Kommunikation in der Praxis 2017
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4. quartal das magazin der 2017 kassenärztlichen bundesvereinigung Kommunikation in der Praxis Warum es oft schwierig ist, einfache Worte zu finden. Bürokratieindex 2017 Reportage Interview mit Prof. KBV fordert 25 Prozent weniger Die Campus-Praxis der Dabrock: „Der Ethikrat ist Schreibtischarbeit für Ärzte Universität Münster kein Moralgerichtshof.“
Editorial KBV Klartext Das Magazin der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Erscheinungsweise: Liebe Leserin, lieber Leser, vierteljährlich Herausgeber: sicher kennen Sie den Satz „Man kann nicht nicht kommu- Kassenärztliche Bundesvereinigung nizieren“. Die Frage ist also weniger ob, sondern wie wir Dr. Andreas Gassen (Vorstandsvor- sitzender der KBV, V.i.S.d.P.) kommunizieren. Dies gilt ganz besonders in der Arzt-Patien- ten-Beziehung. Zeitmangel, Erwartungsdruck sowie Fehlin- Redaktion: Alexandra Bodemer, Meike Ackermann, formationen aus dem Internet machen es der „sprechenden Kristin Kahl, Nicolas Ebert, Sarah Weckerling, Sophia Bruderhofer, Medizin“ oft nicht leicht. Warum ein gutes Arzt-Patienten- Corina Glorius, Lea Kuhn Gespräch so wichtig ist und wie es trotz widriger Rahmen- Redaktionsbeirat: bedingungen gelingen kann, lesen Sie in unserem Titelthema (ab Seite 4). Dr. Roland Stahl Redaktionsanschrift: Ein Grund, warum Ärzte in der Praxis zu wenig Zeit zum Reden haben, ist die Kassenärztliche Bundesvereinigung Bürokratie. Diese ist im zu Ende gehenden Jahr sogar leicht gestiegen, wie der Redaktion Klartext Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin Bürokratieindex 2017 zeigt. Zwar gibt es auch Erfolge bei dem Versuch, Verwal- Tel.: 030 4005-2205 tungsarbeit in der Praxis zu reduzieren, das Ziel ist jedoch noch lange nicht Fax: 030 4005-2290 E-Mail: redaktion@kbv.de erreicht (ab Seite 10). www.kbv.de Gestaltung: Das Ziel einer engeren Verzahnung von Lehre und Praxis in der Medizineraus- malzwei Grafikdesign, Berlin bildung wird immer wieder angemahnt. In Münster gibt es ein Modellprojekt, Druck: das schon Erstsemestern die Arbeit mit echten Patienten ermöglicht. Mehr dazu Druckerei Kohlhammer, Stuttgart lesen Sie in unserer Reportage (ab Seite 12). Fotos: Titel: © iStock.com/OstapenkoOlena > S.2: © Lopata/axentis.de > S.3: © Michael Zell- Ende November hat der Deutsche Ethikrat eine umfangreiche Stellungnahme mer, © iStock.com/Eva Katalin Kondoros > zum Thema Big Data und Gesundheit veröffentlicht. Darin hat er auch den S.4: © iStock.com/ansonsaw > S.6: © privat > S.8: © iStock.com/Katarzyna Bialasiewicz Vorschlag der KBV aufgegriffen, den Bürgern eine freiwillige „Spende“ ihrer Ge- > S.9: © iStock.com/Obencem > S.10: sundheitsdaten zu ermöglichen. Lesen Sie mehr dazu und zur Rolle des Ethik- © iStock.com/Wavebreakmedia > S.12-15: © Nicolas Ebert > S.16: © iStock.com/Cen- rates im Interview mit dessen Vorsitzenden, Prof. Peter Dabrock (ab Seite 18). tralITAlliance > S.17: © Lopata/axentis.de > S. 18: © Meike Ackermann > S.20: © Meike Ackermann > S. 21: © iStock.com/Manakin Mit diesem Jahr geht die Kampagne „Wir arbeiten für Ihr Leben gern.“ der > S.22: © dpa/Picture-Alliance > S.23: © niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten zu Ende. Ihre Bilanz kann sich Sarah Weckerling > S.24: © malzwei > S.26: © Alexandra Bukowski > S.27: © Kristin Kahl im wahrsten Sinne des Wortes sehen lassen (ab Seite 24). > S.28: © Shotshop.com/imagepointfr > S. 29 © iStock.com/Katarzyna Bialasiewicz > S.30: © iStock.com/GAPS > S.32: © Hans Ich wünsche Ihnen eine informative und anregende Lektüre. Punz/Picture-Alliance; Herbert Pfarrhofer/ Picture-Alliance > S.34: © Milles Studio/ Fotolia > S. 35 © malzwei Ihr Dr. Thomas Kriedel, Mitglied des Vorstandes www.twitter.com/kbv4u KBV klartext Die App KBV2GO! kostenlos abonnieren www.youtube.com/kbv4u kostenlos downloaden: und downloaden: www.kbv.de/klartext www.kbv.de/kbv2go www.kbv.de/praxisnachrichten 2 KBV Klartext > 4. Quartal 2017
Inhalt Titel Themen Interview 10 Bürokratieindex 2017: Arztzeit 18 Was der Ethikrat zur 4 Kommunikation: muss Behandlungszeit sein Digitalisierung im Gesundheits- wesen und der gesetzlichen Wie Arzt und Patient 16 Ärztehonorare: Es muss sich Krankenversicherung sagt sich besser verstehen etwas ändern 22 Notfallversorgung: Reform? Ja. Nur wie? Gesundheit anderswo 24 Erfolgreich: Kampagne 30 Österreich: Die E-Akte für alle „Wir arbeiten für Ihr leben gern.“ ist längst Realität geht zu Ende 28 Psychotherapie: Neue Ausbildungsform sorgt für Kurz gefasst Diskussionen 9 Meldungen aus dem Bund 34 Bericht aus Brüssel: Digitale Kompetenzen stärken 21 Meldungen aus den Ländern 35 Angeklickt und aufgeblättert Reportage aus den KVen 12 Westfalen-Lippe: Die Campus-Praxis der Uni Münster In der Nachwuchskampagne „Lass dich nieder!“ warben Medizinstudierende für das Berufsleben als eigener Chef, hier beim Fotoshooting zu einem Kampagnenmotiv. KBV Klartext > 4. Quartal 2017 3
titel Arzt-Patienten-Kommunikation: Warum einfach nicht immer einfach ist Das Arzt-Patienten-Gespräch ist wesentlicher Bestandteil einer erfolgreichen Behandlung. Doch die sogenannte sprechende Medizin hat es in der Praxis nicht immer leicht. Gründe sind Zeitmangel, finanzielle Fehlanreize und Erwartungsdruck auf beiden Seiten. Die gute Nachricht: Es gibt Rezepte dagegen. 4 KBV Klartext > 4. Quartal 2017
Weitere Informationen zur Fach- tagung Gesundheitskompetenz: www.kbv.de/html/30986.php 7,6 Minuten hat ein Hausarzt in Deutschland pro Patient zur Verfügung. Das ist das Ergebnis einer Metaanalyse, die ein kompetenz der Deutschen – also die Fähigkeit, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag angemessene Universität Bielefeld hat gezeigt, dass 54,3 Prozent der Bevölkerung eine einge- schränkte Gesundheitskompetenz haben. So würden beispielsweise 37 Prozent der internationales Forscherteam in diesem Entscheidungen zur Gesundheit treffen zu Befragten Beipackzettel von Medikamen- Herbst im Fachjournal „BMJ Open“ veröf- können – dringend gestärkt werden muss. ten nicht verstehen. Deshalb hat es sich fentlicht hat. Weniger Zeit haben in den 40 Prozent der erwachsenen deutschen die Allianz für Gesundheitskompetenz europäischen Ländern nur slowenische, Bevölkerung hat große Probleme, Texte (siehe Kasten) zum Ziel gemacht, die Zu- ungarische, serbische, österreichische auf Grundschulniveau zu verstehen. Das gangswege zu Informationen zu verein- und slowakische Ärzte für ihre Patienten. hat die Studie „Level-One Survey (leo)“ fachen und die Beurteilungsfähigkeit der Unter dem hohen Zeitdruck leidet häufig der Universität Hamburg im Jahr 2011 Patienten zu stärken. die Arzt-Patienten-Kommunikation. Und ermittelt. Kein Wunder also, dass über zwar aus unterschiedlichen Gründen. 