DER MITTLERE WEG eine diplomatische Gratwanderung - Ausgabe4|2014 3EUR Tibet Initiative Deutschland e.V.
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Ausgabe 4 | 2014 3 EUR Brennpunkt Das Magazin der Tibet Initiative Deutschland e.V. DER MITTLERE WEG eine diplomatische Gratwanderung Brennpunkt Tibet 4 | 2014 1
DIE KALENDER 2015 SIND DA! Jetzt im Tibet Online Shop bestellen Wandkalender 2015 Bestellungen online: www.tibet-online-shop.de Format 30 x 30 cm | 12,95 EUR * Oder gerne auch telefonisch bei Iris Fricke unter * Preise inkl. MwSt. zzgl. Versand. Wandkalender mit weiteren Motiven sind ebenfalls bei uns erhältlich. 030 – 42 08 15 32 montags und mittwochs Alle Kalender wurden in der EU auf zertifiziertem umweltfreundlichem Papier gedruckt. von 9 bis 12 Uhr. Wir freuen uns auf Ihre Bestellung! Sie unterstützen damit unsere Arbeit für ein selbstbestimmtes Tibet.
editorial der bekannte Bürgerrechtler Hu Jia stellt in einem Interview fest: „Ich weiß nicht, ob die KPCh dumm ist oder vorsätzlich unbarmherzig. Sie haben ein Feuer entzündet.“ Hintergrund dieser Aussage ist die Verurteilung des bekannten uiguri- schen Regimekritikers Ilham Tohti zu einer lebenslangen Haftstrafe. Als einer der wenigen bekannten Intellektuellen seines Landes setzt er sich öffentlich dafür ein, dass Ost-Turkestan ein Teil Chinas bleiben und einen Autonomiestatus bekommen soll. Ebenso thematisierte Tohti die rechtlichen und kulturellen Missstände in sei- nem Land. Ihm ging es nie, wie Rebiya Kadeer, der Vorsitzenden des Weltkongres- ses der Uiguren, um Loslösung von China, sondern um eine Versöhnungspolitik zwischen Uiguren und Chinesen. Mit der Verurteilung Tohtis gießt die chinesische Regierung weiter Öl ins Feuer und gibt den radikalen Kräften Auftrieb. Auch der Mittlere Weg des Dalai Lama wird seit Jahren bewusst fehlinterpretiert. Immer und immer wieder werden der Dalai Lama und die tibetische Exilführung als Separatisten bezeichnet, die eine Abspaltung Tibets von China vorantreiben würden. Da kann der Dalai Lama noch so oft betonen, wie zuletzt bei unserer Jubiläumsveranstaltung in Hamburg, dass der Mittlere Weg, nämlich eine Auto- nomielösung für Tibet innerhalb Chinas, der einzig gangbare Weg zur Lösung der Tibetfrage ist. Kein Wunder also, dass sich nun auch unter Tibetern zunehmend kritische Stimmen zur Politik des Mittleren Weges finden, denn faktisch hat sich trotz aller diplomatischen Bemühungen in den letzten Jahrzehnten die Situation in Tibet nicht verbessert. In dieser Ausgabe stellen wir die verschiedenen Positio- nen einander gegenüber und wollen damit einen Einblick in die zumeist inner- tibetische Debatte geben. Chinas Präsident Xi Jinping entwickelt sich nicht nur in der Tibet- und Ost- Turkestan-Politik mehr und mehr zum Hardliner. Der Umgang der chinesischen Regierung mit der Demokratiebewegung in Hongkong spricht ebenfalls eine deutliche Sprache. Die Bilder der jungen Demonstranten erinnern sehr stark an den Vorabend des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens in Beijing im Jahr 1989. Wurde noch 1997 nach erfolgter Übergabe der Staatshoheit Hongkongs an die Volksrepublik China von einem Land mit zwei Systemen gesprochen, so möchte man heute nur noch wenig davon wissen. Und gerade Hongkong hätte ein positives Beispiel für Tibet, für Ost-Turkestan, ja sogar für Taiwan sein können. Wenn wir in Tibet etwas verändern wollen, müssen wir vehement für den Dialog zwischen Chinesen und Tibetern eintreten. Die Tibeter haben mehrfach bewiesen, dass sie dazu bereit sind. Jetzt ist es an China und damit auch an der internatio- nalen Politik, die chinesische Führung in die Pflicht zu nehmen. Unite for Tibet! Gemeinsam. Stark. Für Tibet. Wolfgang Grader Vorsitzender der Tibet Initiative Deutschland e.V. Brennpunkt Tibet 4 | 2014 1
22 JuBiläum in HamBurG Aktion der Tibet Jugend Die Besucher unserer Jubiläums- veranstaltung in Hamburg haben ihre Wünsche für Tibet niedergeschrieben. Diese Gebetsfahnen wehen mittler- weile in Dharamsala. Herzlichen Dank an die Tibet Jugend für diese Aktion! 2 Brennpunkt Tibet 4 | 2014
inHalt 4 naCHriCHten Schüsse auf Demonstranten in Kardze | Schwangere Ehefrau nimmt sich das Leben | Bekannter Rinpoche im Gefängnis | Zahl der Selbstverbrennungen steigt auf 133 | Gefangenenliste aus China geschmuggelt | Deutsch-Chinesische Regierungskonsultationen | Chinesische Regierung veröffentlicht Gesetzeshandbuch | Angriff auf Tibet-Aktivistin | Tibet im Deutschen Bundestag | Südafrika: Kein Visum für den Dalai Lama 7 naCHruf auf irmtraut WäGer 8 titeltHema Der Mittlere Weg – Eine diplomatische Gratwanderung | zusammengestellt von Klemens Ludwig und David Demes 16 intervieW „Wir haben nicht den Luxus, Zeit zu haben“ | Interview mit Dicki Chhoyang, Ministerin für Information und Auswärtige Beziehungen 19 5 fraGen an… Wangpo Tethong | Mitglied des tibetischen Exilparlaments in Dharamsala 20 meinunG Perspektiven für das Überleben der tibetischen Kultur | Tienchi Martin-Liao 21 Stimmen für tiBet Wolfgang Niedecken | Musiker, Maler und Autor 16 22 JuBiläum in HamBurG – impreSSionen intervieW „Wir haben nicht den 24 aktionen Luxus, Zeit zu haben“ Unite for Tibet! | FREE ME! Jigme Guri | Schilderstreich für Tibet Interview mit in Münster | TEAM TIBET beim München Marathon Dicki Chhoyang, Ministerin für 27 tiBet JuGend Information und Move yourself to move the world Auswärtige Beziehungen 28 kunSt im WiderStand Zurückgekehrt! | Sangye Dolma 30 kommentar 8 Schottland nach dem Referendum – … und was ist mit Tibet? | Tsewang Norbu titeltHema Der Mittlere Weg 31 leSetippS Eine diplomatische Gabriel Lafitte: Spoiling Tibet | York Hovest: Hundert Tage Tibet Gratwanderung // zusammengestellt 32 notiert | impreSSum von Klemens Ludwig und David Demes 33 termine Brennpunkt Tibet 4 | 2014 3
naCHriCHten China GANSU East Turkestan QI NG HAI Xinjiang Themchen A Chabcha Tsapon Chentsa M TIBET Kangsta Sangchu Rebkong Gepa Sumdo Tsoe Tsekhok Amchok TI BET Dzatoe Tridu D Sogpo Machu Bora Luchu A U TO N O M O U S K Darlag Chigdril REGION Sog Jyekundo Pema O Ngaba Dzoge Nagchu Chamdo Serthar Dzamthang Driru Ü - T S A N G H Bankar Kardze Barkham Dranggo Damshung Tawu India Lhasa Nepal A S ICH UAN Bhutan M YU N NAN Grenze Tibets China Offizielle chinesische Bezeichnungen Burma für Provinzen und Autonome Regionen Bangladesh Traditionelle tibetische Regionen Schüsse auf demonstranten in kardze Am 12. August kam es zu einem brutalen Übergriff auf Tibeter, die bei einer Demonstration in Kardze, Osttibet, die Freilassung ihres Dorfoberhauptes forder- ten. Die chinesische Polizei eröffnete das Feuer auf Hunderte Demonstranten, viele Tibeter wurden schwer verletzt. Insgesamt starben sieben Tibeter. Vier erlagen in Haft ihren Verletzungen und ein weiterer nahm sich das Leben. Die Demonstration war eine Reaktion auf die Festnahme von Dema Wangdak am Vor- tag. Das Oberhaupt