Der Preis der Krise - SP Schweiz

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Der Preis der Krise - SP Schweiz
Patrick Gilliéron Lopreno
         Mitgliederzeitung der SP Schweiz
         188 · Ausgabe CH · Mai 2020
         AZB 3001 Bern

    Der Preis der Krise
    In Genf stehen Tausende Schlange, um ein Lebensmittelpaket im Wert von 20 Franken zu ergattern.
    Wie sich die SP für Solidarität einsetzt. Ab Seite 4

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    KLIMASCHUTZ VS.                                              RISIKOGRUPPE
    ARBEITSPLÄTZE                                                Ü65
    Ist es richtig, dass der Staat für die Swiss einspringt?     Wie Rentnerinnen und Rentner ins falsche Licht gerückt werden –
    Die Genossen der Gewerkschaft Kapers im Interview. Seite 6   die SP 60+ gegen Vorurteile und Missverständnisse. Seite 8
Der Preis der Krise - SP Schweiz
2     LINKS
      188 ∙ 2020   Aktuell

Liebe Genossinnen und Genossen,                                                                                                           INHALT
liebe Sympathisantinnen und Sympathisanten

                                                                                                                                          4 	         Der Preis der Krise
                    Derzeit ist Solidarität Trumpf – noch. Die SP startet darum                                                                       Wie eine Gastronomin und und
                    eine grosse Solidaritätskampagne. Denn Solidarität ist un-                                                                        eine Lädeli-Besitzerin durch die
                    sere Kernkompetenz, dafür stehen wir seit jeher ein. Jetzt                                                                        Krise kommen – und was die
                    wollen wir für die Solidarität Flagge zeigen – wortwörtlich:                                                                      SP macht.
                    Mit dem Bestelltalon auf der letzten Seite kannst du eine
                                                                                                                                          6           Staatshilfe für die Swiss:
                    Solidaritäts-Fahne bestellen und diese auf deinem Balkon                                                                          Arbeitsplätze vs. Klimaschutz?
                    oder vor deinem Fenster hissen. Mit solchen und vielen an-                                                                        Die Genossen von der Gewerk-
                    deren Aktionen wollen wir dafür sorgen, dass die Solidarität                                                                      schaft der Flight Attendants im
                                                                                                                                                      Interview.
                    zwischen Jung und Alt, zwischen Risikogruppen und Schul-
                    kindern, zwischen ganz unterschiedlichen Bevölkerungs-                                                                8           Das Alter ist anders als es
gruppen auch in der öffentlichen Wahrnehmung ein bedeutender Wert bleibt, auf                                                                         das BAG meint
dem wir gemeinsam eine Zukunft für alle aufbauen können.                                                                                              Missverstanden und bisweilen
                                                                                                                                                      ausgegrenzt: Seniorinnen und
Nichts wäre schlimmer, als wenn man dereinst auf die Zeiten der Pandemie zu-                                                                          Senioren sehen sich anders als es
rückblicken und die solidarischen Massnahmen als «völlig übertriebene Rück-                                                                           das BAG tut.
sichtnahme» verdammen würde. Auszuschliessen ist das nicht. Wir haben eine
                                                                                                                                          13          Corona und die Kitas
solche Umdeutung der Realität bereits einmal erlebt: 2015 hiessen weite Teile                                                                         Kinderbetreuung gehört zur
Europas Flüchtlinge willkommen. Heute stehen die Staaten in einem Wettlauf                                                                            Grundversorgung und soll auch
um das repressivste Asylgesetz, und «Willkommenskultur» ist zum Schimpfwort                                                                           so finanziert werden.
avanciert. Wer damals Flüchtlinge mit offenen Armen empfing, wird heute dafür
                                                                                                                                          14          Note ungenügend,
ausgebuht.
                                                                                                                                                      Frau Keller-Suter!
Sorgen wir dafür, dass es nicht so weit kommt. Sorgen wir dafür, dass auf                                                                             Die Schweiz sieht sich nicht in
                                                                                                                                                      der Pflicht, mehr Menschen aus
Worte Taten folgen und wir unsere Werte in der Politik durchsetzen können –
                                                                                                                                                      dem Flüchtlingslager Moria
zum Wohle aller. Denn eines lehrt uns die Krise: Unsere Gesellschaft ist stark,                                                                       aufzunehmen.
wenn wir solidarisch sind. Solidarität ist der Ausweg aus der Krise.
                                                                                                                                          15          Schwarzenbachab
                                                                                                                                                      Vor 50 Jahren wurde die Schwar-
In diesem Sinne: solidarische Grüsse – und danke für die Bestellung einer Fahne.                                                                      zenbach-Initiative gebodigt. Das
                                                                                                                                                      Thema spaltet seither die Politik.
Pia Wildberger
                                                                                                                                          18          Mitglieder gewinnen,
                                                                                                                                                      jetzt erst recht

                                                                                                                                          20          Solidaritätsfahne hier bestellen

IMPRESSUM Herausgeberin: SP Schweiz, Theaterplatz 4, 3011 Bern, Telefon 031 329 69 69, Fax 031 329 69 70 Erscheint 6 Mal pro Jahr, Auflage 36 796 (Wemf) Abonnements­preise: Für M    ­ itglieder der
SP Schweiz gratis Adressänderungen/Abo: abo@spschweiz.ch Redaktion: Pia Wildberger (Chefredaktion), Niklaus Wepfer (SO), Livia Diem (BS), Ruedi ­Brassel (BL), Hannes Rettenmund (BE), Katha­rina Kerr
(AG), Sebastian Dissler (LU), Julian Fitze (TG), Michael Sutter (Region Bern), Urs Geiser (­ Korrektor) E-Mail Redaktion: l­inks@spschweiz.ch Gestaltung/Produktion: Atelier Bläuer,
Bern Druck: AZ Druck Aarau Anzeigen: Kilian Gasser, Medienvermarktung GmbH, ­Gitschenstrasse 4, 6460 Altdorf, Tel. 041 871 24 46, kg@kiliangasser.ch Redaktionsschluss
dieser Ausgabe: 11. Mai 2020. Redaktionsschluss nächste Ausgabe: 20. August 2020. Gedruckt auf Recyclingpapier aus der Schweiz.
Der Preis der Krise - SP Schweiz
Reuters / Thomas Lohnes
                                                                                                                                  Aktuell          LINKS
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                                                                                                                   Standhafte Demonstranten
                                                                                                                   Der 1. Mai fand dieses Jahr notgedrungen
                                                                                                                   online statt. Viele Genossinnen und Gewerk-
                                                                                                                   schafter liessen sich die Solidaritätskund-
                                                                                                                   gebung in den sozialen Medien jedoch nicht
                                                                                                                   entgehen. Die Debatten auf Facebook und
                                                                                                                   das Referat des deutschen Juso-Chefs Kevin
                                                                                                                   Kühnert, organisiert vom Schweizerischen
                                                                                                                   Gewerkschaftsbund und von der SP, fanden
                                                                                                                   regen Zuspruch. Unterhaltsam war auch
                                                                                                                   das Liederprogramm: Neben wunderbaren

Einer der Angeklagten am ersten Prozesstag in Koblenz.

Aufsteller: Assads Schergen vor Gericht
In Deutschland stehen erstmals zwei mutmassliche Folterknechte des syrischen Dikta-
tors Assad vor Gericht. Die beiden hatten in Deutschland um Asyl gebeten und waren von
Flüchtenden erkannt worden. In diesem weltweit ersten Prozess zu Staatsfolter in Syrien
werden den beiden mutmasslichen Ex-Geheimdienstfunktionären schwere Verbrechen
gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Sie sollen für die Folter zahlreicher Menschen in
einer Haft­anstalt des Geheimdienstes mitverantwortlich gewesen sein. Ihnen werden laut
Anklage Mord in 58 Fällen, Vergewaltigung und schwere sexuelle Nötigung zur Last gelegt.
Bis August sind 23 Verhandlungstage angesetzt.
Ab Februar 2011 hatte die syrische Bevölkerung monatelang friedlich gegen Korruption und
für bessere Lebensbedingungen demonstriert. Mithilfe der Geheimdienste erstickte das
Regime die Demonstrationen jedoch bald in massiver Gewalt.
Nach dem Weltrechtsprinzip, das erstmals angewendet wird, können Völkermord, Kriegs-
verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit überall geahndet werden, egal, wo
die Taten verübt wurden. Kriegsverbrecher dürfen sich nirgends sicher fühlen.