50 Prozent der Deutschen Gesundheits- Aufgrund des Überangebotes im Internet Mal gibt der Patient zu wenig von seinen informationen nicht richtig verstehen fällt es Patienten zunehmend schwer, Problemen preis. Mal lässt der Arzt ihn und umsetzen können. Eine Studie der fundierte Gesundheitsinformationen nicht ausreden. Dann versteht der Pati- herauszufiltern. „Man kann den Patienten ent vielleicht nicht alles, vergisst aber heutzutage nicht mehr sagen ‚Gucken Sie nachzufragen oder traut sich nicht. Und ja nicht ins Internet!‘“, betont von Hirsch- manchmal verläuft das Gespräch zwar gut Gesundheitskompetenz hausen, „viel günstiger fände ich es, – dennoch kann sich der Patient vor der verbessern wenn alle Ärzte in Deutschland wüssten, Türe nicht mehr an die Worte des Arztes was die Top Ten evidenzbasierten, guten, erinnern. Dabei ist eine gute Kommuni- werbefreien Internetseiten sind, die man kation für die Behandlung und den Hei- Das Bundesgesundheitsministe- den Patienten tatsächlich empfiehlt.“ Das lungsprozess extrem wichtig. rium (BMG) hat im Sommer 2017 unterstützt auch KBV-Chef Dr. Andreas die „Allianz für Gesundheitskom- Gassen: „Wir müssen uns damit auseinan- petenz“ gegründet. Ihr gehören dersetzen, was die Patienten sich im Netz neben dem BMG die Organisatio- zusammenklicken und seriöse Angebote nen der ärztlichen Selbstverwal- bereitstellen. Denn wenn man Google Erst verstehen, dann schlucken tung (darunter die KBV), Patien- nach Fieber fragt, landet man beim bösar- tenorganisationen und Vertreter tigen Tumor. Das ist nicht zielführend.“ „Die Worte, die ich zu einem Medikament aus der Politik an. Ziel der Allianz spreche, haben 30 bis 40 Prozent Macht ist es, durch spezielle Maßnahmen über die Wirkung des Medikaments. Wenn die Gesundheitskompetenz der jemand verstanden hat, warum er etwas Deutschen zu verbessern. Dazu nimmt, dann nimmt er es auch“, sagte der gehört die Gesundheitsbildung Diagnosen übersetzen Arzt und Autor Dr. Eckhard von Hirsch- in Schulen, Kitas und Betrieben. hausen auf der Fachtagung Gesundheits- Darüber hinaus ist ein nationales Eine Website, die den Patienten das kompetenz der KBV, die im Herbst in Gesundheitsinformationsportal medizinische Verständnis erleichtert, ist Berlin stattfand. Doch offenbar verstehen angedacht, auf dem geprüfte beispielsweise www.was-hab-ich.de, die viele Patienten nicht, warum sie ihre Informationen und Anwendungen auch von der KBV unterstützt wird. Hier Pillen schlucken sollen: „Die Hälfte der rund um die Gesundheit zu finden übersetzen Medizinstudenten Arztbriefe in verschriebenen Medikamente in Deutsch- sein sollen. Ergebnisse einer vom einfaches Deutsch. Ein Arztbrief ist zwar land wird nie eingenommen. Das sind BMG in Auftrag gegebenen Mach- eigentlich ein Kommunikationsmittel ungefähr 20 Milliarden Euro, die wir in barkeitsstudie sind im kommen- zwischen zwei Ärzten, doch der Patient der gesetzlichen Krankenversicherung den Jahr zu erwarten. In Österreich fühlt sich trotzdem besser, wenn er weiß, dafür ausgeben“, so von Hirschhausen. gibt es ein solches Portal bereits was sich hinter dem „Nachweis eines aus- Hinzu kommt, dass die Gesundheits- (siehe S. 33). geprägten Knochenmarködems an der > KBV Klartext > 4. Quartal 2017 5
titel Interview mit Prof. Attila Altiner „Die Fähigkeit, gut und professionell zu kommunizieren, muss man lernen, das ist nicht angeboren.“ Was zeichnet ein gutes Arzt- zum Beispiel auf den Seiten der KBV Unterrichtsformaten inzwischen sehr po- Patienten-Verhältnis aus? oder der DEGAM (Anm. d. Red.: Deutsche sitiv gegenüber. Auch positiv ist, dass die Gesellschaft für Allgemeinmedizin). Und jungen Ärzte zunehmend erkennen, wie Wichtig ist, dass klar ist, was Arzt und dann gibt es unmoderierte Foren, in denen wichtig die interprofessionelle Kommuni- Patient voneinander erwarten und dass wirklich nur krude Inhalte stehen. Ich wür- kation in der Medizin ist – also die Kom- man eine Ebene findet, auf der man Ziele de dem Patienten immer sagen: „Ich finde munikation mit Vertretern anderer Gesund- definiert. Gut ist, wenn beide sagen kön- es gut, dass Sie sich informiert haben.“ heitsberufe. Dennoch, echte Kompetenz in nen: „Das ist etwas, worauf wir hinarbei- Wenn ein Patient darüber berichtet, was er der Arzt-Patienten-Kommunikation kann ten wollen.“ Der Arzt muss sich überlegen, gefunden hat, kann er sich in vielen Fällen und muss vor allem in der Weiterbildung was er von dem, was sich der Patient in den Behandlungsprozess einbringen vermittelt werden. Hier stellen die neuen wünscht, tatsächlich im Rahmen seines – gerade auch bei der Abwägung, welche Kompetenzzentren für die Allgemeinme- Behandlungsauftrages erfüllen kann. diagnostischen Maßnahmen und welche dizinische Weiterbildung einen ersten Kurzfristig ist der Patient vielleicht nicht Therapien sinnvoll sind. Insofern ste- wichtigen Schritt dar. immer gleich zufrieden, wenn der Arzt ihm cken in der selbstständigen Nutzung von kommunizieren muss, dass er bestimmte entsprechenden Informationsangeboten Die Fragen stellte Sarah Weckerling. Erwartungen möglicherweise gar nicht jede Menge Chancen. Aber natürlich ist erfüllen kann oder will. Aber dadurch ist es für den Arzt in seiner ohnehin schon das Verhältnis langfristig gut angelegt. immer mehr verdichteten Arbeitszeit oft- Natürlich hat jeder Patient ganz individuel- mals nicht möglich, gemeinsam mit dem le Vorstellungen und Werte. Dazu passt ein Patienten die gefundenen Informationen „alter“ Spruch aus der hausärztlichen Ver- systematisch zu bewerten. Deshalb gibt sorgung: Jeder Arzt bekommt die Patien- es gerade in Bezug auf die Förderung von ten, die er verdient. Vielleicht umgekehrt Gesundheitskompetenz noch viel zu tun. auch – in einem System, das die freie Arztwahl zulässt, können die Patienten mit Was bringen Sie Ihren Studenten über denjenigen Ärzten zusammentreffen, die die Arzt-Patienten-Kommunikation bei? eine gute gemeinsame Ebene finden. Noch