der Shopa Gemeinde hatte die Schikanierung von Tibeterinnen durch die chinesischen Behörden kritisiert. Im Zuge dessen war es zu einer hefti- gen Auseinandersetzung gekommen. Er wurde beschuldigt, eine illegale Zeremo- nie während eines traditionellen Reiterfestes abgehalten zu haben. Wangdak setzt sich seit Jahren für die Rechte misshandelter Tibeter ein. Das extrem gewaltsame Vorgehen der chinesischen Behörden hat über die Grenzen Tibets hinaus für gro- ße Empörung gesorgt. Mit mehreren Petitionen wurde seitdem seine Freilassung und ein Ende der Gewalt gefordert. Auch gibt es keine weiteren Informationen über den Zustand und Verbleib einiger tibetischer Jugendlicher im Alter von 12 und 13 Jahren, die nach diesem Vorfall aus ihren Dörfern abgeholt und in Gefangenschaft genommen wurden. Weiterhin Proteste in Kardze unbestätigt bleibt die Meldung, dass ein chinesischer Polizeibeamter von den eige- nen Truppen versehentlich erschossen wurde, als diese das Feuer auf die Demon- stranten eröffneten. // 4 Brennpunkt Tibet 4 | 2014
Schwangere ehefrau mer zehn inhaftiert, wobei zwei von ih- nen eine lebenslange Strafe verbüßen nimmt sich das leben müssen. Der 25-jährige Mönch und ehemalige politische Gefangene, Gonpo Eines der Opfer, das bei der friedlichen Trinley, hatte die Liste selbst in der Haft Demonstration in Kardze schwer ver- erstellt. Er war gemeinsam mit seinem letzt wurde, war der 18-jährige Jinpa Cousin verhaftet und ins Gefängnis Tharchin. Seine Schusswunden wurden nach Deyang, Osttibet, gebracht wor- nicht behandelt. Zusätzlich wurde er in den. Beide wurden schwer misshandelt, Haft schwer gefoltert. Seine im siebten weil sie öffentlich die Rückkehr des Monat schwangere Frau erhängte sich Dalai Lama gefordert hatten. In Haft eine Woche nach seinem Tod. // Zahl der wurden sie schwer misshandelt. 2010 Selbstverbrennungen wurde Gonpo Trinley entlassen. Ihm gelang die Flucht nach Indien, und steigt auf 133 er konnte nun dem TCHRD die Liste übergeben. Auch beschrieb er die Erneut kam es im September aus Haftbedingungen wie folgt: Neben Protest gegen die chinesische Repres- täglicher harter Arbeit mussten alle sionspolitik zu Selbstverbrennungen Insassen Hunger leiden, es gab Grup- in Tibet. Unabhängig voneinander penbestrafungen und kaum Kontakt zu entzündeten sich innerhalb von zwei Angehörigen. Auch nach seiner Entlas- Tagen zwei Tibeter in Osttibet. Am sung aus der Haft war Trinley jedoch 16. September zündete sich der 42-jäh- nicht wirklich frei. Er durfte weder in rige Kunchok vor einer Polizeistation sein Kloster zurückkehren noch seine in Gade an. Der Vater eines Mönchs Studien wieder aufnehmen. // Bekannter rinpoche und einer Nonne wurde von Tibetern, die den Vorfall beobachteten, sofort in im Gefängnis ein Krankenhaus gebracht und wird deutsch-Chinesische seitdem ärztlich versorgt. Er schwebt Tulku Phurbu Tsering, auch bekannt als Pangri-na Rinpoche, ist im Ge- in Lebensgefahr. Einen Tag darauf entzündete sich der Student Lhamo regierungskonsultationen fängnis Mianyang, nahe Chengdu in Tashi ebenfalls vor einer Polizeistation Mit dem Slogan „Keine Wirtschaft Osttibet, entdeckt worden. Er war in Kanlho, nachdem er zuvor lautstark ohne Menschenrechte“ hat die TID 2008 von den chinesischen Behörden die Freiheit Tibets und die Rückkehr anlässlich der 3. Deutsch-Chinesischen festgenommen worden, nachdem er des Dalai Lama gefordert hatte. Der Regierungskonsultationen in Berlin mit einem Friedensmarsch tibetischer 22-Jährige erlag kurz darauf seinen und dem „Hamburg Summit: China Nonnen in Verbindung gebracht wor- Verletzungen. Somit steigt die Zahl meets Europe“ am 10./11. Oktober zu den war. Nach seiner Verhaftung verlor der Selbstverbrennungen von Tibetern einer E-Mailaktion an die Bundesregie- sich zunächst jede Spur des damals auf 133. // rung aufgerufen. Die Forderung an 53-Jährigen. Im Jahr 2009 gelangten Kanzlerin Merkel und Außenminister erstmals Informationen über seinen Steinmeier: Diese Foren dazu zu nut- Aufenthaltsort an die Öffentlichkeit. Tulku Phurbu Tsering wurde vom Gefangenenliste aus tibet zen, um gegenüber dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang, die Gericht in Dartsedo, Osttibet, wegen illegalen Waffenbesitzes zu acht Jah- geschmuggelt Menschenrechtslage in Tibet anzu- sprechen. Anlässlich des „Hamburg ren und sechs Monaten Gefängnis Anfang August 2014 hat das Tibetische Summit“ hat die TID-Regionalgruppe verurteilt. Zwei Verteidiger berichteten, Zentrum für Menschenrechte und Hamburg am 11. Oktober gemeinsam dass das Geständnis mangels Beweisen Demokratie (TCHRD) aus Osttibet eine mit der Gesellschaft für bedrohte durch Folter zustande gekommen war. Liste von 45 Häftlingen erhalten. Dabei Völker und dem Verein der Tibeter in Bis heute ist der Grund seiner Inhaftie- handelt es sich um Tibeter, die im Zuge Deutschland eine Mahnwache vor der rung unklar. Es wird vermutet, dass der der Unruhen zwischen 2008 und 2009 Handelskammer in Hamburg abge- eigentliche Grund sein Engagement für festgenommen worden waren. Von den halten, wo Li Keqiang als Ehrengast wohltätige Zwecke ist. // 45 genannten Tibetern sind noch im- empfangen wurde. // Brennpunkt Tibet 4 | 2014 5
naCHriCHten Chinesische regierung veröffentlicht Gesetzeshandbuch Unter dem Titel „Two laws by People’s government of Driru county“ (Zwei Gesetze der Volksregierung der Präfektur Driru) haben die chinesischen Behörden im Juni neue Namkho (dritter von rechts) zu Gast beim Tibet Gesprächskreis Gesetze für Tibeter in dieser Region festgelegt. Es handelt sich dabei um 26 Artikel, die Vorschriften und Bestrafungen enthalten. Mit dem Regelwerk sollen Proteste von Tibetern tibet im deutschen Bundestag gegen die Regierung verhindert werden. Verboten sind unter anderem die Teilnahme am jährlichen Monlam-Gebetsfest Am 11. September 2014 fand die erste Sitzung des Tibet Ge- und die Verbreitung von Gerüchten. Zudem ist es Nonnen sprächskreises (TGK) nach der Sommerpause im Deutschen und Mönchen verboten, außerhalb der Präfektur zu studie- Bundestag statt. Als Gastredner war dieses Mal Namkho ren und zu lehren. Das Handbuch enthält auch Regeln zu eingeladen. Namkho stammt aus Ngaba, Osttibet, und lebt Gefängnisstrafen, den Ausschluss vom Erntefest Yartsa seit 2003 in der Schweiz. 