                                                                                                                   Darbietungen von Künstlerinnen sang die SP-
Hohe Rüstungsausgaben                           11,5 Prozent weniger                                               Fraktion für die Genossinnen und Ge­nossen
begünstigen Covid-19                            Lohn für Frauen                                                    die Internationale – nachzuhören auf dem
                                                                                                                   Facebook-Kanal der SP Schweiz.
Die Heftigkeit der Corona-Krise steht auch      Wenn es so weitergeht, dauert es 46 Jahre,                         Einen ganz besonderen 1.-Mai-Umzug ver-
im Zusammenhang mit den weltweiten Rüs-         bis Frauen gleich viel verdienen wie Männer.                       brachten auch der Berner Genosse Moritz
tungsausgaben. Dies lässt sich anhand von       Gemäss den Zahlen des Bundesamts für                               Rapp, 97, und sein Kollege Walter Hub-
Studien und Zahlen belegen, wie das Geneva      Statistik von Ende April nahm der Unter-                           schmid. «85 Jahre lang war ich immer am
Center for Security Policy auf seiner Website   schied zwischen Frauen- und Männerlöhnen                           Umzug dabei», sagt er, «da will ich nicht
schreibt. Einer Studie aus dem Jahre 2018 zu-   um etwa ein Viertelprozent ab. Dies ent-                           darauf verzichten.» So packte der ehemalige
folge führt die Erhöhung der Rüstungsaus-       spricht der Entwicklung der Vorjahre.                              Eisenbähnler zusammen mit seinem Kollegen
gaben um 1 Prozent zu einer durchschnitt-       Insgesamt belief sich das Lohngefälle                              wie jedes Jahr die Fahne des SEV. Zu zweit
lichen Kürzung der öffentlichen Ausgaben        zwischen Frauen und Männern im Jahr 2018                           marschierten sie Richtung Bundeshaus. Vor
für Gesundheit um 0,62 Prozent, in ärmeren      auf 11,5 Prozent. 2016 lag es noch bei 12                          dem Zytglogge wurden sie von der Polizei
Ländern gar um 0,96 Prozent. Die Zahlen         und 2014 bei 12,5 Prozent. Geht es in diesem                       gestoppt und mussten die Fahne abgeben.
zu den weltweiten Rüstungsausgaben, die         Schneckentempo weiter, werden weitere                              «Aber gefallen hat’s uns trotzdem.»
das Stockholm International Peace Research      46 Jahre verstreichen, bis Männer und Frau-
Institute (SIPRI) regelmässig erhebt, zeigen    en gleiche Löhne erhalten. Im Privatsektor
die Dimension: 2018 wurden weltweit Rüs-        verdienten Frauen 2018 sogar 14,4 Prozent
tungsausgaben für 1822 Milliarden Dollar        weniger als Männer. Diese geschlechter­
getätigt (oder 2,6 Prozent des globalen         spezifischen Lohnunterschiede lassen sich
Bruttoinlandprodukts). Gleichzeitig kommen      bloss teilweise durch strukturelle Merkmale
Regierungen unter Druck, weil sie zu wenig      und unterschiedliche Tätigkeiten erklären.
in die öffentlichen Gesundheits­systeme in-
vestiert haben. Die USA etwa geben jährlich
35,1 Milliarden Dollar für Atomwaffen aus.
Das würde reichen, um 300 000 Betten auf
Intensivstationen, 35 000 Beatmungsgeräte,
150 000 Pflegende oder 75 000 Ärzt_innen
                                                                                                                                                                ZVG

zu bezahlen. gcsp.ch
Der Preis der Krise - SP Schweiz
4   LINKS
    188 ∙ 2020   Covid-19

Was die Krise
kostet

Seit Beginn der Krise bilden sich in Genf wöchtentlich Schlangen mit Tausenden von Menschen,
die für ein Gratis-Essenspaket stundenlang anstehen.

Die Corona-Krise zeigt schonungslos die Funktionsweise, die Machtverhältnis-                                 Im Gegensatz dazu verlieren jene,
se und auch die Schwächen unseres Wirtschaftssystems auf. Auf die Frage,                                  die allein von ihrer Arbeit leben.
wer den Preis der Krise zu bezahlen hat, gibt es eine etwas verkürzte Antwort:                            Zwar haben wir zum Glück die Kurz-
Das Kapital gewinnt – die Arbeit bezahlt.                                                                 arbeitsentschädigung. Diese gilt aber
                                                                                                          grossmehrheitlich nur für Personen
Die Banken haben es elegant ge-                                 draufgeschlagen wird. Die Mietenden       mit dem klassischen Lohnausweis,
schafft, ihr jetziges und künftiges                             haben den Ausfall also bereits vor-       und viele bekommen nur 80 Prozent
Kreditausfallrisiko mit den Bundes-                             finanziert. Bei den vielen Mischnut-      ihres Lohnes ausbezahlt. Für Men-
bürgschaften auf die Allgemeinheit                              zungen, die wir in der Schweiz haben      schen mit tiefen Löhnen ist das nicht
abzuwälzen. Diese Corona-Kredite                                – unten Laden, Restaurant oder Coif-      existenzsichernd.
schnell und unkompliziert zu er-                                feur, oben Büros und Wohnungen
möglichen, war wirtschaftspolitisch                             – würden den Vermietern maximal           Durch die Maschen gefallen
richtig und notwendig. Trotzdem                                 20 Prozent der Mieteinnahmen ent-         Anders sieht es bei den hunderttau-
muss benannt werden, wer das Risi-                              gehen. Bei einem Totalerlass der Ge-      senden sogenannt Selbständigen
ko zu tragen hat: Das sind wir.        Jacqueline Badran,       schäftsmieten während zwei Mona-          aus. Auch die indirekt von Covid-19
   Die global agierenden Versiche-     Nationalrätin ZH         ten würden den Vermietern 3,3 Pro-        Betroffenen sind dank massivem
rungen haben sich ebenso aus dem                                zent der Jahreseinnahmen fehlen.          Druck der Linken entschädigungs-
Risiko verabschiedet. Sie verwei-                               Auf die Lebensdauer einer Immobilie       berechtigt. Doch es fallen immer
gern (mit wenigen Ausnahmen)                                    von 100 Jahren hochgerechnet, wäre        noch viele durch die Maschen und
die Deckung von Ausfällen durch                                 der Ausfall marginal. Hinzu kommt:        bekommen keine oder nur eine
Betriebsausfall-Versicherungen,                                 Die Hypothekarzinsen – also die Kos-      geringe Entschädigung. In der De-
die die meisten Betriebe haben und                              ten – sind in den letzten zwölf Jahren    batte wird immer noch behauptet,
worin Epidemien explizit versichert                             massiv gesunken, die Geschäftsmie-        man könne sich ja verschulden oder
sind. Die gros­ sen Versicherungen                              ten aber gestiegen.                       müsse sonst halt vom Ersparten
stellen sich auf den Standpunkt,                                    Auch die sogenannt systemrele-        leben.
dies sei eine Pandemie und deshalb                              vanten Firmen (beispielsweise Swiss,         Und so kommt es, dass die allein-
nicht versichert, weil eine Pandemie                            Swissport) rufen umgehend nach            erziehende Schwimmlehrerin mit
global ist und dadurch die Risiko­                              staatlicher Unterstützung. Gleichzei-     zwei Kindern null Einkünfte hat,
diversifikation nicht greife.                                   tig haben sie in den letzten Jahren mit   weiterhin die Miete für die Nutzung
                                                                Aktienrückkäufen zur Erhöhung der         des Hallenbads zahlen muss, 20
Eigentümer kommen                                               Eigenkapitalrendite und mit Rekord-       Franken Taggeld (Erwerbsersatz)
ungeschoren davon                                               Dividendenausschüttungen die Re-          erhält und nun ihre vom Mund ab-
Das Immobilien-Kapital stiehlt sich                             serven abgebaut. Als Bedingung für        gesparte eiserne Reserve von 15 000
ebenso aus der Verantwortung. Ver-                              Bürgschaften wird aber nicht etwa         Franken anzapfen muss.
mieter verweigern eine Teilüber-                                eine Beteiligung der Grossaktionä-           So war das nicht gedacht, als So-
nahme der Mieten während des                                    re dieser Firmen (etwa durch Nach-        zialdemokratie und Gewerkschaften
Schliessungsgebots. Dies, obwohl bei                            schusspflicht) verlangt. Es zeigt sich    aufbrachen, um mit den Sozialwer-
Geschäftsmieten eine Mietausfall-                               einmal mehr: Die Gewinne privat, die      ken die Menschen von Existenz-
Risikoprämie von 5 bis 10 Prozent      solidarität-jetzt.ch     Verluste dem Staat.                       ängsten zu befreien!
Der Preis der Krise - SP Schweiz
Covid-19            LINKS
                                                                                                                                                  188 ∙ 2020     5

