DER RING November 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel

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DER RING November 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
November 2021

DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
DER RING November 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Hören, was Gott zu sagen hat

                                                                 Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen;
                                                                     durch Stillesein und Vertrauen würdet ihr stark sein.
                                                                                                     Jesaja 30,15
                               Foto: Presse + Kommunikation

                                                              einen mächtigen Verbündeten                     Stärke zuwachsen. Aber mög-
                                                              aus dem Süden, die Ägypter. So                  licherweise eine andere, als sie
                                                              wurden Verhandlungen geführt,                   sich vorgestellt haben.
                                                              hin und her. Und es wurde auf-
                                                              gerüstet, Rosse, Reiter und Kriegs­             Es geht darum, Gott im Horizont
Pastor Hans-Peter Melzer.                                     wagen bot man auf. Und auf ein­                 der tatsächlichen Entscheidun­-
                                                              mal steht da ein Prophet und ver-               gen zu befragen. Und ihm auch
Man ist geneigt, diese Worte für                              kündet: … durch Stillesein und                  Antworten zuzutrauen, die jedoch
naiv und unbedarft zu halten.                                 Vertrauen würdet ihr stark sein.                nicht unbedingt eine Bestätigung
Als ließen sich große Probleme –                                                                              dessen sein müssen, was wir
seien es die politischen und wirt-                            Jesaja möchte Raum schaffen für                 schon immer für richtig hielten.
schaftlichen Fragen der Mensch-                               Gott. Auch in der Tagespolitik.                 Inmitten des aberwitzigen Ge­­
heit, seien es die Schwierigkeiten                            Jesaja predigt keine Flucht aus                 schwätzes unserer Zeit und einer
des eigenen Lebens – einfach                                  der Welt. Ohne Zweifel denkt er                 beschleunigten Empörung
durch Stillesein und Vertrauen                                bei diesem Stillesein nicht nur an              braucht es dazu tatsächlich die
lösen. Aber um diese Worte, die                               einen inneren Zustand der Seele,                Stille, das Innehalten und die
der Prophet Jesaja überliefert,                               sondern an eine Einstellung, die                lebendige Hoffnung, dass Gott
recht zu verstehen, muss man                                  sich in einem ganz bestimmten                   handelt.
wissen, dass sie hinein gespro-                               politischen Verhalten äußern
chen wurden in die Extremsitua-                               wird. Es geht um so etwas wie                   Wenn es still geworden ist,
tion einer bevorstehenden mili­                               Gelassenheit, aber eine Gelas-                  könnte Gottes Wort wieder zu
tärischen Auseinandersetzung.                                 senheit im Sinne von höchster                   hören sein.
Dies waren Worte zur Tagespolitik.                            Handlungsfähigkeit, weil sie nur
                                                              in Verbindung mit Hoffnung                            – Pastor Hans-Peter Melzer –
In der Stadt Jerusalem und im                                 bestehen kann. Jesaja will, dass                       ( Pfarrer der Zionsgemeinde
Lande Juda herrschten damals                                  Jerusalem und Juda aussteigen                                               Bethel)
Kriegsvorbereitungen. Sollte man                              aus der verrückten Spirale von
da nicht alle Klugheit zusammen-                              Aufrüstung und Bündnispolitik.
nehmen und den richtigen Bünd-                                Sie sollen still sein, hören, was
nispartner suchen? Es drohte ein                              Gott zu sagen hat. Und vor allem
großer Feind aus dem Norden,                                  sollen sie damit rechnen, dass der
die Assyrer. Und wen kann man                                 Allmächtige tatsächlich spricht
dagegen besser aufbieten als                                  und handelt. Dann könnte ihnen

                                                                DER RING. Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel.
    Titelbild: Bethel hat in diesem Jahr                        61. Jahrgang. Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl, Vorsitzender des Vorstandes, in
    den Europäischen Kongress zu psychi­                        Zusammenarbeit mit den Mitarbeitervertretungen. Redaktion: Johann Vollmer
                                                                ( verantwortlich ), Petra Wilkening. Satz und Gestaltung: Charlotte Schütz. Sekretariat:
    scher Gesundheit bei intellektueller                        Jutta Seidenberg/Chris­­­tina Heitkämper. Anschrift: Quellenhofweg 25, 33617 Bielefeld,
    Entwicklungsstörung (EAMHID) ausge­                         Telefon: 0521 144-3512, Telefax 0521 144 - 2274. E-Mail: presse@bethel.de.
    richtet. 700 Experten und Expertinnen                       Druck: Gieseking Print- und Verlags­­services GmbH, 33617 Bielefeld. Nachdruck ist
    tauschten in Berlin ihr Wissen aus. Das                     mit Genehmigung der Redaktion gestattet. © bei v. Bodelschwinghsche Stiftungen
                                                                Bethel. DER RING ist Mitglied im Gemeinschafts­werk der Evangelischen Publizistik
    Ziel ist die Verbesserung der Diagnos­                      ( GEP ). Interessierte können die Zeitschrift kostenlos abonnieren.
    tik und Behandlung. Mehr dazu ab                            Spendenkonto: IBAN: DE48 4805 0161 0000 0040 77, BIC: SPBIDE3BXXX.
    Seite 8. Grafik: Carlo Schneider                            Bethel im Internet: www.bethel.de
                                                                Redaktionsschluss für den Dezember-RING: 10. November 2021

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DER RING November 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
­
i   Inhalt
                                                                                                               ­­
    Zuwachs für Nazareth           5   Gemeinsam stark                  14   Soziale Ungleichheit       22
    In der Betheler Zionskirche in                                           Die Gesundheitsversorgung
    Bielefeld wurden zum ersten                                              von Menschen mit Behinde-
    Mal Diakoninnen und Diakone                                              rungen hat nicht dieselbe
    aus Lobetal in ihr kirchliches                                           Qualität wie die von Menschen
    Amt eingesegnet.                                                         ohne Beeinträchtigungen. Das
                                                                             wurde bei der Tagung »Recht
    Ein Meilenstein		             6                                          auf Gesundheit« deutlich.

                                       Seit 25 Jahren gibt es den Tag        Gefährdung oder nicht? 24
                                       der Epilepsie der Deutschen
                                       Epilepsievereinigung. Im Jubi­
                                       läumsjahr fand die Zentralveran-
                                       staltung in Bielefeld-Bethel statt.

                                       Datenschutz in Bethel           16
                                       DER RING sprach mit Dr. Simon
                                       Stark über Vorschriften, Risiken
    Die ersten 60 Studierenden         im Berufsalltag und darüber, wie
    haben in Bielefeld ihr Medizin-    man Fehler vermeidet.
    studium aufgenommen. Zum                                                 Im Krankenhaus Mara fand
    neuen Universitätsklinikum         Hilfe in der Krise               18   der Workshop »Sozialmedizini-
    OWL gehören das Evangeli-                                                sche Beurteilung bei Epilepsie«
    sche Klinikum Bethel und das                                             statt.
    Krankenhaus Mara.
                                                                             Orchester der Vielfalt      25
    EAMHID 2021		               8
    Die psychische Gesundheit
    von Menschen mit Entwick-
    lungsstörungen stand im Mit-
    telpunkt eines großen europäi-
    schen Kongresses in Berlin.
                                       Mit therapeutischen Ansätzen
    Füttern und striegeln        12    beschäftigten sich die Teilneh-
                                       menden der 48. Jahrestagung
                                       der Deutschen Gesellschaft für
                                       Suizidprävention. Sie wurde vom       Zum Abschluss einer Projekt-
                                       Evangelischen Klinikum Bethel         woche mit Künstlern verschie-
                                       organisiert.                          dener Bereiche präsentierten
                                                                             die Schülerinnen und Schüler
                                       Große Auswahl                    20   der Mamre-Patmos-Schule
                                                                             eine bunte Revue.

                                                                             RING-Magazin		              26
    Im Berufsbildungswerk Bethel
    gibt es ein neues Angebot:                                               Leserforum                  30
    die »Berufsvorbereitung
    Pferdepflege«.                                                           Namen und Notizen           30

    Für junge Patienten          13                                          Mitarbeiter/-innen          31
    Das Evangelische Krankenhaus       Den Tag der Ausbildung nutz-
    Königin Elisabeth Herzberge in     ten rund 350 Besucherinnen
    Berlin hat eine Schmerzthera-      und Besucher, um sich über die
    peutische Tagesklinik für Kin-     beruflichen Möglichkeiten in
    der und Jugendliche eröffnet.      Bethel zu informieren.

