt für uns, die
Wir wurden von den Menschen          Leute mit unserer Leistung und      Edita: Meine Eltern sagten stets,
sehr gut aufgenommen.                Persönlichkeit im Gespräch zu       ich muss für einen 10er lernen,
Heute ist das Verständnis in der     überzeugen. Und das funktio-        um einen 6er zu bekommen.
Bevölkerung anders: Viele            niert. 95 % meiner Kunden sind      Und das hat mir eingeleuchtet.
kennen fremde Kulturen nicht         Schweizer. Meine Lackiererei        Ich war neu hier, musste mich
und wollen sie auch nicht            trägt den Namen « Elvis Alic        noch etablieren und mehr
kennenlernen. Dieses Unwissen        Lackiererei » – und zwar bewusst.   leisten. Das war so akzeptiert,
schafft eine gewisse Distanz         Ich wollte meinen Namen und         schon früh.
zwischen den Menschen. Ich           meine Herkunft nicht verstecken.
versuche bereits jetzt unseren       In der Schweiz kriegst du deine     Wofür seid ihr dankbar?
Töchtern beizubringen, dass es       Chance, wenn du deine Sache         Edita: Ich bin jeden Morgen
verschiedene Kulturen,               gut machst.                         dankbar. Dankbar für das Leben,
Kontinente, Hautfarben und so        Edita: Ich finde die Schweiz ist    das ich hier in der Schweiz
weiter gibt. Vielleicht wäre dies    im Vergleich zu anderen             führen kann. Und dankbar, dass
ein Lösungsansatz: Von klein auf     Ländern sehr sozial. Der Rassis-    mir die Schweizer ein solches
einen bewussten Umgang mit           mus in Bosnien und in anderen       Leben ermöglicht haben. Sie
verschiedenen Kulturen zu            Ländern ist viel grösser als hier   haben mir ermöglicht, dass ich
lehren. Aber ich finde, die          in der Schweiz. Die Menschen        studieren kann, dass ich eine
Schweiz macht eigentlich schon       geben dir eine Chance, man          Arbeit habe, mich weiterbilde.
sehr viel für Integration.           muss sie nur nutzen. Jeder, der     Elvis konnte eine Firma gründen,
                                     sagt, ich habe die Stelle nicht     zusammen haben wir zwei
                                     erhalten, weil ich ein « –ic »      wunderbare Töchter.

“Meiner                             bin, lügt. Das stimmt einfach
                                     nicht – die Leistung war nicht
                                                                         Elvis: Trotz unserer Herkunft,
                                                                         trotz der Stolpersteine, haben
 Meinung                             ausreichend, Punkt.                 wir es geschafft. Dafür bin ich
                                                                         enorm dankbar.
 nach gibt es
                                     “In der Nacht
 am Anfang
                                       wachte Elvis
 Vorurteile,
                                       immer wieder
 das ist
                                       auf und schrie
 normal.”
                                       und weinte.”
Habt ihr Rassismus erlebt?
Edita: Durch unseren Nach-           Denkt ihr, ihr musstet mehr
namen « Alic » gibt es glaube        machen als ein Schweizer,
ich schon oft Vorurteile, die sich   damit eure Leistung
über die Jahre in den Köpfen der     anerkannt wird?
Leute festgesetzt haben. Wenn        Elvis: Ja, das ist möglich.
dann mal ein blöder Spruch fällt,    Unsere Eltern haben uns gesagt,
tut das weh und macht einen          dass wir mehr machen müssen,
wütend. Am Anfang haben              damit wir gleichgestellt werden.
einige Kunden in der Bank            Aber das ist auch in Ordnung.
distanziert reagiert, aber           Wie gesagt, du erhältst hier
dies hatte auch mit meinem           eine Chance – du musst sie
Alter, Geschlecht und Aussehen       nur nutzen.
zu tun. Aber nach dem ersten,
zweiten Gespräch war das
Eis gebrochen.

