DER MITTLERE WEG eine diplomatische Gratwanderung - Ausgabe4|2014 3EUR Tibet Initiative Deutschland e.V.

Die Seite wird erstellt Justin Barthel
 
WEITER LESEN
DER MITTLERE WEG eine diplomatische Gratwanderung - Ausgabe4|2014 3EUR Tibet Initiative Deutschland e.V.
Ausgabe 4 | 2014   3 EUR

Brennpunkt
                                Das Magazin der
                                Tibet Initiative
                                Deutschland e.V.

DER MITTLERE WEG
eine diplomatische Gratwanderung
                             Brennpunkt Tibet 4 | 2014   1
DER MITTLERE WEG eine diplomatische Gratwanderung - Ausgabe4|2014 3EUR Tibet Initiative Deutschland e.V.
DIE KALENDER 2015 SIND DA!
                                                                       Jetzt im Tibet Online Shop bestellen

Wandkalender 2015                                                         Bestellungen online: www.tibet-online-shop.de
Format 30 x 30 cm | 12,95 EUR *
                                                                          Oder gerne auch telefonisch bei Iris Fricke unter
* Preise inkl. MwSt. zzgl. Versand.
Wandkalender mit weiteren Motiven sind ebenfalls bei uns erhältlich.      030 – 42 08 15 32 montags und mittwochs
Alle Kalender wurden in der EU auf zertifiziertem umweltfreundlichem
Papier gedruckt.
                                                                          von 9 bis 12 Uhr.
                                                                          Wir freuen uns auf Ihre Bestellung!
                                                                          Sie unterstützen damit unsere Arbeit für ein
                                                                          selbstbestimmtes Tibet.
DER MITTLERE WEG eine diplomatische Gratwanderung - Ausgabe4|2014 3EUR Tibet Initiative Deutschland e.V.
editorial

der bekannte Bürgerrechtler Hu Jia stellt in einem Interview fest: „Ich weiß
nicht, ob die KPCh dumm ist oder vorsätzlich unbarmherzig. Sie haben ein Feuer
entzündet.“ Hintergrund dieser Aussage ist die Verurteilung des bekannten uiguri-
schen Regimekritikers Ilham Tohti zu einer lebenslangen Haftstrafe. Als einer der
wenigen bekannten Intellektuellen seines Landes setzt er sich öffentlich dafür ein,
dass Ost-Turkestan ein Teil Chinas bleiben und einen Autonomiestatus bekommen
soll. Ebenso thematisierte Tohti die rechtlichen und kulturellen Missstände in sei-
nem Land. Ihm ging es nie, wie Rebiya Kadeer, der Vorsitzenden des Weltkongres-
ses der Uiguren, um Loslösung von China, sondern um eine Versöhnungspolitik
zwischen Uiguren und Chinesen. Mit der Verurteilung Tohtis gießt die chinesische
Regierung weiter Öl ins Feuer und gibt den radikalen Kräften Auftrieb.
Auch der Mittlere Weg des Dalai Lama wird seit Jahren bewusst fehlinterpretiert.
Immer und immer wieder werden der Dalai Lama und die tibetische Exilführung
als Separatisten bezeichnet, die eine Abspaltung Tibets von China vorantreiben
würden. Da kann der Dalai Lama noch so oft betonen, wie zuletzt bei unserer
Jubiläumsveranstaltung in Hamburg, dass der Mittlere Weg, nämlich eine Auto-
nomielösung für Tibet innerhalb Chinas, der einzig gangbare Weg zur Lösung der
Tibetfrage ist. Kein Wunder also, dass sich nun auch unter Tibetern zunehmend
kritische Stimmen zur Politik des Mittleren Weges finden, denn faktisch hat sich
trotz aller diplomatischen Bemühungen in den letzten Jahrzehnten die Situation
in Tibet nicht verbessert. In dieser Ausgabe stellen wir die verschiedenen Positio-
nen einander gegenüber und wollen damit einen Einblick in die zumeist inner-
tibetische Debatte geben.
Chinas Präsident Xi Jinping entwickelt sich nicht nur in der Tibet- und Ost-
Turkestan-Politik mehr und mehr zum Hardliner. Der Umgang der chinesischen
Regierung mit der Demokratiebewegung in Hongkong spricht ebenfalls eine
deutliche Sprache. Die Bilder der jungen Demonstranten erinnern sehr stark an
den Vorabend des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens in Beijing im
Jahr 1989. Wurde noch 1997 nach erfolgter Übergabe der Staatshoheit Hongkongs
an die Volksrepublik China von einem Land mit zwei Systemen gesprochen, so
möchte man heute nur noch wenig davon wissen. Und gerade Hongkong hätte ein
positives Beispiel für Tibet, für Ost-Turkestan, ja sogar für Taiwan sein können.
Wenn wir in Tibet etwas verändern wollen, müssen wir vehement für den Dialog
zwischen Chinesen und Tibetern eintreten. Die Tibeter haben mehrfach bewiesen,
dass sie dazu bereit sind. Jetzt ist es an China und damit auch an der internatio-
nalen Politik, die chinesische Führung in die Pflicht zu nehmen. Unite for Tibet!

Gemeinsam. Stark. Für Tibet.

Wolfgang Grader
Vorsitzender der Tibet Initiative Deutschland e.V.

                                                                                                  Brennpunkt Tibet 4 | 2014   1
DER MITTLERE WEG eine diplomatische Gratwanderung - Ausgabe4|2014 3EUR Tibet Initiative Deutschland e.V.
22

JuBiläum in HamBurG
Aktion der Tibet Jugend
Die Besucher unserer Jubiläums-
veranstaltung in Hamburg
haben ihre Wünsche für Tibet
niedergeschrieben. Diese
Gebetsfahnen wehen mittler-
weile in Dharamsala. Herzlichen
Dank an die Tibet Jugend für
diese Aktion!

2        Brennpunkt Tibet 4 | 2014
DER MITTLERE WEG eine diplomatische Gratwanderung - Ausgabe4|2014 3EUR Tibet Initiative Deutschland e.V.
inHalt

                                       4   naCHriCHten
                                           Schüsse auf Demonstranten in Kardze | Schwangere Ehefrau
                                           nimmt sich das Leben | Bekannter Rinpoche im Gefängnis | Zahl der
                                           Selbstverbrennungen steigt auf 133 | Gefangenenliste aus China
                                           geschmuggelt | Deutsch-Chinesische Regierungskonsultationen |
                                           Chinesische Regierung veröffentlicht Gesetzeshandbuch | Angriff auf
                                           Tibet-Aktivistin | Tibet im Deutschen Bundestag | Südafrika: Kein
                                           Visum für den Dalai Lama

                                       7   naCHruf auf irmtraut WäGer
                                       8   titeltHema
                                           Der Mittlere Weg – Eine diplomatische Gratwanderung |
                                           zusammengestellt von Klemens Ludwig und David Demes

                                      16   intervieW
                                           „Wir haben nicht den Luxus, Zeit zu haben“ |
                                           Interview mit Dicki Chhoyang, Ministerin für Information
                                           und Auswärtige Beziehungen

                                      19   5 fraGen an…
                                           Wangpo Tethong | Mitglied des tibetischen Exilparlaments in Dharamsala

                                      20   meinunG
                                           Perspektiven für das Überleben der tibetischen Kultur |
                                           Tienchi Martin-Liao

                                      21   Stimmen für tiBet
                                           Wolfgang Niedecken | Musiker, Maler und Autor
                             16
                                      22   JuBiläum in HamBurG – impreSSionen
                      intervieW
             „Wir haben nicht den     24   aktionen
             Luxus, Zeit zu haben“         Unite for Tibet! | FREE ME! Jigme Guri | Schilderstreich für Tibet
                     Interview mit         in Münster | TEAM TIBET beim München Marathon
                   Dicki Chhoyang,
                     Ministerin für   27   tiBet JuGend
                  Information und          Move yourself to move the world
                       Auswärtige
                      Beziehungen     28   kunSt im WiderStand
                                           Zurückgekehrt! | Sangye Dolma

                                      30   kommentar
   8                                       Schottland nach dem Referendum – … und was ist mit Tibet? |
                                           Tsewang Norbu
titeltHema
Der Mittlere Weg                      31   leSetippS
Eine diplomatische                         Gabriel Lafitte: Spoiling Tibet | York Hovest: Hundert Tage Tibet
Gratwanderung
// zusammengestellt                   32   notiert | impreSSum
von Klemens Ludwig
und David Demes                       33   termine
                                                                                            Brennpunkt Tibet 4 | 2014   3
DER MITTLERE WEG eine diplomatische Gratwanderung - Ausgabe4|2014 3EUR Tibet Initiative Deutschland e.V.
naCHriCHten

                                                                                                                                              China

                                                                                                                                 GANSU
                  East Turkestan                                                                           QI NG HAI
                     Xinjiang                                                                                                 Themchen