                                                                                                               3
DER RING November 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Aus
                    ­   Bethel – Für Bethel

    Der zweite Geburtstag
    Persönlich habe ich Herrn M. leider nie            Miteinander stecken. Unter dem Motto
    kennen gelernt. Trotzdem bekam ich einmal          »Gemeinsam stark!« gab es zahlreiche Veran-
    im Jahr einen sehr persönlichen Brief von          staltungen im gesamten Bundesgebiet.
    ihm – und zwar immer zu seinem zweiten
    Geburtstag.                                        Die Zentralveranstaltung fand am 5. Oktober
                                                       in Bielefeld Bethel statt. Passt! Gründungs-
    Wie bitte? Was sich schräg liest, hat einen        anlass und Keimzelle, erster und bis heute
    bewegten und bewegenden Hintergrund:               einer der bekanntesten Arbeitsbereiche der
    Mitten im Leben stehend, verheiratet, zwei         v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel ist
    Kinder im Teenager-Alter, offensichtlich gesund,   die Epileptologie! Im Oktober 1867 zogen die
    beruflich wie auch privat voller Ideen und         ersten drei Jungen mit Epilepsie in ein ehe-
    Pläne, bekam er einen ersten epilepti­schen        maliges Bauernhaus vor den Toren Bielefelds.
    Anfall. Ausgerechnet beim Dorf-Schützen-           Viele weitere Menschen – Kinder, Frauen und
    fest. Wer nicht dabei war, bekam es erzählt.       Männer mit Epilepsie und anderen Behinde-
    Die Diagnose »Epilepsie« und die vermehrten,       rungen – folgten und konnten dem gesell-
    unberechenbaren Anfälle stellten alles auf den     schaftlichen Abseits entfliehen, begleitet und
    Kopf: Herr M. durfte nicht mehr Auto fahren        versorgt leben, lernen und arbeiten. Aus den
    und verlor seine Arbeitsstelle. Aus Angst und      kleinen Anfängen im Bauernhaus haben sich
    Scham zog er sich aus dem Kollegen- und            ein komplexes Hilfefeld und die Universitäts-
    Freundeskreis zurück. Medikamente brachten         klinik für Epileptologie entwickelt.
    anstelle des erhofften Erfolgs unerwünschte
    Nebenwirkungen. Alles blieb anders.                Menschen mit Epilepsie finden seit vielen
                                                       Jahren in den v. Bodelschwinghschen Stiftun-
    Durch Zufall erfuhr Herr M. von der Epilepsie­     gen Bethel ein umfassendes professionelles,
    klinik Mara. »Meine letzte Hoffnung!«, betont      auf ihre individuellen Bedürfnisse und Mög-
    er. Nach diversen Untersuchungen war klar:         lichkeiten abgestimmtes Angebot: Behand-
    Eine epilepsiechirurgische Operation ist mög-      lung, Versorgung, Beratung, Wohn-, Ausbil-
    lich. Der Eingriff verlief gut. »Der Tag der       dungs- bzw. Arbeitsmöglichkeiten, Schulung
    Ope­­ration«, so schrieb er mehrfach, »ist mein    und Weiterbildung. Die Vernetzung mit vielen
    zweiter Geburtstag, weil ich seitdem keine         anderen Professionen, Einrichtungen, Diens-
    Anfälle mehr habe!« Und er berichtete, dass        ten und Initiativen bundesweit wie interna-
    er nach einem Jahr Anfallsfreiheit wieder Auto     tional sowie die fortlaufende Forschung sind
    fahren durfte, eine neue Arbeitsstelle gefun-      dabei unersetzlich. Ja, gemeinsam sind wir
    den hat, Reisen plant und viel Zeit mit Familie    stark. Gemeinsam können wir für Menschen
    und Freunden genießt.                              da sein.

    Diese »Geburtstagsbriefe« kamen mir am
    5. Oktober, dem Tag der Epilepsie, wieder in
    den Sinn. Zum 25. Mal wurde im Rahmen
    dieses Aktionstages auf die Krankheit, die         Ihr
    rund 800.000 Menschen betrifft, aufmerksam
    gemacht. Ein tolles Jubiläum, in dem unend-
    lich viel ehrenamtliches Engagement, Aufklä­       Pastor Ulrich Pohl
    rung, Beratung und Hilfestellung, Selbsthilfe
    in den Regionen, Unterstützung in den Epilep­
    sieberatungsstellen, langer Atem, Mut und

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DER RING November 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Diakonische Gemeinschaft Nazareth
Lobetaler Diakoninnen und Diakone erstmals eingesegnet

                                                                                                                         Foto: Thomas Richter
Freude in Nazareth: 25 neue Diakoninnen und Diakone verstärken die Gemeinschaft.

In der Betheler Zionskirche in Bielefeld sind zum ersten Mal Dia­-                 neuen Diakoninnen und Diakone
koninnen und Diakone, die in der Hoffnungstaler Stiftung Lobe­-                    sowie vier weiterer Schwestern
tal bei Bernau arbeiten, in ihr kirchliches Amt eingesegnet wor-                   und Brüder in die Gemeinschaft.
den. Neun Frauen und Männer aus Lobetal hatten die berufsbe-                       Er wies auf die ganz unterschied-
gleitende Ausbildung zur Diakonin und zum Diakon in der Ev.                        lichen Einsatzmöglichkeiten in
Bildungsstätte für Diakonie und Gemeinde in Bielefeld-Bethel                       Kirche und Diakonie hin. »In
absolviert. Sie ließen die Gesamtzahl der neuen Diakoninnen                        der Stiftung und Diakonischen
und Diakone in der Diakonischen Gemeinschaft Nazareth auf                          Gemeinschaft Nazareth erhalten
stattliche 25 steigen. In den vergangenen Jahren waren es                          die Mitglieder zahlreiche Ange-
je­­weils zwölf bis 15 Absolventinnen und Absolventen gewesen.                     bote der Weiterbildung, Reflexion
                                                                                   und des geistlichen Lebens«,
Pastor Ulrich Pohl, Vorstandsvor-          gelischen Kirche von Westfalen,         sagte er. »Unsere Gemeinschaft
sitzender der v. Bodelschwingh-            gemeinsam mit Pastor Ulrich             ist ein starkes Stück Kirche.« 900
schen Stiftungen Bethel, und               Pohl und Pastorin Dr. Johanna           Mitglieder gehören der Gemein-
seine Vorstandskollegin Pastorin           Will-Armstrong in einem festli­         schaft an.
Dr. Johanna Will-Armstrong zeig­           chen Gottesdienst vor. Pfarrer
ten sich sehr erfreut über die             Ulf Schlüter verbindet mit der          Die große Bedeutung von Dia-
ersten Diakoninnen und Diakone             großen und gut ausgebildeten            koninnen und Diakonen als Brü-
aus Lobetal. Die Hoffnungstaler            Gruppe von Diakoninnen und              ckenbauer zwischen Diakonie,
Stiftung Lobetal, die seit ihrer           Diakonen Hoffnungen: »Sie über­-        Kirche, Gemeinde und Gesell-
Gründung 1905 mit Bethel ver-              nehmen in der Diakonie und in           schaft stellte Pastorin Dr. Johanna
bunden ist, war seitdem immer              der Kirche wichtige Aufgaben in         Will-Armstrong heraus: Ȇberall
ein Einsatzort für Diakoninnen             der Begleitung von Menschen             werden Ankermenschen benötigt,
und Diakone aus Bethel. Auch               und in den sich verändernden            an und mit denen sich evan­geli­
während der Teilung Deutsch-               Strukturen der Kirche.«                 sches und diakonisches Wirken
lands waren sie in Lobetal tätig.                                                  erleben lässt.«
Die neuen Fachkräfte für diako-            Starkes Stück Kirche
nisches Profil knüpfen nun an                                                                    – Philipp Kreutzer –
diese Tradition an.                        Diakon Wolfgang Roos-Pfeiffer,
                                           Ältester der Diakonischen
Die Einsegnung nahm Pfarrer Ulf            Gemeinschaft Nazareth, freut
Schlüter, Vizepräsident der Evan-          sich über die Aufnahme der 25

                                                                                                                    5
DER RING November 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Start der Medizinischen Fakultät
Ein Meilenstein: »Wir sind jetzt Universität«

                                                                                                                    det«, betont Dr. Rainer Norden,
                                                                                                                    stellvertretender Vorstandsvorsit­
                                                                                                                    zender der v. Bodelschwingh-
                                                                                                                    schen Stiftungen Bethel. Einen
                                                                                                                    hohen Stellenwert hat in dem
                                                                                                                    Modellstudiengang die ambulante
                                                                                                                    Medizin, insbesondere die Allge-
                                                                                                                    meinmedizin und die hausärztli-
                                                                                                                    che Versorgung; 60 Hausarztpra-
                                                                                                                    xen kooperieren. Der Aufbau der
                                                                                                                    neuen Medizinischen Fakultät soll
                                                                                                                    dazu beitragen, eine gute ärzt­
                                                                                                                    li­che Versorgung in der Region
                                                                                                                    sicherzustellen.