32
33
Eritrea
34
Eritrea gehört zu
den ärmsten Ländern
der Welt – mit
Einparteiensystem,
Diktatur und
Repression.
Der allgemeine
Wehrdienst mit
unbegrenzter Dauer
ist symbolisch für
die Umstände im
Land. Eine Besserung
der Lage ist nicht in
Sicht.                  35
In Eritrea war mein Papa praktisch    wenn wir in der Stadt waren, gab    Zeit weg. Also verabschiedete
nie Daheim. Er musste ins Militär,    es überall viele schwer bewaff-     ich mich von meinen Grosseltern
wie alle Männer und Frauen. Ich       nete Soldaten. Einmal kam die       und meiner Tante. Traurig war
habe gehört, dass man hier in         Polizei zu uns nach Hause. Sie      ich nicht, wir würden ja bestimmt
der Schweiz nach einigen Mo-          fragten uns, wo mein Papa sei.      bald wiederkommen. Wir stie-
naten Militärdienst wieder nach       Vor einigen Tagen war er wieder     gen in einen Bus, dann ging es zu
Hause darf. Bei uns ist das nicht     abgereist – uns sagte er, er wür-   Fuss weiter. Es war bereits dunkel,
so. Am Anfang sagte man uns, er       de zurück ins Militär. Scheinbar    als wir bei einem grossen Wald
würde nach eineinhalb Jahren          kam er aber nie dort an. Aber wir   ankamen. « Auf der anderen Seite
zu uns zurückkommen. Aber fast        wussten auch nicht, wo er war.      befindet sich Äthiopien », sagten
alle Männer kehren jahrzehnte-        Vom einen auf den anderen Tag       uns andere Leute. Dies war unser
lang nicht mehr zu ihren Familien     war er verschwunden.                Ziel. Der endlose Wald war düster
zurück. Das ist normal in Eritrea.                                        und machte mir Angst. Wir lie-
Nur ab und zu kam Papa für ein                                            fen geradewegs hinein. Plötzlich
paar Wochen nach Hause. Zwar          Wir hörten nichts mehr              hörten wir Stimmen. Soldaten
war mein Papa nie daheim, an-         von meinem Papa.                    kamen auf uns zu. Wir standen
sonsten hatte ich aber eine rela-                                         wie angewurzelt da. Beinahe
tiv sorglose Kindheit. Ich ging zur   Meine Mama erklärte mir immer       kommentarlos befahlen sie uns,
Schule und hatte viele Freunde.       wieder, wie schwer die Situation    mitzukommen. Sie führten uns zu
Mit ihnen spielte ich vor unserem     in Eritrea für eine alleinerzie-    einem riesigen Flüchtlingscamp.
Haus oft mit Barbies. Ich lebte       hende Mutter sei. Einen Job zu      Es gab dort fast nur Baracken,
dort mit meiner Mama und mei-         finden und für die Familie selb-    keine richtigen Häuser. Alles
ner kleinen Schwester. Manchmal       ständig aufzukommen, sei prak-      sah sehr heruntergekommen
hörte ich von weit weg Explosio-      tisch unmöglich. Eines Tages war    aus. Die Menschen darin hatten
nen und Schüsse. Erst hatte ich       ich draussen am Spielen. Meine      einen traurigen Blick. Um die An-
Angst, meine Mama erklärte mir        Mama kam zu mir und sagte:          lage waren viele hohe Zäune ge-
aber, dass dies nur eine Übung        « Wir müssen gehen. » Ich dach-     spannt. Und draussen standen
sei. Sie übten aber sehr viel. Auch   te, wir würden nur für eine kurze   Soldaten, die alles bewachten.

                Aufbruch
                 ins Nichts
Hier mag ich die Schule mehr als Zuhause. Man lernt
viele verschiedene Sprachen. Mehr als in Eritrea.
Und auch den Sportunterricht finde ich toll. Obwohl
vieles anders ist, fühle ich mich hier wohl. Sogar
Schweizerdeutsch verstehe ich mittlerweile. Und das,
obwohl ich eigentlich nie von Zuhause weg wollte.

                                                                                                        37
38
“Ich war
 doch noch
 ein Kind.”