                                                                                             A                                           Chabcha     Tsapon

                                                                                                                                             Chentsa

                                                                                                              M

                                               TIBET
                                                                                                                                                        Kangsta
                                                                                                                                                                          Sangchu
                                                                                                                                              Rebkong
                                                                                                                                 Gepa Sumdo                               Tsoe
                                                                                                                                         Tsekhok                          Amchok
                                                        TI BET                                              Dzatoe
                                                                                                                     Tridu
                                                                                                                                D             Sogpo
                                                                                                                                                   Machu
                                                                                                                                                                          Bora
                                                                                                                                                                          Luchu
                                                   A U TO N O M O U S

                                                                                                          K
                                                                                                                                 Darlag    Chigdril
                                                       REGION                            Sog
                                                                                                           Jyekundo
                                                                                                                                              Pema     O    Ngaba
                                                                                                                                                                 Dzoge

                                                                            Nagchu                             Chamdo                      Serthar      Dzamthang
                                                                                     Driru
                                        Ü - T            S     A        N       G

                                                                                                                      H
                                                                                                 Bankar                              Kardze                Barkham
                                                                                                                                         Dranggo
                                                                        Damshung                                                                        Tawu
India                                                                       Lhasa
                           Nepal

                                                                                                                                A
                                                                                                                                                     S ICH UAN
                                                             Bhutan

                                                                                                                                              M
                                                                                                                             YU N NAN
    Grenze Tibets                                                                                                                                                 China
    Offizielle chinesische Bezeichnungen                                                                  Burma
    für Provinzen und Autonome Regionen                  Bangladesh
    Traditionelle tibetische Regionen

                                                         Schüsse auf demonstranten in kardze
                                                         Am 12. August kam es zu einem brutalen Übergriff auf Tibeter, die bei einer
                                                         Demonstration in Kardze, Osttibet, die Freilassung ihres Dorfoberhauptes forder-
                                                         ten. Die chinesische Polizei eröffnete das Feuer auf Hunderte Demonstranten,
                                                         viele Tibeter wurden schwer verletzt. Insgesamt starben sieben Tibeter. Vier
                                                         erlagen in Haft ihren Verletzungen und ein weiterer nahm sich das Leben. Die
                                                         Demonstration war eine Reaktion auf die Festnahme von Dema Wangdak am Vor-
                                                         tag. Das Oberhaupt der Shopa Gemeinde hatte die Schikanierung von Tibeterinnen
                                                         durch die chinesischen Behörden kritisiert. Im Zuge dessen war es zu einer hefti-
                                                         gen Auseinandersetzung gekommen. Er wurde beschuldigt, eine illegale Zeremo-
                                                         nie während eines traditionellen Reiterfestes abgehalten zu haben. Wangdak setzt
                                                         sich seit Jahren für die Rechte misshandelter Tibeter ein. Das extrem gewaltsame
                                                         Vorgehen der chinesischen Behörden hat über die Grenzen Tibets hinaus für gro-
                                                         ße Empörung gesorgt. Mit mehreren Petitionen wurde seitdem seine Freilassung
                                                         und ein Ende der Gewalt gefordert.
                                                         Auch gibt es keine weiteren Informationen über den Zustand und Verbleib einiger
                                                         tibetischer Jugendlicher im Alter von 12 und 13 Jahren, die nach diesem Vorfall
                                                         aus ihren Dörfern abgeholt und in Gefangenschaft genommen wurden. Weiterhin
                                    Proteste in Kardze   unbestätigt bleibt die Meldung, dass ein chinesischer Polizeibeamter von den eige-
                                                         nen Truppen versehentlich erschossen wurde, als diese das Feuer auf die Demon-
                                                         stranten eröffneten. //

4       Brennpunkt Tibet 4 | 2014
DER MITTLERE WEG eine diplomatische Gratwanderung - Ausgabe4|2014 3EUR Tibet Initiative Deutschland e.V.
Schwangere ehefrau                                                                     mer zehn inhaftiert, wobei zwei von ih-
                                                                                       nen eine lebenslange Strafe verbüßen
nimmt sich das leben                                                                   müssen. Der 25-jährige Mönch und
                                                                                       ehemalige politische Gefangene, Gonpo
Eines der Opfer, das bei der friedlichen                                               Trinley, hatte die Liste selbst in der Haft
Demonstration in Kardze schwer ver-                                                    erstellt. Er war gemeinsam mit seinem
letzt wurde, war der 18-jährige Jinpa                                                  Cousin verhaftet und ins Gefängnis
Tharchin. Seine Schusswunden wurden                                                    nach Deyang, Osttibet, gebracht wor-
nicht behandelt. Zusätzlich wurde er in                                                den. Beide wurden schwer misshandelt,
Haft schwer gefoltert. Seine im siebten                                                weil sie öffentlich die Rückkehr des
Monat schwangere Frau erhängte sich                                                    Dalai Lama gefordert hatten. In Haft
eine Woche nach seinem Tod. //              Zahl der                                   wurden sie schwer misshandelt. 2010
                                            Selbstverbrennungen                        wurde Gonpo Trinley entlassen. Ihm
                                                                                       gelang die Flucht nach Indien, und
                                            steigt auf 133                             er konnte nun dem TCHRD die Liste
                                                                                       übergeben. Auch beschrieb er die
                                            Erneut kam es im September aus             Haftbedingungen wie folgt: Neben
                                            Protest gegen die chinesische Repres-      täglicher harter Arbeit mussten alle
                                            sionspolitik zu Selbstverbrennungen        Insassen Hunger leiden, es gab Grup-
                                            in Tibet. Unabhängig voneinander           penbestrafungen und kaum Kontakt zu
                                            entzündeten sich innerhalb von zwei        Angehörigen. Auch nach seiner Entlas-
                                            Tagen zwei Tibeter in Osttibet. Am         sung aus der Haft war Trinley jedoch
                                            16. September zündete sich der 42-jäh-     nicht wirklich frei. Er durfte weder in
                                            rige Kunchok vor einer Polizeistation      sein Kloster zurückkehren noch seine
                                            in Gade an. Der Vater eines Mönchs         Studien wieder aufnehmen. //
Bekannter rinpoche                          und einer Nonne wurde von Tibetern,
                                            die den Vorfall beobachteten, sofort in
im Gefängnis                                ein Krankenhaus gebracht und wird
                                                                                       deutsch-Chinesische
                                            seitdem ärztlich versorgt. Er schwebt
Tulku Phurbu Tsering, auch bekannt
als Pangri-na Rinpoche, ist im Ge-
                                            in Lebensgefahr. Einen Tag darauf
                                            entzündete sich der Student Lhamo
                                                                                       regierungskonsultationen
fängnis Mianyang, nahe Chengdu in           Tashi ebenfalls vor einer Polizeistation   Mit dem Slogan „Keine Wirtschaft
Osttibet, entdeckt worden. Er war           in Kanlho, nachdem er zuvor lautstark      ohne Menschenrechte“ hat die TID
2008 von den chinesischen Behörden          die Freiheit Tibets und die Rückkehr       anlässlich der 3. Deutsch-Chinesischen
festgenommen worden, nachdem er             des Dalai Lama gefordert hatte. Der        Regierungskonsultationen in Berlin
mit einem Friedensmarsch tibetischer        22-Jährige erlag kurz darauf seinen        und dem „Hamburg Summit: China
Nonnen in Verbindung gebracht wor-          Verletzungen. Somit steigt die Zahl        meets Europe“ am 10./11. Oktober zu
den war. Nach seiner Verhaftung verlor      der Selbstverbrennungen von Tibetern       einer E-Mailaktion an die Bundesregie-
sich zunächst jede Spur des damals          auf 133. //                                rung aufgerufen. Die Forderung an
53-Jährigen. Im Jahr 2009 gelangten                                                    Kanzlerin Merkel und Außenminister
erstmals Informationen über seinen                                                     Steinmeier: Diese Foren dazu zu nut-
Aufenthaltsort an die Öffentlichkeit.
Tulku Phurbu Tsering wurde vom
                                            Gefangenenliste aus tibet                  zen, um gegenüber dem chinesischen
                                                                                       Ministerpräsidenten Li Keqiang, die
Gericht in Dartsedo, Osttibet, wegen
illegalen Waffenbesitzes zu acht Jah-
                                            geschmuggelt                               Menschenrechtslage in Tibet anzu-
                                                                                       sprechen. Anlässlich des „Hamburg
ren und sechs Monaten Gefängnis             Anfang August 2014 hat das Tibetische      Summit“ hat die TID-Regionalgruppe
verurteilt. Zwei Verteidiger berichteten,   Zentrum für Menschenrechte und             Hamburg am 11. Oktober gemeinsam
dass das Geständnis mangels Beweisen        Demokratie (TCHRD) aus Osttibet eine       mit der Gesellschaft für bedrohte
durch Folter zustande gekommen war.         Liste von 45 Häftlingen erhalten. Dabei    Völker und dem Verein der Tibeter in
Bis heute ist der Grund seiner Inhaftie-    handelt es sich um Tibeter, die im Zuge    Deutschland eine Mahnwache vor der
rung unklar. Es wird vermutet, dass der     der Unruhen zwischen 2008 und 2009         Handelskammer in Hamburg abge-
eigentliche Grund sein Engagement für       festgenommen worden waren. Von den         halten, wo Li Keqiang als Ehrengast
wohltätige Zwecke ist. //                   45 genannten Tibetern sind noch im-        empfangen wurde. //