                                                                                                     ZVG

                                                                                                                                                               ZVG
                               Patrick Gilliéron Lopreno

                                                           Café Boy:                                          Happy Ness:
                                                           Gute Stimmung                                      «Dann wäre alles
                                                           trotz allem                                        verloren»
                                                           «Für die Angestellten in der Küche und im Ser-     Ihren Laden für Whisky-Raritäten durfte
SEI SOLIDARISCH,                                           vice bedeutete der Lockdown einen markanten        Franziska Ryser während des Lockdowns offen
ZEIGE FLAGGE                                               Einschnitt», sagt Vivien Jobé vom Zürcher Café     halten, denn Whisky ist ein Lebensmittel.
                                                           Boy. Den Lohn bekamen die Leute wegen der          Aber potenziellen Kundinnen und Kunden ein
                                                           Kurzarbeitsentschädigung nur zu 80 Prozent,        Schlückchen zum Verkosten anbieten? Fehlan-
Zum Zeichen der Solidarität                                und auch das oft substanzielle Trinkgeld fehlte.   zeige. Ganz abgesehen davon, dass viele in der
startet die SP eine grosse                                 «Sechs Monate nach der Eröffnung verfügten         Krise nicht auf die Idee kamen, dass das kleine,
Kampagne. Denn der Ausstieg aus                            wir einfach nicht über genügend Reserven,          feine Geschäft in Winterthur-Seen offen haben
der Krise kann uns nur gemeinsam                           um den 13 Angestellten die Kurzarbeitsent-         könnte. Kein Wunder, blieb die Kundschaft weg.
gelingen. Zeige deine Solidarität,                         schädigung auf 100 Prozent aufzustocken.»          «Dabei ist es seit der Eröffnung stetig aufwärts
bestelle eine kostenlose Fahne mit                         Auch jetzt, nach der Öffnung, ist die Situation    gegangen», sagt Franziska Ryser, 62.
dem Talon auf der letzten Seite                            ungewiss. Die Mittagsgäste aus den Büros im        Und nun das! Die Whisky-Nights mit Live-
und hänge sie vor dem Fenster                              Quartier bleiben aus, weil sie im Homeoffice       Musik, die Seminare zu den edlen Tropfen,
auf. Mutig zusammenstehen                                  arbeiten. So ist das Café Boy derzeit nur abends   die Veranstaltungen mit Storytelling – alle
und Flagge zeigen hilft uns allen,                         geöffnet, und auch dann stehen wegen der           Geschäftsfelder brachen von einem Tag auf
wenn wir darum kämpfen, dass                               Abstandsregeln bloss die Hälfte der Plätze zur     den anderen weg. «Dieser Rückschlag wird
die Corona-Kosten solidarisch                              Verfügung. Auf Wunsch serviert das Personal        schwer aufzufangen sein», sagt sie. Zumal auch
finanziert werden.                                         Essen und Getränke mit Maske und Handschu-         das Whisky-Schiff in Luzern abgesagt wurde
                                                           hen. «Das verlangen bis jetzt die wenigsten        und ihr darum zusätzlich Kundschaft fehlen
                                                           Gäste», sagt Jobé. «Und die Stimmung bei Gäs-      wird. Am eigenen Stand hätte sie Kennern und
                                                           ten und Personal ist trotz allem sehr gut.»        Kennerinnen die neusten Spezialitäten des
                                                           Glück hat das Café Boy mit der Vermieterin, der    Abfüllers Blackadder vorstellen wollen. Dieser
                                                           SP-nahen bonlieu Genossenschaft. Diese hat in      Verlust lässt sich auch mit ihrem neuen Online-
                                                           Sachen Mietzins Entgegenkommen signalisiert.       Shop nicht so schnell wettmachen.
                                                           Der Keller ist aufgeräumt, das Konzept ge-         Doch Franziska Ryser, langjähriges SP-Mitglied,
                                                           schärft, die Menükarte erneuert. – «Jetzt muss     ist eine Kämpferin. Nach der Scheidung steckte
                                                           sich die Situation bessern», sagt Vivien Jobé.     sie ihr Pensionskassengeld in den Laden. «Ich
                                                           «Sonst sind wir gezwungen, fürs Überleben          war 58 Jahre alt. Versuch mal, in diesem Alter
                                                           einen Kredit aufzunehmen.» Oder zusätzliche        einen Job zu finden …», sagt sie vielsagend. Ihr
                                                           Genossenschafterinnen und Genossenschafter         Glück: Sie kommt aus der Hotellerie, kennt viele
                                                           zu finden.                                         Produzenten und Importeure persönlich – und
                                                                                                              versteht von Whisky mehr als die Konkurrenz.
                                                           Stimmig essen und trinken:                         Aber sie weiss: «Das Geschäft muss funktio-
                                                           Café Boy, Kochstrasse 2, 8004 Zürich               nieren, sonst bin ich eine arme alte Frau ohne
                                                                                                              Zukunftsperspektive. Dann wäre alles verloren.
                                                                                                              Aber noch gebe ich nicht auf!»

                                                                                                              Whisky-Raritäten, Whisky-Nights und
                                                                                                              Seminare: happy-ness.ch
Der Preis der Krise - SP Schweiz
6   LINKS
    188 ∙ 2020   Covid-19

Staatshilfe für die Swiss:
Arbeitsplätze vs. Klima?
Die Fluggesellschaft Swiss bekommt Staatshilfe und die SP Schweiz                               Wie viele Tickets werden denn gebucht?
kritisiert die fehlenden Klimaziele. «Das befremdet uns sehr», sagen                              Sandrine: Normalerweise gibt es 220 000
Sandrine Nikolic und David Martinez, die an der Spitze der Gewerkschaft                         Buchungen pro Tag. Im März, April lag die
Kapers stehen. Weshalb, erklären die beiden SP-Mitglieder im Interview.                         Anzahl Buchungen pro Tag im zweistelligen
                                                                                                Bereich, zwischen null und zwanzig!
In einem Instagram-Post kritisierte die         Billig-Airlines aus der Krise, die ihren An­
SP die Swiss, weil diese dank Steuerpri-        gestellten die miserablen Löhne nicht be-       Das entscheidende Thema bei den Wah-
vilegien Milliardengewinne in die Kassen        zahlen.                                         len im Herbst war das Klima. Viele Linke
der Lufthansa spülen konnte, heute aber                                                         haben wenig Verständnis, wenn die Luft-
Schweizer Staatshilfe beansprucht. Das          Wo liegt das Problem?                           fahrt Staatsgarantien beansprucht, ohne
stösst vielen sauer auf. Habt ihr dafür kein       David: Die Swiss hat ein Liquiditätspro-     dass Klimaziele festgelegt werden.
Verständnis?                                    blem. Eine Airline funktioniert so: Ein Pas-       David: Um es klar zu sagen: Es handelt
   Sandrine Nikolic: Es ist nicht die Schuld    sagier schiesst mit der Buchung der Airline     sich um Kredite, die zurückbezahlt werden
der Angestellten, dass die Swiss seinerzeit     das Geld vor. Dieser Geldfluss ist nun unter-   müssen. Es stimmt, wir sind – wie viele ande-
für sehr wenig Geld an die Lufthansa ver-       brochen, weil niemand mehr Tickets bucht.       re auch – in einem Geschäft tätig, das einen
scherbelt wurde. In der Schweiz hängen          Wegen der unsicheren Situation bucht auch       gewissen klimatischen Schaden anrichtet.
190 000 Arbeitsplätze an der Luftfahrt. Die     niemand ein Ticket für Ende 2020. Es kommt      Wir haben aber dennoch das Recht als Ar-
Kritik befremdet uns sehr.                      kein Geld mehr rein. Das ist das Dramatische.   beitnehmer geschützt zu werden, wir haben
   David Martinez: Allein die Swiss be-
schäftigt in der Schweiz 10 000 Leute und
hat auch viele Arbeitsplätze geschaffen. Die                                                     KAPERS
Luft­hansa hat aus der Swiss eine florierende
Airline gemacht. Im Alleingang hätte sie das                                                     Die Gewerkschaften Kapers vertritt seit
nie geschafft.                                                                                   1971 die Flight Attendants. Der Organisa­
                                                                                                 tionsgrad dieser Swiss-Angestellten liegt
Trotzdem ist es doch so, dass die Swiss                                                          mit 72 Prozent sehr hoch. Entsprechend
hohe Gewinne erwirtschaftete und jetzt                                                           gross ist auch der Einfluss, den die
um Staatshilfe bitten musste.                                                                    Gewerkschaft geltend machen kann –
   Sandrine: Das hat gute Gründe. In den                                                         mit Erfolg.
letzten zehn Jahren wurden zehn Milliarden
Franken in die Flotte investiert. Die Flug-                                                      kapers.ch
zeuge gehören der Swiss. Die Fixkosten im
Stillstand sind enorm, am Standort Zürich
kosten allein die Kabinenmitarbeitenden 30
Millionen Franken im Monat. Hinzu kom-                                                          Präsidiert wird die Vereinigung von Sandrine
men die Kosten für die Wartung und die                                                          Nikolic. David Martinez ist Vizepräsident.
Überwachung der Flugzeuge, das Hedging                                                          Beide arbeiten neben ihrer Gewerkschafts­
                                                                                         ZVG

des Kerosinpreises. Am besten kommen die                                                        arbeit als Flight Attendants.
Der Preis der Krise - SP Schweiz
Michael Würtenberg
                                                                                                                                              STAND
                                                                                                                                              PUNKT
                                                                                                                                              Rebekka Wyler,
                                                                                                                                              Co-Generalsekretärin
                                                                                                                                              der SP Schweiz und
                                                                                                                                              Gemeinde­rätin in
                                                                                                                                              Erstfeld (UR)

                                                                                                                Alte Regeln
                                                                                                                1916 schrieb Rosa Luxemburg: «Die Divi-
                                                                                                                denden steigen, und die Proletarier fallen.»