ein Aspekt zu einem besonders guten Arzt- Was wir in der Lehre vor allem tun kön- Patienten-Verhältnis: Manchmal gelingt es nen, ist, Studenten für die herausragende sogar, eine gemeinsame Humorebene zu Bedeutung der Arzt-Patienten-Kommuni- finden. Wenn Arzt und Patient auch einmal kation zu sensibilisieren. Zum Beispiel: zusammen über etwas schmunzeln kön- Wie fördere ich, dass sich ein Patient mit nen, kann so manche schwierige Situatio- seinen Symptomen oder seiner Erkran- nen gemildert werden. kung auseinandersetzt. Oder: Wie gehe ich damit um, wenn ich Konflikte erkenne Heutzutage kommt es öfter vor, dass Pati- oder wenn ich mich vom Patienten unter enten zuerst ihre Symptome googeln und Druck gesetzt fühle. Das sind Aspekte, auf dann zum Arzt gehen. Was müssen Ärzte die Studierende und Ärzte in der Fach- beachten, wenn sie davon erfahren? arztweiterbildung bisher nicht optimal Prof. Attila Altiner ist Facharzt vorbereitet werden, um es mal vorsichtig für Allgemeinmedizin und Di- Ich glaube in solchen Fällen ist Professi- auszudrücken. Die Fähigkeit, gut und pro- rektor des Instituts für Allge- onalität auf Seiten des Arztes gefragt. Es fessionell zu kommunizieren, muss man meinmedizin der Universitäts- gibt durchaus Fälle, in denen Patienten lernen, das ist nicht angeboren. Trainings medizin Rostock. Einer seiner sehr gut und sehr systematisch recher- mit Simulationspatienten können helfen, Forschungsschwerpunkte ist die chieren. Wenn Sie sich die Qualität von Ge- die Lücke zwischen Wissen und tatsächli- Arzt-Patienten-Kommunikation. sundheitsinformationen im Netz anschau- cher Kompetenz zu schließen. Studierende en, dann gibt es exzellente Informationen, und Ärzte in Weiterbildung stehen diesen 6 KBV Klartext > 4. Quartal 2017
ventralen Zirkumferenz des Humerus- Gespräch einbeziehen, wenn man sie Warum ist es für mich wichtig, das zu kopfes“ verbirgt. Eine „Flüssigkeitsein- erzählen lässt und nonverbal ermuntert, tun? Wer also mit dem Ziel zum Arzt geht, lagerung, die sich vorn im oberen Ende weiterzureden.“ Auf diese Weise erhalte Antworten auf diese Fragen zu erhalten, des Oberarmknochens befindet“, klingt der Arzt in relativ kurzer Zeit meistens fragt vermutlich eher nach, wenn er etwas da schon ganz anders. Das finden auch mehr Informationen, als durch reines nicht ganz verstanden hat. 85 Prozent der Website-Nutzer. Sie sagen: Abfragen. Anschließend sortiere und „Die Befundübersetzung hat mir Mut priorisiere er das Gehörte und entscheide, gemacht, meiner Erkrankung mit mehr was heute und was beim nächsten Termin Entschlossenheit entgegenzutreten.“ besprochen wird. So könne man sich auf einen Aspekt konzentrieren und intensiver „Nichtstun“ muss sich lohnen Doch im Idealfall ist eine Übersetzung nachhaken. „Es ist wichtig, anschließend der Informationen nach dem Arztbesuch nachzufragen, was der Andere verstanden Die gute Kommunikation nutzt übrigens durch Dritte erst gar nicht notwendig. hat“, weiß Schwantes, „am besten fordert nicht nur dem Patienten. Denn gerade Ein gutes Arzt-Patienten-Gespräch sollte der Arzt den Patienten auf, mit eigenen weil Ärzte nur sehr wenig Zeit für jeden ausreichen. „Wenn man am Anfang den Worten zu wiederholen, wie er das Bespro- Einzelnen zur Verfügung haben, ist Patienten einmal ausreden lässt, wird chene verstanden hat.“ ein strukturiertes Gespräch besonders das gesamte Gespräch besser“, sagt von wichtig. „Wenn ich nach jedem Gespräch Hirschhausen. Wesentlich länger dauert Auch Patienten können aktiv zu einer zufrieden mit dem Verlauf bin, kann ich der Patientenbesuch dadurch trotzdem erfolgreichen Kommunikation beitragen. mit diesem Patienten abschließen und nicht, betont der Facharzt für Allgemein- Und das mit nur drei Fragen. Die „Ask mich unbelastet dem Nächsten zuwen- medizin und Ausbilder für Arzt-Patienten- me 3“-Methode aus den USA verfolgt den den“, sagt Schwantes und rät: „Wer als Kommunikation, Prof. Ulrich Schwantes: Ansatz, Patienten zu motivieren, bei jedem Arzt sein eigenes Burnout vermeiden will, „Wir haben Untersuchungen durchge- Kontakt mit dem Arzt folgende Fragen pflegt eine gute Kommunikation.“ Um den führt und festgestellt, dass Patienten den zu stellen: Was ist mein gesundheitliches Zeitdruck in der Praxis zu entschärfen, ist Arzt nach circa 60 Sekunden wieder ins Problem? Was kann ich dagegen tun? zudem gute Teamarbeit unerlässlich. > neue Broschüre: Patienten kultursensibel behandeln Die Arzt-Patienten-Kommunikation Jugendärztin sowie ein Psychiater wird vor besondere Herausforderun- schildern ihre Erfahrungen. Anre- gen gestellt, wenn sprachliche oder gungen kommen von der Integra- kulturelle Barrieren hinzukommen. tionsbeauftragten der Bundesre- Denn so unterschiedlich die Her- gierung und von einer Professorin kunftsländer und Kulturen der Pati- mit Schwerpunkt Gesundheitskom- enten sind, so verschieden können petenz. Darüber hinaus bietet die ihre Erwartungen und Bedürfnisse Broschüre Serviceinformationen beim Arztbesuch sein. Auf diese für den Praxisalltag, wie Hinweise Vielfalt in der Praxis macht die KBV auf die Patienteninformationen in mit der gleichnamigen Broschüre Fremdsprachen. Die Broschüre aufmerksam. Das Heft bietet Infor- „Vielfalt in der Praxis“ kann kosten- mationen und Tipps zum kultursen- frei per E-Mail an versand@kbv.de siblen Umgang, unter anderem von bestellt werden und steht online einem niedergelassenen Kardiolo- in der KBV-Mediathek unter www. gen mit syrischem Migrationshin- kbv.de/html/publikationen.php als tergrund. Auch eine Kinder- und barrierefreie Webversion bereit. KBV Klartext > 4. Quartal 2017 7