                                                                                                     Brennpunkt Tibet 4 | 2014   5
DER MITTLERE WEG eine diplomatische Gratwanderung - Ausgabe4|2014 3EUR Tibet Initiative Deutschland e.V.
naCHriCHten

Chinesische regierung veröffentlicht
Gesetzeshandbuch
Unter dem Titel „Two laws by People’s government of Driru
county“ (Zwei Gesetze der Volksregierung der Präfektur
Driru) haben die chinesischen Behörden im Juni neue             Namkho (dritter von rechts) zu Gast beim Tibet Gesprächskreis
Gesetze für Tibeter in dieser Region festgelegt. Es handelt
sich dabei um 26 Artikel, die Vorschriften und Bestrafungen
enthalten. Mit dem Regelwerk sollen Proteste von Tibetern       tibet im deutschen Bundestag
gegen die Regierung verhindert werden. Verboten sind unter
anderem die Teilnahme am jährlichen Monlam-Gebetsfest            Am 11. September 2014 fand die erste Sitzung des Tibet Ge-
und die Verbreitung von Gerüchten. Zudem ist es Nonnen           sprächskreises (TGK) nach der Sommerpause im Deutschen
und Mönchen verboten, außerhalb der Präfektur zu studie-         Bundestag statt. Als Gastredner war dieses Mal Namkho
ren und zu lehren. Das Handbuch enthält auch Regeln zu           eingeladen. Namkho stammt aus Ngaba, Osttibet, und lebt
Gefängnisstrafen, den Ausschluss vom Erntefest Yartsa            seit 2003 in der Schweiz. 2010 fuhr er nach Tibet, um seine
Gunbu und die Teilnahme an Umerziehungsmaßnahmen                 Familie zu besuchen, und wurde so Zeuge einer Selbstver-
im Falle von Separatismus oder bei Weitergabe von Informa-       brennung. Das veranlasste ihn dazu, mehrere Monate durch
tionen an Dritte. Unter Strafe stehen auch das Singen tibeti-   Tibet zu reisen und Filmmaterial aufzunehmen, um über die
scher Lieder, die Verbreitung der Lehren des Dalai Lama          wahre Situation in seiner Heimat berichten zu können:
sowie die Organisation öffentlicher Veranstaltungen. Bereits    „Es ist absolut wichtig für uns Tibeter, dass wir unsere Ge-
zu Beginn des Jahres waren rund hundert Tibeter während          schichte selbst erzählen können“, so Namkho. Eindrücklich
des Yartsa Gunbu Erntefestes verhaftet und aus unbekann-         schilderte er seine Erlebnisse, die erdrückende Militärprä-
ten Gründen monatelang festgehalten worden. //                   senz und die ständige Angst, mit der seine Landsleute leben.
                                                                 Unter dem Eindruck seiner bewegenden Schilderung disku-
                                                                 tierten die Teilnehmer mögliche politische Strategien und
angriff auf tibet-aktivistin                                     Handlungsmöglichkeiten.
                                                                 Den Vorsitz des TGK übernehmen in dieser Legislaturperiode
Am 7. September kam es beim diesjährigen chinesischen            Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD), Michael Brand (CDU/
Mondfest im schweizerischen Basel, Partnerstadt von              CSU) und Manuel Sarrazin (Bündnis 90/Die Grünen). //
Shanghai, zu Übergriffen auf eine Tibet-Aktivistin. Während
eines friedlichen Protestes gegen die chinesische Regierung
wurde eine Tibeterin aus der Schweiz von chinesischen
Sicherheitsbeamten bedrängt und gewaltsam attackiert.
                                                                Südafrika: kein visum für den dalai lama
Während der Zeremonie mit Regierungspräsident Guy               Südafrika hat dem Dalai Lama kein Visum für ein geplantes
Morin sowie der chinesischen Botschafterin, Xu Jinghu,          Gipfeltreffen von Nobelpreisträgern im Oktober ausgestellt.
protestierten Mitglieder vom Verein Tibeter Jugend in           Eine Sprecherin erklärte, dass die südafrikanische Regierung
Europa (VTJE) mit Tibet-Flaggen und Schildern wie „Free         den Dalai Lama kurzfristig per Telefon darüber informiert
Tibet“ oder „China Stop Propaganda“ für ein freies Tibet.       hätte. Als möglicher Grund für die Absage wurden die Han-
Dabei wurde eine Demonstrantin von Sicherheitsbeamten           delsbeziehungen zwischen Südafrika und China vermutet.
der chinesischen Botschaft zu Boden gedrückt, die Plakate       Bereits zum wiederholten Mal wurde Seiner Heiligkeit die
wurden ihr abgenommen. Weitere Demonstranten seien              Einreise nach Südafrika verwehrt. Allen Protesten aus dem
ebenfalls angegriffen worden, so die Betroffene. Auch           In- und Ausland zum Trotz hielt die südafrikanische Regie-
ihnen seien Schilder und Flaggen brutal entrissen worden.       rung an ihrer Entscheidung fest. Daraufhin boykottierten
Im Nachhinein legitimierte die Veranstaltungsleitung das        einige Friedensnobelpreisträger das Treffen, so dass die Kon-
Vorgehen des Sicherheitspersonals. In einer Stellungnahme       ferenz schließlich abgesagt wurde. Die Bürgermeisterin von
sagte Morin, dass der Schutz der chinesischen Botschafterin     Kapstadt und Oppositionspolitikerin Patricia de Lille warf
oberste Priorität gehabt hätte. Die Aktivistin hat bei der      der Regierung vor, dass sie damit dem Ansehen des Landes
Staatsanwaltschaft Bern Anzeige gegen unbekannt wegen           erheblich schade. Südafrikas Erzbischof und Friedensnobel-
Nötigung und Sachentziehung erstattet. //                       preisträger Desmond Tutu sagte, er schäme sich für seine
                                                                Regierung. //

                                                                                                                                // Hannah Wolf

6      Brennpunkt Tibet 4 | 2014
DER MITTLERE WEG eine diplomatische Gratwanderung - Ausgabe4|2014 3EUR Tibet Initiative Deutschland e.V.
naCHruf

                                                                                                        Irmtraut Wäger und der Dalai Lama
                                                                                                                         2012 in Salzburg

ein leBen für tiBet:                                                Tibethilfsvereine. Alle Reisen nach Indien finanzierte sie
                                                                    selbst. Offen und ehrlich schilderte sie dem Dalai Lama all
danke irmtraut WäGer                                                die großen und kleinen Probleme und Schwierigkeiten in
                                                                    den Flüchtlingslagern. Und der Dalai Lama wusste dies sehr
„Gestatten, meine Name ist Irmtraut Wäger“, so stellte sie          zu schätzen und zu würdigen. Ja, zu einer „Amala“, zu einer
 sich mir, schon über 80-jährig, in Berlin vor, als sie eine Ein-   Irmtraut Wäger, kommt auch der Dalai Lama in die kleine
 ladung der TID zu „10 Jahre Flaggenaktion“ angenommen              Wohnung, gelegen in einer größeren schmucklosen Wohn-
 hatte. Meine erste Begegnung mit ihr, und ich spürte, das ist      hausanlage in München. Dies war für sie, trotz vieler Aus-
 nun ein besonderer Augenblick, und seither sahen wir uns           zeichnungen und Preise, die sie im Laufe der Jahre erhielt,
 regelmäßig. Am Donnerstag, den 2. Oktober 2014, kurz vor           die wohl schönste ehrenvollste Würdigung ihrer Arbeit.
 Mitternacht hat sich Irmtraut Wäger von der Welt verab-            Es war diese Direktheit und Klarheit ihres Engagements,
 schiedet. Bis zuletzt galten ihre Gedanken Tibet, bis zuletzt      das man an ihr so schätzen konnte. „Schreibt doch nicht
 war sie eingebunden in die große Tibet-Gemeinschaft. Als           immer nur Negatives über Tibet“, meinte sie einmal ganz
 ich Irmtraut wenige Tage vor ihrem Tod zum                         offen zu mir. Und sie hatte ja Recht, denn um Menschen
95. Geburtstag in ihrer kleinen Zwei-Zimmerwohnung be-              zum Einsatz für Tibet zu bewegen, bedarf es auch der Beto-
 suchte, begegnete ich einer geistig sehr wachen und inter-         nung der kulturellen und geistigen Werte Tibets, der tiefen
 essierten Frau, und aus dem geplanten einstündigen Treffen         Spiritualität der Tibeter, des kulturellen Reichtums und der
 wurden schließlich drei Stunden. Irmtraut Wäger war                Schönheit des Landes.
 nicht einsam und allein, wie es bei älteren Menschen oft           Irmtraut Wäger war über 20 Jahre treues Mitglied der Tibet
 vorkommt, sie bekam während dieser Zeit zweimal Besuch             Initiative Deutschland, wusste sie doch, dass humanitäre
 und erzählte mir von einem langen Telefonat, in dem sie            Hilfe nur eine, wenn auch ganz wichtige, Säule zur Unter-
 jemand um Rat zu einem Tibetprojekt fragte. Nein, Irmtraut         stützung der Tibeter sein kann. Mit 90 Jahren zog sie sich
Wäger war bis zum Schluss „Amala“ (verehrte Mutter) für             aus dem Vereinsleben zurück, und selbst in diesem hohen
 die Tibeter, für die tibetische Sache, Kontakt- und Bezugs-        Alter hatte sie auf der Mitgliederversammlung der Deut-
 person für viele Menschen. Und dabei hat sie erst zu einem         schen Tibethilfe die Arbeit ihres Vereins genau analysiert und
 Zeitpunkt, an dem die meisten schon ans Aufhören denken,           zukunftsweisende Änderungen angeregt.
 nämlich nach ihrer Pensionierung, angefangen, sich für             Es gäbe noch viel zu schreiben, über ihren ungewöhnlichen
Tibet zu engagieren. Sie reiste nach Indien, sah das Elend in       Lebensweg in der Kriegs- und Nachkriegszeit, über ihre
 den tibetischen Flüchtlingslagern, wurde aktiv in der Deut-        interessanten Begegnungen. Am 10. Oktober waren etwa
 schen Tibethilfe und unterstützte mit vielen Tibetfreunden         300 Menschen bei der Gedenkfeier in München, darunter
 weit über zehntausend Tibeterinnen und Tibeter. Unzählige          viele Tibeter. Viele viele mehr werden sie als einen ganz
 Patenschaften und Projekte gingen durch ihre Hände und             besonderen Menschen, die „Amala Tibets“, im Gedächtnis
 akribisch genau, mit Zettelkasten, Fotoapparat, Schreib-           behalten und daraus auch Kraft und Inspiration für die
 maschine und einer Schar treuer ehrenamtlicher Helfer,             Tibet-Arbeit schöpfen. Und dafür sei ihr herzlich gedankt.
 verwaltete und organisierte sie einen der weltweit größten
                                                                    // Wolfgang Grader
                                                                                                       Brennpunkt Tibet 4 | 2014       7
DER MITTLERE WEG eine diplomatische Gratwanderung - Ausgabe4|2014 3EUR Tibet Initiative Deutschland e.V.
titeltHema