                                                                                                         PW
                                                                                                                Luxemburg analysiert die mörderischen
                                                            Auf einen Blick: Alle Abflüge eines Tages in        Verheerungen des Ersten Weltkriegs. Unab-
                                                            Zürich-Kloten im April 2020.                        hängig davon, wer den Krieg gewinne – den
                                                                                                                Arbeiter_innen bleibe nur «die hoffnungs-
                                                            und dann würde weniger geflogen. Es wür-            lose Wahl zwischen zwei Trachten Prügel».
                                                            den einfach andere auf den Markt drängen.           Während andere vom Krieg und seinen Ge-
                                                            Dem Klima würde das gar nichts nützen.              schäften profitieren. Denn jede Krise bietet
                                                            Wegen der Billig-Airlines würde das bloss die       auch Gelegenheit zum Gewinn.
                                                            Arbeitnehmenden noch mehr unter Druck
                                                            setzen.                                              Am 11. Mai titelte der «Blick» «340 Millio­
                                                                                                                nen Franken für Aktionäre, 800 Kündi-
                                                            Trotz Krise ist das Fliegen derzeit so billig       gungen fürs Personal». Die Corona-Krise
                                                            wie nie. Für ein Swiss-Ticket Zürich-New            führte beim Industriekonzern Oerlikon
                                                            York-Retour bezahlt man an einem beliebi-           zu Einbrüchen bei Aufträgen und Um-
                                                            gen Tag im Juni 459 Franken.                        satz, und schliesslich zum angekündigten
einen Wert. Wir sind Arbeitnehmerinnen                         Sandrine: Wir finden diese Tickets auch          Stellen­abbau. Einen Monat zuvor hatte
und Arbeitnehmer in einem Tieflohnsektor,                   zu billig. Aber jetzt wollen alle Airlines um       die Generalversammlung die Dividenden-
in sozialdemokratischer Tradition.                          jeden Preis ihre Flugzeuge füllen. Der Preis        ausschüttung genehmigt. «Blick» wirft
                                                            entspricht nicht dem Wert einer Flug­reise.         die Frage auf, weshalb das Geld nicht dazu
Wieviel verdient ein Flight Attendant?                      Dies schadet uns. Darum sind auch die               verwendet werde, möglichst viele Mitar-
   Sandrine: Der Anfangslohn liegt bei 3400                 Löhne so tief. Die Leidtragenden dieser             beitende an Bord zu halten. Aus Sicht des
Franken brutto im Monat. 42 Prozent der                     Preis­politik sind die Arbeitnehmenden.             Managements sind die Entlassungen jedoch
Flight Attendants der Swiss verdienen we-                      David: Auch vor der Krise waren viele Ti-        unum­gänglich.
niger als 4000 Franken im Monat. Immerhin                   ckets zu billig. Es stellt sich grundsätzlich die   Die schwerverdauliche Kombination von
haben wir es geschafft, dass die Swiss wäh-                 Frage, ob für diese Tickets ein Markt exis-         grosszügiger Dividendenzahlung und
rend der Kurzarbeit die Vollzeitlöhne unter                 tierte oder ob man einen künstlichen Bedarf         zahlreichen Kündigungen hat viele Leute
4000 Franken zu 100 Prozent bezahlt.                        schuf. Ich glaube zweiteres. Darum sind die         verärgert. Die Nachricht wurde in den so-
                                                            Leute auch so viel geflogen. Es war so billig.      zialen Medien breit geteilt – auch von mir.
Das ist ein beschämend tiefer Lohn. Aber                    Das ist eine sehr bedenkliche Entwicklung.          Und zwar zusammen mit dem erwähnten
beschäftigt euch die Klimafrage denn                        Nichts desto trotz hängen daran auch viele          Zitat von Rosa Luxemburg. Prompt wurde
nicht?                                                      Arbeitsplätze.                                      ich von einem Freisinnigen harsch kritisiert,
   David: Wir sorgen uns sehr um das Klima.                                                                     der sich am «klassenkämpferischen Duk-
Fürs Klima muss in die Forschung investiert                 Wie seht ihr die Zukunft der Luftfahrt?             tus» und dem in seinen Augen unpassenden
werden, in die Herstellung von syntheti-                       David: Es wird lange dauern, bis wieder          Vergleich störte.
schem Treibstoff und verbrauchsärmeren                      geflogen wird wie vor der Krise. Durch das
Flugzeugen. Aber zurzeit wird die Corona-                   Zwangshomeoffice merken viele Firmen,               Natürlich sind wir nicht im Krieg. Aber die
Krise genutzt, um die Klimafrage gegen                      dass die Sitzung in Hamburg mit morgens             Aus­sage von Luxemburg kann viel allgemei-
den Arbeitnehmerschutz auszuspielen. Das                    hin und abends zurück auch online geht. Die         ner gelesen werden: In einer Krise profitie-
ist für uns inakzeptabel. Wir können den                    Swiss hat in den letzten Jahren jedes Jahr          ren wenige, während viele verlieren. Wie
Schutz unserer Mitglieder nicht gegen den                   400 neue Flight Attendants angestellt. Diese        die Geschichte zeigt, sind es immer etwa
Schutz des Klimas aufwiegen.                                Zahl dürfte sinken.                                 dieselben, die die Gewinne einstreichen.
                                                                                                                Und es sind immer etwa dieselben, die auch
Wie steht ihr zur Flugticketabgabe?                         Stellt ihr euch auf einen Arbeitskampf ein,         heute wieder weniger verdienen oder gar
   Sandrine: Wir unterstützen eine Ticket­                  sollte es zu einem Stellenabbau kommen?             ihren Job verlieren. Es wäre schön, wenn wir
abgabe. Es sollte jedoch eine internationale                   Sandrine: Solange es die Kurzarbeitsent-         diese alten Regeln endlich ändern könnten.
Lösung sein oder zumindest eine europäi-                    schädigung gibt, sind wir geschützt. Danach         Eine andere Regel darf aber gerne ihre
sche. Wenn die Schweiz im Alleingang eine                   wird es sicher konfliktträchtiger. Darum for-       Gültigkeit behalten: Wenn dir der Freisinn
Ticketabgabe einführt, könnte sie diese im                  dern wir einen Mindestlohn von 4000 Fran-           Klassenkampf vorwirft, hast du wohl einen
Flughafen Basel nicht durchsetzen. Der Euro-                ken pro Monat und eine 13. AHV-Rente. Wir           wunden Punkt getroffen.
Airport liegt auf französischem Boden. Basel                müssen den GAV in der Krise verteidigen, be-
würde zu einem Hort von Billig-Airlines.                    sonders wenn das Unternehmen Milliarden-
   David: Es ist auch ein Trugschluss zu                    kredite zurückbezahlen muss. Da zählen wir
meinen, man könne die Swiss runterfahren                    auf die Unterstützung der Politik.
Der Preis der Krise - SP Schweiz
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8    LINKS
     188 ∙ 2020   SP 60+

Das Alter ist anders,
als es das BAG meint
                        Verdrängte Realität: Wie sich Seniorinnen und Senioren heute fühlen – aktiv und fit.

                        Mit der Corona-Krise wird einmal mehr ein Bild des Alters                       Akademie der Medizinischen Wis-
                        zementiert, das längst nicht mehr stimmt. Dagegen setzt                         senschaften (SAMW) klar, wonach
                        sich die SP 60+ zur Wehr.                                                       bei Ressourcenknappheit für Patien-
                                                                                                        ten ab 85 Jahren keine Zuweisung zu
                        Unberechenbarkeit charakterisiert       bei den Empfehlungen des BAG drin-      einem Intensivpflegeplatz gemacht
                        das Virus, verlässliche Erkennt-        gend nötig.                             werden soll. Altersbezogene Diskri-
                        nisse zu Gegenmitteln fehlen. Die                                               minierungen widersprechen grund-
                        Direktiven des Bundes richten sich      Altersdiskriminierung darf              sätzlich den Menschenrechten sowie
                        nach der Verfügbarkeit der Mit-         nicht sein                              der Verfassung. Aus ethischer Sicht
Marianne de Mestral,    tel: Fehlen Schutzmasken, sind sie      Solidarität wird verordnet und          sind sie höchst fragwürdig. Ist es
Co-Präsidentin SP 60+   nutzlos. Sind sie in ausreichender      bedeutet: Massnahmen einhalten          blosser Zufall, dass gegenwärtig Ar-
                        Anzahl vorhanden, sind sie sinn-        und zu Hause bleiben. Solidarität       tikel erscheinen, die von Urvölkern
                        voll. Diesen Widerspruch auszuhal-      geht aber anders: Die JUSOs gehör-      berichten, die ihre Alten getötet ha-
                        ten und ihn als strategische Über-      ten zu den Ersten, die einen Auf-       ben, wenn sie zur Belastung wurden?
                        legung anzunehmen, ist praktische       ruf zur Nachbarschaftshilfe star-       Sind das verdeckte Aufforderungen
                        Akzeptanz.                              teten. Danke! Überhaupt sind in         zum «Senizid»? Niemals darf jemand
                           Die Erkenntnisse über das Virus      den Wochen des Lockdowns viele          zum Sterben gedrängt werden!
                        entwickeln sich, während präzise        kreative Projekte zugunsten von            Besorgniserregend ist das Alters-
                        Altersangaben fixe Empfehlungen,        älteren Menschen entstanden. Das        bild, das derzeit medial vermittelt
                        Verhaltensregeln und Massnahmen         ist erfreulich und wohltuend. Aber      wird. Fast täglich wird von alten
                        für ältere Menschen untermauern.        gesunde aktive Alte sind nicht an-      Menschen in Alters- und Pflege-
                        Fast alle SP60+-Genossinnen und         steckend und finden – so sie den        heimen berichtet, die unter Anste-
                        -Genossen gelten als Risikoperso-       selbständigen Einkauf trotzdem          ckungsgefahr und Kontaktverboten
                        nen – rund 2080 Mitglieder an der       wagen – die scheelen Blicke von         isoliert leben müssen – es sind de-
                        Zahl, viele mit und viele ohne Vorer-   Jüngeren nicht angebracht, ja sogar     primierende Bilder. Sie wecken pau-
                        krankung. Auch mit Vorerkrankun-        beleidigend. Selbständig lebende        schale Vorstellungen vom Alter, die
                        gen lässt sich gut und normal leben.    Seniorinnen und Senioren wollen         aus der Mottenkiste stammen. Auto­
                        Nicht mittendrin und politisch aktiv    behandelt werden wie alle anderen       nome Seniorinnen und Senioren
                        zu sein, passt aber nicht zur SP60+.    Menschen auch und möchten nicht         sind anders, kommen in den Medien
                        Menschen über 65 gehören gemäss         als Zumutung für Jüngere wahrge-        jedoch kaum vor.
                        Bundesamt für Gesundheit (BAG)          nommen werden. Wie das Virus zu            Der Leitsatz der SP60+ «Nichts
                        ohne Differenzierung zur Risiko-        meiden ist, haben sie längst kapiert.   über uns, ohne uns» wird bei Mass-
                        gruppe. Eine Unterscheidung zwi-            Die Risiken lebensverlängernder     nahmen und Berichten zu Corona
                        schen aktivem Alter und Hochalter       Massnahmen sind den meisten Älte-       völlig ignoriert. Aber die SP60+ lässt
                        – wie sie heute wissenschaftlich und    ren auch ohne die diskriminierende      sich das aktive Alter trotzdem nicht
                        auch allgemein gemacht wird – wäre      Empfehlung der Schweizerischen          stehlen!
Der Preis der Krise - SP Schweiz
LINKS BL.BS