              39
Ich hatte so etwas noch nie ge-       es keine Menschenseele weit und
sehen. Es war monströs. Ich hörte     breit, geschweige denn Strassen
jemanden sagen, dass dort über        oder Ähnliches. Wir waren eine
20 000 Menschen wohnen. Wir           Gruppe, die anderen Leute woll-
erhielten eine Unterkunft, die wir    ten auch nach Libyen. Und dann
mit anderen teilen mussten. Sie       waren da noch andere Männer,
bestand aus Steinen und Bla-          die uns sagten, wo wir durch-
chen. Meine Mama sagte mir,           gehen mussten. Ihnen mussten
dass wir vorerst hier bleiben wür-    wir Geld bezahlen. Ich mochte
den. Für die nächsten acht Mo-        diese Männer nicht. « Schneller!
nate war das unser Zuhause. Ich       Vorwärts! » riefen sie uns immer
ging in eine Art Schule, spielte      wieder zu. Wenn jemand zurück-
viel mit anderen Kindern. Es ging     blieb, der prallen Sonne nicht
mir nicht schlecht, aber ich ver-     mehr standhielt, liessen sie ihn
stand nicht wirklich, weshalb wir     einfach zurück.
nicht mehr Zuhause waren. Nach
einigen Monaten durften wir wei-
                                      Nach einigen Tagen
terreisen. Wir hatten es bereits
einmal versucht, doch weil wir        kamen wir schliesslich
keine gültigen Dokumente hat-         in Libyen an.
ten, wurden wir wieder zurück-
geschickt. Meine Mama sagte           Wir wurden an einen Ort geführt,
mir, dass wir zu meiner Tante in      der aussah wie ein Gefängnis:
den Sudan gehen würden. Auf           Hohe Mauern, drinnen gab es nur
dem Weg erlebten wir viele ge-        einen grossen, kargen Raum. Und
fährliche Momente. Einmal muss-       draussen versteckte sich ein win-
ten wir nachts einen hohen Zaun       ziger Innenhof. Man sah von dort
überqueren.                           zwar den Himmel, aber überall
                                      waren meterhohe Mauern. Frei
                                      bewegen durften wir uns nicht.
Plötzlich hörten wir
                                      Das « Camp » durfte nur verlas-
Schüsse, die ganz nah                 sen, wer Geld bezahlen konnte.
an uns vorbeischossen.                In diesem grossen Raum waren
                                      sehr viele andere Leute. Sie ka-
Es war damals sehr knapp, na-         men von überall her. Wir schlie-
türlich hatte ich grosse Angst.       fen dort wie Sardellen, Schulter
Ich versuchte in solchen Situa-       an Schulter. Einige, so erfuhren
tionen immer, an etwas anderes        wir, waren bereits über ein Jahr
zu denken, mich abzulenken. Ob-       lang dort und durften nicht weg.
wohl das natürlich meistens nicht     Zu Essen gab es monatelang nur
funktionierte. Ich war ja schliess-   Nudeln mit nichts – kein Salz, kein
lich erst 10 Jahre alt. Und einmal    Gemüse, keine Sauce. Es war al-
mussten wir einen reissenden          les, das wir kriegten. Sanitäre
Fluss durchqueren. Niemand            Anlagen gab es praktisch keine,
von uns konnte schwimmen. Das         geschweige den Medikamente.
Wasser war eiskalt und kam mir        Es verbreiteten sich immer wie-
bis zum Hals. Die Strömung riss       der Krankheiten. Viele Menschen
mich immer wieder von den Bei-        sind daran gestorben.
nen, ich musste mich an meiner
Mutter festhalten. Schliesslich ka-
men wir bei meiner Tante im Su-       Unsere Aufpasser
dan an. Einige Wochen waren wir       zogen die toten
dort, dann ging es weiter Rich-
                                      Menschen einfach
tung Libyen. « Libyen », hörte ich
meine Mama sagen, « ist das Tor       reglos an uns vorbei
zu Europa. » Wenn wir es bis dort     nach draussen.
schaffen würden, war unser Ziel
zum Greifen nah. Ich erfuhr das       Ich hatte zuvor noch nie einen
erste Mal, wohin wir eigentlich       toten Menschen gesehen und
wollten. Von Khurtan, der Haupt-      dort sah ich dann ganz viele auf
stadt Sudans, ging es auf der La-     einmal. Die Leute, die lange kein
defläche eines Lastwagens weiter      Geld bezahlt hatten, wurden im-
Richtung libysche Grenze. Das         mer wieder nach draussen ge-
gesamte Gebiet ist eine karge,        zerrt und geschlagen. Das war
riesige Wüste. Kilometerweit gibt     die schwierigste Zeit auf der Rei-