                                                                                                                    Expertise aus Bethel

                                                                                          Foto: Mirco Menebröcker
                                                                                                                    Bethel bringt eigene Kernthemen
                                                                                                                    in die Kooperation ein. So wird
                                                                                                                    die Verbesserung der Lebenssi­
                                                                                                                    tuation von Menschen mit chro­­-
                                                                                                                    nischen Erkrankungen und Behin­­-
Justin Kock und Sarah Janzen sind zwei der 60 ersten Medizin-Studierenden in Bielefeld.                             derungen ein Forschungsschwer-
                                                                                                                    punkt sein. Der Wissenschaftsrat
Noch vor wenigen Jahren war sie nur ein Wunsch, inzwischen                                                          würdigt diese in Deutschland ein­-
aber ist die Medizinische Fakultät an der Universität Bielefeld Rea­                                                malige universitäre Spezialisie­
lität. Im Oktober nahmen die ersten 60 Studierenden ihr Medi­­zin­                                                  rung als »Entwicklung eines
studium auf. Die praktische Ausbildung absolvieren die ange­hen­-                                                   zukunftsfähigen Forschungskon-
den Ärztinnen und Ärzte in den Häusern des Universitätsklini-                                                       zepts mit hoher gesellschaftlicher
kums OWL. Dazu gehört auch der Campus Bielefeld-Bethel mit                                                          Relevanz«. Prof. Dr. Thomas Vor-
dem Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB) und dem Krankenhaus                                                        demvenne, Ärztlicher Direktor
Mara. Alle Beteiligten begreifen den Start als große Chance.                                                        des EvKB und des Krankenhauses
                                                                                                                    Mara, ist sicher: »Die vulnerable
Einer der 60 ersten Studierenden             Krankenbett. Sich schon jetzt auf                                      Gruppe der Menschen mit Behin-
ist Justin Kock aus Oberhausen.              eine Fachrichtung festzule­gen,                                        derungen als Thema in Forschung
Bielefeld war bei der Bewerbung              halten Sarah Janzen und Justin                                         und Lehre wird uns national wie
sein Erstwunsch. »Mich reizt der             Kock für verfrüht. »Ich lasse mich                                     international ein Alleinstellungs-
hohe Praxisanteil dieses Modell-             überraschen, was das Studium                                           merkmal bescheren.«
studiengangs«, sagt der 22-Jäh­              bringt«, sagt er, »aber eine Tätig-
rige, der früher im Rettungsdienst           keit in der Akutmedizin kann ich                                       Die Vielfalt der medizinischen
arbeitete. Zuletzt war er als Arzt-          mir gut vorstellen.« Sarah Janzen                                      Expertise verdeutlicht schon der
helfer tätig und legte an einer              erklärt: »Mich interessiert alles.                                     Blick auf die fünf bereits an das
Abendschule das Abitur ab. Auch              Besonders Anästhesie und Gynä-                                         neue Universitätsklinikum beru-
Sarah Janzen ist glücklich, in Bie­­-        kologie.«                                                              fenen Ärzte aus Bethel. Dies sind
lefeld Medizin zu studieren. »Das                                                                                   die Universitätsprofessoren Dr.
ist für mich perfekt«, so die 18-            Alle Fachrichtungen                                                    Christian Bien (Epileptologie), Dr.
Jährige. »Ich komme aus Bielefeld                                                                                   Eckard Hamelmann (Kinderheil-
und habe so weiter die Nähe zu               Die Studierenden werden eine                                           kunde), Dr. Sebastian Rehberg
den Menschen, die ich kenne.«                breite Auswahl an Möglichkeiten                                        (Anästhesiologie und Intensivme-
                                             haben; neben dem EvKB und dem                                          dizin), Dr. Wolf-Rüdiger Schäbitz
Wie Justin Kock wird sie schon               Krankenhaus Mara gehören das                                           (Neurologie) und Dr. Michael
im Dezember im Haus Gilead I                 Klinikum Bielefeld und das Klini­                                      Siniatchkin (Kinder- und Jugend-
des EvKB in die erste Praxisphase            kum Lippe dem Universitätsklini­                                       psychiatrie, Psychosomatik und
starten. Ab Januar folgen die                kum an. »Es wird in allen medizi-                                      Psychotherapie). Weitere Beru-
ersten Unterrichtseinheiten am               nischen Fachrichtungen ausgebil-                                       fungen werden folgen.

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DER RING November 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Ein …

Vielfältig sind auch die Chancen,
die sich Bethel selbst bieten.»Wir
sind jetzt Universität«, sagt Dr.
Rainer Norden. »Das ist ein Mei-
lenstein und ein neuer Status,
der sowohl unsere medizinische
Versorgung als auch Forschung
und Lehre auf ein neues Niveau
hebt.« Theorie und Praxis sollen

                                                                                                                         Fotos: Mario Haase
eng miteinander verbunden wer-
den. Fakten und Fragestellungen
werden vom Krankenbett an die
Wissenschaft herangetragen,
diese spielt ihre Erkenntnisse an
das Bett zurück. »Wenn Grund-        Dr. Rainer Norden sieht medizinische   Prof. Dr. Thomas Vordemvenne erkennt
lagenforschung und Praxis zusam­     Versorgung, Forschung und Lehre auf    für Patientinnen und Patienten wie für
menkommen und die Erfahrung          einem neuen Niveau.                    Kliniker Vorteile.
des Klinikers dazu führt, dass
später aus wissenschaftlichen        von ärztlichem Personal. »Als          Bielefeld aufnehmen können,
Ergebnissen relevante Anwen-         Universitätsklinikum haben wir         müssen beispielsweise die Lehr-
dungen für die Medizin werden,       bessere Möglichkeiten, Mitarbei-       pläne für die weiteren Semester
ist das ideal«, so Prof. Dr. Tho-    tende zu bekommen, weil man            erarbeitet werden.
mas Vordemvenne.                     hier nun promovieren und sich
                                     habilitieren kann«, verdeutlicht       In einigen Jahren werden die ers-
Praxisorientiert                     Dr. Rainer Norden.                     ten von denen, die nun das Stu-
                                                                            dium aufgenommen haben, als
Kontakt der Studierenden zum         Rund 700 Menschen haben am             Ärztinnen und Ärzte im Einsatz
Patienten ist daher ab dem ersten    Aufbau des Studiengangs mitge­         sein. Im Sinne einer guten medi-
Semester ebenso vorgesehen           wirkt, etwa 100 von ihnen kom­         zinischen Versorgung der Region
wie ständiger Austausch mit der      men aus Bethel. Ihnen zu danken        wäre es erfreulich, wenn viele von
Pflege und weiteren Fakultäten       ist Dr. Rainer Norden ein Anlie-       ihnen OWL langfristig erhalten
der Universität, etwa den Natur-     gen: »Ihr Engagement und ihre          blieben. Dr. Rainer Norden ist
und den Gesundheitswissen­schaf­     Freude sind beeindruckend, das         optimistisch, er sagt: »Den Klebe-
ten. »Wir wollen unsere Studie-      kann man nicht genug würdi-            Effekt wird es geben. Wenn die
renden zu Praktikern und nicht zu    gen.« Auch er selbst freut sich,       Studierenden hier Leute kennen
Theoretikern ausbilden«, betont      dass das Projekt, für das es 2017      lernen, sich verlieben und sehen,
Prof. Dr. Thomas Vordemvenne         die Genehmigung von der Lan-           wie gut man hier leben kann,
und ergänzt mit Verweis auf das      desregierung gab, in rekordver-        spricht einiges dafür, dass viele
interdisziplinär angelegte Profil    dächtig kurzem Zeitraum so weit        bleiben werden.«
des Studiengangs: »Das ist für       vorangetrieben wurde, dass es
die Patienten, aber auch für die     nun losgehen konnte. Dr. Rainer        Für Sarah Janzen und Justin Kock
Kliniker der große Vorteil gegen-    Norden sagt aber auch: »Die            ist diese Zukunft noch weit weg.
über reinen Versorgungshäusern.«     Anstrengung ist noch nicht zu          Ihre Gedanken kreisen um die
                                     Ende.« Damit wie geplant ab            Gegenwart. Um das Medizinstu-
Neue Potenziale ergeben sich für     2025 jährlich rund 300 Studie-         dium in Bielefeld.
Bethel auch in der Gewinnung         rende ein Medizinstudium in
                                                                                            – Philipp Kreutzer –