      Mitgliederzeitung der SP Schweiz
      188 · Ausgabe BL · BS · Mai 2020

Ein spezieller 1. Mai 2020: Die Menschen aus der Region haben ihn von zu Hause aus bestritten.

Wertvolle Arbeit – faire Löhne!
In den vergangenen Wochen haben           Verkannte Arbeit wurde                                                   Der Ursprung des Übels liegt bei
wir alle eine ausserordentliche Situ-     «systemrelevant»                                                      der Ökonomisierung des Gesund-
ation durchlebt: Covid-19 stellte un-     Das Gleiche gilt für das Gesundheits-                                 heitswesens. Jahrzehntelang hat
sere Welt quasi auf den Kopf.             wesen oder die Lebensmittelversor-                                    man uns erzählt, wir müssten die
   Die Privilegierten unter uns           gung: Die Wertschätzung der Bevöl-                                    Produktion von möglichst allen Wa-
– meist «klassische Bürojobs» aus-        kerung für die Arbeitnehmenden in                                     ren und Dienstleistungen dem freien
übend – konnten ihre Arbeit von zu        den Spitälern und im Verkauf ist sehr                                 Markt überlassen. Das Resultat sind
Hause aus erledigen. Was nach einem       spürbar. Wir bedanken uns mit Peti-                                   marode Gesundheitswesen und feh-
Privileg klingt, förderte sehr schnell    tionen und Applaus bei all jenen Ar-                                  lendes Schutzmaterial in den reichs-
grosse Herausforderungen zu Tage:         beitnehmenden, die in der Corona-       Samira Marti, Nationalrätin   ten Ländern dieser Welt. Dieses Sys-
Kinderbetreuung und Home-Office           Krise dafür sorgen, dass die Grund-     und Präsidentin vpod Region   tem voller Fehlanreize – eine Opera-
                                                                                  Basel
kombinieren – ein Ding der Unmög-         versorgung gewährleistet bleibt.                                      tion rentiert, die Pflege aber kostet
lichkeit. Umso deutlicher wird, wie                                                                             – muss umgekrempelt werden.
wichtig unsere Betreuungsstruktu-         Ausbau der öffentlichen Grund­                                           Was wir im Gesundheitswesen,
ren für das Wirtschaften sind. Doch       versorgung ist dringend                                               bei der Kinderbetreuung, im ÖV usw.
die unklaren Regelungen bei der Fi-       Diese Wertschätzung haben diese                                       brauchen, ist eine starke Grundver-
nanzierung der Kindertagesstätten         Arbeitnehmenden auch verdient.                                        sorgung in öffentlicher Hand mit
führen aktuell dazu, dass sich die        Aber sie verdienen sie sich jeden Tag                                 guten Arbeitsbedingungen für alle.
Situation für die Kitas zusätzlich ver-   – auch nach Corona! Und sie muss                                      Lohnerhöhungen sollten dabei eine
schlechtert. Entweder bedrohen die        konkrete Folgen haben: Es braucht                                     Selbstverständlichkeit sein. Wir wer-
Ausfälle der Elternbeiträge ihre Exis-    anständige Löhne und bessere Ar-                                      den die Gesellschaft, vor allem aber
tenz oder Eltern bezahlen die Beiträ-     beitsbedingungen in den Kitas, im                                     die Politik nach der Krise gemeinsam
ge weiterhin, obwohl sie ihre Kinder      Gesundheitswesen, im Detailhandel,      Toya Krummenacher,            daran erinnern, dass wertvolle Ar-
zuhause betreuen. Und gerade bei der      in der Reinigung und zahlreichen        Grossrätin und Präsidentin    beit Wertschätzung verdient.
                                                                                  Basler Gewerkschaftsbund
Kinderbetreuung sind die Arbeitsbe-       anderen Berufen. Die Krise hat ver-                                      Wir hätten diese Forderung ge-
dingungen oft regelrecht prekär. Sehr     kannte Arbeit sichtbar gemacht, jetzt                                 meinsam mit euch am 1. Mai auf die
tiefe Löhne, hohe Arbeitsbelastung,       muss sich die Sichtbarkeit nachhaltig                                 Strasse gebracht – jetzt bringen wir
Kettenpraktika sind prägende Merk-        auszahlen. Denn wertvolle Arbeit hat                                  sie in die Medien, in die Ratssäle, an
male in diesem Sektor.                    faire Löhne verdient!                                                 die Arbeitgeber!
Der Preis der Krise - SP Schweiz
10    LINKS
      187 ∙ 2020        LINKS BE
                   Seitentitel

Kitas gehören zum Service public
In der Corona-Krise zeigt sich sehr deutlich, welche Bereiche für unse-                                Der Weg dorthin ist in der Schweiz immer
re Gesellschaft unverzichtbar sind. Dazu gehört auch die familiener-                                   noch steinig und steil. Die meisten Massnah-
gänzende Kinderbetreuung in Kindertagesstätten (Kitas) und Tages­                                      men zur Unterstützung von bildungsfernen
familienorganisationen (TFO). Der Bundesrat hat die Kinderbetreuung                                    und sozial benachteiligten Familien setzen
als «systemrelevant» eingestuft. Die Kitas mussten während der Zeit                                    erst im Alter von vier Jahren ein – beim Ein-
des Lockdowns eine Notbetreuung für Kinder gewährleisten. Fazit:                                       tritt in den Kindergarten. Zu diesem Zeitpunkt
Ohne Kinderbetreuung geht nichts mehr!                                                                 sind die Weichen für entscheidende Entwick-
                                                                                                       lungsschritte als Grundlage für eine erfolg-
                                                      eine höhere Erwerbsbeteiligung der Eltern       reiche Schullaufbahn längst gestellt. Defizite
                           Mirjam Veglio,            und die entsprechende Steigerung ihres Er-        können nicht mehr aufgeholt werden. Gerade
                           Co-Präsidentin SP         werbseinkommens                                   für die Förderung dieser Kinder kommt den
                           Kanton Bern, in ihrer
                           Funktion als Geschäfts-    die daraus folgenden höheren Beiträge an        Kitas eine zentrale Rolle zu – nutzen wir sie.
                           leitung Kinderbetreu-     die Sozialversicherungen
                           ung Zollikofen für zwei    die höheren Steuereinnahmen durch die           Kitas gehören zum Bildungssystem
                           Kitas mit 60 Plätzen
                           und rund 30 Angestell-    zusätzlichen Einkommen der Eltern und             Aktuell bewegt sich der Kanton Bern aber
                           ten verantwortlich        Lohnzahlungen an die Kita-Angestellten            exakt in die falsche Richtung. Mit der Um-
                                                      die vermiedenen Sozialhilfe-Kosten durch        stellung auf das Betreuungsgutscheinsystem
                                                     die höheren Einkommen der Eltern.                 wird der Wettbewerb unter den Kitas befeu-
                                                        Der schwachen Beteiligung der öffentli-        ert. Es liegt auf der Hand, dass die Betreu-
Kinderbetreuung lohnt sich                           chen Hand sind auch die unbefriedigenden          ungsqualität und Anstellungsbedingungen
Diese Realität ist leider in den konservativen       Anstellungsbedingungen in der Branche ge-         unweigerlich weiter unter Druck geraten.
Köpfen der Berner Politik noch nicht ange-           schuldet. Es braucht ein faires, umfassendes      Hier ist eine Kurskorrektur nötig.
kommen. Die familienergänzende Kinderbe-             Lohnsystem im Rahmen eines Gesamtar-                 Die SP Kanton Bern wird sich in der aktu-
treuung muss auch im Jahre 2020 immer noch           beitsvertrags. Erst damit erhält die Arbeit der   ellen Beratung des Gesetzes über die Sozialen
um Akzeptanz und Wertschätzung kämpfen.              Kinderbetreuung den Wert, den sie verdient.       Leistungserbringer (SLG) dafür einsetzen,
Die Subventionen der öffentlichen Hand sind                                                            dass der Kanton seine Verantwortung für die
hierzulande im internationalen Vergleich             In der frühen Förderung steckt Potenzial          familienergänzende Kinderbetreuung um-
tief, die Elternbeiträge entsprechend hoch.          «Kinderhüten» war gestern – heute sind die        fassend wahrnimmt.
Investitionen in die Kinderbetreuung gelten          Anforderungen an die Kinderbetreuung hoch            Jedes Kind hat ein Recht auf frühe Förde-
zu Unrecht einseitig als Kostenfaktor.               – zu Recht! Es geht um ein in der Schweiz lei-    rung. Deshalb gehört die familienergänzende
   Unlängst haben Studien belegt, dass sich          der immer noch verkanntes Potenzial: die          Kinderbetreuung zum Service public. Kitas
Investitionen in Kinderbetreuung in einer            frühkindliche Bildung, Betreuung und Erzie-       sind Teil des Bildungssystems und müssen,
gesamtgesellschaftlichen Betrachtung durch           hung (FBBE). Sie ist der zentrale Schlüssel zu    wie die Volksschule, durch Steuermittel fi-
verschiedene Effekte lohnen:                         mehr Chancengerechtigkeit für alle Kinder.        nanziert werden.
Niklaus Wepfer