40
se. Nach einem halben Jahr durf-                                             hier waren wir wieder in ver-
ten wir diesen schrecklichen Ort                                             schiedenen Camps. Aber nach
endlich verlassen. Man brachte                                               einigen Wochen durften wir eine
uns mit ein paar anderen Leu-                                                eigene, richtige Wohnung bezie-
ten in einen Lastwagen. Es war                                               hen. Nach unserer endlos langen
bereits dunkel. Wir sahen nichts,                                            Flucht sind wir endlich angekom-
durften weder sprechen noch                                                  men.
sonst irgendeinen Laut von uns
geben. Ich hatte trotzdem ein
                                                                             Zwei Jahre lang
gutes Gefühl, weil wir endlich von
dort weg waren. Stundenlang                                                  haben wir uns
fuhren wir durch die Nacht. Dann                                             durchgekämpft.
ging es zu Fuss weiter. Ich hörte,
wie das Geräusch von Wellen                                                  Trotzdem beschäftigen mich
immer näher kam.                                                             noch viele Sachen. Mit meiner
                                                                             Familie in Eritrea kann ich nur
                                                                             einmal pro Monat kurz telefonie-
Auch der salzige
                                                                             ren. Ich habe sie vor sechs Jah-
Meergeruch wurde                                                             ren, am Tag des Abschieds, das
intensiver.                                                                  letzte Mal gesehen. Ich vermisse
                                                                             sie sehr. Von meinem Vater ha-
Ich sah gerade, wie einige Män-                                              ben wir praktisch nie mehr etwas
ner dabei waren, zwei Boote auf-                                             gehört. Im Camp in Libyen hatten
zupumpen. Es waren zwei kleine                                               wir kurz telefoniert. Anscheinend
Gummiboote, vielleicht 20 Me-                                                wollte er nicht zurück ins Militär
ter lang. Mit uns standen sicher                                             und ist nach Israel geflohen. Das
300 Leute am Strand. « Da sollen                                             war vor vier Jahren. Wo er heu-
wir alle drauf? » dachte ich mir.                                            te ist, weiss niemand. Hier in der
Viel Zeit, uns Gedanken zu ma-                                               Schweiz gefällt es mir gut. Man
chen, hatten wir nicht.                                                                kann hier sicher leben,

                              “Wohin
Um 2 Uhr morgens be-                                                                   ohne Angst. Aber meine
fahlen sie uns, in die                                                                 Mama hat gesagt, dass
Boote einzusteigen. Wir                                                                wir anscheinend nicht
alle schauten in die-                                                                  hier bleiben dürfen. Ich
se Dunkelheit, die einen                                                               verstehe nicht genau,

                             gehen wir
förmlich auffrass. Es war                                                              weshalb. Wir haben ei-
ein Aufbruch ins nichts.                                                               nen zweiten negativen
Alle Taschen und Ruck-                                                                 Asylbescheid erhalten –
säcke mussten wir zu-                                                                  bis im September 2021

                               jetzt?”
rücklassen. Wir stiegen,                                                               dürfen wir noch bleiben.
nur mit unseren Kleidern                                                               Aber wir wissen nicht,
am Leib, in das wackeli-                                                               wohin wir nachher ge-
ge Boot. Es wurde enger                                                                hen sollen. Ich würde
und enger. Meine Füsse                                                                 gerne bleiben. Mittler-
wurden richtiggehend                                                                   weile habe ich hier ein
eingequetscht. Der Wind misch-         ein zweites, grösseres Schiff. Sie    neues Zuhause gefunden. Gehe
te sich zu den eiskalten Tempe-        holten einen nach dem anderen         zur Schule und habe gute Freun-
raturen. Das Wasser schwappte          auf das Boot. Wir erhielten etwas     de. Und ich verstehe sogar, was
immer wieder ins Innere. Immer         zu Essen und trockene Kleider.        die anderen Kinder auf Schwei-
wieder mussten sich Leute über-        Ich war so erleichtert. Nach ei-      zerdeutsch sagen. Durch all die
geben, der beissende Gestank           nigen Stunden Fahrt erreichten        Länder, in denen ich war, kann
lag in der Luft. So steuerten wir in   wir die Küste Siziliens. Ich betrat   ich viele Sprachen sprechen:
dieses schwarze Nichts. Bereits        zum ersten Mal europäischen           Äthiopisch, Arabisch, Tigrinya,
nach einigen Minuten verloren          Boden. Auch meine Mama war            Türkisch, Französisch, Italienisch,
wir das andere Boot aus den Au-        sichtlich erleichtert. Wir wurden     etwas Englisch und Deutsch. In
gen. Wir trieben stundenlang auf       zu einem Flüchtlingscamp ge-          der Schule gebe ich mir Mühe,
dem Meer. Dann, bei Tagesan-           bracht. Es war ein schönes Ge-        ich möchte viel lernen. Das ist
bruch sah ich am Horizont plötz-       fühl, denn dort durften wir uns       auch wichtig für meine Zukunft.
lich die Umrisse eines Schiffs. Es     endlich wieder frei bewegen. Ich      Mein Traumberuf ist nämlich Ärz-
war die italienische Marinepolizei,    konnte sogar zur Schule gehen.        tin oder Polizistin. Wieso? Weil ich
die sich uns rasch näherte. Hät-       Nach einigen Monaten mussten          dann anderen Menschen helfen
ten sie uns nicht gefunden, wä-        wir weitergehen. In Italien hatten    kann.
ren wir wahrscheinlich ertrunken       sie keinen Platz für uns. So gingen
– das war auch mir bewusst. Eini-      wir weiter in die Schweiz, da mein
ge Minuten später erreichte uns        Onkel bereits hier wohnte. Auch