                                                                                                                     7
DER RING November 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
EAMHID 2021 in Berlin
»Glück ist für jeden Menschen etwas anderes«

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Per Videobotschaft richtete sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Bei Menschen mit geistiger Behinderung treten psychische                               spiegele. »Das hat unter ande-
Störungen überdurchschnittlich oft auf. Bundesgesundheitsmi-                           rem damit zu tun, dass lange
nister Jens Spahn betonte daher beim 13. Europäischen Kongress                         Jahre auch Ärztinnen und Ärzte
zu psychischer Gesundheit bei intellektueller Entwicklungsstö-                         der Meinung waren, dass Ver­
rung (EAMHID) die Bedeutung des Kongresses für die Verbes-                             haltenstherapie und Psychothera­
serung der Diagnostik und Behandlung: »Es ist wichtig, dass                            pie für Menschen mit kognitiven
Verhaltensauffälligkeiten nicht automatisch auf die kognitive                          Einschränkungen vielleicht gar
Beeinträchtigung geschoben werden, sondern dass psychische                             nicht möglich seien und diese
Erkrankungen auch als solche erkannt und behandelt werden.«                            Men­­schen nur medikamentös
                                                                                       behandelt werden könnten.
Die Worte des Bundesgesund-                Rund 700 Teilnehmerinnen und                Glücklicherweise hat sich das
heitsministers wurden als Video-           Teilnehmer, unter anderem aus               geändert«, sagte er. Der EAMHID
botschaft in der »Urania« in Ber-          Großbritannien, Italien und den             sei von herausragender Bedeu-
lin ausgestrahlt. »Aus der Wis-            USA, nahmen an dem Kongress                 tung für die Weiterentwicklung
senschaft in die Praxis: Verbesse-         teil. Pandemiebedingt fand er im            der Versorgung von Menschen
rung der psychischen Gesundheit            Hybrid-Format statt. Das Wissen-            mit geistigen Behinderungen und
bei Menschen mit einer intellek-           schaftsprogramm war vielfältig.             psychischen Erkrankungen.
tuellen Entwicklungsstörung«               Neben aktuellsten Entwicklungen
lautete der Titel des dreitägigen          in den Themengebieten Genetik,              Mehr Anstrengung nötig
EAMHID Ende September. Der                 Autismus, Demenz, Verhaltens-
Kongress findet alle zwei Jahre in         störungen, Trauma und Psycho-               EU-Kommissionspräsidentin
wechselnden europäischen Län-              pharmakotherapie tauschten sich             Ursula von der Leyen wies darauf
dern statt. In diesem Jahr wurde           die Expertinnen und Experten                hin, dass sich die Situation von
er von den v. Bodelschwingh-               über Themen wie Theaterthera-               Menschen mit Behinderungen in
schen Stiftungen Bethel ausge-             pie oder Elternschaft bei Intelli-          Europa in den vergangenen Jah-
richtet. »Der Kongress ist eine            genzminderung aus.                          ren in vielen Bereichen spürbar
wichtige internationale Plattform                                                      verbessert habe. Schulgebäude
zum Austausch für Experten aus             Der Behindertenbeauftragte der              seien saniert worden, immer
Wissenschaft, Praxis und Politik           Bundesregierung Jürgen Dusel                mehr Busse und Bahnen seien
sowie für Betroffene und ihre              bemängelte, dass das Angebot                behindertengerecht umgebaut
Familien«, so der Schirmherr des           bestehender Therapiemöglich-                worden, und in vielen Städten
EAMHID 2021, Bundesarbeits-                keiten nicht die Bedeutung und              und ländlichen Gemeinden seien
und Sozialminister Hubertus Heil.          Größe der Zielgruppe wieder-                moderne inklusive Wohn- und

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DER RING November 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
»Glück …

Betreuungsangebote entstanden.
»Es gibt aber eine Gruppe, bei
der es deutlich langsamer voran-
geht: Das sind die Menschen mit
geistigen Behinderungen und
psychischen Erkrankungen. Da
müssen wir uns mehr anstren-
gen«, so Ursula von der Leyen in
ihrem virtuellen Grußwort.

Der EAMHID wurde von zahlrei­
chen Kooperationspartnern unter­­-
stützt, unter anderem von der
Deutschen Gesellschaft für see­
lische Gesundheit bei Menschen
mit geistiger Behinderung
(DGSGB). Auch Menschen mit
Behinderungen waren in die
Organisation und Durchführung               Pastor Ulrich Pohl hielt vor Kongressbeginn eine Predigt in der Kaiser-Wilhelm-
aktiv eingebunden. Kongress-                Gedächtniskirche.
Präsidentin war die Chefärztin
des Behandlungszentrums für                 intellektuellen Entwicklungs­                könnten ein frühes Anzeichen
psychische Gesundheit bei Ent-              störungen referierte zum Thema               für die Krankheit sein. »Men-
wicklungsstörungen im Evan-                 »Demenz bei Menschen mit                     schen ohne geistige Behinde-
gelischen Krankenhaus Königin               Down-Syndrom«. Prof. Strydom                 rung entwickeln oft unbewusste
Elisabeth Herzberge, Dr. Tanja              betonte, dass die Alzheimer-                 Strategien, um die Krankheit zu
Sappok. Vor der Eröffnungszere­             Krankheit bei Menschen mit                   verbergen. Betroffene mit Down-
monie fand ein interreligiöser              Down-Syndrom früher in Erschei-              Syndrom können das nicht«,
Gottesdienst in der Kaiser-Wil-             nung trete als in der Gesamtbe­              beschrieb er einen Unterschied.
helm-Gedächtniskirche statt. Die            völkerung – und auch im Ver-
Predigt hielt Bethels Vorstands-            gleich zu Menschen mit anderen               Häufig gemobbt
vorsitzender Pastor Ulrich Pohl.            geistigen Behinderungen. Eine
                                            über 20 Jahre angelegte Studie               Gleich mehrere EAMHID-Vortra­
Vom Kings College London in                 aus Irland zeige, dass die Erkran-           gende legten den Fokus auf die
Großbritannien war Prof. Dr.                kung in der Regel zwischen dem               Entwicklungsstörung Autismus.
André Strydom angereist. Der                50. und 60. Lebensjahr diagnos-              Autistische Menschen seien etwa
Spezialist für psychiatrische               tiziert werde. Unruhezustände,               viermal häufiger Mobbing aus-
Erkran­kungen bei Menschen mit              plötzliche Angst und Verwirrtheit            gesetzt als nicht-autistische Men­
                                                                                         schen, informierte Dr. Christine
                                                                                         Preißmann vom Vorstand des Bun­-
                                                                                         desverbands Autismus Deutsch-
                                                                                         land e.V. Das treffe insbe­sondere
                                                                                         den schulischen Bereich und
                                                                                         bedeute für die Betroffenen eine
                                                                                         hohe psychische Belastung, weiß
                                                                                         sie aus eigener Erfahrung. Dr.
                                                                                         Christine Preißmann ist selbst
                                                                                         Autistin und führt seit diesem
                                                                                         Frühjahr eine eigene psychothe­
                                                                                         rapeutische Praxis speziell für
                                                                                         erwachsene Menschen mit Autis-
                                                                                         mus. »Wir zeigen Verhaltenswei­
                                                                                         sen, die andere Menschen ver­-
                                                                                         un­sichern und zu Vorurteilen
In den Workshops entwickelte sich eine lebhafte Diskussion.                              ver­leiten. Und wir haben große

                                                                                                                              9
DER RING November 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
»Glück …

                                                                                                        mit oder ohne geistige Behinde-
                                                                                                        rung – miteinander verbindet:
                                                                                                        das Streben nach Glück. Der
                                                                                                        Schlüssel dafür, dass auch Men-
                                                                                                        schen mit geistigen Beeinträch-
                                                                                                        tigungen glücklich sein können,
                                                                                                        liegt für Peter Vermeulen darin,
                                                                                                        sich darauf zu konzentrieren,
                                                                                                        was sie glücklich macht. »Wir
                                                                                                        sollten uns stärker darauf und
                                                                                                        weniger auf die Defizite fokus­
                                                                                                        sieren, ohne die Probleme aus
                                                                                                        den Augen zu verlieren.«