Der Mittlere Weg
Eine diplomatische Gratwanderung
// Auswahl der Texte: Klemens Ludwig
// Übersetzung: David Demes
Als der Dalai Lama im Juni 1988 in einer Rede vor dem
Europäischen Parlament erstmals auf den Anspruch der
Tibeter auf Unabhängigkeit verzichtet und eine „echte
Autonomie“ unter chinesischer Flagge als Ziel des Frei-
heitskampfes propagiert hatte, war der Schock unter vie-
len Tibetern und Unterstützern groß. Manche sahen darin
allerdings auch einen geschickten Schachzug, um endlich
ernsthafte Verhandlungen mit der Volksrepublik China
möglich zu machen. Immerhin hatte der Vater des mo-
dernen China, Deng Xiaoping, einst dem Bruder des Dalai
Lama, Gyalo Thondup, versichert: „Wir können über alles
reden, außer über die Unabhängigkeit.“ Dieser diploma-
tische Schritt des Dalai Lama wurde als „Mittlerer Weg“
bekannt. Mehr als ein Vierteljahrhundert später ist die
Ernüchterung groß. Abgesehen von Verhandlungen zwi-
schen zwei Sondergesandten des Dalai Lama und chinesi-
schen Offiziellen im Vorfeld der Olympischen Spiele von          Am 5. Juni 2014 lancieren Kalon Dicki Chhoyang, Sikyong Lobsang Sangay und
Beijing 2008 – die unmittelbar danach von chinesischer           Minister Tashi Phuntsok (v.l.n.r.) in Dharamsala die „UMAYLAM: Middle Way
Seite abgebrochen wurden – gibt es seitens der Kommu-            Approach“-Kampagne.
nistischen Partei Chinas (KPCh) keinerlei erkennbare Be-
wegung in der Tibet-Frage. Dennoch hält die tibetische
Führung weiter am Mittleren Weg fest. Ihr erster direkt          Und doch, trotz der unglaublichen Herausforderung, die der
gewählter Ministerpräsident, Lobsang Sangay, geht sogar          Aufstieg Chinas bedeutet, bleiben die Tibeter unbeirrt bei ih-
noch weiter und will offenbar selbst die Herrschaft der          rer Entscheidung, durch Dialog und ‚echte Autonomie‘ eine
KPCh nicht mehr infrage stellen. Gleichzeitig mehren sich        friedliche Lösung mit der Volksrepublik China zu finden. Die-
kritische Stimmen, die den Mittleren Weg für einen Irr-          se als ‚Mittlerer Weg‘ bezeichnete politische Linie wurde ur-
weg halten, der den tibetischen Freiheitskampf schwäche.         sprünglich von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama begründet
Wir stellen im Folgenden beide Positionen dar: Die offi-         und fand überwältigende Unterstützung im tibetischen Volk.
zielle Haltung der tibetischen Führung im Exil und ihre          Für seinen unermüdlichen Einsatz für universellen Frieden ist
Gründe, am Mittleren Weg festzuhalten, sowie die inter-          Seine Heiligkeit weltweit bekannt, die Politik des Mittleren
nationale Resonanz darauf. Dem stehen drei kritische             Weges (‚Umaylam‘ im Tibetischen) ist auch ein Geschenk an
Stimmen gegenüber: Der tibetische Schriftsteller Jamyang         die Welt zur friedlichen Lösung von Konflikten durch Dialog
Norbu, der Professor für zentralasiatische Studien an der        und Gewaltlosigkeit. Sein Erfolg ist von globaler Bedeutung
Universität Indiana, Elliot Sperling, sowie der Tibetische       in einer Zeit zunehmender Gewalt. (…) Helfen Sie uns, unse-
Nationalkongress. Bei der Kontroverse geht es nicht nur          re Botschaft des Friedens zu verbreiten.“
um die Frage, was eine erfolgversprechende Strategie im          Dr. Lobsang Sangay, Sikyong
Kampf um Selbstbestimmung ist, sondern auch darum,
ob der „Mittlere Weg“ demokratisch legitimiert ist.              Y Quelle: http://mwa.tibet.net/gr/ (Stand: Oktober 2014)

die position der tibetischen exilregierung
(Central tibetan administration/Cta)
Grundsatzerklärung von Ministerpräsident                           „Ich bin weiterhin davon überzeugt,
Lobsang Sangay                                                      dass die meisten menschlichen
„Die konkrete Situation in Tibet … zeigt … eine brutale Rea-       Konflikte durch aufrichtigen Dialog,
 lität: Ein Land, seit über 50 Jahren besetzt von China; zahl-
                                                                    durchgeführt in einem Geist der
 lose Menschen, die ihr Leben verloren haben; eine Kultur,
 die vom Untergang bedroht ist. Die Unterdrückung hat ein          Offenheit und Versöhnung, gelöst
 solches Ausmaß erreicht, dass sich, als politische Form des       werden können.“
 Protests, von 2009 bis heute 130 Tibeter [Anm. d. Red.: 133
 Tibeter (Stand: Oktober 2014)] selbst in Brand gesetzt haben.      Seine Heiligkeit der Dalai Lama

                                                                                                             Brennpunkt Tibet 4 | 2014        9
Kampagnenlogo von der CTA-Webseite

     „Früher oder später wird China                          die Art der angestrebten Autonomie schriftlich zu fixieren.
      dem weltweiten Trend folgen                            Das Memorandum über echte Autonomie für das tibeti-
                                                             sche Volk wurde bei der 8. Gesprächsrunde im Oktober/
     müssen, und auf lange Sicht gibt                        November desselben Jahres vorgelegt. Dieses Memoran-
      es für China kein Entkommen vor                        dum – das sich innerhalb des Rahmens der chinesischen
                                                             Verfassung bewegt – definiert Komplexe wie die ‚Realisie-
     Wahrheit, Gerechtigkeit und                             rung einer einzigen Verwaltung für die tibetische natio-
     Freiheit.“                                              nale Minderheit in der Volksrepublik China‘, die ‚Art und
                                                             Struktur der Autonomie‘ und die ‚Elf Grundbedürfnisse
     Seine Heiligkeit der Dalai Lama                         der Tibeter‘. Die chinesische Führung wies den Vorschlag
                                                             zurück und behauptet fälschlicherweise, das Memoran-
                                                             dum beinhalte Hinweise auf ein ‚Groß-Tibet‘ ‚verdeckte
                                                             Unabhängigkeit‘ und auf ‚Unabhängigkeit in anderem Ge-
                                                             wand‘.