2010 fuhr er nach Tibet, um seine Gunbu und die Teilnahme an Umerziehungsmaßnahmen Familie zu besuchen, und wurde so Zeuge einer Selbstver- im Falle von Separatismus oder bei Weitergabe von Informa- brennung. Das veranlasste ihn dazu, mehrere Monate durch tionen an Dritte. Unter Strafe stehen auch das Singen tibeti- Tibet zu reisen und Filmmaterial aufzunehmen, um über die scher Lieder, die Verbreitung der Lehren des Dalai Lama wahre Situation in seiner Heimat berichten zu können: sowie die Organisation öffentlicher Veranstaltungen. Bereits „Es ist absolut wichtig für uns Tibeter, dass wir unsere Ge- zu Beginn des Jahres waren rund hundert Tibeter während schichte selbst erzählen können“, so Namkho. Eindrücklich des Yartsa Gunbu Erntefestes verhaftet und aus unbekann- schilderte er seine Erlebnisse, die erdrückende Militärprä- ten Gründen monatelang festgehalten worden. // senz und die ständige Angst, mit der seine Landsleute leben. Unter dem Eindruck seiner bewegenden Schilderung disku- tierten die Teilnehmer mögliche politische Strategien und angriff auf tibet-aktivistin Handlungsmöglichkeiten. Den Vorsitz des TGK übernehmen in dieser Legislaturperiode Am 7. September kam es beim diesjährigen chinesischen Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD), Michael Brand (CDU/ Mondfest im schweizerischen Basel, Partnerstadt von CSU) und Manuel Sarrazin (Bündnis 90/Die Grünen). // Shanghai, zu Übergriffen auf eine Tibet-Aktivistin. Während eines friedlichen Protestes gegen die chinesische Regierung wurde eine Tibeterin aus der Schweiz von chinesischen Sicherheitsbeamten bedrängt und gewaltsam attackiert. Südafrika: kein visum für den dalai lama Während der Zeremonie mit Regierungspräsident Guy Südafrika hat dem Dalai Lama kein Visum für ein geplantes Morin sowie der chinesischen Botschafterin, Xu Jinghu, Gipfeltreffen von Nobelpreisträgern im Oktober ausgestellt. protestierten Mitglieder vom Verein Tibeter Jugend in Eine Sprecherin erklärte, dass die südafrikanische Regierung Europa (VTJE) mit Tibet-Flaggen und Schildern wie „Free den Dalai Lama kurzfristig per Telefon darüber informiert Tibet“ oder „China Stop Propaganda“ für ein freies Tibet. hätte. Als möglicher Grund für die Absage wurden die Han- Dabei wurde eine Demonstrantin von Sicherheitsbeamten delsbeziehungen zwischen Südafrika und China vermutet. der chinesischen Botschaft zu Boden gedrückt, die Plakate Bereits zum wiederholten Mal wurde Seiner Heiligkeit die wurden ihr abgenommen. Weitere Demonstranten seien Einreise nach Südafrika verwehrt. Allen Protesten aus dem ebenfalls angegriffen worden, so die Betroffene. Auch In- und Ausland zum Trotz hielt die südafrikanische Regie- ihnen seien Schilder und Flaggen brutal entrissen worden. rung an ihrer Entscheidung fest. Daraufhin boykottierten Im Nachhinein legitimierte die Veranstaltungsleitung das einige Friedensnobelpreisträger das Treffen, so dass die Kon- Vorgehen des Sicherheitspersonals. In einer Stellungnahme ferenz schließlich abgesagt wurde. Die Bürgermeisterin von sagte Morin, dass der Schutz der chinesischen Botschafterin Kapstadt und Oppositionspolitikerin Patricia de Lille warf oberste Priorität gehabt hätte. Die Aktivistin hat bei der der Regierung vor, dass sie damit dem Ansehen des Landes Staatsanwaltschaft Bern Anzeige gegen unbekannt wegen erheblich schade. Südafrikas Erzbischof und Friedensnobel- Nötigung und Sachentziehung erstattet. // preisträger Desmond Tutu sagte, er schäme sich für seine Regierung. // // Hannah Wolf 6 Brennpunkt Tibet 4 | 2014
naCHruf Irmtraut Wäger und der Dalai Lama 2012 in Salzburg ein leBen für tiBet: Tibethilfsvereine. Alle Reisen nach Indien finanzierte sie selbst. Offen und ehrlich schilderte sie dem Dalai Lama all danke irmtraut WäGer die großen und kleinen Probleme und Schwierigkeiten in den Flüchtlingslagern. Und der Dalai Lama wusste dies sehr „Gestatten, meine Name ist Irmtraut Wäger“, so stellte sie zu schätzen und zu würdigen. Ja, zu einer „Amala“, zu einer sich mir, schon über 80-jährig, in Berlin vor, als sie eine Ein- Irmtraut Wäger, kommt auch der Dalai Lama in die kleine ladung der TID zu „10 Jahre Flaggenaktion“ angenommen Wohnung, gelegen in einer größeren schmucklosen Wohn- hatte. Meine erste Begegnung mit ihr, und ich spürte, das ist hausanlage in München. Dies war für sie, trotz vieler Aus- nun ein besonderer Augenblick, und seither sahen wir uns zeichnungen und Preise, die sie im Laufe der Jahre erhielt, regelmäßig. Am Donnerstag, den 2. Oktober 2014, kurz vor die wohl schönste ehrenvollste Würdigung ihrer Arbeit. Mitternacht hat sich Irmtraut Wäger von der Welt verab- Es war diese Direktheit und Klarheit ihres Engagements, schiedet. Bis zuletzt galten ihre Gedanken Tibet, bis zuletzt das man an ihr so schätzen konnte. „Schreibt doch nicht war sie eingebunden in die große Tibet-Gemeinschaft. Als immer nur Negatives über Tibet“, meinte sie einmal ganz ich Irmtraut wenige Tage vor ihrem Tod zum offen zu mir. Und sie hatte ja Recht, denn um Menschen 95. Geburtstag in ihrer kleinen Zwei-Zimmerwohnung be- zum Einsatz für Tibet zu bewegen, bedarf es auch der Beto- suchte, begegnete ich einer geistig sehr wachen und inter- nung der kulturellen und geistigen Werte Tibets, der tiefen essierten Frau, und aus dem geplanten einstündigen Treffen Spiritualität der Tibeter, des kulturellen Reichtums und der wurden schließlich drei Stunden. Irmtraut Wäger war Schönheit des Landes. nicht einsam und allein, wie es bei älteren Menschen oft Irmtraut Wäger war über 20 Jahre treues Mitglied der Tibet vorkommt, sie bekam während dieser Zeit zweimal Besuch Initiative Deutschland, wusste sie doch, dass humanitäre und erzählte mir von einem langen Telefonat, in dem sie Hilfe nur eine, wenn auch ganz wichtige, Säule zur Unter- jemand um Rat zu einem Tibetprojekt fragte. Nein, Irmtraut stützung der Tibeter sein kann. Mit 90 Jahren zog sie sich Wäger war bis zum Schluss „Amala“ (verehrte Mutter) für aus dem Vereinsleben zurück, und selbst in diesem hohen die Tibeter, für die tibetische Sache, Kontakt- und Bezugs- Alter hatte sie auf der Mitgliederversammlung der Deut- person für viele Menschen. Und dabei hat sie erst zu einem schen Tibethilfe die Arbeit ihres Vereins genau analysiert und Zeitpunkt, an dem die meisten schon ans Aufhören denken, zukunftsweisende Änderungen angeregt. nämlich nach ihrer Pensionierung, angefangen, sich für Es gäbe noch viel zu schreiben, über ihren ungewöhnlichen Tibet zu engagieren. Sie reiste nach Indien, sah das Elend in Lebensweg in der Kriegs- und Nachkriegszeit, über ihre den tibetischen Flüchtlingslagern, wurde aktiv in der Deut- interessanten Begegnungen. Am 10. Oktober waren etwa schen Tibethilfe und unterstützte mit vielen Tibetfreunden 300 Menschen bei der Gedenkfeier in München, darunter weit über zehntausend Tibeterinnen und Tibeter. Unzählige viele Tibeter. Viele viele mehr werden sie als einen ganz Patenschaften und Projekte gingen durch ihre Hände und besonderen Menschen, die „Amala Tibets“, im Gedächtnis akribisch genau, mit Zettelkasten, Fotoapparat, Schreib- behalten und daraus auch Kraft und Inspiration für die maschine und einer Schar treuer ehrenamtlicher Helfer, Tibet-Arbeit schöpfen. Und dafür sei ihr herzlich gedankt. verwaltete und organisierte sie einen der weltweit größten // Wolfgang Grader Brennpunkt Tibet 4 | 2014 7
titeltHema Der Mittlere Weg Eine diplomatische Gratwanderung // Auswahl der Texte: Klemens Ludwig // Übersetzung: David Demes