                                                                                                                      LINKS  SO
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                 Der eigenen Linie
                 treu geblieben
                 Alt Regierungsrat Ruedi Bachmann ist am 17. März 2020 im Alter von 99 Jahren verstorben. Die Sozialdemo­
                 kratische Partei verliert damit einen aktiven Genossen und Unterstützer, stets aufmerksamen und herzens-
                 guten Menschen. Die SP des Kantons Solothurn spricht den Angehörigen ihr herzliches und tiefempfundenes
                 Beileid aus.

                                                                     Ruedi Bachmann am Jubiläumsanlass «100 Jahre Landesstreik» der SP Schweiz, des SGB und
                                                                     der Robert-Grimm-Gesellschaft vom 10. November 2018 in Olten.

                                                                     prägende Ereignis war die Abwahl eines bür-      bahn wieder Fahrt auf. Dass er bereits nach
                                                                     gerlichen Lehrers aus dem Oltner Gemeinde-       vier Jahren im Kantonsrat als Regierungs-
                                       Susanne Schaffner,            rat. Dass Gewerbekreise zur Hatz auf einen       ratskandidat von seiner Partei nominiert
                                       Regierungsrätin               Berufskollegen bliesen, empfand der junge        wurde, hat ihn selber überrascht. «Regie-
                                       susanne.schaffner@ddi.do.ch
                                                                     Lehrer als ungerecht und als Kampferklä-         rungsrat war ein Prachtsjob», meinte Ruedi
                                                                     rung gegen seinen Berufsstand.                   2015 in einem Gespräch. «Ein so breites und
                                                                        Seine erste reguläre Stelle als Bezirks-      interessantes Tätigkeitsfeld mit so vielen
                                                                     schullehrer erhielt Ruedi 1950, drei Jahre       Kontakten. Ein befriedigender Job.»
                  Wie hätte wohl seine politische Laufbahn           nach seinem Studienabschluss, in Oensin-            Vor Kritik blieb Regierungsrat Ruedi
                  ausgesehen, wäre Ruedi Bachmann als jun-           gen. Dort stand ein «roter» Ammann der           Bachmann nicht verschont. Vor allem in
                  ger Mann der freisinnigen Partei beigetre-         Gemeinde vor. Kaum in der Gemeinde nie-          den 70er- und 80er-Jahren, als eine junge
                  ten? Eine Mitgliedschaft bei der dominanten        dergelassen, nahmen die Genossen den jun-        Generation ein forscheres Auftreten der Lin-
                  FDP brachte damals in beruflicher Hinsicht         gen Bezirkslehrer in die Pflicht. Ruedi wurde    ken erwartete. Die Angriffe trafen ihn, aber
                  mancherlei Vorteile. Wie oft machte er sich        Parteipräsident, Gemeinderat und Kommis-         Ruedi konnte immer auch gut einstecken,
                  bei einem Vorstellungsgespräch Hoffnun-            sionsmitglied und leitete daneben noch zwei      wegstecken und wieder vergessen. Er war
                  gen auf eine Stelle als Lehrer, um später zu       Frauenturnvereine: Praktisch jeden Abend         durch und durch ein pragmatischer Mensch
                  erfahren, dass der freisinnige Anwärter das        ausser Haus, bis seine Frau nach ein paar        und Politiker, der seiner eigenen Linie stets
                  Rennen gemacht hatte. Ruedi war nun mal            Jahren sehr energisch protestierte.              treu blieb.
                  als «Roter» bekannt und abgestempelt. Da-             Er nahm eine Stelle in Trimbach an und           Auch seiner Partei blieb er bis zu seinem
                  bei interessierte er sich in seinen Jugendjah-     legte dem Hausfrieden zuliebe alle politi-       Tod am 17. März 2020 treu und beteiligte
                  ren kaum für die Politik. Bis zum Abschluss        schen Aktivitäten auf Eis. Zwei Jahre später,    sich, wenn immer möglich, aktiv an allen
                  des Lehrerseminars in Solothurn war für            1958, bewarb er sich in Olten. Kurz nach sei-    politischen und geselligen Anlässen. Rue-
                  ihn eine Mitgliedschaft in einer Partei kein       nem Stellenantritt stand die Rektorenwahl        di wusste stets über alles Aktuelle Bescheid
                 ­T hema. Dazu brauchte es eine charismati-          an. Ruedi hatte Gefallen am Lehrerberuf und      und verfolgte mit grossem Interesse und
                  sche Persönlichkeit und ein prägendes Er-          keinerlei Ambitionen auf das Amt. Doch sein      unterstützend die politische Arbeit des Re-
                  eignis. Die charismatische Persönlichkeit          politischer Mentor Hermann Berger liess          gierungsrates wie auch jene von amtieren-
                  war Hermann Berger, Fraktionschef der              nicht locker, bis er Ruedi zu einer Kandidatur   den Genossinnen und Genossen auf allen
                  Sozialdemokraten im Oltner Gemeinderat,            bewegen konnte. So kam es, dass Ruedi wäh-       Staatsebenen. Ich danke Ruedi namens der
                  Mitglied des Kantonsrates, ein «überzeugen-        rend acht Jahren als Rektor amtete. Mit dem      SP des Kantons Solothurn für seine Treue,
                  der Politiker» und «Rhetoriker erster Güte»,       Nachrücken für Arnold Kamber in den Kan-         Unterstützung und unermüdlichen Einsatz
                  wie Ruedi Bachmann über ihn sagte. Das             tonsrat nahm auch seine politische Lauf-         für unsere Partei und unsere Anliegen.
Schweizerisches Bundesgericht
        LINKS REGIOBE