titel „Die sogenannte ‚sprechende Medizin‘ ist nur leistbar, wenn dem Arzt in der Praxis der Rücken freigehalten wird. Und zwar auch mit speziell fortgebildeten Praxisassistentinnen, die routinemäßige Hausbesuche übernehmen können, um den Arzt zu entlasten“, betont KBV-Chef Gassen. Kommunikationstraining ist also nicht nur für die Ärzte, sondern auch für Praxismitarbeiter und Pflegekräfte wichtig. Abschließend lässt sich festhalten: Die Rolle des Arztes als Übersetzer von Gesundheitsinformationen ist nicht zu unterschätzen. „Wir brauchen mehr ‚spre- chende Medizin‘, das ist ganz klar. Aber eine ärztliche Vergütung, die sich immer mehr in Pauschalen abspielt, erlaubt dafür nur einen begrenzten Spielraum“, sagt Gassen. Das sieht auch von Hirsch- hausen so: „Es fehlt, brutal gesagt, das Geschäftsmodell. Es fehlt der finanzielle Anreiz. Salopp gesagt, Nichtstun muss sich wieder lohnen. Im Sinne von nicht röntgen, keinen Katheter schieben, keine OP anzetteln, sondern zuhören, sprechen, erklären, Lebensziel ändern.“ Meike Ackermann Kommunikationstipps zum Anschauen KV-on, das Web-TV der Kassen- ärztlichen Vereinigungen, hat in einem Video dargestellt, worauf es bei der Arzt-Patienten- Kommunikation ankommt. www.kbv.de/html/30300.php Im Rahmen der Fachtagung Gesundheitskompetenz hat der Arzt und Autor Dr. Eckhard „Wenn man den Patienten am von Hirschhausen KV-on Rede und Antwort gestanden: Anfang einmal ausreden lässt, wird www.kbv.de/html/31042.php das gesamte Gespräch besser.“ Dr. Eckhard von Hirschhausen 8 KBV Klartext > 4. Quartal 2017
meldungen aus dem bund Telematik-Ausstattung steht Die gematik (Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH) hat die ersten technischen Geräte und Dienste für die Anbindung der Praxen an die Telematikinfrastruktur (TI) zugelassen. Dazu gehören der Konnektor, ein E-Health-Terminal sowie der VPN- Zugangsdienst. Die letzte Komponente ist der elektro- nische Praxisausweis. Hier hat die Bundesdruckerei Mehr Geld für Arzneimittel als erster Anbieter den Zuschlag erhalten. Das geschah zunächst nur für die Vertragszahnärzte, Anfang Dezem- Das Ausgabenvolumen für Arzneimittel in der vertrags- ber konnte die KBV auch die Zulassung für die Vertrags- ärztlichen Versorgung steigt im kommenden Jahr um ärzte und -psychotherapeuten erteilen. Die technischen 3,2 Prozent. Darauf haben sich der Spitzenverband der Komponenten sind notwendig, damit die Praxen – so gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) und die KBV wie gesetzlich vorgesehen – ab 1. Januar 2019 mit dem bei den Verhandlungen zu den entsprechenden Rahmen- Versichertenstammdatenmanagement beginnen können. vorgaben geeinigt. Das für Arzneimittel vorgesehene Den eAusweis benötigen Praxen zur Registrierung als Ausgabenvolumen erhöht sich damit um rund 1,2 Milliar- medizinische Einrichtung, damit der Konnektor eine den Euro. Grund sind vor allem steigende Ausgaben für Verbindung zur TI aufbauen kann. Die KBV hat auf ihrer neuartige Arzneimittel, unter anderem in der Krebsthe- Website eine Übersicht der für die Praxen zugelassenen rapie. Da diese vermehrt ambulant stattfindet, steigen Komponenten erstellt, die regelmäßig aktualisiert wird: die Ausgaben in den Praxen. Kostensteigernd wirkt sich www.kbv.de/588030. (abo) außerdem die neue Verordnungsfähigkeit von Cannabis aus. Für den Bereich Heilmittel vereinbarten KBV und GKV-SV ein Plus von 3,9 Prozent. Das entspricht einer Summe von etwa 230 Millionen Euro. Darin enthalten ist unter anderem die zum 1. Januar 2018 vorgesehene Einführung der Ernährungstherapie in den Heilmittel- Psychotherapie: Terminservice katalog. Die bundesweiten Rahmenvorgaben bilden die auch für Probatorik Grundlage für regionale Verhandlungen der Kassen- ärztlichen Vereinigungen mit den Krankenkassen. Dort werden noch zusätzliche Faktoren wie Alter und Anzahl Die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereini- der Versicherten berücksichtigt. (abo) gungen müssen künftig auch Termine für probatorische Sitzungen bei Psychotherapeuten und damit letztlich auch für die anschließende Richtlinien-Psychotherapie vermitteln. Das hat das Bundesschiedsamt für die ver- tragsärztliche Versorgung am 7. November beschlossen. Voraussetzung ist, dass der betroffene Patient zuvor die Digitale Chancen nutzen Sprechstunde besucht, der Therapeut dort einen drin- genden Bedarf festgestellt und diesen bescheinigt hat. Die KBV hat gemeinsam mit der Bundesvereinigung Der Beschluss des Bundesschiedsamtes sieht außerdem Deutscher Apothekerverbände einen sogenannten Letter vor, dass die Terminservicestellen dem Versicherten of Intent zur Digitalisierung im Gesundheitswesen un- einen weiteren Termin für eine probatorische Sitzung terzeichnet. Die Spitzenorganisationen bekunden darin, bei einem anderen Therapeuten vermitteln müssen, falls den Prozess der Digitalisierung gemeinsam gestalten sich das Verhältnis zum ersten als nicht tragfähig für und dabei die Chancen neuer Technologien für Patien- eine weitere Behandlung erweist. Der Spitzenverband ten und Heilberufe so gewinnbringend wie möglich der gesetzlichen Krankenversicherung hatte ursprüng- nutzen zu wollen. Dazu gehört auch das Entwickeln lich gefordert, dass die Servicestellen Termine für sämt- und Umsetzen einer gemeinsamen „digitalen Agenda“. liche psychotherapeutische Behandlungen vermitteln Wesentliche Punkte umfassen die Datensouveränität, müssen – also auch für solche, die nicht zeitnah erfor- Datenschutz und Datensicherheit. „Gemeinsam mit der derlich sind. Die KBV hingegen sieht den gesetzlichen Politik müssen wir eine übergreifende E-Health-Strategie Auftrag der Terminservicestellen als durch das bisherige für die Gesundheitsversorgung entwickeln“, betonte Dr. Angebot – nämlich die Vermittlung eines Erstgespräches Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV. (abo) sowie der Akutbehandlung – bereits erfüllt an. Sie er- wägt eine Klage gegen den Beschluss. (abo) KBV Klartext > 4. Quartal 2017 9
T hema „Arztzeit ist Behandlungszeit und nicht Schreibtischzeit“ Der aktuelle Bürokratieindex zeigt einen leichten Anstieg der Bürokratiebelastung in den deutschen Arztpraxen. Ziel der KBV ist es, den Aufwand um ein Viertel zu reduzieren. D ie bürokratische Gesamtbelastung der Praxen ist im Jahr 2017 leicht gestiegen – und zwar um 0,21 Prozent. Das sind rund 115.000 Netto- arbeitsstunden mehr als im Jahr zuvor. Projektes „Mehr Zeit für Behandlung“, das im Jahr 2013 ins Leben gerufen wurde. Insgesamt wenden die Niedergelassenen aktuell etwa 54 Millionen Stunden im Jahr für Bürokratie der Selbstverwaltung auf werden jedoch insbesondere durch den vermehrten Aufwand bei der Verordnung von Krankenbeförderungen aufgehoben. So sind Krankentransporte um über zehn Prozent gestiegen und umfassen mittler- Dies ergab der Bürokratieindex (BIX) für Bundesebene auf. Das wiederum bedeutet: weile rund 51 Millionen Fälle pro Jahr. Vertragsärzte und -psychotherapeuten, Praxen arbeiten im Durchschnitt 60 Tage den die KBV mit der Fachhochschule des lang Informationspflichten der gemeinsa- Eine weitere Erklärung für den gestiege- Mittelstandes ermittelte. Der BIX wurde