                                                                                   Fotos: Sarah Jonek
                                                                                                        In der Gesellschaft sei die übli-
                                                                                                        che Denkweise: Ein autistisches
                                                                                                        Gehirn solle durch Training ein
                                                                                                        möglichst »normales« werden.
Der belgische Pädagoge Dr. Peter Vermeulen lieferte einen unterhaltsamen Vortrag                        Denn weniger Autismus bedeute
zum Thema »Autismus und Glück«.                                                                         mehr Lebensqualität und damit
                                                                                                        mehr Zufriedenheit und Glück.
Pro­bleme in Situationen, die              nehmung ist anders: Er ist glück-                            »Nein!«, findet Dr. Peter Ver-
wenig strukturiert verlaufen. Wir          lich. Paul dagegen ist gesund,                               meulen. »Das stimmt nicht, ich
brauchen Rituale, um unseren               sehr gut ausgebildet und hat eine                            glaube, es ist andersherum:
Alltag als stabil zu erleben und           eigene Wohnung. Klingt, als                                  Mehr Glück führt zu weniger
glücklich zu sein«, berichtete sie         hätte er allen Grund, glücklich                              Autismus. Es ist nicht so, dass
unter der Überschrift »Mit Autis-          zu sein. Ist er aber nicht. Paul ist                         erfolgreiche Menschen automa-
mus leben – eine Ermutigung«.              wegen seines Jobs unglücklich.                               tisch glücklich sind. Sondern:
                                           Peter Vermeulen folgerte: »Glück                             Je glücklicher sie sind, desto
Glück ist einzigartig                      ist einzigartig und für jeden                                erfolgreicher werden sie.«
                                           Menschen etwas anderes.«
Mit Autismus beschäftigt sich                                                                           Peter Vermeulen hatte Beispiele
Dr. Peter Vermeulen seit mehr als          Bei allen Unterschieden gibt es                              parat. Er erzählte von einem
30 Jahren. Beim EAMHID-Kon-                nach Meinung von Dr. Vermeu-                                 jungen Mann mit Autismus, der
gress fragte der belgische Päda­           len etwas, das alle Menschen –                               das Geräusch von zerbrechen-
goge: »Was macht uns in den                ob mit oder ohne Autismus, ob                                dem Glas liebt. Statt Gläser und
Augen anderer zu glücklichen
Menschen?« Er gab selbst die
Antwort: In der Gesellschaft wür-
den üblicherweise Kriterien wie
Beruf, Freundschaften, Gesund-
heit, Intelligenz und Unabhängig-
keit herangezogen. Peter Ver­meu­-
len hält das jedoch für unzurei-
chend, denn: »Da fehlt mir die
subjektive Empfindung von Glück.«

Peter Vermeulen veranschaulichte
dies mit Hilfe zweier Beispiele:
Mark hat Autismus und würde
auf der Grundlage der genann-
ten Kriterien von den meisten
Menschen vermutlich als »eher
nicht glücklich« eingeschätzt wer­         Die Besucherinnen und Besucher waren in Peter Vermeulens Vortrag aufgefordert,
den. Doch seine eigene Wahr­               sich einzubringen.

10
»Glück …

Flaschen vor ihm in Sicherheit
zu bringen, setzt man ihn in der
Altglas-Entsorgung ein. Dort zer-
trampelt er – mit Arbeitsstiefeln
gut geschützt – Tag für Tag zu
seiner größten Freude massen-
haft Glas. Und erfüllt obendrein
eine gesellschaftlich sinnvolle
Aufgabe: Das Glas muss ohnehin
zerkleinert werden, damit es
wiederverwertet werden kann.

Ein anderer junger Mann, von
dem Peter Vermeulen erzählte,
ist Thijs. Peter Vermeulen lernte
ihn kennen, als Thijs noch ein        Dr. Christian Schanze ging auf die Frage ein, wie man sich auf den Umgang mit
kleiner Junge war. Ein kleiner        aggressiven Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen vorbereitet.
Junge, der ganz offenkundig
anders war als andere kleine          Wer aggressivem Verhalten aus-              Schanze einen Blick in deutsch-
Jungen. Weil er Autismus hat.         gesetzt ist, erleidet Schmerzen –           und englischsprachige Wörter-
Thijs hatte das Glück, dass seine     ob körperlich oder seelisch. Um             bücher. Im Duden werde das
Eltern ihn in dem förderten, was      das zu verhindern und zugleich              englische Wort »challenge« so
ihm Freude bereitet: Er malt sehr     die bestmögliche Betreuung für              definiert: »Aufforderung zum
gern, und er läuft sehr gern.         Klientinnen und Klienten zu ge­-            Kampf«, »Herausforderung
Inzwischen ist Thijs erwachsen        währleisten, sind nach Ansicht              (Wettkampf)« und »Provokation«.
und malt so gut, dass Menschen        von Dr. Christian Schanze in erster         Erst an vierter Stelle folge: »Anlass,
seine Bilder kaufen. Ein begeis-      Linie die Helfenden selbst aufge­ru­        tätig zu werden«. Im englischen
terter Läufer ist er immer noch.      fen. Er forderte die in der Betreu-         Wörterbuch »Cambridge Advan-
»Er hat ein glückliches, erfülltes    ung Tätigen dazu auf, ihre innere           ced Learner’s Dictionary« dagegen
Leben, weil die Menschen um           Haltung zur Aufgabe und zu den              steht eben jener »Anlass, tätig
ihn herum ihn nicht auf seine         zu Betreuenden zu überprüfen und            zu werden« an erster Stelle. Ver-
Defizite reduzieren«, sagte Dr.       gegebenenfalls zu verändern.                wenden wir also den Begriff des
Vermeulen. »Er ist für sie nicht                                                  »challenging behaviour« falsch?
der Autist, sondern: Thijs.«          »Wir müssen den Code von
                                      Men­schen mit intellektuellen Ent-          Selbst tätig zu werden, an einer
Umgang mit Aggressionen               wicklungsstörungen knacken«,                eigenen stabilen und professio-
                                      betonte Dr. Christian Schanze.              nellen Haltung zu arbeiten, um
Um die Herausforderungen im           »Wir müssen herausfinden, was               sich in das Gegenüber hinein-
alltäglichen Umgang mit Men-          hinter dem Verhalten steckt. In             denken und -fühlen zu können
schen mit intellektueller Entwick­    der Regel steckt eine Not dahin­-           und so den Code zu knacken:
lungsstörung ging es auch in          ter.« Eine entscheidende Voraus­            »Das ist der Weg aus der Sack-
einem Workshop von Dr. Christian      setzung für das Begreifen bestehe           gasse«, betonte Dr. Christian
Schanze aus Landsberg am Lech         darin, nicht länger mit »finalen            Schanze. Und zwar gerade vor
in Bayern. Der Facharzt für Psy-      Urteilen« auf Aggressionen zu               dem Hintergrund, dass künftig
chi­atrie und Psychotherapie, der     rea­gieren. Aussagen wie »Der               kaum mehr Geld zur Verfügung
zugleich Pädagoge ist, be­schäftigt   will nur provozieren«, »Der will            stehen werde, um die vielerorts
sich insbesondere mit Personen,       nur meine Aufmerksamkeit« oder              angespannte Personalsituation zu
die aggressives Verhal­ten zeigen     »Dem muss man mal Grenzen                   verbessern. »Umso wichtiger ist
und so eine innere Not oder drin-     setzen« bezeichnete er als »ne­ga­-         es«, sagte Dr. Christian Schanze,
gende Bedürfnisse zum Ausdruck        tive Zuschreibungen, hinter denen           »dass wir unsere Ressourcen so
bringen, die sie nicht auf andere     es keine Pädagogik gibt«.                   effektiv wie möglich einsetzen.«
Weise mitteilen können. Was
aber bedeutet das für diejenigen,     Im Zusammenhang mit dem                                     – Gunnar Kreutner/
deren Aufgabe und Beruf es ist,       Begriff des »herausfordernden                                 Philipp Kreutzer –
diesen Menschen zu helfen?            Verhaltens« warf Dr. Christian

                                                                                                                      11
Berufsbildungswerk Bethel startet Berufsvorbereitung »Pferdepflege«
Die Freude der Pferde stärkt das Selbstbewusstsein

Lipizzaner-Stute Toskana ist
sichtlich zufrieden. Entspannt
schnaubt das weißgraue Pferd
und lässt sich die Körperpflege
gefallen. Gamila K. führt den
Striegel mit ruhigen Bewe­gun­
gen durch das Fell. Die 16-Jäh­-
rige gehört zu den ersten Teil-
nehmerinnen und Teilnehmern
der neuen Berufsvorbe­reitung
»Pferdepflege« des Berufsbil-
dungswerks (BBW) Bethel.