                                                             Als Antwort auf die Bedenken der chinesischen Regierung
                                                             legte die tibetische Führung bei der 9. Gesprächsrunde
Hoffnung auf einen Dialog                                    2010 eine Note zum Memorandum über echte Autonomie
                                                             für das tibetische Volk vor. Die Note erläuterte, wie echte
In den Jahren 2002 bis 2010 versuchten zwei Sonderge-        Autonomie für das tibetische Volk innerhalb der Volks-
sandte des Dalai Lama in einem Dialog mit den chinesi-       republik China, ihrer Verfassung, ihrer territorialen Inte-
schen Gesprächspartnern den Grundstein für ernsthafte        grität und ihrer drei nicht verhandelbaren Punkte funkti-
Verhandlungen über eine echte Autonomie Tibets zu legen.     onieren würde. Diese drei Punkte sind die Führungsrolle
Die erste Gesprächsrunde fand im September 2002 in           der Kommunistischen Partei, der Sozialismus mit chine-
Beijing statt. Weitere Gespräche folgten unter anderem in    sischen Charakteristika und das System der regionalen
Guilin, Shanghai, Nanjing, Shenzhen sowie im schweize-       Autonomie. Die chinesische Regierung weigerte sich je-
rischen Bern. Bei der siebten Gesprächsrunde im Juli         doch, den Vorschlag anzunehmen.
2008 unmittelbar vor den Olympischen Spielen, forder-
ten die chinesischen Vertreter die tibetische Führung auf,

10      Brennpunkt Tibet 4 | 2014
titeltHema

Die Sondergesandten des Dalai Lama, Kelsang Gyaltsen (l.) und                 US-Präsident Barack Obama und der Dalai Lama im Februar 2014 bei einem
Lodi Gyari (m.), während der 9. Dialogrunde mit Vertretern der chinesischen   privaten Treffen im Map Room des Weißen Hauses in Washington DC
Regierung im Jahr 2010

Unterstützung aus China und der Welt                                          Auch von chinesischer Seite erfährt die Politik des Mittleren
                                                                              Weges von Jahr zu Jahr mehr Unterstützung, u.a. durch Intel-
Nach einem Treffen von US-Präsident Barack Obama mit                          lektuelle und Künstler wie Liu Xiaobo, den inhaftierten No-
Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama im Juli 2011 sowie im                        belpreisträger und Koautor eines Offenen Briefes von 2008,
Februar 2014 lobte das Weiße Haus „den Einsatz des Dalai                      der sich für die Unterstützung der Friedensinitiativen Seiner
Lama für Gewaltlosigkeit und Dialog mit China und sein                        Heiligkeit des Dalai Lama aussprach.
Beharren auf der Politik des Mittleren Weges“. Obama
rief die Beteiligten dazu auf, einen direkten Dialog aufzu-                   Seitdem sind von chinesischen Wissenschaftlern und Schrift-
nehmen, um lange schon währende Differenzen beizule-                          stellern über tausend Artikel und Kommentare verfasst wor-
gen, denn ein Dialog, der zu Ergebnissen führt, wäre für                      den, die einen Dialog zur Lösung der Tibetfrage befürworten.
China und für Tibet von Vorteil.                                              Dazu gehört ein Bericht der Gongmeng-Verfassungsinitiative,
                                                                              einer in Beijing ansässigen juristischen NGO, der die Be-
Neben den USA haben viele weitere Regierungen ihre Unter-                     schwernisse des tibetischen Volkes darlegt und zu einer Re-
stützung für die Politik des Mittleren Weges erklärt, darunter                vision der Politik aufruft. 2012 schickten 82 chinesische NGOs
Indien, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Australien                   aus 15 Ländern eine Petition an die Vereinten Nationen, an
und Neuseeland. „Allein in den letzten zwei Jahren wurden                     die EU sowie an verschiedene Parlamente und Regierungen,
Erklärungen, Resolutionen und Anträge zur Unterstützung                       in der sie diese aufforderten, ‚die chinesische Regierung zu
der Politik des Mittleren Weges unter anderem von den Par-                    drängen, baldmöglichst Verhandlungen aufzunehmen.“
lamenten der USA, der EU, Frankreichs, Italiens, Japans, Aus-                 Innerhalb Tibets sprachen sich sowohl der verstorbene 10.
traliens, Brasiliens, Luxemburgs verabschiedet. (…)                           Panchen Lama, als auch Baba Phuntsok Wangyal, ein hoch-
Zu den führenden Weltpolitikern, die zum Dialog und der Po-                   rangiges tibetisches Mitglied der Kommunistischen Partei
litik des Mittleren Weges aufrufen, gehören die ehemalige UN-                 Chinas, für den Mittleren Weg aus.
Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, die ehema-
lige Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik,               Y Quelle: http://mwa.tibet.net/?wpdmdl=767 (Stand: Oktober 2014)
Lady Catherine Ashton, die deutsche Bundeskanzlerin Angela
Merkel, der kanadische Premierminister Stephen Harper, der
australische Premierminister Tony Abbot, der taiwanesische
Präsident Ma Ying-jeou sowie die ehemaligen Staats- und
Regierungschefs George Bush (USA), Gordon Brown (Groß-
britannien), Nicolas Sarkozy (Frankreich) und Kevin Rudd
(Australien). (…)                                                               „Die USA unterstützen seinen Ansatz
                                                                                 des ‚Mittleren Weges‘, der weder
                                                                                Assimilierung, noch Unabhängigkeit
                                                                                für Tibeter in China vorsieht.“
                                                                                 US-Regierung

                                                                                                                         Brennpunkt Tibet 4 | 2014     11
titeltHema

die vision des ministerpräsidenten lobsang Sangay die kritiker
Auszug aus einem Kommentar                                             Kritik am Mittleren Weg – sowohl aus der Exilgemeinschaft,
in der New York Times vom 18. Juli 2014                                als auch von internationalen Experten – gibt es bereits, seit
                                                                       ihn der Dalai Lama im Jahr 1988 vor dem Europäischen
(…) Seit Herr Sangay das Ruder übernommen hat, ist es                  Parlament in Straßburg vorgelegt hat. Hier drei kritische
 schwer geworden, irgendwelche Prognosen zu machen. Chi-               Positionen.
 na, das früher einmal Lippenbekenntnisse zu Verhandlungen
 über Tibets Status abgegeben hat, weigert sich, sich mit ihm
                                                                   Jamyang Norbu: Der Referendums-Schwindel
 oder mit seinen Vertretern zu treffen. Westliche Staaten wer-
 den immer zurückhaltender, sich zu engagieren. Mit dem (…) Man kann nicht ewig an einem gescheiterten Projekt fest-
 80. Geburtstag des Dalai Lama in einem Jahr und ohne kla- halten. Der „Mittlere Weg“ ist tot. Beijing hat ihn während
 re Nachfolgeregelung hat sich Besorgnis wie ein Mantel über 25 oder 27 verschiedener „Verhandlungen“ umgebracht. Die
 Dharamsala gelegt. Einige Aktivisten kritisieren Herrn Sangay tibetische Zentralverwaltung (CTA) kann sich allerdings
 dafür, zu hart mit China ins Gericht zu gehen. Andere kriti- nicht dazu durchringen, das zu akzeptieren. Mag er auch
 sieren ihn dafür, tibetische Forderungen abzuschwächen, um noch so tot sein, so gilt es dennoch, eines zu klären. In vielen
 Beijing an den Verhandlungstisch zurückzuholen. Indessen Stellungnahmen der Exilregierung kommt immer und immer
 ist es seine Aufgabe, Zuversicht zu schaffen, obwohl es weni- wieder die folgende Behauptung vor:
 ge Anzeichen für Fortschritt gibt.                               „Die gegenseitig vorteilhafte Politik des Mittleren Weges …
„Da ist diese unerfüllte Sehnsucht, diese unerfüllte Hoffnung,“ demokratisch angenommen von einer überwältigenden
 sagte er, „auf dieser Basis lässt sich weitermachen.“             Mehrheit der Tibeter“ (…) „Der Mittlere Weg wurde von Sei-
 Im letzten Jahr sagte Herr Sangay gegenüber dem Council ner Heiligkeit dem Dalai Lama vorgeschlagen und von den
 on Foreign Relations [einem US-amerikanischen Think Tank], Tibetern demokratisch angenommen.“
 Ziel sei es, ethnische Tibeter als Parteisekretäre und auf ande- Das sind schamlose Lügen. Anders kann man es gar nicht be-
 ren wichtigen Posten in der Autonomen Region Tibet zu se- schreiben.
 hen: „Wir stellen die gegenwärtige Struktur der herrschenden
 Partei nicht infrage,“ machte er deutlich. (…)                    Hintergründe zum Referendum
 Indessen liefert Herr Sangay Belege dafür, dass ihm die Her- Am 15. Juni 1988 gab Seine Heiligkeit der Dalai Lama in
 zen der Tibeter zufliegen. In seinem Büro hängt ein Thangka – seiner Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg
 ein traditionelles Rollbild, das gewöhnlich buddhistische die Souveränität der tibetischen Nation auf und bat China
 Gottheiten darstellt – das von einem Bewunderer in China im Gegenzug darum, Tibet zu erlauben, eine autonome und
 mit seinem Gesicht angefertigt wurde. Er verschickt Links zu demokratische politische Einheit innerhalb der VR China zu
 Lobliedern, die zu seinen Ehren geschrieben und auf Youtube werden. Gegen Ende seiner Ansprache sagte der Dalai Lama
 hochgeladen wurden. Fragt man ihn nach seiner Stellung in „ … die meisten Tibeter werden enttäuscht sein“, aber er ver-
 der Führungshierarchie, so beschreibt er sich als ‚nachgeord- sicherte auch „ … das tibetische Volk selbst muss die letztend-
 nete Stimme‘, fügt aber hinzu, ‚die eines Tages die vorrangige liche Entscheidungsgewalt innehaben … in einem landeswei-
 Stimme sein wird‘.                                                ten Referendum.“

2001 trifft der Dalai Lama in Taiwan auf den damaligen Bürgermeister   Eröffnung der „Dringlichkeitssitzung“ im November 2008 durch den Dalai Lama
von Taipeh, Ma Ying-jeou.