men Selbstverwaltung ab. „Bürokratieab- nen Aufwand ist die zum 1. April 2017 im analog zum Bürokratiekostenindex (BKI) bau ist oft eine Sisyphusarbeit: Während Rahmen der Reform der Psychotherapie- des Statistischen Bundesamtes konzipiert, sie an einer Stelle erfolgreich verringert Richtlinie neu eingeführte Informations- mit dem der beim Bundeskanzleramt wird, entstehen an anderer Stelle neue pflicht „Individuelle Patienteninformation angesiedelte Nationale Normenkontrollrat Belastungen“, sagt Dr. Thomas Kriedel, Psychotherapie“. Unter der Annahme von (NKR) die Bürokratiekosten misst und Vorstandsmitglied der KBV. jährlich rund 788.000 Fällen bedeutet kontrolliert. Der BIX stellt transparent diese eine beachtliche Belastung für die dar, wie viel Zeit die niedergelassenen Eine deutliche Reduzierung der Bürokratie Psychotherapeuten von rund 223.000 zu- Ärzte und Psychotherapeuten im Jahr für konnte dieses Jahr zum Beispiel mit der sätzlichen Nettoarbeitsstunden. Insgesamt Verwaltungsarbeit aufwenden. Die Unter- Vereinfachung der Chronikerbescheini- konnte durch die Reform der Psychothe- suchung basiert auf den Ergebnissen des gung erreicht werden. Die Entlastungen rapie-Richtlinie der Bürokratieaufwand 10 KBV Klartext > 4. Quartal 2017
für die Praxen aber deutlich reduziert „Unser Ziel von 25 Prozent Bürokratieab- werden. „Die Niedergelassenen wünschen bau muss verbindlich per Gesetz veran- sich mehr Zeit für ihre Patienten. Das kert werden“, betont Kriedel, „Arztzeit ist zeigen alle Befragungen. Deshalb darf die schließlich Behandlungszeit und nicht Belastung durch Bürokratie in den Praxen Schreibtischzeit“. Mit dieser Reduzierung das notwendige Maß nicht überschreiten“, um 25 Prozent würden den niedergelassen erklärt Kriedel. Ärzten über 13 Millionen Stunden pro Jahr zusätzlich für die Patientenversorgung zur Verfügung stehen. Aus Sicht der KBV stellt die Digitalisie- Mehr als vier Milliarden Euro rung eine große Chance dar, diesem Ziel näher zu kommen. Dennoch reduziert sie Bereits in einer im August 2015 vom NKR nicht zwangsläufig die administrativen veröffentlichten Erhebung, beliefen sich Aufgaben für Praxen. Bei der Planung die jährlichen Kosten durch die zahlrei- und Umsetzung der Digitalisierung in der chen Informationspflichten und Verwal- vertragsärztlichen Versorgung sollte daher tungsvorgaben auf mehr als vier Milliarden das Augenmerk stärker auf das Potenzial Euro. Daraus gingen 20 Handlungsempfeh- für die Entlastung von Bürokratie gerichtet Weitere Informationen zum BIX lungen hervor. Im Oktober 2017 zogen der werden, meint die KBV. sowie detaillierte Empfehlungen NKR, die KBV und die anderen Projekt- für den Bürokratieabbau in der partner nun ein positives Fazit – von den Aus diesem Grund appellierte sie auch an ärztlichen Versorgung unter: 13 Handlungsempfehlungen für den ver- die Politik, bei den gesundheitspolitischen www.kbv.de/html/bix.php tragsärztlichen Bereich sind zehn bereits Vorhaben in der nächsten Legislaturpe- umgesetzt oder stehen kurz davor. riode darauf zu achten, dass Ärzte und Psychotherapeuten nicht mit weiterer Insbesondere durch den demografischen Bürokratie belastet werden. Denn Versor- Wandel ist auch für die Zukunft mit stei- gung funktioniert nur, wenn Ärzte und genden Behandlungszahlen zu rechnen. Psychotherapeuten die Zeit haben, das zu Es wird daher zu einem weiteren Anstieg tun, was sie am besten können: sich um der bürokratischen Belastung für Pra- die Gesundheit ihrer Patienten kümmern. xen kommen, wenn der administrative Aufwand nicht reduziert wird. Die beim Nicolas Ebert BIX betrachteten Informationspflichten beruhen auf Vorgaben der gemeinsamen Selbstverwaltung. Die KBV selbst plädiert schon lange dafür, diese zurückzufahren: Die Veränderungen von Bürokratische 400.000 über 100.000 Stunden Be- und Entlastungen 2017 haben sich entscheidend Stunden auf die Entwicklung des in Stunden 300.000 Indexes ausgewirkt belastungen 200.000 1. Verordnung Krankenbeförderung 2. Individuelle Patienteninformation Psychotherapie 100.000 3. Präventionsempfehlung Erwachsene 4. Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit auf Muster 1 1. 2. 3. 4. 5. 5. Dokumentation DMP COPD 0 1. 2. 3. 4. 5. 6. Entlastungen - 100.000 1. Patientenaufklärung bei Überschreitung der Festbetragsgrenze 2. Bescheinigung dauerbehandelte Krankheit - 200.000 3. Erhebung Daten im Ersatzverfahren 4. Antrag auf Fortsetzung der Behandlung (Psychotherapie) 5. Antrag Kurzzeittherapie (mit Gutachterverfahren) - 300.000 6. Ausstellen von Überweisungen - 400.000 KBV Klartext > 4. Quartal 2017 11
R eportage aus den K ven Hand in Hand mit der Lehre Sie ist ein Paradebeispiel, wie Lehre und praktisches Tun im Medizinstudium verknüpft werden können: Die Campus-Praxis in Münster bietet Medizinstudierenden die Chance, den allgemeinmedizinischen Praxisalltag unmittelbar kennenzulernen. Schon Erstsemester können hier das Arztsein trainieren. 12 KBV Klartext > 4. Quartal 2017
An diesem Vormittag unterstützt Student Matthias Hamatschek das Team der Münsteraner Campus-Praxis. V iel spürt er nicht mehr an seinen Füßen: Im linken hat er kaum noch Gefühl, im rechten fühlt er an diesem Novembertag nichts. Die Allgemeinmedizinerin Dr. Nicola Knob- Münster betrieben. Sie soll die Allgemein- medizin am Standort stärken und noch mehr Studierende für das Fach begeis- tern. Die angehenden Mediziner können sich sehr früh ein Bild machen, wie das der Umgebung gut etablieren und hat sich bereits bewährt.