Die Pferde striegeln und bewegen,
Futter verteilen, Boxen ausmisten
– die Aufgaben in der berufsvor-

                                                                                                                            Foto: Thomas Richter
bereitenden Bildungsmaßnahme
sind vielfältig. Gamila K. gefällt
das. »Ich bin zwar erst ein paar
Tage dabei, aber das könnte
etwas für mich sein. Ich mag die
Pferde, und ich bin neugierig,       Gamila K. genießt die Nähe zu Stute Toskana. Das Striegeln gehört zu ihren täglichen
wie es weitergeht«, erzählt sie.     Aufgaben im Rahmen der Pferdepflege-Berufsvorbereitung.

Die Pferdepflege ist das sechste     Der Pferdepfleger-Beruf sei in              über Bethel junge Menschen
Berufsfeld, in dem das BBW           vielerlei Hinsicht gut geeignet             durch die Arbeit mit dem Pferd
Bethel eine Berufsvorbereitung       für junge Menschen mit Förder-              auf das Berufsleben vorbereitet
anbietet. Das Angebot mit acht       bedarf, sagt Ausbilderin Kira               werden«, so die Vorsitzende des
Plätzen startete im September        Kruschke. Von den Pferden                   Fördercentrums, Ludwiga Freifrau
und richtet sich an junge Men-       bekämen sie viel Anerkennung                von Herman – Freiin von Korff.
schen mit Förderbedarf, die im       für die Zuwendung und Pflege,               Sie hat die Maßnahme gemein-
Reitbetrieb Waterboer in Biele-      weiß die Pächterin des Reitbe-              sam mit Dr. August Oetker vor
feld-Senne qualifiziert werden.      triebs Waterboer. Das stärke das            20 Jahren ins Leben gerufen.
Ziel ist die Vermittlung in eine     Selbstbewusstsein der Teilneh­
Ausbildung oder auf den ersten       merinnen und Teilnehmer. »Es                In Nordrhein-Westfalen sei die
Arbeitsmarkt.                        beginnt schon morgens, wenn                 neue Berufsvorbereitungsmaß-
                                     man mit der Haferkarre an die               nahme einzigartig, betont der
Elf Monate dauert die Maß­nahme.     Boxen kommt und die Pferde                  Geschäftsführer des Betheler
Nach einem erfolgreichen             sich freuen«, so Kira Kruschke.             Stiftungsbereichs proWerk, Wolf-
Abschluss an der Landes-Reit-        Die jungen Menschen übernäh­                gang Ludwig. In ganz Deutsch-
und Fahrschule Rheinland in          men Verantwortung für die                   land gebe es nur ein weiteres
Langenfeld erhalten die jungen       Tiere. Außerdem sei es ein tolles           vergleichbares Angebot.
Menschen das Zertifikat »FN          Gefühl, sich das Vertrauen der
geprüfter Pferdepfleger«. »Die-      Pferde zu erarbeiten. »Ich stelle                           – Gunnar Kreutner –
ser Abschluss bietet gute Chan-      jetzt schon fest, dass die jungen
cen auf ein regu­läres Arbeits­      Menschen mit Empathie dabei
verhältnis, denn die Nachfrage       sind«, berichtet sie.
für Pferdepfleger ist hoch«, so
BBW-Leiterin Mirjam Goerrig.         Das BBW Bethel kooperiert für                 Interessierte können sich jederzeit
Die Ausbildungsinhalte orien­-       das Angebot nicht nur mit dem                 für die Bildungsmaßnahme bewer­
tie­ren sich an dem Prü­fungssys­    Reitbetrieb Waterboer, sondern                ben. Kontakt: Marianne Sanders,
tem der Deutschen Reiterlichen       auch mit dem Fördercentrum                    BBW Bethel, Telefon 0521 144-
Vereinigung (FN), aber auch          Mensch & Pferd e. V., von dem                 2228, E-Mail marianne.sanders@
am jeweiligen Förderbedarf der       die Maßnahme übernommen                       bethel.de.
Jugendlichen.                        wurde. »Wir freuen uns, dass

12
Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Berlin
Schmerztherapeutische Tagesklinik für Kinder eröffnet

                                                                                                                                        Foto: Maren Strehlau
Die Tagesklinik wurde im Sana Klinikum feierlich eröffnet: (v. l.) KEH-Geschäftsführer Michael Mielke, Chefarzt Prof. Dr. Tobias
Tenenbaum (Sana), Chefärztin Dr. Rita May (KEH) und Jean Franke, Direktorin des Sana Klinikums Lichtenberg.

Auch Kinder und Jugendliche können unter chronischen                                        und Jugendlichen werden durch
Schmer­zen leiden. Für sie eröffnete das Evangelische Kranken-                              ein multimodales Behandlungs-
haus Königin Elisabeth Herzberge (KEH) im September die erste                               konzept, das heißt eine Kombi-
Schmerztherapeutische Tagesklinik in Berlin und Brandenburg.                                nation aus medikamentöser und
Die neue Klinik ist ein Kooperationsprojekt des KEH in Berlin-                              therapeutischer Behandlung,
Lichtenberg und des Sana Klinikums Lichtenberg.                                             darin unterstützt, Bewältigungs-
                                                                                            strategien zu erarbeiten. Das
»Eine ganze Reihe von Kindern                 Die Schmerztherapeutische                     Ziel ist die Verbesserung ihrer
und Jugendlichen leidet regel-                Tagesklinik ist ein gemeinsames               Lebensqualität.
mäßig unter Beschwerden wie                   Projekt mehrerer Kliniken: der
Kopf- und Bauchschmerzen. In                  Kinder- und Jugendpsychiatrie                 Die Schmerztherapeutische
einigen Fällen treten die Schmer-             des KEH sowie der Klinik für Kin-             Tagesklinik schließt in der Region
zen nicht nur ab und an auf,                  der- und Jugendmedizin und der                eine Versorgungslücke. Sie bietet
sondern sind chronisch und                    Klinik für Manuelle Medizin des               Platz für bis zu acht Kinder und
können Bewegungseinschrän-                    Sana Klinikums Lichtenberg. Im                Jugendliche im Alter von 12 bis
kungen, Ängste und psychische                 Bereich Psychosomatik besteht                 18 Jahren. Behandelt werden
Probleme zur Folge haben«,                    bereits seit mehreren Jahren eine             die jungen Patienten von einem
erläutert Dr. Susanne Knoll,                  erfolgreiche Zusammenarbeit                   interdisziplinären Team aus Kin­
Oberärztin in der Abteilung für               zwischen KEH und Sana.                        derneurologen, Kinder- und
Kinder- und Jugendpsychiatrie                                                               Jugendpsychiatern, Schmerz­
im KEH. Es komme auch vor,                    Mehr Lebensqualität                           therapeuten, Manualmedizinern,
dass chronische Schmerzen                                                                   Psychotherapeuten, Physio- und
durch emotionale Belastung                    »Ich freue mich, dass wir unseren             Bewegungstherapeuten, einer
verursacht würden. Dr. Knoll                  jungen Patientinnen und Patien-               Musiktherapeutin, Pflegekräften
verantwortet gemeinsam mit                    ten und ihren Eltern in der Tages-            und Erziehern sowie einer Sozial-
Dr. Rita May, Chefärztin der                  klinik ab sofort ein spezialisiertes          arbeiterin.
Kinder- und Jugendpsychiatrie,                hochwertiges therapeutisches
seitens des KEH die ärztliche                 Angebot machen können«, so                                      – Theresa Kühne –
Leitung der neuen Tagesklinik.                Dr. Knoll. Die betroffenen Kinder

                                                                                                                                   13
25 Jahre Tag der Epilepsie
Gemeinsames Engagement für mehr Akzeptanz

                                                                                                                    Arbeitsbereiche und ein Aus­
                                                                                                                    hän­geschild Bethels. Ohne Ver-
                                                                                                                    netzung, ohne Erfahrungs- und
                                                                                                                    Wissensaustausch wäre diese Ent­
                                                                                                                    wicklung nicht möglich gewesen.
                                                                                                                    Behandlung, Beratung, Beglei-
                                                                                                                    tung – all das gehöre zur ganz-
                                                                                                                    heitlichen Versorgung mit dazu.
                                                                                                                    Dabei seien heutzutage nicht nur
                                                                                                                    die Betroffenen selbst, sondern
                                                                                                                    ihr gesamtes soziales Umfeld
                                                                                                                    miteinbezogen.