Als der Dalai Lama im Juni 1988 in einer Rede vor dem Europäischen Parlament erstmals auf den Anspruch der Tibeter auf Unabhängigkeit verzichtet und eine „echte Autonomie“ unter chinesischer Flagge als Ziel des Frei- heitskampfes propagiert hatte, war der Schock unter vie- len Tibetern und Unterstützern groß. Manche sahen darin allerdings auch einen geschickten Schachzug, um endlich ernsthafte Verhandlungen mit der Volksrepublik China möglich zu machen. Immerhin hatte der Vater des mo- dernen China, Deng Xiaoping, einst dem Bruder des Dalai Lama, Gyalo Thondup, versichert: „Wir können über alles reden, außer über die Unabhängigkeit.“ Dieser diploma- tische Schritt des Dalai Lama wurde als „Mittlerer Weg“ bekannt. Mehr als ein Vierteljahrhundert später ist die Ernüchterung groß. Abgesehen von Verhandlungen zwi- schen zwei Sondergesandten des Dalai Lama und chinesi- schen Offiziellen im Vorfeld der Olympischen Spiele von Am 5. Juni 2014 lancieren Kalon Dicki Chhoyang, Sikyong Lobsang Sangay und Beijing 2008 – die unmittelbar danach von chinesischer Minister Tashi Phuntsok (v.l.n.r.) in Dharamsala die „UMAYLAM: Middle Way Seite abgebrochen wurden – gibt es seitens der Kommu- Approach“-Kampagne. nistischen Partei Chinas (KPCh) keinerlei erkennbare Be- wegung in der Tibet-Frage. Dennoch hält die tibetische Führung weiter am Mittleren Weg fest. Ihr erster direkt Und doch, trotz der unglaublichen Herausforderung, die der gewählter Ministerpräsident, Lobsang Sangay, geht sogar Aufstieg Chinas bedeutet, bleiben die Tibeter unbeirrt bei ih- noch weiter und will offenbar selbst die Herrschaft der rer Entscheidung, durch Dialog und ‚echte Autonomie‘ eine KPCh nicht mehr infrage stellen. Gleichzeitig mehren sich friedliche Lösung mit der Volksrepublik China zu finden. Die- kritische Stimmen, die den Mittleren Weg für einen Irr- se als ‚Mittlerer Weg‘ bezeichnete politische Linie wurde ur- weg halten, der den tibetischen Freiheitskampf schwäche. sprünglich von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama begründet Wir stellen im Folgenden beide Positionen dar: Die offi- und fand überwältigende Unterstützung im tibetischen Volk. zielle Haltung der tibetischen Führung im Exil und ihre Für seinen unermüdlichen Einsatz für universellen Frieden ist Gründe, am Mittleren Weg festzuhalten, sowie die inter- Seine Heiligkeit weltweit bekannt, die Politik des Mittleren nationale Resonanz darauf. Dem stehen drei kritische Weges (‚Umaylam‘ im Tibetischen) ist auch ein Geschenk an Stimmen gegenüber: Der tibetische Schriftsteller Jamyang die Welt zur friedlichen Lösung von Konflikten durch Dialog Norbu, der Professor für zentralasiatische Studien an der und Gewaltlosigkeit. Sein Erfolg ist von globaler Bedeutung Universität Indiana, Elliot Sperling, sowie der Tibetische in einer Zeit zunehmender Gewalt. (…) Helfen Sie uns, unse- Nationalkongress. Bei der Kontroverse geht es nicht nur re Botschaft des Friedens zu verbreiten.“ um die Frage, was eine erfolgversprechende Strategie im Dr. Lobsang Sangay, Sikyong Kampf um Selbstbestimmung ist, sondern auch darum, ob der „Mittlere Weg“ demokratisch legitimiert ist. Y Quelle: http://mwa.tibet.net/gr/ (Stand: Oktober 2014) die position der tibetischen exilregierung (Central tibetan administration/Cta) Grundsatzerklärung von Ministerpräsident „Ich bin weiterhin davon überzeugt, Lobsang Sangay dass die meisten menschlichen „Die konkrete Situation in Tibet … zeigt … eine brutale Rea- Konflikte durch aufrichtigen Dialog, lität: Ein Land, seit über 50 Jahren besetzt von China; zahl- durchgeführt in einem Geist der lose Menschen, die ihr Leben verloren haben; eine Kultur, die vom Untergang bedroht ist. Die Unterdrückung hat ein Offenheit und Versöhnung, gelöst solches Ausmaß erreicht, dass sich, als politische Form des werden können.“ Protests, von 2009 bis heute 130 Tibeter [Anm. d. Red.: 133 Tibeter (Stand: Oktober 2014)] selbst in Brand gesetzt haben. Seine Heiligkeit der Dalai Lama Brennpunkt Tibet 4 | 2014 9
Kampagnenlogo von der CTA-Webseite „Früher oder später wird China die Art der angestrebten Autonomie schriftlich zu fixieren. dem weltweiten Trend folgen Das Memorandum über echte Autonomie für das tibeti- sche Volk wurde bei der 8. Gesprächsrunde im Oktober/ müssen, und auf lange Sicht gibt November desselben Jahres vorgelegt. Dieses Memoran- es für China kein Entkommen vor dum – das sich innerhalb des Rahmens der chinesischen Verfassung bewegt – definiert Komplexe wie die ‚Realisie- Wahrheit, Gerechtigkeit und rung einer einzigen Verwaltung für die tibetische natio- Freiheit.“ nale Minderheit in der Volksrepublik China‘, die ‚Art und Struktur der Autonomie‘ und die ‚Elf Grundbedürfnisse Seine Heiligkeit der Dalai Lama der Tibeter‘. Die chinesische Führung wies den Vorschlag zurück und behauptet fälschlicherweise, das Memoran- dum beinhalte Hinweise auf ein ‚Groß-Tibet‘ ‚verdeckte Unabhängigkeit‘ und auf ‚Unabhängigkeit in anderem Ge- wand‘. Als Antwort auf die Bedenken der chinesischen Regierung legte die tibetische Führung bei der 9. Gesprächsrunde Hoffnung auf einen Dialog 2010 eine Note zum Memorandum über echte Autonomie für das tibetische Volk vor. Die Note erläuterte, wie echte In den Jahren 2002 bis 2010 versuchten zwei Sonderge- Autonomie für das tibetische Volk innerhalb der Volks- sandte des Dalai Lama in einem Dialog mit den chinesi- republik China, ihrer Verfassung, ihrer territorialen Inte- schen Gesprächspartnern den Grundstein für ernsthafte grität und ihrer drei nicht verhandelbaren Punkte funkti- Verhandlungen über eine echte Autonomie Tibets zu legen. onieren würde. Diese drei Punkte sind die Führungsrolle Die erste Gesprächsrunde fand im September 2002 in der Kommunistischen Partei, der Sozialismus mit chine- Beijing statt. Weitere Gespräche folgten unter anderem in sischen Charakteristika und das System der regionalen Guilin, Shanghai, Nanjing, Shenzhen sowie im schweize- Autonomie. Die chinesische Regierung weigerte sich je- rischen Bern. Bei der siebten Gesprächsrunde im Juli doch, den Vorschlag anzunehmen. 2008 unmittelbar vor den Olympischen Spielen, forder- ten die chinesischen Vertreter die tibetische Führung auf, 10 Brennpunkt Tibet 4 | 2014