“ Die Zusammenarbeit mit Münsteraner Studierenden, die ihre Kennt- nisse vor dem abschließenden Praktischen Jahr oder im Rahmen von Praktika in ihrer lauch setzt die Stimmgabel ab und trägt Tätigkeitsfeld eines niedergelassenen Praxis vertiefen möchten, sei für sie eine die Werte in die Patientenakte ein. Ihr Allgemeinmediziners aussieht und wie der schöne und bereichernde Erfahrung. Patient Herr K. leidet schon länger unter Praxisalltag heutzutage aussieht. Im Fo- einem diabetischen Fuß-Syndrom infolge kus dieses Modellprojektes steht die enge seines Altersdiabetes. Während ihrer Verzahnung von wissenschaftlicher Lehre Untersuchung erklärt die Ärztin ihre und praktischer Tätigkeit. Dafür bietet Behandlungsschritte – aber nicht nur für die Campus-Praxis in der sechsten Etage „Nicht nur Schillers Gedichte“ Herrn K. Auch Medizinstudent Matthias eines Ärztehauses, das sich neben einem Hamatschek ist im Behandlungszimmer Drogeriemarkt, einem Baumarkt, einem Auch K. empfindet die Gegenwart des dabei. Er hört heute zum ersten Mal, dass Lebensmittelmarkt und einem Altenpfle- Studenten als wunderbare Sache. „Ich ein Arzt mithilfe eines Stimmgabeltests gewohnheim befindet, ideale Vorausset- unterstütze alles, was mit Wissen und das Ausmaß der Empfindungsstörung der zungen bei der Anbindung. Eine Apotheke Bildung zu tun hat. Das sind eben nicht Füße überprüfen kann. So bekommt der sowie weitere Praxen von Fachärzten und nur Schillers Gedichte“, so der 70-Jähri- Student die Chance, das medizinische anderen Gesundheitsberufen befinden ge. Er war schon Patient in der Praxis, Handwerkszeug am Patienten eigenstän- sich im selben Haus. Das Unigelände ist bevor Knoblauch sie übernahm. Einmal dig auszuprobieren. Für Hamatschek ist nicht weit entfernt. pro Quartal kommt er im Rahmen des das keine Selbstverständlichkeit. Er hat Disease-Management-Programmes (DMP) sein Humanmedizinstudium an der West- Seit einem Jahr leitet die Ärztin Dr. Nicola zur Untersuchung. „Patienten wie K. sind fälischen Wilhelms-Universität Münster Knoblauch mit ihrer Kollegin Dr. Alexand- bei uns über den hausärztlichen Bereich (WWU Münster) erst vor ein paar Wochen ra Brauer die Campus-Praxis. Nach erfolg- gut in das DMP eingebunden. Wir können begonnen und weiß den Praxiseinblick reicher Pilotphase folgte Anfang März die ihn hier sehr gut beobachten – das gilt, zu diesem frühen Zeitpunkt zu schätzen. offizielle Einweihung. „Es war uns wichtig, wie in seinem Fall, besonders für Patien- erst einen Patientenstamm aufzubauen ten mit mehreren Krankheitsbildern“, sagt Möglich macht dies die Campus-Praxis und Vertrauen zu den Menschen zu ge- Knoblauch. Dem stimmt K. zu: „Die gute Allgemeinmedizin. Die am Rande des winnen. Heute haben wir vor allem einen Betreuung und Überwachung geben mir Stadtteils Gievenbeck gelegene Hausarzt- hohen Zulauf von Akutpatienten“, sagt Sicherheit.“ > praxis wird vom Medizinischen Versor- Knoblauch, „die Praxis konnte sich in den gungszentrum des Universitätsklinikums vergangenen Monaten als Terminpraxis in „Wir wollen dieses interessante Berufsfeld sichtbar machen. Die Campus-Praxis bietet sich dafür hervorragend an.“ Dr. Ralf Jendyk KBV Klartext > 4. Quartal 2017 13
R eportage aus den K ven Zum Schluss der Untersuchung misst interessante Berufsfeld sichtbar machen. Die Praxis schließt an diesem Freitag Knoblauch seinen Blutdruck. Student Die Campus-Praxis bietet sich dafür bereits um 12 Uhr. Für Nachwuchsmedizi- Hamatschek verfolgt aufmerksam jede hervorragend an“, sagt er. Im Laufe des ner Hamatschek heißt das: Den ersten Teil Handlung der Ärztin, auch wenn ihm Semesters bekommt jeder der zwölf Stu- seines Tagesprogrammes hat er gemeis- dieser Teil nicht neu ist. Vor seinem Medi- denten die Möglichkeit, eine der beiden tert. Der zweite Teil folgt am Nachmittag. zinstudium absolvierte er eine dreijährige Ärztinnen für einen halben Tag bei ihren Neben dem Praktikum organisieren Maisel Ausbildung zum Rettungsassistenten. Sprechstunden zu begleiten. und Jendyk für das Hausärztliche Projekt Auch danach blieb er im Rettungsdienst schon länger ein Gruppentraining mit tätig und überbrückte so die Wartezeit Jendyk kennt die Praxis sehr gut. Bevor Nahtkurs am Schweinefuß sowie eines zur auf das Studium. „Durch die mittlerweile Knoblauch und Brauer deren Leitung Blutabnahme – in diesem Semester kann sechs bis sieben Jahre auf der Rettungswa- übernahmen, arbeitete der Mediziner und es erstmalig in der Münsteraner Campus- che Beckum konnte ich viele spannende Dozent dort einige Monate mit und half, Praxis stattfinden. Einblicke in die Notfallversorgung gewin- die Praxis aufzubauen. Hin und wieder nen. Mein Wunsch, Medizin zu studieren, besucht er die Räumlichkeiten noch – wie hat sich dadurch nur noch verstärkt“, sagt auch an diesem Vormittag. Den Patien- Hamatschek. ten K. hat er selbst schon behandelt. Vor einer Weile nahm ihn Jendyk sogar mit zu Übung macht den Meister Um mehr Facetten der medizinischen einem Kurs an der Uni. „Der interaktive Versorgung kennenzulernen, entschloss Austausch mit Patienten kann für Medi- Pünktlich um 14 Uhr erscheinen Hamat- er sich im ersten Semester zur Teilnahme zinstudenten nicht früh genug beginnen. schek und seine Kommilitonen in der am Projekt „Hausärztliche Versorgung“. Daher ist es toll, wenn sich Freiwillige wie Praxis. Doch bevor sie sich auf die „Es gab auch noch andere Projekte, zum Herr K. bereit erklären, mit in die Uni zu Schweinefüße und die Kanülen stürzen, Beispiel Transplantation oder Psychia- kommen“, so Jendyk. Auch K. erinnert sich bittet Maisel die Studenten, im Warte- trie, zwischen denen wir im Rahmen des noch gut: „Ich habe mich bei den 30 bis zimmer Platz zu nehmen. „Bevor es ans vorklinischen Kurses ‚Einführung in die 35 Studenten gut aufgehoben gefühlt. Das Eingemachte geht, würde ich gern die klinische Medizin‘ wählen konnten“, so habe ich gern gemacht.“ Kurzreferate hören, die Sie hoffentlich vor- der 26-Jährige. Mit ihm entschieden sich bereitet haben“, sagt Maisel. Ein selbstver- zwölf der 140 Studienanfänger dafür, zu- Genau wie heute – zufrieden verlässt K. ständliches Nicken zieht sich durch den nächst die hausärztlichen Tätigkeitsfelder mit einem neuen Termin die Praxis. Für Halbkreis. Zu zweit oder alleine stellen besser kennenzulernen. Hamatschek war der Vormittag eine inte- die Teilnehmer in fünf- bis zehnminütigen ressante und wertvolle Erfahrung. „Der Vorträgen Themen wie Blutdruck, EKG „Normalerweise kommt die allgemein- Arzt-Patienten-Kontakt hier in der Praxis und Wunden vor. Das für das Training medizinische Versorgung in einer Praxis ist schon besonders. Im Rettungsdienst umgebaute Wartezimmer bietet für Maisel nicht vor am Klinikum“, sagt Dr. Ralf kommt der leider aufgrund der vielen und seine Kleingruppe ausreichend Platz Jendyk, wissenschaftlicher Mitarbeiter Notfälle zu kurz.“ Facharzt für Allgemein- für das Seminar. Genauso gut könnten des Centrums für Allgemeinmedizin der medizin zu werden, kann er sich durchaus die Vorträge zwar in einem Lehrraum an Medizinischen Fakultät der WWU Müns- vorstellen, allerdings sei es noch zu früh, der Universität abgehalten werden, doch ter. Zusammen mit Prof. Peter Maisel, der sich festzulegen, so Hamatschek. Jendyk ein Blick in die Gruppe zeigt: Die Campus- das Centrum leitet, veranstaltet er das weiß jedoch aus jahrelanger Erfahrung, Praxis hat ihren eigenen Charme und Lehrprojekt „Hausärztliche Versorgung“. dass die Chancen nicht schlecht stehen. verschafft den Referierenden eine lockere Jendyk ist selbst Facharzt für Allgemein- „Studenten, die bereits viele Kenntnisse Atmosphäre. Maisel zeigt sich von den medizin, nicht nur deshalb ist es ihm über die medizinische Versorgung ins Vorträgen beeindruckt: „Man merkt, dass wichtig, den Erstsemestern das Fach Studium mitbringen, bleiben oft in der All- viele von Ihnen mit Vorerfahrung ins Stu- näherzubringen. „Wir wollen dieses gemeinmedizin hängen“, verrät er freudig. dium kommen.“ Er nutzt die Zeit zwischen „Ich finde es toll, dass wir hier die Gelegenheit bekommen, das Nähen zu üben. Das lernt man am besten in der Praxis.“ Matthias Hamatschek 14 KBV Klartext > 4. Quartal 2017