                                                                                                                    Wie sich die gesellschaftliche

                                                                                            Fotos: Thomas Richter
                                                                                                                    Akzeptanz einer Epilepsieerkran-
                                                                                                                    kung über die Jahre verändert
                                                                                                                    hat, zeigte der Medizinsoziologe
                                                                                                                    und frühere Leiter der Betheler
                                                                                                                    Reha-Klinik für Epilepsie-Patienten,
Pastor Ulrich Pohl (v. l.), Sybille Burmeister und Pit Clausen eröffneten den 25. Tag der                           Rupprecht Thorbecke, auf. Im
Epilepsie in der Neuen Schmiede.                                                                                    Jahr 1967 hatten sich laut einer
                                                                                                                    Studie 37 Prozent der Befragten
Mehr Verständnis für die Erkrankung schaffen – das ist seit                                                         dagegen ausgesprochen, dass ihr
1996 das Ziel des Tags der Epilepsie. Sein 25-jähriges Bestehen                                                     Sohn oder ihre Tochter Kontakt
wurde am 5. Oktober in Bielefeld-Bethel gefeiert. Für die Zent-                                                     zu einem an Epilepsie erkrank-
ralveranstaltung im Jubiläumsjahr hatten die Organisatoren der                                                      ten Kind halte, 27 Prozent waren
Deutschen Epilepsievereinigung (DE) mit dem Epilepsie-Zent-                                                         damals der Meinung, bei Epilep­
rum Bethel kooperiert. Unter dem Motto »Gemeinsam stark!«                                                           sie handele es sich um eine
diskutierten Fachleute und Betroffene im Freizeit- und Kultur-                                                      »Geisteskrankheit«. 1996 lagen
zentrum Neue Schmiede darüber, wie sich die Wahrnehmung                                                             diese Quoten noch bei 15 und
von Epilepsie in den vergangenen 25 Jahren verändert hat, wie                                                       20 Prozent, bis 2018 fielen beide
die Erkrankung heute betrachtet wird und wo künftig noch                                                            Werte auf 7 Prozent.
Aufklärung nötig ist.
                                                                                                                    Angst vor Isolation
Dass sich eine größere Akzeptanz
von Epilepsie nur im Zusammen-                                                                                      Bis in die 1990er-Jahre sei das
spiel vieler beteiligter Akteure                                                                                    Thema Epilepsie in der öffentli­
erreichen lasse – darin waren sich                                                                                  chen Wahrnehmung weitestge­
die Rednerinnen und Redner einig.                                                                                   hend ausgeklammert gewesen,
»Nur gemeinsam können wir stark                                                                                     berichtete Klaus Göcke, ehema­
sein und uns auf den Weg bege­-                                                                                     liger Vorsitzender der DE. »Das
ben«, sagte Bethels Vorstands-                                                                                      Wort Epilepsie hat man als Be­trof­
vorsitzender Pastor Ulrich Pohl.                                                                                    fener damals möglichst vermie­-
Er eröffnete den Tag gemeinsam                                                                                      den«, sagte er. Zu groß sei die
mit der Vorsitzenden der Deut-                                                                                      Angst gewesen, die sozialen
schen Epilepsievereinigung, Sybille                                                                                 Kontakte zu verlieren. Die Berli­ner
Burmeister, und Bielefelds Ober-                                                                                     Selbsthilfegruppe für Epilep­sie
bürgermeister Pit Clausen.                                                                                           habe er damals zunächst nicht
                                                                                                                     finden können, weil sie sich
Gründungsanlass und Keimzelle                                                                                        »Selbsthilfegruppe für Anfalls-
Bethels sei die Versorgung von                                                                                       kranke« genannt habe. Heute sei
an Epilepsie erkrankten Men-                                                                                         der Umgang mit Epilepsie deut-
schen gewesen, so Pastor Pohl.                Prof. Dr. Christian Bien erläuterte die                                lich offener. Wichtig sei ins­beson­-
Und noch heute sei die Epilepto­              medizinischen Fortschritte in der Be­                                 ­dere, sich und anderen immer
logie einer der bekanntesten                  handlung von Epilepsie.                                                wieder deutlich zu machen, dass

14
Gemeinsames …

                                                                                         Große Fortschritte habe es bei
                                                                                         der Verträglichkeit der zur Verfü-
                                                                                         gung stehenden Medikamente
                                                                                         gegeben, so Prof. Dr. Bien. »Was
                                                                                         sich in den vergangenen 25 Jah-
                                                                                         ren unglaublich entwickelt hat,
                                                                                         ist die Epilepsiechirurgie für Kin-
                                                                                         der.« Bis Ende der 1990er-Jahre
                                                                                         sei man hier mit Operationen sehr
                                                                                         zurückhaltend gewesen. »Heute
                                                                                         wissen wir, dass sich Kinder viel
                                                                                         besser entwickeln können, wenn
                                                                                         wir möglichst früh operieren und
                                                                                         sie von Anfällen befreien.«

                                                                                         Nachholbedarf für die Zukunft
Von den Anfängen des Aktionstages in den 1990er-Jahren Jahren berichteten die ehe­       sieht die DE-Vorsitzende Sybille
maligen DE-Vorsitzenden Wolfgang Walther (l.) und Klaus Göcke (r.) sowie der frühere     Burmeister noch bei den Bera-
Leiter der Betheler Epilepsie-Rehaklinik Rupprecht Thorbecke.                            tungsstellen für erkrankte Men-
                                                                                         schen: Eine flächendeckende
Epilepsie nur ein Teil von vielen           im Epilepsie-Zent­rum Bethel.                Versorgung mit entsprechenden
sei, die einen Menschen aus-                »Das Bild, dass Ärzte heute von              Angeboten sei bislang lediglich in
machten, so Klaus Göcke.                    Epilepsie haben, ist viel reichhal-          Bayern vorhanden. »Wenn man
                                            tiger geworden.« Früher hätten               als erwachsener Mensch die Diag­
Von gemischten Erfahrungen bei              sich Mediziner bei der Behand-               nose Epilepsie bekommt, zieht
der Kommunikation ihrer Erkran-             lung oft allein auf die Häufigkeit           einem das den Boden unter den
kung berichtete die 26-jährige              der Anfälle konzent­riert. Durch             Füßen weg«, so die Vorsitzende,
Lynna Held, die mit 20 Jahren die           den Austausch mit Betroffenen,               die seit 2006 selbst an Epilepsie
Diagnose Epilepsie erhielt. Im Stu­         Mitarbeitenden aus der Sozial-               erkrankt ist. Deshalb sei es wich­-
dium hatte sie einen sogenann-              arbeit und der Psychologie habe              tig, dass Betroffene regional unab­­-
ten Nachteilsausgleich, der eine            man jedoch gelernt, dass eine                hängig gute Beratungsangebote
vergleichbare Prüfungssituation             Epilepsie-Erkrankung Auswirkun-              zu allen Lebensbereichen einer
zwischen Studierenden mit und               gen auf eine Vielzahl an Lebens-             Epilepsieerkrankung erhielten.
ohne Behinderung herstellen soll            bereichen habe, die man in den
– zum Beispiel durch die Verlän­ge­­-       Blick nehmen müsse.                                        – Marten Siegmann –
rung der Schreibzeit bei Klausu­-
ren oder Hausarbeiten. Lehrkräfte
hätten angezweifelt, ob der Aus­-
gleich in ihrem Falle berechtigt
sei. »Sie sehen ja gar nicht so
behindert aus«, habe einer ihrer
Professoren moniert. Insbeson­
dere im privaten Umfeld sei es
jedoch wichtig, die eigene Erkran­
kung offen zu kommunizieren,
so Lynna Held: »Allein schon, um
den Freunden die Möglichkeit
zu geben, im Falle eines Anfalls
handeln zu können.«

Wie sich die medizinische Wahr-
nehmung von Epilepsie in den                Moderatorin Gabriele Juvan (r.) im Gespräch mit (v. l.) Anja Karlmeier, Leiterin der
vergangenen 25 Jahren verändert             Betheler Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern, Lynna Held von der Jun­
hat, erläuterte Universitätsprofes­         gen DE, Nadine Benzler vom Epilepsie-Bundes-Elternverband und Roswitha Dörr, die
sor Dr. Christian Bien, Chefarzt            wegen ihrer Epilepsie lange Zeit in Bethel behandelt wurde.

                                                                                                                               15
Datenschutz in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
»Wir und die Mitarbeitenden haben ein gemeinsames Ziel«

Im Krankenhaus ist er immer
im Blick, auch die Angebote
für Menschen mit Behin­de­
run­gen dürfen nicht ohne ihn,
und in den Betrieben gilt es
ihn ebenfalls zu beachten –
ohne Datenschutz kommt in
den v. Bodelschwinghschen
Stiftungen Bethel kein Bereich
aus. Über Vorschriften, Risi-
ken im Berufsalltag und ihre
Vermeidung sprach DER RING
mit Dr. Simon Stark. Der Lei-

                                                                                                                         Fotos: Thomas Richter
ter der Stabsstelle Recht/Ver­-
sicherungen ist seit zwei Jah-
ren Bethels Datenschutzbe-
auftragter.