12       Brennpunkt Tibet 4 | 2014
1989 erhält der Dalai Lama den Friedensnobelpreis für „den Kampf für
                                                                        die Befreiung Tibets und seine Anstrengungen für eine friedliche Lösung“

In seiner 10. März-Ansprache des Jahres 1995 resümierte der      Am 25. Oktober 2008, nach der brutalen Niederschlagung der
Dalai Lama: „Viele Tibeter haben Kritik an meinem Vorschlag      Proteste in Tibet, erklärte Seine Heiligkeit bei einer Rede im
geäußert, einen Kompromiss in der Frage der Unabhängigkeit       Tibetan Children’s Village, dass es ihm der Mangel an Ernst-
zu suchen. Außerdem hat das Unvermögen der chinesischen          haftigkeit der chinesischen Regierung im Dialogprozess und
Regierung, meinen versöhnlichen Vorschlägen positiv zu begeg-    die sich verschlechternde Situation innerhalb Tibets unmög-
nen, das Gefühl von Ungeduld und Frustration in meinem           lich machten, mit seiner gegenwärtigen Politik fortzufahren.
Volk verstärkt. Aus diesem Grund habe ich letztes Jahr vorge-   „Ich habe die tibetische Exilregierung, als wahre Demokratie
schlagen, das Thema einem Referendum zu unterziehen.“ (…)        im Exil, nun gebeten, im Einvernehmen mit dem tibetischen
                                                                 Volk zu entscheiden, wie der Dialog weitergehen soll,“ sagte
Die Umdeutung des Referendums                                    der Dalai Lama. Eine „Dringlichkeitssitzung“ wurde für den
Am 21. August 1995 wurde in Dharamsala eine von Samdhong         November anberaumt. (…)
Rinpoche, dem Sprecher des Exilparlaments, geleitete Vorbe-      Premierminister Samdhong Rinpoche stellte sicher, dass nur
sprechung einberufen, um die Organisation des Referendums        Führungsmitglieder des von ihm initiierten „Movement for the
zu besprechen. (…) Angeblich sprach sich eine Mehrheit           Middle-Way-Approach“, Beamte, Siedlungsvorsitzende und
dafür aus, auf das Referendum zu verzichten und es Seiner        Parlamentarier, zur Dringlichkeitssitzung eingeladen wurden.
Heiligkeit dem Dalai Lama zu überlassen, Entscheidungen          Der größten politischen Organisation der Exilgemeinschaft,
von Zeit zu Zeit je nach vorherrschender politischer Lage zu     dem Tibetischen Jugendkongress (TYC), wurden nur zwei
treffen. Insgesamt 64,60 % der registrierten Meinungen for-      Sitze eingeräumt. Alle andere Organisationen oder Individu-
derten demnach, das Referendum nicht abzuhalten.                 en, die sich zu Rangzen (Unabhängigkeit) bekennen, bekamen
Die „vorläufige Meinungsumfrage“ war der gescheiterte Ver-       keine Einladung. Einige von uns fuhren trotzdem hin. Wir
such, das Referendum im August 1996 durchzuführen. Die           waren eine sehr kleine Minderheit bei diesem Treffen. (…)
64,60 % sind eine reine Erfindung. Fast alle Versammlungen       Die Abschlussbesprechung der Dringlichkeitssitzung erweck-
endeten im Chaos. Ich erinnere mich daran, dass mein Freund,     te den Anschein nahezu einhelliger Unterstützung für den
Lhasang Tsering la, um die Lüge der 64,60 %-Behauptung zu        Mittleren Weg. In seiner Abschlussrede verkündete Samdhong
enttarnen, das Parlament förmlich darum bat, offenzulegen,       Rinpoche einen Erfolg, indem er behauptete, 90 Prozent der
wofür denn die übrigen 35,40 % abgestimmt hatten. Es kam         Tibeter unterstützten den Mittleren Weg. (…)
keine Antwort. (…)

                                                                                                            Brennpunkt Tibet 4 | 2014        13
Fazit                                                                            Ausmaß, in dem das Exil-Establishment und die Exilgemein-
Der Mittlere Weg wurde nicht demokratisch angenommen.                            schaft demokratisches Denken und demokratische Normen
Weit gefehlt. Stattdessen haben die Lügen und Schwindeleien                      tatsächlich verinnerlicht haben. Personenkult birgt die Ge-
von Beamten und Parlamentariern, angeführt von Samdhong                          fahr der Lähmung, und es ist legitim, die Mängel der Exilge-
Rinpoche, der Exilöffentlichkeit ein Schein-Referendum un-                       sellschaft unverblümt beim Namen zu nennen, einschließlich
terzujubeln, ohne Zweifel die tibetische Demokratie unter-                       des unvollkommenen Verständnisses bei vielen Exiltibetern
graben. Tatsächlich haben sie außerdem die ehrlichen Versu-                      über das, was eine funktionierende demokratische Zivilge-
che Seiner Heiligkeit sabotiert, sich in den Jahren 1995 und                     sellschaft ausmacht. (…)
2008 demokratisch mit dem tibetischen Volk zu beraten und                        Wie schon gesagt, stand die Täuschung bzw. die Selbsttäu-
eine gangbare Alternative zum Mittleren Weg zu finden.                           schung schon von einem frühen Zeitpunkt an in engem Zu-
                                                                                 sammenhang mit dem vollkommenen Scheitern der Politik
Y Quelle: http://www.phayul.com/news/article.aspx?id=35262&t=1&c=4               des Mittleren Weges. Das Unvermögen der Tibeter, das klar
(erschienen: 5.9.2014)                                                           zu sehen, machte es China möglich, den Verhandlungspro-
                                                                                 zess, für den sich der Dalai Lama und seine Regierung seit
                                                                                 Ende der 1970er Jahre voll eingesetzt hatten, ins Leere lau-
                                                                                 fen zu lassen. Von den 1980er Jahren bis in die ersten Jahre
elliot Sperling: Selbsttäuschung                                                 des 21. Jahrhunderts hatte die tibetische Führung dafür nur
                                                                                 die Standarderklärung, China habe einfach nicht verstanden,
(…) Der Mechanismus der Selbsttäuschung begann fast au-                          dass der Dalai Lama nicht nach Unabhängigkeit strebe. (…)
genblicklich dann zu wirken, als der Dalai Lama im Jahr 1988                     Wenn in Beijing Legionen von Beamten mit tibetischen An-
erklärte, Ziel sei es, Tibet als … demokratische „Einheit“ in-                   gelegenheiten befasst sind, dann kann man sich darauf ver-
nerhalb Chinas zu sehen. Einige seiner Beamten erzählten im                      lassen, dass jedes Wort des Dalai Lama eingehend analysiert
Exil lebenden Tibetern im Vertrauen, mit seinem Vorschlag                        wurde und wird. Es ist die Exilregierung des Dalai Lama, die,
biete der Dalai Lama den Tibetern tatsächlich eine Rückkehr                      knapp an Mitteln und Talenten, sich schwer tat, China und
nach Tibet an, um von dort den Unabhängigkeitskampf fort-                        die chinesische Politik zu verstehen. Offensichtlich hat es
zusetzen („wahnhaft“ scheint noch ein zu freundliches Wort                       mehrere Jahre bedurft, bis die Tibeter endlich begriffen, dass
für eine solche Vorstellung zu sein), während wieder andere,                     China sie nur hingehalten hatte, um die Zeit bis zum Ableben
indem sie behaupteten, der Dalai Lama würde dem tibeti-                          des Dalai Lama mit bedeutungslosen Schritten auszufüllen
schen Volk selbst die endgültige Entscheidung überlassen,                        und danach seinen eigenen Dalai Lama zu wählen. (…)
den verzweifelten Wunsch vieler Exiltibeter weiter anfeuer-                      Die Exilführung ist bemüht, die breite tibetische Exilgemein-
ten, in all dem nicht das Ende eines Kampfes zu sehen, den                       schaft glauben zu machen, dass a) die Tibeter „echte Autono-
sie jahrzehntelang gekämpft haben. Das war in der Tat ein                        mie“ erlangen können, wenn sie den chinesischen Führern
Akt der Selbsttäuschung. (…)                                                     erklären, was in deren Gesetzen steht, und dass b) die Exil-
Unbestritten hat es in der Exilgemeinschaft beachtliche de-                      regierung tatsächlich nach „echter Autonomie“ strebt. Doch
mokratische Entwicklungen gegeben. Aber es gibt ein gewis-                       eigentlich ist, wie von Lobsang Sangay ausgeführt, alles, wor-
ses Maß an Übertreibung – und Selbsttäuschung – über das                         um die tibetische Exilführung bittet, eine kosmetische Verän-
                                                                                 derung: tibetische Gesichter in Führungspositionen auf loka-
                                                                                 ler Ebene der KP in Tibet. Ausdrücklich nicht mehr gefordert
                                                                                 wird die Einführung demokratischer Strukturen, was doch
                                                                                 letzten Endes der einzige Weg wäre, wie etwas, das den Na-
                                                                                 men „echte Autonomie“ verdient, funktionieren könnte.
                                                                                 Man scheint im Exil-Establishment immer noch zu glauben,
                                                                                 Demutsgesten würden positive Reaktionen bei China aus-
                                                                                 lösen. Dabei hat sich das Verfolgen untauglicher politischer
                                                                                 Optionen zu einer fixen Haltung entwickelt: Das Exil-Estab-
                                                                                 lishment ist zu einem verknöcherten Gebilde geworden, das
                                                                                 nur noch um seiner Selbst willen existiert.