BESCHWERDE GEGEN DAS KANTONALE POLIZEIGESETZ

«Das Bundesgericht ist den Beschwerde-
führenden weitgehend gefolgt»
Ein Räumungsparagraf gegen Fahrende, präventive Polizeiüberwachung,                             zu 30 000. Zwar wurde immer wieder betont,
strafbewehrte Wegweisungen von Menschen und Polizeikostenüberwäl-                               das Gesetz richte sich nur gegen gewalttätige
zung bei Demonstrationen: Am 29. April hat das Bundesgericht entschie-                          Personen, doch das stimmt nicht: Die Poli-
den, ob diese Bestimmungen des Berner Polizeigesetzes rechtens sind.                            zeiverordnung definiert den Anwendungs-
Markus Husmann, Advokat und Vorstandsmitglied der Demokratischen                                bereich so weit, dass auch Kosten fürchten
Juristinnen und Juristen Luzern, äussert sich zum Urteil. Interview: Fabio Peter                muss, wer sich an einem Menschenteppich
                                                                                                – wie wir das von den Klimaprotesten ken-
Zu welchem Schluss ist das Bundesgericht                                                        nen – beteiligt oder wer bei einer Interven-
gelangt und weshalb?                                                                            tion der Polizei ein bisschen mit den Händen
Das Bundesgericht ist den Beschwerdefüh-                                                        fuchtelt. Selbst passive Personen werden
renden weitgehend gefolgt: Erstens stelle                                                       kostenpflichtig, wenn sie sich auf Auffor-
die «Lex Fahrende», welche die Wegweisung                                                       derung hin nicht entfernen. Damit wird die
von Fahrenden und die Räumung eines Ge-                                                         ohnehin grosse Macht der Polizei, willkürlich
ländes innert 24 Stunden vorgesehen hatte,                                                      über die Zulässigkeit einer Versammlung zu
einen unverhältnismässigen Eingriff in das                                                      entscheiden, mit einem finanziellen Schlag-
Privat- und Familienleben dar. Zweitens sei                                                     hammer ergänzt. Auch Veranstalter*innen
die präventive polizeiliche Überwachung                                                         werden haftbar, wenn sie nicht über eine er-
mit technischen Überwachungsgeräten,                                                            forderliche Bewilligung verfügen oder Bewil-
ohne jeden Tatverdacht und ohne gerichtli-                                                      ligungsauflagen nicht einhalten, was beson-
che Kontrolle, verfassungswidrig. Zu Recht                                                      ders die Durchführung spontaner Kundge-
sieht das Bundesgericht darin eine grosse       Markus Husmann                                  bungen zu einem risikoreichen Unterfangen
Missbrauchsgefahr. Und drittens sei es nicht                                                    macht. All dies – so die Befürchtung – kann
zulässig, dass Wegweisungen – z. B. gegen       lich auch, dass das Bundesgericht einer mass-   Veranstalter*innen und Teilnehmer*innen
auf der Gasse lebende Menschen – zwingend       losen Überwachung und Repression einen          abschrecken, ihre Meinung frei kundzutun.
mit Strafdrohungen verknüpft werden. Nicht      Riegel vorschiebt. Der Erfolg darf aber nicht
gefolgt ist das Bundesgericht dem Einwand,      darüber hinwegtäuschen, dass das Bundes-        Wie geht es nun weiter?
die Überwälzung von Polizeikosten auf           gericht einen schwerwiegenden Eingriff in       Es gilt nun die schriftliche Urteilsbegrün-
Veranstalter*innen und Teilnehmer*innen         die Demonstrationsfreiheit abgesegnet hat.      dung abzuwarten und dann über das weitere
von Demonstrationen führe zu einem unzu-                                                        Vorgehen zu entscheiden.
lässigen Abschreckungseffekt. Es anerkennt      Worin liegt denn das Problem einer Kos-
zwar diesen «chilling effect», ist aber der     tenüberwälzung?
Ansicht, dass das Berner Gesetz verfassungs-    Ich mache ein Beispiel: Als 2017 der chinesi-    NEUES POLIZEIGESETZ
konform ausgelegt werden kann.                  sche Präsident in Bern zu Besuch war, woll-
                                                ten einige tibetische Aktivist*innen ihren       Das neue Polizeigesetz des Kantons Bern
Was sagen die Beschwerdeführenden dazu?         Protest ins Stadtzentrum tragen. Der Protest     wurde im März 2018 vom Grossen Rat
Das Urteil ist besonders für die fahrenden      war wohlgemerkt friedlich. Die Demonstrie-       verabschiedet. Dagegen wurde von linken
Minderheiten ein wegleitender Präzedenz-        renden wurden von dutzenden Polizeibeam-         Parteien und diversen Organisationen
fall. Das Bundesgericht hat nicht nur klarge-   ten eingekesselt und gewaltsam verhaftet.        wie den Demokratischen Juristinnen und
macht, dass stigmatisierende Sondernormen       Die NZZ schrieb, das seien Bilder, die an au-    Juristen Bern erfolglos das Referendum
im Rechtsstaat keinen Platz haben, sondern      toritäre Staaten erinnern. Mit dem Berner        ergriffen. Am 1. Januar 2020 ist es in
auch darauf hingewiesen, dass die Behörden      Polizeigesetz könnten den Betroffenen in         Kraft getreten – mit Ausnahme der drei
eine Pflicht trifft, Bedingungen zu schaffen,   solchen Konstellationen nicht nur blaue Fle-     Bestimmungen, gegen die Beschwerde
damit fahrende Minderheiten ihre Lebens-        cken drohen, sondern Kosten bis zu 10 000        erhoben wurde.
weise bewahren können. Erfreulich ist natür-    Franken pro Person, im Extremfall sogar bis
iStock                                                                                     Kinderbetreuung                                   13
                                                                                                                                  LINKS
                                                                                                                                  188 ∙ 2020

Corona und die Kinder
Die Kinderbetreuung gehört zur Grundversorgung. Das weiss der Bundesrat.                                  pen sich ihre Worte als Lippenbe-
Daher ordnete er explizit an, die Krippen nicht zu schliessen. So weit, so klar?                          kenntnisse.
Nicht in der Umsetzung. Die Leidtragenden sind Eltern und Personal.
                                                                                                          Klare Forderungen
Der Bundesrat wollte die Krippen                                  die Politik um eine Lösung foutierte.   Kitabeträge zahlen und gleichzeitig
ausdrücklich offen halten. Doch die                               Im März scheitere ein Rettungspaket     im Homeoffice Kleinkinder betreu-
Kantone legten die Covid-19-Verord-                               zur Unterstützung der Kindertages-      en müssen? Eltern waren zu Recht
nung unterschiedlich aus. Die einen                               stätten im Bundesrat. 100 Millionen     empört. Der VPOD fordert darum
schlossen Krippen ganz, boten aber                                Franken war den bürgerlichen Bun-       ein klares Bekenntnis der Kantone
eine Notbetreuung an (Solothurn),                                 desräten zu viel, um Betreuungs-        zur Beibehaltung der Subventionen,
in anderen Kantonen hiessen die                                   strukturen zu retten, die während       auch wenn die Kinder nicht in der
Krippen alle Kinder weiterhin will-                               17 Jahren mit grossen Mühen und         Krippe betreut wurden. Die Eltern-
kommen (Aargau), und Dritte wie-                                  einer erheblichen Anstossfinanzie-      beiträge sind zu kompensieren. Im
derum hielten die Krippen bloss für      Natascha Wey,            rung aufgebaut worden waren.            Gegenzug fordert der VPOD von den
Kinder offen, deren Eltern in be-        VPOD-Zentralsekretärin      In einem zweiten Anlauf ver-         Kitas, dass sie den Angestellten 100
stimmten Personalkategorien arbei-                                suchte das Parlament zu retten, was     Prozent des Lohnes vergüten, auch
ten (Zürich).                                                     zu retten war. Nach einigem Hin und     wenn für Kurzarbeit nur 80 Prozent
   Schweizweit lässt sich bilanzie-                               Her beschloss der männerdominier-       ausbezahlt wird.
ren: Die Krippen waren vielerorts ge-                             te Ständerat ein Kita-Hilfspaket von       Womit wir beim neuerdings «sys-
öffnet, doch gab es kaum Kinder zu                                65 Millionen Franken. Ob der Betrag     temrelevanten» Kita-Personal wären.
betreuen. Denn gleichzeitig riefen                                reicht, steht in den Sternen. Klar      Die Forderungen des VPOD sind klar:
viele Kantone die Eltern im Homeof-                               wurde einmal mehr, wie viele bür-       In der Krise sollen nicht nur Risiko-
fice dazu auf, die Kinder «freiwillig»                            gerliche Politiker ticken: Auf Podien   personen nach Vorgaben des Bundes,
aus der Kita zu nehmen. Dennoch                                   schwafeln die Wirtschaftsmänner         sondern alle Personen über 60 Jahren
mussten die Eltern die Kitarech-                                  von Fachkräftemangel und Verein-        sowie Schwangere bei vollem Lohn
nungen bezahlen. Zur Erinnerung:                                  barkeit von Familie und Beruf. Doch     freigestellt werden. Alle anderen sind
In keinem Land Europas bezahlen                                   sobald sie zugunsten der Vereinbar-     besser zu bezahlen, und zwar bitte
die Eltern mehr für einen Kitaplatz                               keit investieren könnten, entpup-       rasch, weil systemrelevant.
als in der Schweiz. Eltern berappen
hierzulande bis zu drei Viertel der
Vollkosten eines Kitaplatzes.
                                                                   FRAUENSTREIK FÜR KITAS
Bürgerliche Lippenbekenntnisse
Die meisten Kinderkrippen können                                   Im Zentrum der Forderungen der SP Frauen* steht am 14. Juni erneut, dass
eine tiefe Auslastung finanziell nicht                             alle Kinder ein Recht auf einen Kitaplatz haben sollen – so wie jedes Kind
stemmen. Sie werden nach spätes-                                   in der Schweiz den Kindergarten besuchen darf. Dies
tens zwei Monaten vor dem Konkurs                                  forderten sie bereits letztes Jahr, ebenso wie verbind-
stehen und sind drum auf Unter-                                    liche Massnahmen zur Lohngleichheit, eine bessere
stützung angewiesen. Dies nicht zu-                                Entlöhnung der sogenannten «Frauenberufe» und
letzt, weil zu Beginn der Krise viele                              einen gleichberechtigten Elternurlaub. Ein Jahr nach
Eltern die Kita-Verträge kündigten,                                dem historischen Frauenstreik ziehen die SP Frauen*
da unklar war, wie lange die Situa­                                Bilanz unter sp-frauen.ch.
tion andauern würde – und weil sich
Fabian Molina
14    LINKS
      188 ∙ 2020   Asylpolitik