titeltHema Die Sondergesandten des Dalai Lama, Kelsang Gyaltsen (l.) und US-Präsident Barack Obama und der Dalai Lama im Februar 2014 bei einem Lodi Gyari (m.), während der 9. Dialogrunde mit Vertretern der chinesischen privaten Treffen im Map Room des Weißen Hauses in Washington DC Regierung im Jahr 2010 Unterstützung aus China und der Welt Auch von chinesischer Seite erfährt die Politik des Mittleren Weges von Jahr zu Jahr mehr Unterstützung, u.a. durch Intel- Nach einem Treffen von US-Präsident Barack Obama mit lektuelle und Künstler wie Liu Xiaobo, den inhaftierten No- Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama im Juli 2011 sowie im belpreisträger und Koautor eines Offenen Briefes von 2008, Februar 2014 lobte das Weiße Haus „den Einsatz des Dalai der sich für die Unterstützung der Friedensinitiativen Seiner Lama für Gewaltlosigkeit und Dialog mit China und sein Heiligkeit des Dalai Lama aussprach. Beharren auf der Politik des Mittleren Weges“. Obama rief die Beteiligten dazu auf, einen direkten Dialog aufzu- Seitdem sind von chinesischen Wissenschaftlern und Schrift- nehmen, um lange schon währende Differenzen beizule- stellern über tausend Artikel und Kommentare verfasst wor- gen, denn ein Dialog, der zu Ergebnissen führt, wäre für den, die einen Dialog zur Lösung der Tibetfrage befürworten. China und für Tibet von Vorteil. Dazu gehört ein Bericht der Gongmeng-Verfassungsinitiative, einer in Beijing ansässigen juristischen NGO, der die Be- Neben den USA haben viele weitere Regierungen ihre Unter- schwernisse des tibetischen Volkes darlegt und zu einer Re- stützung für die Politik des Mittleren Weges erklärt, darunter vision der Politik aufruft. 2012 schickten 82 chinesische NGOs Indien, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Australien aus 15 Ländern eine Petition an die Vereinten Nationen, an und Neuseeland. „Allein in den letzten zwei Jahren wurden die EU sowie an verschiedene Parlamente und Regierungen, Erklärungen, Resolutionen und Anträge zur Unterstützung in der sie diese aufforderten, ‚die chinesische Regierung zu der Politik des Mittleren Weges unter anderem von den Par- drängen, baldmöglichst Verhandlungen aufzunehmen.“ lamenten der USA, der EU, Frankreichs, Italiens, Japans, Aus- Innerhalb Tibets sprachen sich sowohl der verstorbene 10. traliens, Brasiliens, Luxemburgs verabschiedet. (…) Panchen Lama, als auch Baba Phuntsok Wangyal, ein hoch- Zu den führenden Weltpolitikern, die zum Dialog und der Po- rangiges tibetisches Mitglied der Kommunistischen Partei litik des Mittleren Weges aufrufen, gehören die ehemalige UN- Chinas, für den Mittleren Weg aus. Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, die ehema- lige Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Y Quelle: http://mwa.tibet.net/?wpdmdl=767 (Stand: Oktober 2014) Lady Catherine Ashton, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, der kanadische Premierminister Stephen Harper, der australische Premierminister Tony Abbot, der taiwanesische Präsident Ma Ying-jeou sowie die ehemaligen Staats- und Regierungschefs George Bush (USA), Gordon Brown (Groß- britannien), Nicolas Sarkozy (Frankreich) und Kevin Rudd (Australien). (…) „Die USA unterstützen seinen Ansatz des ‚Mittleren Weges‘, der weder Assimilierung, noch Unabhängigkeit für Tibeter in China vorsieht.“ US-Regierung Brennpunkt Tibet 4 | 2014 11
titeltHema die vision des ministerpräsidenten lobsang Sangay die kritiker Auszug aus einem Kommentar Kritik am Mittleren Weg – sowohl aus der Exilgemeinschaft, in der New York Times vom 18. Juli 2014 als auch von internationalen Experten – gibt es bereits, seit ihn der Dalai Lama im Jahr 1988 vor dem Europäischen (…) Seit Herr Sangay das Ruder übernommen hat, ist es Parlament in Straßburg vorgelegt hat. Hier drei kritische schwer geworden, irgendwelche Prognosen zu machen. Chi- Positionen. na, das früher einmal Lippenbekenntnisse zu Verhandlungen über Tibets Status abgegeben hat, weigert sich, sich mit ihm Jamyang Norbu: Der Referendums-Schwindel oder mit seinen Vertretern zu treffen. Westliche Staaten wer- den immer zurückhaltender, sich zu engagieren. Mit dem (…) Man kann nicht ewig an einem gescheiterten Projekt fest- 80. Geburtstag des Dalai Lama in einem Jahr und ohne kla- halten. Der „Mittlere Weg“ ist tot. Beijing hat ihn während re Nachfolgeregelung hat sich Besorgnis wie ein Mantel über 25 oder 27 verschiedener „Verhandlungen“ umgebracht. Die Dharamsala gelegt. Einige Aktivisten kritisieren Herrn Sangay tibetische Zentralverwaltung (CTA) kann sich allerdings dafür, zu hart mit China ins Gericht zu gehen. Andere kriti- nicht dazu durchringen, das zu akzeptieren. Mag er auch sieren ihn dafür, tibetische Forderungen abzuschwächen, um noch so tot sein, so gilt es dennoch, eines zu klären. In vielen Beijing an den Verhandlungstisch zurückzuholen. Indessen Stellungnahmen der Exilregierung kommt immer und immer ist es seine Aufgabe, Zuversicht zu schaffen, obwohl es weni- wieder die folgende Behauptung vor: ge Anzeichen für Fortschritt gibt. „Die gegenseitig vorteilhafte Politik des Mittleren Weges … „Da ist diese unerfüllte Sehnsucht, diese unerfüllte Hoffnung,“ demokratisch angenommen von einer überwältigenden sagte er, „auf dieser Basis lässt sich weitermachen.“ Mehrheit der Tibeter“ (…) „Der Mittlere Weg wurde von Sei- Im letzten Jahr sagte Herr Sangay gegenüber dem Council ner Heiligkeit dem Dalai Lama vorgeschlagen und von den on Foreign Relations [einem US-amerikanischen Think Tank], Tibetern demokratisch angenommen.“ Ziel sei es, ethnische Tibeter als Parteisekretäre und auf ande- Das sind schamlose Lügen. Anders kann man es gar nicht be- ren wichtigen Posten in der Autonomen Region Tibet zu se- schreiben. hen: „Wir stellen die gegenwärtige Struktur der herrschenden Partei nicht infrage,“ machte er deutlich. (…) Hintergründe zum Referendum Indessen liefert Herr Sangay Belege dafür, dass ihm die Her- Am 15. Juni 1988 gab Seine Heiligkeit der Dalai Lama in zen der Tibeter zufliegen. In seinem Büro hängt ein Thangka – seiner Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg ein traditionelles Rollbild, das gewöhnlich buddhistische die Souveränität der tibetischen Nation auf und bat China Gottheiten darstellt – das von einem Bewunderer in China im Gegenzug darum, Tibet zu erlauben, eine autonome und mit seinem Gesicht angefertigt wurde. Er verschickt Links zu demokratische politische Einheit innerhalb der VR China zu Lobliedern, die zu seinen Ehren geschrieben und auf Youtube werden. Gegen Ende seiner Ansprache sagte der Dalai Lama hochgeladen wurden. Fragt man ihn nach seiner Stellung in „ … die meisten Tibeter werden enttäuscht sein“, aber er ver- der Führungshierarchie, so beschreibt er sich als ‚nachgeord- sicherte auch „ … das tibetische Volk selbst muss die letztend- nete Stimme‘, fügt aber hinzu, ‚die eines Tages die vorrangige liche Entscheidungsgewalt innehaben … in einem landeswei- Stimme sein wird‘. ten Referendum.“ 2001 trifft der Dalai Lama in Taiwan auf den damaligen Bürgermeister Eröffnung der „Dringlichkeitssitzung“ im November 2008 durch den Dalai Lama von Taipeh, Ma Ying-jeou. 12 Brennpunkt Tibet 4 | 2014