                                                                                 Y Quelle: http://info-buddhism.com/Self-Delusion_Middle-Way-
                                                                                 Approach_Dalai-Lama_Exile_CTA_Sperling.html
                                                                                 Y und: http://info-buddhismus.de/Selbsttaeuschung-Tibet-Politik-des-
Die Sondergesandten des Dalai Lama, Lodi Gyari (m.) und Kelsang Gyaltsen (r.),
bei einer Pressekonferenz nach ihrer Rückkehr von der 9. Dialogrunde mit der     Mittleren-Weges_Sperling.html (erschienen im Mai 2014)
chinesischen Führung

14       Brennpunkt Tibet 4 | 2014
titeltHema

Den Offenen Brief an Sikyong Lobsang Sangay verbreitete der Tibetische National-   Im Gespräch mit Prof. Jerome A. Cohen enthüllt Sikyong Lobsang Sangay seine
kongress im Juli 2014 in den sozialen Netzwerken                                   neue Interpretation des Mittleren Weges

offener Brief des tibetischen nationalkongresses                                   1. Wie kann echte Autonomie erreicht werden, wenn die Chine-
                                                                                   sische Kommunistische Partei in Tibet weiterhin das Sagen hat?
(tnC) an Sikyong lobsang Sangay                                                    2. Können Sie bitte erklären, mit welcher Begründung Sie die
                                                                                   Ziele des Mittleren Weges, Demokratie und getrennte Regie-
25. Juli 2014                                                                      rungsinstitutionen in Tibet, aufgeben?
Sehr geehrter Sikyong Sangay la:                                                   3. Hat die New York Times Sie richtig wiedergegeben, dass
                                                                                   Sie die Einstellung von mehr ethnischen Tibetern im chinesi-
Der Tibetische Nationalkongress (TNC) war erfreut, in der                          schen kommunistischen System als das Ziel betrachten? (…)
Ausgabe der New York Times vom 18. Juli 2014 ein ausführ-
liches Profil über Sie zu sehen. Der New York Times Artikel                        Das Exekutivkomitee des
besprach, wie Sie im Jahr 2013 „gegenüber dem Council on                           Tibetischen Nationalkongresses (TNC)
Foreign Relations gesagt haben, dass es das Ziel sei, ethni-
sche Tibeter als Parteisekretäre und auf anderen wichtigen                         Y Quelle: http://www.tibetnc.org/2014/07/25/an-open-letter-to-sikyong-
Posten in der Autonomen Region Tibet zu sehen.“ Sie wurden                         lobsang-sangay/
mit der Aussage zitiert: „Wir stellen die gegenwärtige Struk-
tur der herrschenden Partei nicht in Frage.“
Ihr neuer „Teil-Mittlerer Weg“ (keine Demokratie, kommu-                           Wir hoffen, unseren Lesern mit diesen Texten einen Ein-
nistische Herrschaft, unkontrollierte Militarisierung) wurde                       blick in die Debatte gegeben zu haben, die intensiv wei-
an anderer Stelle diskutiert. Allerdings haben Sie nie erklärt,                    tergeführt wird. Beide Seiten wollen das Beste für den
inwieweit Ihr „Teil-Mittlerer Weg“ mit dem Mittleren Weg                           tibetischen Freiheitskampf, und beide führen dafür gute
kompatibel ist, oder warum er die richtige Wahl für das tibeti-                    Argumente an. Im Augenblick zeigt die VR China keine
sche Volk ist.                                                                     Bereitschaft, sich auf ernste Verhandlungen einzulassen.
                                                                                   Die Kritiker des Mittleren Weges müssen sich jedoch fra-
Seine Heiligkeit sagt weiterhin, dass Tibet „durch eine in einer                   gen lassen, welche Alternativen es gibt. Letztlich muss
allgemeinen Wahl gewählte Legislative und eine Exekutive                           jeder für sich entscheiden, welche Position die überzeu-
durch einen demokratischen Prozess regiert“ werden muss.                           gendere ist.
Das Memorandum aus dem Jahr 2008 fordert „das Recht der
Tibeter, ihre eigene regionale Regierung, sowie Regierungs-                        Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung der
institutionen und Prozesse zu schaffen“.                                           Autoren wieder und entsprechen nicht unbedingt der der
                                                                                   Redaktion. //

                                                                                                                                Brennpunkt Tibet 4 | 2014        15
intervieW

„Wir haben nicht den Luxus,
Zeit zu haben“

Interview mit Dicki Chhoyang, Ministerin für Information
und Auswärtige Beziehungen

Dicki Chhoyang wurde 1966 in Mussoorie, Nord-Indien,         Das sehe ich nicht so, und so neu ist dieser Begriff ohnehin
geboren, dort, wo nach der Flucht des Dalai Lama das         nicht. Wir sprechen seit Jahrzehnten von der „Zentralen
erste tibetische Internat errichtet worden war. Als sie      Tibetischen Verwaltung“. Wir wollen damit niemanden
vier Jahre alt war, emigrierten ihre Eltern nach Kanada,     herausfordern. Und um auch auf die anderen Punkte ein-
und so wuchs sie in Montreal auf. Schon als Jugendliche      zugehen, die Sie erwähnt haben: Die Realität lässt keinen
engagierte sie sich für Tibet, mit 20 Jahren wurde sie       Raum für Träume von der Unabhängigkeit. Wir haben nicht
Beraterin für den ersten kanadischen Dokumentarfilm          den Luxus, Zeit zu haben. Wir verfolgen den Mittleren Weg,
über Tibet, „Ein Lied für Tibet“. Anschließend arbeitete     der bekanntlich eine echte Autonomie unter chinesischer
sie für die Ansiedlung von Tibetern in den USA. 1993 ging    Flagge anstrebt. Das liegt im Interesse des tibetischen Volkes.
sie zum Studium nach Tibet, wo sie zehn Jahre blieb und
sich auch für verschiedene Projekte engagierte. 1999 mach-   Kritische Stimmen unter den Exiltibetern sagen, wenn am
te sie ihren Abschluss in zentral-eurasischen Studien an     Ende von Verhandlungen eine echte Autonomie heraus-
der Universität Indiana. 2011 kandidierte sie zum ersten     kommen würde, wäre das ein Erfolg. Wenn man mit
Mal für das Tibetische Parlament im Exil und wurde zur       dieser Minimalforderung aber gleich in Verhandlungen
Abgeordneten für Nordamerika gewählt. Wenige Mona-           eintritt, schränkt man seinen Verhandlungsspielraum von
te später wurde sie zur Ministerin für Information und       vornherein erheblich ein. Sehen Sie diese Gefahr nicht?
Auswärtige Beziehungen ernannt. Am Rande der Konfe-
renz „Finding Common Ground – Sino-Tibetan Dialogue“,        Das sind theoretische, letztlich fruchtlose Diskussionen, die
vom 26.– 28. August in Hamburg, sprach Klemens Ludwig        davon ausgehen, wir seien ein gleichberechtigter Verhand-
mit ihr über die Diplomatie der Exiltibeter, die Hoffnung    lungspartner für die Volksrepublik China. Wie sollen wir die
auf Veränderung in China und die Rolle der Tibet-Unter-      chinesische Führung aber dazu bringen, sich mit uns an einen
stützer.                                                     Tisch zu setzen? Es geht nicht um die Verteidigung von
                                                             Grundsätzen; es geht unmittelbar um das Überleben unserer
                                                             Nation und die Bewahrung und Stärkung unserer einzigarti-
Es gibt seit einiger Zeit Irritationen unter den Tibetern,   gen Identität, denn die Tibeter in Tibet brauchen dringend
aber auch den Tibet-Unterstützern, über die inhaltliche      praktische Lösungen, wenn sie eine Zukunft haben sollen.
Ausrichtung der tibetischen Führung im Exil. Das betrifft
sowohl die politischen Ziele, die Terminologie als auch
den Umgang mit der Kommunistischen Partei Chinas. Um
mit Letzterem zu beginnen: Lange Zeit hieß die Führung
in Dharamsala „Tibetische Regierung im Exil“, was einen
klaren Anspruch formuliert. Heute legen Sie großen Wert
auf den Begriff „Zentrale Tibetische Verwaltung“ (Central
Tibetan Administration). Das hat auch der Dalai Lama         „Die Realität lässt keinen
beim 25-jährigen Jubiläum der Tibet Initiative Deutsch-
land deutlich gemacht. Bedeutet das ein Einknicken gegen-
                                                             Raum für Träume von der
über der Kommunistischen Partei?                             Unabhängigkeit.“

16      Brennpunkt Tibet 4 | 2014
„Die Tibeter in Tibet wollen
                                                                zwei Dinge, Freiheit, vor allem
                                                                echte Religionsfreiheit, sowie
                                                                die Rückkehr Seiner Heiligkeit
                                                                des Dalai Lama.“

                                                                Sehen Sie Perspektiven für eine Veränderung in China?