} Herr Dr. Stark, freuen sich die    Dr. Simon Stark weiß, wie hochsensible Daten zu schützen sind und wo die Risiken
  Mitarbeitenden, wenn sie von        lauern, Fehler zu begehen.
  Ihnen hören, oder werden Sie
  eher als jemand gesehen, der        die Frage im Austausch mit An-              selbst belangt werden kann, die
  anderen die Arbeit erschwert?       ge­hörigen. Es gilt das Daten­ge­-          die Schweigepflicht verletzt hat.
                                      heim­nis zu beachten, das heißt,
Es wäre natürlich schön, wenn         dass personenbezogene Daten                 } Wie häufig kommt es zu Ver-
sich alle freuen würden. Auf          geschützt werden müssen, und                  stößen gegen die berufliche
jeden Fall ist der Datenschutz bei    zusätzlich gibt es das Berufsge-              Schweigepflicht?
den Mitarbeiterinnen und Mit-         heimnis – die berufliche Schwei-
arbeitern sehr präsent und wird       gepflicht.                                  Das passiert äußerst selten,
nachgefragt. Von daher gehe ich                                                   obwohl wir viele Berufsgruppen
davon aus, dass wir Datenschüt-       } Wie werden Verstöße                      haben, die der Schweigepflicht
zer nicht als Inquisitoren und Ver-     geahndet?                                 unterliegen: Ärzte, Pflegende,
hinderer gesehen werden. Wir                                                      Sozialpädagogen, Hilfskräfte,
und die Mitarbeitenden haben          Geraten personenbezogene                    Pastoren, Rechtsanwälte, um
ein gemeinsames Ziel, und wir         Daten in unberechtigte Hände,               nur einige zu nennen.
helfen dabei, es zu erreichen.        kann bei einer schweren Ver-
                                      letzung des Datenschutzes ein               } Haben Mitarbeitende mit har-
} Ist der Datenschutz in Bethel      Bußgeld gegen das Unterneh-                   ten Konsequenzen zu rechnen,
  ein besonderer?                     men verhängt werden. Daten                    wenn sie eine Datenpanne
                                      sind personenbezogen, wenn sie                verursacht haben?
Ja, auf jeden Fall. Als diakoni-      Rückschlüsse auf eine bestimmte
sches Unternehmen haben wir           Person ermöglichen. Der Name                Nur wenn der Datenschutz
mit hochsensiblen Daten zu tun.       »Peter Müller« allein ist vielleicht        bewusst missachtet wird. Zum
Uns wird im Berufsalltag viel Per-    noch nicht relevant. Anders ist             Beispiel, wenn man Klienten
sönliches anvertraut – von den        es, wenn Adresse oder Geburts-              ohne Genehmigung mit dem
Patienten und Patientinnen im         datum hinzukommen. Aber auch                Handy filmt, das Video auf Face-
Krankenhaus, von den Klienten,        Datensätze, die keinen Namen                book hochlädt und sein Fehlver-
die von uns unterstützt werden,       enthalten, können Rückschlüsse              halten nicht einsieht und wieder-
von Menschen, die mit uns Ver-        auf eine konkrete Person zulas-             holt. Das hat dann arbeitsrecht-
trauliches besprechen. Hinzu          sen und sind dann personenbe-               liche Konsequenzen. Ansonsten
kommt, dass wir Daten weiter-         zogen. Verletzt man dagegen die             gilt: Menschen machen Fehler,
leiten müssen – zum Beispiel an       berufliche Schweigepflicht, geht            und keiner ist frei davon. Aber
Krankenkassen und Hausärzte.          es nicht mehr um ein Bußgeld.               wir können aus den Fehlern ler-
Hier muss geklärt sein, was man       Dann begeht man eine Straftat.              nen. Der richtige Weg ist, eine
darf und was nicht. Das ist auch      Das bedeutet, dass die Person               Datenpanne dem oder der Vor-

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»Wir …

gesetzten zu melden und mich                 kann ich den Empfänger infor-         liche IT-Struktur zu trennen oder
beziehungsweise die zuständigen              mieren, damit er es persönlich        zu verhindern, dass Familienmit-
Datenschutz-Koordinatoren in                 direkt entgegennimmt. Bei der         glieder Dienstgespräche mithö-
den Stiftungs- und Unterneh-                 Nutzung eines USB-Sticks soll-        ren. Es gibt vieles, auf das man
mensbereichen zu informieren.                ten sensible Daten verschlüsselt      achten muss.
Meistens ist der Vorfall weniger             abgespeichert werden – für den
dramatisch als befürchtet.                   Fall, dass man ihn verliert. Und      } Was raten Sie Mitarbeitenden,
                                             das Passwort bitte nicht auf dem        die die Daten ihrer Patienten
} Wie geht es dann weiter?                  USB-Stick notieren. Das ist, als ob     oder Klienten schützen wollen,
                                             ich die PIN auf meine Bankkarte         sich aber unsicher sind, wie sie
Dann wird festgestellt, um wel-              schreibe. Der schlimmste Feind          es richtig machen?
che Daten es sich handelt und ob             des Datenschutzes ist übrigens
die geschädigte Person zu infor-             der Post-it-Zettel. Ihn kann man      Wer Fragen hat, kann sich jeder-
mieren ist. Und es wird natürlich            so schön als Gedächtnisstütze         zeit an mich oder die Daten-
geprüft, woran es gelegen hat                mit dem Passwort an den Bild-         schutz-Koordinatoren in seinem
und wie sich das Risiko minimie­             schirm kleben. Was man auch           Bereich wenden. Wir helfen gerne
ren lässt. Schuld kann zum Bei-              nicht machen sollte ist, Patien-      weiter und informieren, zum
spiel ein kleiner Schreibfehler              ten- oder Klientenakten offen         Beispiel mit unseren Schulungen,
sein, schon geht die E-Mail mit              auf dem Schreibtisch liegen zu        die wir bald auch als E-Learning
dem Arztbefund an die falsche                lassen, wenn man das Büro ver-        anbieten wollen. Aber es gibt
Adresse. Eine Maßnahme kann                  lässt und die Tür nicht abschließt.   tatsächlich auch einen ganz ein-
dann auch sein, den Empfänger                Oder Dienstgespräche lautstark        fachen, aber grundsätzlichen
zu bitten, die Mail zu löschen               mit dem Handy in der Öffentlich-      Tipp: Man sollte sich fragen, wie
und vertraulich zu behandeln.                keit zu führen.                       man sich den Umgang mit den
Man sollte solche Datenpannen                                                      eigenen Daten wünscht. Die
allerdings von vornherein ver-               } Haben Sie Bedenken wegen           Generationen unterscheiden sich
hindern, indem man Mails mit                   des Mobilen Arbeitens während       hier, aber sie sind sich in einigen
sensiblen Daten verschlüsselt.                 der Corona-Pandemie gehabt?         Punkten ähnlich: Mit intimen
Dann können sie von unberech-                                                      familiären Aspekten und Gesund­-
tigten Empfängern nicht gelesen              Für den Datenschutz ist das           heitsdaten gehen auch die Jün-
werden.                                      Mobile Arbeiten eine weitere          geren in den Sozialen Medien
                                             Herausforderung. Manches ist          zurückhaltend um. Wenn man
} Im Berufsalltag läuft man wahr-           einfach – zum Beispiel dienst-        sich bewusstmacht, wie man
  scheinlich öfters Gefahr, den              liche Unterlagen in Papierform        den Schutz seiner eigenen Daten
  Datenschutz zu verletzen?                  nicht ungesichert im Hausmüll zu      haben will, entwickelt man ein
                                             entsorgen, sondern mit ins Büro       gutes Gespür dafür, was in Ord-
Ja, aber das Risiko lässt sich ver-          zu nehmen. Aber es geht auch          nung ist und was nicht.
ringern. Verschicke ich ein Fax,             darum, die private und dienst-
                                                                                                – Das Interview führte
                                                                                                    Petra Wilkening –

                                                                                    Informationen
                                                                                    Intranet // Bereiche // Stabsstellen
                                                                                    und Zentrale Dienste // Beauftragter
                                                                                    für den Datenschutz

                                                                                    Hier gibt es auch eine Liste der
                                                                                    Datenschutzbeauftragten und
                                                                                    -koordinatoren.
Der schlimmste Feind des Datenschutzes – der Post-it-Zettel.

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