Note ungenügend,
Frau Keller-Sutter!
Eine Verschlechterung schien kaum mehr möglich – und doch: Covid-19 hat die                                     die europäische Solidarität im Asyl-
Situation der Flüchtlinge im Camp Moria noch verschärft. Dennoch rettet die                                     bereich geschwächt. Seither stellt
Schweizer Regierung bloss 23 Kinder aus dem Camp des Grauens.                                                   sich die Schweiz bei der Dublin-Re-
                                                                                                                form quer und stiehlt sich damit aus
Als ich das Camp Moria auf der grie-                                    chischen Insel-Camps. Auch in der       der Verantwortung.
chischen Insel Lesbos 2018 zum                                          Schweiz. Über Ostern forderten
ersten Mal besuchte, lebten rund                                        tausende Menschen, darunter zahl-       Wer hat das repressivste
10 000 Asylsuchende in einem La-                                        reiche prominente Persönlichkeiten      Asylsystem?
ger, das eigentlich für knapp 3500                                      aus Kunst, Kultur und Politik, sowie    Seit November 2019 ist mit Ylva Jo-
Personen erstellt wurde. In Moria,                                      über hundert Organisationen der         hansson eine schwedische Sozial-
dem grössten Flüchtlingslager Eu-                                       Zivilgesellschaft den Bundesrat auf,    demokratin die oberste europäische
ropas, herrschten Chaos, Gewalt                                         Asylsuchende in die Schweiz zu ho-      Asylchefin. Ich durfte die EU-Kom-
und Hoffnungslosigkeit. Viele der                                       len. Die SP setzte sich im Parlament    missarin im Februar dieses Jahres
Bewohnerinnen und Bewohner war-         Fabian Molina, Nationalrat ZH   dafür ein und erreichte immerhin        kennenlernen und war beeindruckt
teten seit Jahren auf die Bearbeitung                                   eine Aufstockung der humanitären        von ihrem Tatendrang und ihren
ihres Gesuchs und lebten in Zelten                                      Hilfe und die Einreise von 23 unbe-     Konzepten. Ihre Analyse: Heute
oder unter freiem Himmel. Zahlrei-                                      gleiteten Minderjährigen mit dem        gibt es unter den Mitgliedsstaaten
che waren stark traumatisiert. Von                                      Ziel der Familienzusammenfüh-           ein «race to the bottom», also einen
den 2000 Kindern konnte nur ein                                         rung. Ein Tröpfchen auf einem heis­     Wettbewerb, wer das repressivste
kleiner Teil zur Schule gehen. Das                                      sen Stein.                              Asylsystem hat. So sollen die Asyl-
war vor Covid-19.                                                                                               suchenden in andere Staaten ge-
   Mit Ausbruch der Pandemie ver-                                       Fehler im System                        drängt werden.
schärfte sich die Situation auf Les-                                    Die Corona-Krise wirft ein Schlag-         Das Dublin-System muss des-
bos und weiteren Inseln der Ägäis                                       licht auf die gravierenden Fehler       halb so reformiert werden, dass das
zusätzlich. Distanz- und Hygiene-                                       des Dublin-Systems, das eigentlich      Recht auf Asyl in Zukunft europä-
vorschriften können in überfüllten                                      zur Koordination der europäischen       isch gilt. Damit hätten das Hin- und
Lagern nicht eingehalten werden.                                        Asylpolitik geschaffen wurde. Aber      Herschieben, das Blockieren von Ge-
Es gibt zu wenig Wasser, um sich                                        es funktioniert nicht. Die Mitglieds-   suchen und die nationale Kriegsrhe-
die Hände zu waschen. Die Gesund-                                       staaten des Dublin-Abkommens, zu        torik endlich ein Ende. Karin Keller-
heitsversorgung ist noch desolater                                      denen auch die Schweiz gehört, kön-     Sutter müsste mit Ylva Johansson
als zuvor. In einer Zeit, in der die                                    nen sich nicht auf eine faire Vertei-   zusammenspannen und die rechten
Welt gegen eine gemeinsame Bedro-                                       lung der Geflüchteten einigen und       Populisten in Wien und Osteuropa
hung enger zusammenrücken sollte,                                       rüsten stattdessen die Festung Eu-      in die Schranken weisen. Und bis da-
werden Menschen auf der Flucht an                                       ropa weiter auf. Die Leidtragenden      hin mit gutem Beispiel voran­gehen.
den Grenzen Europas ignoriert.                                          sind die Asylsuchenden aus Syrien,         Wie die sozialdemokratische Re-
                                                                        Afghanistan und Nordafrika, die         gierung Portugals. Sie hat entschie-
Kein Herz für Flüchtlinge                                               zum Spielball nationaler Egoismen       den, 500 Kinder von den griechi-
In ganz Europa verlangten Soli-                                         werden.                                 schen Inseln zu retten. Nicht 23.
daritätsaktionen von den Dublin-                                           Mit dem Amtsantritt von Justiz-
Staaten die Evakuierung der grie-                                       ministerin Karin Keller-Sutter wurde
ATP                                                                            Schwarzenbach-Initiative                                          15
                                                                                                                                      LINKS
                                                                                                                                      188 ∙ 2020

        50 Jahre Schwarzenbachab!
Italienische Landarbeiter mit Sack und Pack nach ihrer Ankunft in Brig, 1956.

Die Schwarzenbach-Initiative spaltete das Land und die Arbeiterbewegung –                                      wollte die Schwarzenbach-Initiative
und prägt die politische Debatte bis heute. Grund genug, einen Blick zurück                                    ihre Reduktionsmassnahmen auf
zu werfen.                                                                                                     Saison­niers, die nur kurze Zeit in
                                                                                                               der Schweiz weilten, ausdrücklich
Der Urnengang vom 7. Juni 1970          Christian Koller, Historiker   in einem Zürcher Restaurant einen       nicht anwenden. Ebenso ausgenom-
zeigte ein ungewohntes Bild. Die                                       italienischen Dachdecker zu Tode,       men waren beispielsweise das Pfle-
Schwarzenbach-Initiative forderte                                      ohne dass jemand eingriff.              ge- und Spitalpersonal oder Wissen-
eine Reduktion des Ausländeran-                                           Schliesslich erreichte die Initia-   schafter.
teils in allen Kantonen ausser Genf                                    tive 46 Prozent Ja-Stimmen. Sieben
auf 10 Prozent. Dies hätte die Aus-                                    Stände nahmen sogar an – inter-         Zaghafte Integration
weisung von mindestens 300 000                                         essanterweise Kantone mit unter-        Schon in den 50er-Jahren begann
Menschen zur Folge gehabt – mit                                        durchschnittlichen Ausländerantei-      eine Debatte um die Einwanderung.
gravierenden wirtschaftlichen Kon-                                     len. Auch in anderen Ländern ent-       Sie reichte über die entstehende
sequenzen. Bundesrat, Parlament,                                       standen damals ausländerfeindliche      Antiimmigrationsbewegung hinaus
alle Regierungsparteien, Gewerk-                                       Bewegungen. In Deutschland etwa         und erfasste Behörden, Gewerk-
schaften,       Wirtschaftsverbände,                                   feierte die NPD (Nationaldemokra-       schaften und Arbeitgeber. Dabei
Kirchen und Gruppen der Neuen                                          tische Partei Deutschlands) in meh-     wurde der Begriff «Überfremdung»
Linken bekämpften die Vorlage. Auf                                     reren Landtagswahlen kurzlebige         wieder aufgegriffen, der bereits um
der Gegenseite stand James Schwar-                                     Erfolge.                                die Jahrhundertwende entstanden
zenbach, Sprössling einer Industri-                                       Nach dem Zweiten Weltkrieg           war. Verschiedene Massnahmen des
ellenfamilie, Ex-Frontist, Bewunde-                                    brummte die Wirtschaft, lange Zeit      Bundes reduzierten ab 1962 die Ein-
rer des spanischen Diktators Franco                                    herrschte Vollbeschäftigung. Die        wanderung um fast zwei Drittel. Zu-
und einziger Nationalrat der Natio-                                    Schweiz warb aktiv in Südeuro-          gleich gab es zaghafte erste Schritte
nalen Aktion. Dennoch war der Aus-                                     pa Arbeitskräfte an, insbesondere       Richtung Integration.
gang offen.                                                            in Ita­lien. Von 1950 bis 1970 stieg       Nach der Schwarzenbach-Ab-
                                                                       der Anteil von Menschen ohne            stimmung ging die Antiimmigra-
Arbeiter gegen Gewerkschaften                                          Schweizer Pass von 6 auf 17 Pro-        tionsbewegung weiter. Bis 2014
Im Abstimmungskampf gingen die                                         zent. Ihre Integration war zunächst     scheiterten neun weitere Initiativen
Emotionen hoch. Der wortgewalti-                                       nicht erwünscht. Viele arbeiteten       zur Festschreibung von Einwande-
ge Schwarzenbach hatte unzählige                                       als Saisonniers im Baugewerbe, in       rungszahlen in der Verfassung an
Auftritte. Helmut Hubacher berich-                                     der Gastronomie oder in der Land-       der Urne oder bereits in der Sam-
tete fünf Monate vor dem Urnen-                                        wirtschaft. Wegen Wohnungsnot           melphase. Ab den späten 1980ern
gang im «Volksrecht» von Veran-                                        und tiefen Löhnen lebten viele in       verlagerte sich aber der Fokus
staltungen, an denen Arbeiter die                                      Baracken auf engstem Raum. Ihr          migrationsfeindlicher Initiativen,
Gewerkschaftssekretäre fast aus-                                       Aufenthaltsstatus beschränkte die       bei denen zunehmend die SVP die
buhten. Die aufgeladene Atmosphä-                                      Anwesenheit in der Schweiz auf          Wortführerschaft übernahm, auf
re konnte gar in Gewalt umschlagen:                                    unter ein Jahr und verbot den Fami-     die Themen Asyl, Bürgerrecht und
Ein Anhänger der Initiative prügelte                                   liennachzug. Bezeichnenderweise         Personenfreizügigkeit.
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