                                                                Ich möchte mich nicht an Spekulationen über die politische
                                                                Führung in Beijing beteiligen, ich kann aber eines sagen:
                                                                Es gibt eine wachsende Unterstützung von Chinesen für
                                                                unseren Kampf; und zwar auch von Chinesen aus der Volks-
                                                                republik, die mit der KP-Propaganda groß geworden sind.
Glauben Sie, dass die Tibeter in Tibet mehrheitlich dem         Das ist eine sehr hoffnungsvolle Entwicklung und einer der
Mittleren Weg folgen? Es gibt inzwischen über 130 Selbst-       wichtigsten Erfolge der Diplomatie Seiner Heiligkeit.
verbrennungen und immer wieder mutige Proteste gegen            Ich bin überzeugt, ohne den Mittleren Weg wären nicht so
die chinesische Unterdrückungspolitik. Das alles nur für        viele Chinesen bereit, unseren Kampf zu unterstützen.
eine „echte Autonomie“?                                         Und viele haben auch erkannt, dass eine Lösung für Tibet
                                                                im unmittelbaren Interesse der Volksrepublik China liegt.
Die Tibeter in Tibet wollen zwei Dinge, Freiheit, vor allem
echte Religionsfreiheit, sowie die Rückkehr Seiner Heiligkeit   Die Funktionäre der Kommunistischen Partei tun sich
des Dalai Lama. Beides ist ohne die Unabhängigkeit mög-         mit einer solchen Einsicht aber offenbar schwer.
lich. Die Tibeter in Tibet haben vollstes Vertrauen in Seine
Heiligkeit und seine Linie, die eine echte Autonomie als        Das sieht so aus, Sie müssen dabei aber die Machtstruktur
Lösung vorsieht. Käme es dazu, wäre das ein Erfolg für die      der Partei berücksichtigen. Offiziell gilt Seine Heiligkeit
beharrliche Politik Seiner Heiligkeit in den letzten sechzig    noch immer als „Separatist“ und „Wolf im Schafspelz“.
Jahren.                                                         Wenn ein hoher Funktionär, der nicht dieser Meinung ist,
                                                                das öffentlich kundtut, weiß er nicht, welche Folgen das hat.
Wie definieren Sie Erfolg für die Tibeter in Tibet? Das         Das gilt selbst für die Parteispitze. Wir wissen aber, dass es
hohe Ansehen, das die Tibeter in aller Welt haben, trägt        innerhalb der Partei hinter verschlossenen Türen heftige
leider in keiner Weise dazu bei, die Lage in Tibet zu           Debatten über den Umgang mit Tibet gibt, und es gibt Stim-
verbessern.                                                     men, die für eine Kurskorrektur plädieren. Offenbar sind sie
                                                                in der Minderheit, aber interessant ist auch, dass sich immer
Wir müssen langfristig denken, und dann sehe ich schon          mal wieder KP-treue Intellektuelle öffentlich in dieser Hin-
jetzt große Erfolge dank der Diplomatie Seiner Heiligkeit.      sicht äußern. Das wäre ohne Rückendeckung nicht möglich.
Ein Erfolg ist zweifellos, dass Tibet auch noch nach fast       Uns bleibt also die Hoffnung, dass die Auseinandersetzung
sechzig Jahren auf der internationalen Agenda steht. Das        über den Tibet-Kurs irgendwann auch einmal konkrete
weltweite Ansehen für unseren friedlichen Kampf und die         Auswirkungen auf die Politik hat, die dann von der gesamten
daraus resultierende Unterstützung sollte keinesfalls unter-    Partei getragen wird.
schätzt werden. Gäbe es das nicht, hätten wir keine Chance,
jemals eine Veränderung zu erreichen, selbst wenn sich in       Bleibt Ihnen damit letztlich aber etwas anderes, als auf
China etwas ändern sollte.                                      bessere Zeiten zu warten, von denen niemand weiß, ob
                                                                sie jemals eintreffen?

                                                                                                   Brennpunkt Tibet 4 | 2014   17
intervieW

Nein, nicht nur, wir können die Partei schon heute immer      „Die Bedeutung der Unterstützung
wieder an ihre eigenen Versprechungen, an ihre eigenen
Grundsätze, erinnern. Seine Heiligkeit erwähnt zum Bei-
                                                              durch die Solidaritätsgruppen
spiel immer wieder, dass Mao ihn bei den Zusammenkünf-        kann gar nicht hoch genug ein-
ten 1954/55 nach der tibetischen Hymne und Flagge gefragt
und betont habe, wie gut es sei, dass die Tibeter darüber
                                                              geschätzt werden.“
verfügten. Das strikte Verbot von beidem widerspricht also
der Haltung Maos. Zudem hat Deng Xiaoping, der Vater des
modernen China, einmal zu einem Bruder Seiner Heiligkeit
gesagt: „Wir können über alles reden, nur nicht über die
Unabhängigkeit“. Das sind Positionen der höchsten Autori-
täten, in denen sich auch die jetzige Führung wiederfinden
kann. Selbst die chinesische Verfassung sieht weitreichen-
dere Autonomiebestimmungen vor, als sie in der politischen
Praxis angewandt werden.                                      Das klingt nicht nach einer engen Abstimmung von
                                                              tibetischer Führung im Exil und den Unterstützergruppen.
Gibt es Entwicklungen in Tibet, die Ihnen Hoffnung
machen?                                                       Dem widerspreche ich. Die Bedeutung der Unterstützung
                                                              durch die Solidaritätsgruppen kann gar nicht hoch genug
Auf jeden Fall. In Tibet ist eine neue Generation heran-      eingeschätzt werden. Wir begrüßen das sehr, und diese
gewachsen, die nichts anderes als die Propaganda der          Organisationen leisten einen ausgesprochen wichtigen
Kommunistischen Partei erlebt hat. Aber auch sie steht        Beitrag, damit Tibet nicht in Vergessenheit gerät. An dieser
fest zu Seiner Heiligkeit und unserer Tradition. Das muss     Stelle möchte ich mich herzlich bei der Tibet Initiative für
der Kommunistischen Partei zu denken geben.                   all ihre Unterstützung bedanken. Ich bin zutiefst beein-
                                                              druckt von dem kontinuierlichen und starken Engagement
Eine ganz andere Frage: Andere Befreiungsbewegungen           der TID. Die TID ist eine der größten politischen Organisa-
waren auch deshalb erfolgreich, weil die internationale       tionen in der weltweiten Tibet-Bewegung überhaupt.
Unterstützung konkrete wirtschaftliche Bereiche umfasst
hat. Das bekannteste Beispiel ist zweifellos die südafrika-   Danke, das geben wir gerne weiter. Und was wünschen
nische Anti-Apartheid-Bewegung und der Boykott süd-           Sie sich von der TID und anderen Organisationen?
afrikanischer Produkte. China ist mit seinen Produkten
auf den Weltmarkt angewiesen. Ein Boykott zumindest           Ich möchte sie dringend bitten, mit der wichtigen Arbeit
in den westlichen Industrienationen könnte weitreichende      fortzufahren, bis eine einvernehmliche Lösung gefunden
Folgen haben und Beijing an einer empfindlichen Stelle        wurde, die das Überleben des tibetischen Volkes sicherstellt.
treffen.                                                      Ich möchte noch einmal betonen, wir befinden uns heute an
                                                              einem Wendepunkt der tibetischen Geschichte. Und obwohl
Dazu ganz klar, das haben wir nicht auf der Agenda. Wenn      wir noch nie eine so kritische Phase durchlaufen haben wie
die Unterstützergruppen das machen, werden wir nichts         in den letzten fünfzig Jahren, steht Tibet noch auf der poli-
dagegen sagen, aber unser Fokus ist das nicht.                tischen Agenda. Das ist auch ein Verdienst unserer Unter-
                                                              stützer, und dafür müssen wir uns alle gemeinsam weiterhin
                                                              stark machen.

                                                              Ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

                                                              // INTERVIEW: Klemens Ludwig

                                                              Y Mehr Infos zum Middle Way Approach unter:
                                                              http://mwa.tibet.net/gr/

18      Brennpunkt Tibet 4 | 2014
Sie können auch lesen