1989 erhält der Dalai Lama den Friedensnobelpreis für „den Kampf für die Befreiung Tibets und seine Anstrengungen für eine friedliche Lösung“ In seiner 10. März-Ansprache des Jahres 1995 resümierte der Am 25. Oktober 2008, nach der brutalen Niederschlagung der Dalai Lama: „Viele Tibeter haben Kritik an meinem Vorschlag Proteste in Tibet, erklärte Seine Heiligkeit bei einer Rede im geäußert, einen Kompromiss in der Frage der Unabhängigkeit Tibetan Children’s Village, dass es ihm der Mangel an Ernst- zu suchen. Außerdem hat das Unvermögen der chinesischen haftigkeit der chinesischen Regierung im Dialogprozess und Regierung, meinen versöhnlichen Vorschlägen positiv zu begeg- die sich verschlechternde Situation innerhalb Tibets unmög- nen, das Gefühl von Ungeduld und Frustration in meinem lich machten, mit seiner gegenwärtigen Politik fortzufahren. Volk verstärkt. Aus diesem Grund habe ich letztes Jahr vorge- „Ich habe die tibetische Exilregierung, als wahre Demokratie schlagen, das Thema einem Referendum zu unterziehen.“ (…) im Exil, nun gebeten, im Einvernehmen mit dem tibetischen Volk zu entscheiden, wie der Dialog weitergehen soll,“ sagte Die Umdeutung des Referendums der Dalai Lama. Eine „Dringlichkeitssitzung“ wurde für den Am 21. August 1995 wurde in Dharamsala eine von Samdhong November anberaumt. (…) Rinpoche, dem Sprecher des Exilparlaments, geleitete Vorbe- Premierminister Samdhong Rinpoche stellte sicher, dass nur sprechung einberufen, um die Organisation des Referendums Führungsmitglieder des von ihm initiierten „Movement for the zu besprechen. (…) Angeblich sprach sich eine Mehrheit Middle-Way-Approach“, Beamte, Siedlungsvorsitzende und dafür aus, auf das Referendum zu verzichten und es Seiner Parlamentarier, zur Dringlichkeitssitzung eingeladen wurden. Heiligkeit dem Dalai Lama zu überlassen, Entscheidungen Der größten politischen Organisation der Exilgemeinschaft, von Zeit zu Zeit je nach vorherrschender politischer Lage zu dem Tibetischen Jugendkongress (TYC), wurden nur zwei treffen. Insgesamt 64,60 % der registrierten Meinungen for- Sitze eingeräumt. Alle andere Organisationen oder Individu- derten demnach, das Referendum nicht abzuhalten. en, die sich zu Rangzen (Unabhängigkeit) bekennen, bekamen Die „vorläufige Meinungsumfrage“ war der gescheiterte Ver- keine Einladung. Einige von uns fuhren trotzdem hin. Wir such, das Referendum im August 1996 durchzuführen. Die waren eine sehr kleine Minderheit bei diesem Treffen. (…) 64,60 % sind eine reine Erfindung. Fast alle Versammlungen Die Abschlussbesprechung der Dringlichkeitssitzung erweck- endeten im Chaos. Ich erinnere mich daran, dass mein Freund, te den Anschein nahezu einhelliger Unterstützung für den Lhasang Tsering la, um die Lüge der 64,60 %-Behauptung zu Mittleren Weg. In seiner Abschlussrede verkündete Samdhong enttarnen, das Parlament förmlich darum bat, offenzulegen, Rinpoche einen Erfolg, indem er behauptete, 90 Prozent der wofür denn die übrigen 35,40 % abgestimmt hatten. Es kam Tibeter unterstützten den Mittleren Weg. (…) keine Antwort. (…) Brennpunkt Tibet 4 | 2014 13
Fazit Ausmaß, in dem das Exil-Establishment und die Exilgemein- Der Mittlere Weg wurde nicht demokratisch angenommen. schaft demokratisches Denken und demokratische Normen Weit gefehlt. Stattdessen haben die Lügen und Schwindeleien tatsächlich verinnerlicht haben. Personenkult birgt die Ge- von Beamten und Parlamentariern, angeführt von Samdhong fahr der Lähmung, und es ist legitim, die Mängel der Exilge- Rinpoche, der Exilöffentlichkeit ein Schein-Referendum un- sellschaft unverblümt beim Namen zu nennen, einschließlich terzujubeln, ohne Zweifel die tibetische Demokratie unter- des unvollkommenen Verständnisses bei vielen Exiltibetern graben. Tatsächlich haben sie außerdem die ehrlichen Versu- über das, was eine funktionierende demokratische Zivilge- che Seiner Heiligkeit sabotiert, sich in den Jahren 1995 und sellschaft ausmacht. (…) 2008 demokratisch mit dem tibetischen Volk zu beraten und Wie schon gesagt, stand die Täuschung bzw. die Selbsttäu- eine gangbare Alternative zum Mittleren Weg zu finden. schung schon von einem frühen Zeitpunkt an in engem Zu- sammenhang mit dem vollkommenen Scheitern der Politik Y Quelle: http://www.phayul.com/news/article.aspx?id=35262&t=1&c=4 des Mittleren Weges. Das Unvermögen der Tibeter, das klar (erschienen: 5.9.2014) zu sehen, machte es China möglich, den Verhandlungspro- zess, für den sich der Dalai Lama und seine Regierung seit Ende der 1970er Jahre voll eingesetzt hatten, ins Leere lau- fen zu lassen. Von den 1980er Jahren bis in die ersten Jahre elliot Sperling: Selbsttäuschung des 21. Jahrhunderts hatte die tibetische Führung dafür nur die Standarderklärung, China habe einfach nicht verstanden, (…) Der Mechanismus der Selbsttäuschung begann fast au- dass der Dalai Lama nicht nach Unabhängigkeit strebe. (…) genblicklich dann zu wirken, als der Dalai Lama im Jahr 1988 Wenn in Beijing Legionen von Beamten mit tibetischen An- erklärte, Ziel sei es, Tibet als … demokratische „Einheit“ in- gelegenheiten befasst sind, dann kann man sich darauf ver- nerhalb Chinas zu sehen. Einige seiner Beamten erzählten im lassen, dass jedes Wort des Dalai Lama eingehend analysiert Exil lebenden Tibetern im Vertrauen, mit seinem Vorschlag wurde und wird. Es ist die Exilregierung des Dalai Lama, die, biete der Dalai Lama den Tibetern tatsächlich eine Rückkehr knapp an Mitteln und Talenten, sich schwer tat, China und nach Tibet an, um von dort den Unabhängigkeitskampf fort- die chinesische Politik zu verstehen. Offensichtlich hat es zusetzen („wahnhaft“ scheint noch ein zu freundliches Wort mehrere Jahre bedurft, bis die Tibeter endlich begriffen, dass für eine solche Vorstellung zu sein), während wieder andere, China sie nur hingehalten hatte, um die Zeit bis zum Ableben indem sie behaupteten, der Dalai Lama würde dem tibeti- des Dalai Lama mit bedeutungslosen Schritten auszufüllen schen Volk selbst die endgültige Entscheidung überlassen, und danach seinen eigenen Dalai Lama zu wählen. (…) den verzweifelten Wunsch vieler Exiltibeter weiter anfeuer- Die Exilführung ist bemüht, die breite tibetische Exilgemein- ten, in all dem nicht das Ende eines Kampfes zu sehen, den schaft glauben zu machen, dass a) die Tibeter „echte Autono- sie jahrzehntelang gekämpft haben. Das war in der Tat ein mie“ erlangen können, wenn sie den chinesischen Führern Akt der Selbsttäuschung. (…) erklären, was in deren Gesetzen steht, und dass b) die Exil- Unbestritten hat es in der Exilgemeinschaft beachtliche de- regierung tatsächlich nach „echter Autonomie“ strebt. Doch mokratische Entwicklungen gegeben. Aber es gibt ein gewis- eigentlich ist, wie von Lobsang Sangay ausgeführt, alles, wor- ses Maß an Übertreibung – und Selbsttäuschung – über das um die tibetische Exilführung bittet, eine kosmetische Verän- derung: tibetische Gesichter in Führungspositionen auf loka- ler Ebene der KP in Tibet. Ausdrücklich nicht mehr gefordert wird die Einführung demokratischer Strukturen, was doch letzten Endes der einzige Weg wäre, wie etwas, das den Na- men „echte Autonomie“ verdient, funktionieren könnte. Man scheint im Exil-Establishment immer noch zu glauben, Demutsgesten würden positive Reaktionen bei China aus- lösen. Dabei hat sich das Verfolgen untauglicher politischer Optionen zu einer fixen Haltung entwickelt: Das Exil-Estab- lishment ist zu einem verknöcherten Gebilde geworden, das nur noch um seiner Selbst willen existiert. Y Quelle: http://info-buddhism.com/Self-Delusion_Middle-Way- Approach_Dalai-Lama_Exile_CTA_Sperling.html Y und: http://info-buddhismus.de/Selbsttaeuschung-Tibet-Politik-des- Die Sondergesandten des Dalai Lama, Lodi Gyari (m.) und Kelsang Gyaltsen (r.), bei einer Pressekonferenz nach ihrer Rückkehr von der 9. Dialogrunde mit der Mittleren-Weges_Sperling.html (erschienen im Mai 2014) chinesischen Führung 14 Brennpunkt Tibet 4 | 2014