den Referaten für kurze Ergänzungen oder stellt der Gruppe Fragen zum Thema. So möchte er beispielsweise wissen, welcher Tierbiss die höchste Infektions- rate mit sich bringt. Die Gruppe guckt sich kurz fragend an. „Katze“, vermutet eine Teilnehmerin. „Es ist kein Tier, es ist der Mensch“, verrät der Allgemeinmediziner zur Verwunderung aller, „Katze ist aber auch nicht ganz falsch“. Für das anstehende Gruppentraining ist nun der Umgang mit Nadel und Faden gefragt. Im Nebenraum sind mehrere Schweinefüße vorbereitet. In einem zwei- ten Raum steht eine Liege zum Blutabneh- men bereit. Bevor Maisel die Studierenden in zwei Gruppen teilt, weist er sie in die jeweilige Übung ein. Er fängt im Raum Studentin Lisa Meyer mit den Schweinefüßen an und erklärt die übt das Blutabnehmen an Vorgehensweise: vom lokalen Anästheti- ihrem Kommilitonen. kum, der Auswahl der Fadenstärke, über alle, so wie es der Professor vorgemacht die richtige Technik mit dem Nadelhalter hat, mit Ringfinger und Daumen. Mit der bis zur Entfernung des Fadens. Maisel gibt anderen Hand führen sie die Nadel. An- den Erstsemestern mit auf den Weg: „Sei- fangs geht der ein oder andere Blick noch en Sie mit Ihrem Faden ja sparsam, sonst zum Nachbarn oder zu Maisel. Für viele meckert später die Schwester. Vor allem, ist das Nähen noch ungewohnt. Doch mit wenn der Faden 6,50 Euro kostet, Ihnen jedem Stich werden die Erstsemester siche- aber als niedergelassenem Arzt durch- rer. So auch Hamatschek: „Ich finde es toll, schnittlich 4,50 Euro für die Behandlung dass wir hier die Gelegenheit bekommen, zur Verfügung stehen“, sagt Maisel und das Nähen zu üben. Das lernt man am sorgt damit einmal mehr für Irritation besten in der Praxis.“ Zustimmung erhält unter den Teilnehmern. „Alter Kassenarzt- er von seinem Nebenmann: „Das stimmt. witz“, löst er die Situation schnell auf. Zudem ist es eine schöne Abwechslung zu Chemie und Physik.“ Nun geht es geschlossen zur nächsten Station, der Blutabnahme. Maisel spielt Als alle ihre Naht wieder gezogen haben, zuerst selbst das Versuchskaninchen und wechselt die Gruppe um Hamatschek in legt sich auf die Liege. Die Studierenden den Raum zur Blutabnahme. Den Anfang versammeln sich um ihn. Während Anne- machen Hamatschek und seine Kommili- gret Timpe – medizinische Fachangestellte tonin Lisa Meyer. Diese geht mit Bedacht in Professor Maisels Gemeinschaftspraxis vor. „Es ist das erste Mal, dass ich jeman- im niedersächsischen Emsbüren – den dem Blut abnehme: ein wenig aufregend.“ Arm fixiert, die Stelle an der Armbeuge Arm stauen, desinfizieren, Nadel in die desinfiziert und schließlich mit der Nadel Vene einführen und schließlich das Blut zusticht, erklärt der Professor wieder die abziehen – jede Bewegung sitzt. Mulmig richtige Vorgehensweise. So sei es zum Bei- war Hamatschek während der Übung spiel nach der Desinfektion wichtig, dass nicht zumute. „Ich finde, sie hat das prima die Stelle einigermaßen trocken ist. Sonst gemacht.“ Auch bei den nächsten Zweier- könne es ein unangenehmes Brennen beim Teams verlaufen die Übungen nahezu Patienten verursachen, so Maisel. reibungslos. Am Ende des Workshops sind sich die Nachwuchsmediziner einig: Nun teilt er die Studierenden in zwei Solche Nachmittage wie in der Campus- Gruppen: Die eine Hälfte übt das Blutab- Praxis dürfte es nach ihrem Geschmack nehmen. Der Rest geht mit Maisel zum öfter geben. Doch fürs Erste steht Montag Nahtkurs. Sofort wollen sie das Gelernte in wieder Chemie auf dem Lehrplan. die Tat umsetzen – von Berührungsängs- ten keine Spur. Den Nadelhalter halten Nicolas Ebert KBV Klartext > 4. Quartal 2017 15
T hema Ärztehonorare: Kein „Weiter so!“ Nach den Honorarverhandlungen mit den Krankenkassen und vor der Bildung einer neuen Bundesregierung hat der Vorstand der KBV einer alten Forderung neues Gewicht verliehen: der Abschaffung der Budgets. Vorschläge, wie das gelingen kann, liefert die KBV gleich mit. D ie Verhandlungen waren zäh, am Ende musste der Schlichter entscheiden. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und die KBV konnten Ende Septem- ursprünglich eine Anhebung des Orien- tierungswertes um 2,4 Prozent gefordert. Begründet hatte sie dies vor allem mit steigenden Praxiskosten, insbesondere beim Personal. Der GKV-Spitzenverband ber keine Einigung über die vertragsärzt- war zunächst gegen eine Erhöhung. Die lichen Honorare 2018 erzielen. Die von den Entscheidung fiel im Erweiterten Bewer- Kassen geforderte Nullrunde konnte zwar tungsausschuss (dem Gremium, das tätig abgewendet werden, dennoch war der Vor- wird, wenn es im Bewertungsausschuss stand der KBV alles andere als zufrieden keine Einstimmigkeit gibt), gegen die mit dem Resultat. Stimmen der KBV. Außerdem müssen die Krankenkassen rund 80 Millionen Euro zusätzlich bereitstellen, um den durch Demografie und Krankheitslast steigenden Behandlungsbedarf der Versicherten zu Verhandlungsergebnis 2018 decken. Des Weiteren müssen die Kassen den Kassenärztlichen Vereinigungen für Der Orientierungswert für die vertrags- 2015 weitere 8,5 Millionen Euro nach- ärztliche Vergütung steigt im Jahr 2018 um zahlen, da der Behandlungsbedarf von 1,18 Prozent. Das entspricht einer Hono- Akuterkrankungen wie Grippe in eini- rarerhöhung von etwa 438 Millionen Euro. gen Regionen stärker gestiegen war als Damit entspricht ein Punkt im Leistungs- erwartet. Insgesamt erhöht sich damit die verzeichnis des Einheitlichen Bewertungs- Gesamtvergütung im nächsten Jahr um maßstabes ab dem 1. Januar 2018 einem rund 525 Millionen Euro. Aktuell beträgt Wert von 10,6543 Cent. Die KBV hatte sie rund 37 Milliarden Euro. 16 KBV Klartext > 4. Quartal 2017