                                                                                                            41
42
Die Kunst,

alles   Für Kiflay Mengestabe (28)
        war Mittelmass niemals eine
        Option. Der passionierte Läufer
        vereint Ehrgeiz und Wille – bei
        der Betreuung von ambitiösen
        Projekten und auf der Laufbahn.
        Ein Gespräch über Bestzeiten,
        Frühaufsteher und den Drang,
        der Gesellschaft etwas
        zurückzugeben.

zu geben                            43
Es ist ihm schon fast unangenehm, darüber zu              Sein Ehrgeiz verleitete ihn zu ungewöhnlichen
sprechen. « Ja, in der Schule war ich meist Klassen-      Mitteln: « Mir war bewusst, dass die Sprache der
bester. Ich war stets ein vorbildlicher Schüler », er-    Schlüssel für alles weitere war. Also investierte
innert sich Kiflay Mengestabe an seine Schulzeit in       ich entsprechend viel Zeit darin. Ich hatte jedoch
Eritrea zurück. Vor allem Mathe lag ihm, aber auch        den ganzen Tag Schule, nachmittags standen die
für Sprachen interessierte er sich. Schrieb er keine      Hausaufgaben an und abends hatte ich Fussball-
Bestnoten in der Schule, fand man ihn stets draus-        training. Also stand ich täglich um 4 Uhr morgens
sen an. Er war schon seit jeher bewegungsfreudig,         auf und lernte für einige Stunden. » Sein Plan ging
rannte rum und spielte mit seinen Freunden: « Ich         auf. Täglich verbesserten sich seine Deutschkennt-
war immer ein aktives Kind, hatte einen Bewe-             nisse, nach ein paar Monaten las er bereits prob-
gungsdrang, den ich in unserem Quartier gut aus-          lemlos Kinderbücher auf Deutsch.
leben konnte. Und Sport interessierte mich sowieso
schon immer. » Mit seinen Eltern wohnte Kiflay am
Stadtrand. Eine schöne Kindheit sei es gewesen –          Seine guten Leistungen in der
doch auch dort war die verstrickte politische Situa-      Schule öffneten ihm weitere Türen.
tion Eritreas spürbar.
                                                          Er schloss erfolgreich eine Polymechaniker-Lehre
                                                          ab, anschliessend studierte er Maschinenbauin-
Eritrea ist ein autoritärer Staat,
                                                          genieur an der Fachhochschule. Seinen Traum, In-
zählt zu den undemokratischsten                           genieur zu werden, erreichte Kiflay – doch das war
Regimen der heutigen Zeit.                                ihm nicht genug. « Natürlich war ich zufrieden. Es
                                                          fühlt sich so an, wie wenn man im Sport einen wich-
Ein zentraler Machtapparat der Regierung ist das          tigen Wettkampf gewinnt », erklärt Kiflay, « doch ich
Militär, zu dem jeder Bürger seinen Teil beizutra-        interessierte mich auch für andere Dinge. » Sein Ta-
gen hat. Auch Kiflays Vater, Inhaber eines erfolg-        tendrang führt ihn zu einer Firma, die sich auf Inno-
reichen Geschäfts in der Hauptstadt, wurde für die        vationsarbeit spezialisiert hat. Hier findet Kiflay neue
Armee einberufen. Eine festgelegte Mindestdauer           Möglichkeiten, sich zu entfalten. Er betreut mehre-
gibt es nicht, entsprechend sind die Folgen für die       re Projekte, ist an immer neuen Ideen beteiligt. In
Familie. Seine Mutter hatte Jura studiert, mit dem        seinem Alltag unterstützt er beispielsweise Unter-
Ziel, im Land Gerechtigkeit und Ordnung sicher-           nehmen dabei, Visionen zu entwickeln und Innova-
zustellen. Sie haderte jedoch mit der alltäglichen        tion aktiv in ihrem Geschäftsalltag unterzubringen.