titeltHema Den Offenen Brief an Sikyong Lobsang Sangay verbreitete der Tibetische National- Im Gespräch mit Prof. Jerome A. Cohen enthüllt Sikyong Lobsang Sangay seine kongress im Juli 2014 in den sozialen Netzwerken neue Interpretation des Mittleren Weges offener Brief des tibetischen nationalkongresses 1. Wie kann echte Autonomie erreicht werden, wenn die Chine- sische Kommunistische Partei in Tibet weiterhin das Sagen hat? (tnC) an Sikyong lobsang Sangay 2. Können Sie bitte erklären, mit welcher Begründung Sie die Ziele des Mittleren Weges, Demokratie und getrennte Regie- 25. Juli 2014 rungsinstitutionen in Tibet, aufgeben? Sehr geehrter Sikyong Sangay la: 3. Hat die New York Times Sie richtig wiedergegeben, dass Sie die Einstellung von mehr ethnischen Tibetern im chinesi- Der Tibetische Nationalkongress (TNC) war erfreut, in der schen kommunistischen System als das Ziel betrachten? (…) Ausgabe der New York Times vom 18. Juli 2014 ein ausführ- liches Profil über Sie zu sehen. Der New York Times Artikel Das Exekutivkomitee des besprach, wie Sie im Jahr 2013 „gegenüber dem Council on Tibetischen Nationalkongresses (TNC) Foreign Relations gesagt haben, dass es das Ziel sei, ethni- sche Tibeter als Parteisekretäre und auf anderen wichtigen Y Quelle: http://www.tibetnc.org/2014/07/25/an-open-letter-to-sikyong- Posten in der Autonomen Region Tibet zu sehen.“ Sie wurden lobsang-sangay/ mit der Aussage zitiert: „Wir stellen die gegenwärtige Struk- tur der herrschenden Partei nicht in Frage.“ Ihr neuer „Teil-Mittlerer Weg“ (keine Demokratie, kommu- Wir hoffen, unseren Lesern mit diesen Texten einen Ein- nistische Herrschaft, unkontrollierte Militarisierung) wurde blick in die Debatte gegeben zu haben, die intensiv wei- an anderer Stelle diskutiert. Allerdings haben Sie nie erklärt, tergeführt wird. Beide Seiten wollen das Beste für den inwieweit Ihr „Teil-Mittlerer Weg“ mit dem Mittleren Weg tibetischen Freiheitskampf, und beide führen dafür gute kompatibel ist, oder warum er die richtige Wahl für das tibeti- Argumente an. Im Augenblick zeigt die VR China keine sche Volk ist. Bereitschaft, sich auf ernste Verhandlungen einzulassen. Die Kritiker des Mittleren Weges müssen sich jedoch fra- Seine Heiligkeit sagt weiterhin, dass Tibet „durch eine in einer gen lassen, welche Alternativen es gibt. Letztlich muss allgemeinen Wahl gewählte Legislative und eine Exekutive jeder für sich entscheiden, welche Position die überzeu- durch einen demokratischen Prozess regiert“ werden muss. gendere ist. Das Memorandum aus dem Jahr 2008 fordert „das Recht der Tibeter, ihre eigene regionale Regierung, sowie Regierungs- Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung der institutionen und Prozesse zu schaffen“. Autoren wieder und entsprechen nicht unbedingt der der Redaktion. // Brennpunkt Tibet 4 | 2014 15
intervieW „Wir haben nicht den Luxus, Zeit zu haben“ Interview mit Dicki Chhoyang, Ministerin für Information und Auswärtige Beziehungen Dicki Chhoyang wurde 1966 in Mussoorie, Nord-Indien, Das sehe ich nicht so, und so neu ist dieser Begriff ohnehin geboren, dort, wo nach der Flucht des Dalai Lama das nicht. Wir sprechen seit Jahrzehnten von der „Zentralen erste tibetische Internat errichtet worden war. Als sie Tibetischen Verwaltung“. Wir wollen damit niemanden vier Jahre alt war, emigrierten ihre Eltern nach Kanada, herausfordern. Und um auch auf die anderen Punkte ein- und so wuchs sie in Montreal auf. Schon als Jugendliche zugehen, die Sie erwähnt haben: Die Realität lässt keinen engagierte sie sich für Tibet, mit 20 Jahren wurde sie Raum für Träume von der Unabhängigkeit. Wir haben nicht Beraterin für den ersten kanadischen Dokumentarfilm den Luxus, Zeit zu haben. Wir verfolgen den Mittleren Weg, über Tibet, „Ein Lied für Tibet“. Anschließend arbeitete der bekanntlich eine echte Autonomie unter chinesischer sie für die Ansiedlung von Tibetern in den USA. 1993 ging Flagge anstrebt. Das liegt im Interesse des tibetischen Volkes. sie zum Studium nach Tibet, wo sie zehn Jahre blieb und sich auch für verschiedene Projekte engagierte. 1999 mach- Kritische Stimmen unter den Exiltibetern sagen, wenn am te sie ihren Abschluss in zentral-eurasischen Studien an Ende von Verhandlungen eine echte Autonomie heraus- der Universität Indiana. 2011 kandidierte sie zum ersten kommen würde, wäre das ein Erfolg. Wenn man mit Mal für das Tibetische Parlament im Exil und wurde zur dieser Minimalforderung aber gleich in Verhandlungen Abgeordneten für Nordamerika gewählt. Wenige Mona- eintritt, schränkt man seinen Verhandlungsspielraum von te später wurde sie zur Ministerin für Information und vornherein erheblich ein. Sehen Sie diese Gefahr nicht? Auswärtige Beziehungen ernannt. Am Rande der Konfe- renz „Finding Common Ground – Sino-Tibetan Dialogue“, Das sind theoretische, letztlich fruchtlose Diskussionen, die vom 26.– 28. August in Hamburg, sprach Klemens Ludwig davon ausgehen, wir seien ein gleichberechtigter Verhand- mit ihr über die Diplomatie der Exiltibeter, die Hoffnung lungspartner für die Volksrepublik China. Wie sollen wir die auf Veränderung in China und die Rolle der Tibet-Unter- chinesische Führung aber dazu bringen, sich mit uns an einen stützer. Tisch zu setzen? Es geht nicht um die Verteidigung von Grundsätzen; es geht unmittelbar um das Überleben unserer Nation und die Bewahrung und Stärkung unserer einzigarti- Es gibt seit einiger Zeit Irritationen unter den Tibetern, gen Identität, denn die Tibeter in Tibet brauchen dringend aber auch den Tibet-Unterstützern, über die inhaltliche praktische Lösungen, wenn sie eine Zukunft haben sollen. Ausrichtung der tibetischen Führung im Exil. Das betrifft sowohl die politischen Ziele, die Terminologie als auch den Umgang mit der Kommunistischen Partei Chinas. Um mit Letzterem zu beginnen: Lange Zeit hieß die Führung in Dharamsala „Tibetische Regierung im Exil“, was einen klaren Anspruch formuliert. Heute legen Sie großen Wert auf den Begriff „Zentrale Tibetische Verwaltung“ (Central Tibetan Administration). Das hat auch der Dalai Lama „Die Realität lässt keinen beim 25-jährigen Jubiläum der Tibet Initiative Deutsch- land deutlich gemacht. Bedeutet das ein Einknicken gegen- Raum für Träume von der über der Kommunistischen Partei? Unabhängigkeit.“ 16 Brennpunkt Tibet 4 | 2014
„Die Tibeter in Tibet wollen zwei Dinge, Freiheit, vor allem echte Religionsfreiheit, sowie die Rückkehr Seiner Heiligkeit des Dalai Lama.“ Sehen Sie Perspektiven für eine Veränderung in China? Ich möchte mich nicht an Spekulationen über die politische Führung in Beijing beteiligen, ich kann aber eines sagen: Es gibt eine wachsende Unterstützung von Chinesen für unseren Kampf; und zwar auch von Chinesen aus der Volks- republik, die mit der KP-Propaganda groß geworden sind. Glauben Sie, dass die Tibeter in Tibet mehrheitlich dem Das ist eine sehr hoffnungsvolle Entwicklung und einer der Mittleren Weg folgen? Es gibt inzwischen über 130 Selbst- wichtigsten Erfolge der Diplomatie Seiner Heiligkeit. verbrennungen und immer wieder mutige Proteste gegen Ich bin überzeugt, ohne den Mittleren Weg wären nicht so die chinesische Unterdrückungspolitik. Das alles nur für viele Chinesen bereit, unseren Kampf zu unterstützen. eine „echte Autonomie“? Und viele haben auch erkannt, dass eine Lösung für Tibet im unmittelbaren Interesse der Volksrepublik China liegt. Die Tibeter in Tibet wollen zwei Dinge, Freiheit, vor allem echte Religionsfreiheit, sowie die Rückkehr Seiner Heiligkeit Die Funktionäre der Kommunistischen Partei tun sich des Dalai Lama. Beides ist ohne die Unabhängigkeit mög- mit einer solchen Einsicht aber offenbar schwer. lich. Die Tibeter in Tibet haben vollstes Vertrauen in Seine Heiligkeit und seine Linie, die eine echte Autonomie als Das sieht so aus, Sie müssen dabei aber die Machtstruktur Lösung vorsieht. Käme es dazu, wäre das ein Erfolg für die der Partei berücksichtigen. Offiziell gilt Seine Heiligkeit beharrliche Politik Seiner Heiligkeit in den letzten sechzig noch immer als „Separatist“ und „Wolf im Schafspelz“. Jahren. Wenn ein hoher Funktionär, der nicht dieser Meinung ist, das öffentlich kundtut, weiß er nicht, welche Folgen das hat. Wie definieren Sie Erfolg für die Tibeter in Tibet? Das Das gilt selbst für die Parteispitze. Wir wissen aber, dass es hohe Ansehen, das die Tibeter in aller Welt haben, trägt innerhalb der Partei hinter verschlossenen Türen heftige leider in keiner Weise dazu bei, die Lage in Tibet zu Debatten über den Umgang mit Tibet gibt, und es gibt Stim- verbessern. men, die für eine Kurskorrektur plädieren. Offenbar sind sie in der Minderheit, aber interessant ist auch, dass sich immer Wir müssen langfristig denken, und dann sehe ich schon mal wieder KP-treue Intellektuelle öffentlich in dieser Hin- jetzt große Erfolge dank der Diplomatie Seiner Heiligkeit. sicht äußern. Das wäre ohne Rückendeckung nicht möglich. Ein Erfolg ist zweifellos, dass Tibet auch noch nach fast Uns bleibt also die Hoffnung, dass die Auseinandersetzung sechzig Jahren auf der internationalen Agenda steht. Das über den Tibet-Kurs irgendwann auch einmal konkrete weltweite Ansehen für unseren friedlichen Kampf und die Auswirkungen auf die Politik hat, die dann von der gesamten daraus resultierende Unterstützung sollte keinesfalls unter- Partei getragen wird. schätzt werden. Gäbe es das nicht, hätten wir keine Chance, jemals eine Veränderung zu erreichen, selbst wenn sich in Bleibt Ihnen damit letztlich aber etwas anderes, als auf China etwas ändern sollte. bessere Zeiten zu warten, von denen niemand weiß, ob sie jemals eintreffen? Brennpunkt Tibet 4 | 2014 17
intervieW Nein, nicht nur, wir können die Partei schon heute immer „Die Bedeutung der Unterstützung wieder an ihre eigenen Versprechungen, an ihre eigenen Grundsätze, erinnern. Seine Heiligkeit erwähnt zum Bei- durch die Solidaritätsgruppen spiel immer wieder, dass Mao ihn bei den Zusammenkünf- kann gar nicht hoch genug ein- ten 1954/55 nach der tibetischen Hymne und Flagge gefragt und betont habe, wie gut es sei, dass die Tibeter darüber geschätzt werden.“ verfügten. Das strikte Verbot von beidem widerspricht also der Haltung Maos. Zudem hat Deng Xiaoping, der Vater des modernen China, einmal zu einem Bruder Seiner Heiligkeit gesagt: „Wir können über alles reden, nur nicht über die Unabhängigkeit“. Das sind Positionen der höchsten Autori- täten, in denen sich auch die jetzige Führung wiederfinden kann. Selbst die chinesische Verfassung sieht weitreichen- dere Autonomiebestimmungen vor, als sie in der politischen Praxis angewandt werden. Das klingt nicht nach einer engen Abstimmung von tibetischer Führung im Exil und den Unterstützergruppen. Gibt es Entwicklungen in Tibet, die Ihnen Hoffnung machen? Dem widerspreche ich. Die Bedeutung der Unterstützung durch die Solidaritätsgruppen kann gar nicht hoch genug Auf jeden Fall. In Tibet ist eine neue Generation heran- eingeschätzt werden. Wir begrüßen das sehr, und diese gewachsen, die nichts anderes als die Propaganda der Organisationen leisten einen ausgesprochen wichtigen Kommunistischen Partei erlebt hat. Aber auch sie steht Beitrag, damit Tibet nicht in Vergessenheit gerät. An dieser fest zu Seiner Heiligkeit und unserer Tradition. Das muss Stelle möchte ich mich herzlich bei der Tibet Initiative für der Kommunistischen Partei zu denken geben. all ihre Unterstützung bedanken. Ich bin zutiefst beein- druckt von dem kontinuierlichen und starken Engagement Eine ganz andere Frage: Andere Befreiungsbewegungen der TID. Die TID ist eine der größten politischen Organisa- waren auch deshalb erfolgreich, weil die internationale tionen in der weltweiten Tibet-Bewegung überhaupt. Unterstützung konkrete wirtschaftliche Bereiche umfasst hat. Das bekannteste Beispiel ist zweifellos die südafrika- Danke, das geben wir gerne weiter. Und was wünschen nische Anti-Apartheid-Bewegung und der Boykott süd- Sie sich von der TID und anderen Organisationen? afrikanischer Produkte. China ist mit seinen Produkten auf den Weltmarkt angewiesen. Ein Boykott zumindest Ich möchte sie dringend bitten, mit der wichtigen Arbeit in den westlichen Industrienationen könnte weitreichende fortzufahren, bis eine einvernehmliche Lösung gefunden Folgen haben und Beijing an einer empfindlichen Stelle wurde, die das Überleben des tibetischen Volkes sicherstellt. treffen. Ich möchte noch einmal betonen, wir befinden uns heute an einem Wendepunkt der tibetischen Geschichte. Und obwohl Dazu ganz klar, das haben wir nicht auf der Agenda. Wenn wir noch nie eine so kritische Phase durchlaufen haben wie die Unterstützergruppen das machen, werden wir nichts in den letzten fünfzig Jahren, steht Tibet noch auf der poli- dagegen sagen, aber unser Fokus ist das nicht. tischen Agenda. Das ist auch ein Verdienst unserer Unter- stützer, und dafür müssen wir uns alle gemeinsam weiterhin stark machen. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch. // INTERVIEW: Klemens Ludwig Y Mehr Infos zum Middle Way Approach unter: http://mwa.tibet.net/gr/ 18 Brennpunkt Tibet 4 | 2014
Sie können auch lesen