Korruption in Eritreas Rechtssystem. Die Eltern ent-      Und das neueste Herzensprojekt ist ein Startup, bei
schieden sich 2002 zu einem drastischen Schritt           dem er an vorderster Front mitwirkt: « Ein Startup
und flüchteten aus Eritrea. Kiflay blieb bei Bekann-      aufzubauen, war schon immer ein Traum. Selbst-
ten zurück, mit dem Ziel, ihn möglichst rasch nach-       verständlich möchte auch ich eines Tages ein ei-
zuholen. Doch der Kontakt brach ab, Kiflay war auf        genständiges Startup gründen, Schliesslich kann
sich alleine gestellt. In Eritrea hielt ihn nicht viel.   man sich dabei voll entfalten, das liegt mir. » Er-
Mit 13 Jahren gelangte er mit einem Schlepper in          folg in seiner Karriere sei ihm wichtig – persönliche
den Nachbarstaat Sudan. Er war alleine in einem           Entwicklung und Entfaltung liege jedoch an erster
fremden Land, verbrachte dort neun Monate und             Stelle: « Lebensfreude ist mein Antrieb. Ich mache
musste früh erwachsen werden. « Was ich dort er-          täglich das, was ich wirklich machen möchte – wa-
lebt habe, wünsche ich keinem anderen Menschen.           rum sollte ich dort sparen? Es gibt mir Energie, wenn
Ich war komplett auf mich alleine gestellt. Das war       ich solche Projekte mit viel Herzblut angehen kann. »
hart », erinnert er sich zurück. Nach einer gefühlten     Und auch die Motivation, Grosses zu leisten, ist tief in
Ewigkeit konnte er schliesslich mithilfe eines Unicef-    ihm verwurzelt. Der Anspruch ist hoch – und das sei
Büros den Kontakt zu seinen Eltern aufnehmen. Sie         auch gut so: « Ich persönlich finde es anstrengen-
waren mittlerweile in der Schweiz. Hilfswerke stell-      der, nur mittelmässig zu sein. » Nur Mittelmass, das
ten den Kontakt her, kurze Zeit später sass er im         ist für Kiflay auch im Sport keine Option. Seit jeher
Flieger Richtung Genf. Nach fünf Jahren bangen            schon mag er den Wettkampf. der Sport gibt ihm
Wartens sah er seine Eltern das erste Mal wieder:         die Möglichkeit, sich zu entfalten. Über Schulfreun-
« Das war natürlich sehr emotional, ein unglaub-          de findet er den Weg in einen lokalen Fussballclub.
licher Moment. Ich war erleichtert, wieder bei ih-        Schnell merkt er jedoch, seine wahre Leidenschaft
nen zu sein. » Fortan lebt Kiflay in Büren nahe Biel      gehört dem Laufen. So beginnt er zu trainieren, lan-
bei seinen Eltern. Viel Zeit wollte er nicht verlieren,   det schliesslich beim angesehenen TV Länggasse
schliesslich hatte er einiges vor: Er wollte unbedingt    Bern. Rasch steigt er zu den Spitzenathleten des
weiter lernen, ein Studium abschliessen und dann          Vereins auf. Erste Erfolge lassen sich feiern: Er ver-
Pilot oder Ingenieur werden. Das war sein Traum           bessert seine persönliche Bestzeiten und startet
– dafür war eine gute Ausbildung essentiell: « Zwei       an den Schweizermeisterschaften. « Ich bin davon
Wochen nach meiner Ankunft in der Schweiz fing            überzeugt », erklärt Kiflay, « dass der Mensch einen
ich mit der gewöhnlichen Schule an. « Ich konnte es       gewissen Bewegungsdrang ausleben sollte. Ge-
selbst kaum glauben, war aber unglaublich dank-           rade für mich persönlich ist das wichtig, um vom
bar. » Ohne jegliche Deutschkenntnisse arbeitete er       mental sehr fordernden Job-Alltag abzuschalten. »
sich hoch, legte eine bemerkenswerte Entwicklung          Wer denkt, dass in Kiflays vollem Terminplan der
zurück. Mit Händen und Füssen verständigte er sich        Sport nur eine Randnotiz ist, liegt falsch. In seinen
mit Klassenkameraden und dem Lehrpersonal.                vollen Alltag packt Kiflay täglich ein bis zwei Einhei-

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