Ein weiterer Beschluss betrifft die haus- nerationen sicherstellen wolle, könne dies ärztliche Vergütung. Ab 2018 sollen die nur erreichen, wenn medizinische Leis- Gelder für den Einsatz nichtärztlicher Pra- tungen zu festen Preisen ohne sachfremde Der von der KBV geforderte Um- xisassistenten (NäPAs) bei Hausärzten in Mengensteuerung vergütet würden. bau des Vergütungssystems zu die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung einem nicht budgetierten umfasst überführt werden. Nicht verbrauchte Mit- Die KBV hat bereits ein Konzept entwi- unter anderem folgende Elemente: tel sollen so für andere hausärztliche Leis- ckelt, wie die Budgetierung im ambulan- tungen verwendet werden können. Dies ten Bereich schrittweise abgelöst werden > Variable Faktoren wie demo- hatte die KBV schon wiederholt gefordert. könnte. Sie sieht hierzu ein zweistufiges grafische Entwicklung und tech- Hintergrund ist, dass das seit 2015 zur Verfahren vor. Kurzfristig könnten zu- nischer Fortschritt sollen durch Verfügung stehende Finanzvolumen zur nächst diejenigen Leistungen ausbudge- Anreizwirkungen so ausgeglichen Vergütung der NäPAs in Höhe von jährlich tiert werden, bei denen die Gefahr einer werden, dass das System insge- 118 Millionen Euro bundesweit nicht voll nicht sachgerechten Mengenausweitung samt stabiler wird. ausgeschöpft wird. Die KBV hatte im Lauf gering ist. Dies betrifft vor allem die so- der Verhandlungen neue strukturelle genannten Grundleistungen in der haus- > Risikoadjustierte Pauschalen Förderungen vorgeschlagen, etwa bei der beziehungsweise fachärztlichen Versor- sollen sowohl Unterversorgung Behandlung von chronisch Kranken sowie gung, welche die Ärzte heute schon zu als auch Risikoselektion vermei- multimorbiden Patienten. Diese hatte die einem großen Teil in Form von Pauschalen den helfen. Kassenseite jedoch abgelehnt. abrechnen. In einem zweiten Schritt will die KBV das jetzige Vergütungssystem zu > Im Gegenzug soll eine bessere einem nicht budgetierten umbauen und Kontrolle der Fixkosten erfolgen. hat bereits damit begonnen, ihre Vorschlä- ge mit anderen ärztlichen Verbänden zu > Bestimmte Leistungen werden Ablösung der Budgets erörtern. Rückendeckung für das große weiterhin als Einzelleistungen Ziel „weg mit den Budgets“ dürfte ihr vergütet. Der Vorstand der KBV machte keinen Hehl sicher sein. aus seinem Missfallen. Angesichts spru- Alexandra Bodemer delnder Krankenkasseneinnahmen und hoher Rücklagen sei es weder den Ärzten noch den Patienten zu vermitteln, dass zwanzig Prozent des ärztlichen Tuns nach wie vor nicht bezahlt werden, kritisierte er. Wer die Versorgung auch für künftige Ge- Drei Fragen an ... DR. andreas Gassen Vorsitzender des Vorstandes der KBV abschreckend auf den ärztlichen Nach- tigen Koalitionspartnern diesen Punkt mit wuchs und ist frustrierend für die Kollegen auf den Weg zu geben. in der Praxis. Aber das System muss dennoch bezahl- Warum erneuern Sie Ihre Forderung nach bar bleiben … Abschaffung der Budgets gerade jetzt? Selbstverständlich. Deshalb schlagen wir Die Budgetierung der vertragsärztlichen Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Zum ja auch ein Mischsystem vor aus Pauscha- Vergütung soll helfen, die Kosten im einen die jüngste Erfahrung der Honorar- len als mengenbegrenzende Maßnahme Rahmen zu halten. Wo ist das Problem? verhandlungen. Salopp gesagt: Die Kran- und Einzelleistungsvergütung. Wir haben kenkassen sitzen auf einem Sack voll Geld das Ganze auch schon einmal näherungs- Natürlich wissen wir auch, dass der Him- und sind dennoch nicht bereit, mit uns weise durchgerechnet. Der Mehrbedarf für mel in diesem Bereich nicht nach oben über sinnvolle Strukturverbesserungen zu den fachärztlichen Versorgungsbereich offen ist. Dennoch kann es nicht sein, reden. Der zweite Grund ist, dass wir vor etwa würde in der ersten Ausbaustufe dass Ärzte und Psychotherapeuten einen der Bildung einer neuen Bundesregierung unseres Vergütungskonzeptes einen nied- messbaren Anteil ihrer Arbeit nicht bezahlt stehen. Gesundheitspolitik hat sowohl im rigen mittleren dreistelligen Millionen- bekommen. Der Bäcker gibt Ihnen ja auch Wahlkampf als auch in den Verhandlungen betrag beanspruchen. Zur Erinnerung: nicht jedes fünfte Brötchen gratis. Dieses danach keine allzu große Rolle gespielt. Ende 2016 hat die GKV 25 Milliarden Euro finanzielle Korsett wirkt nachweislich Für uns ist das ein Grund mehr, den künf- auf der hohen Kante gehabt. KBV Klartext > 4. Quartal 2017 17
i n tervie w „Wir sind nicht der Moralgerichtshof der Republik.“ Professor Peter Dabrock ist Vorsitzender des Deutschen Ethikrates. Im Klartext-Interview erklärt er, warum der Datenschutz im Gesundheitswesen neu definiert werden sollte und warum das System der gesetzlichen Krankenversicherung einen befriedenden Einfluss auf die Gesellschaft hat. Der Deutsche Ethikrat befasst sich mit Kategorie haben wir die Möglichkeit, Jahre später – nahezu eins zu eins vom einer großen Palette gesellschaftlich mit einer Ad-hoc-Empfehlung kurzfris- Bundesverfassungsgericht aufgegriffen relevanter Fragen. Nach welchen Krite- tig zu reagieren. Dies war zum Beispiel worden. rien wählen Sie Ihre Themen? der Fall bei dem Thema Beschneidung. Ausschlaggebend für die Themenwahl Im Bereich Gesundheit hat der Ethikrat Vorrang haben zunächst einmal diejeni- ist nicht unbedingt, dass möglichst viele das Thema „Big Data“ zu einem Arbeits- gen Themen, mit denen uns die Bundesre- Leute betroffen sind. Es kann durchaus schwerpunkt erklärt. Warum? gierung oder der Bundestag beauftragen. sein, dass an Fragen, die vermeintlich nur Das betrifft vor allem ethische Fragestel- wenige Menschen betreffen, etwas sehr Wir haben uns für den Schwerpunkt „Big lungen aus dem Bereich der Lebenswis- Grundsätzliches deutlich wird. Das gilt Data und Gesundheit“ entschieden, weil er senschaften und damit auch der Medizin. etwa für das Thema Intersexualität. Der eine wichtige Brücke darstellt. Zum einen Wenn wir selbst ein Thema wählen, so Ethikrat hat bereits im Jahr 2012 eine Stel- ist die Gesundheit ein Thema, das viele unterscheiden wir zwischen solchen, die lungnahme zum Umgang mit Menschen Menschen sehr grundlegend beschäftigt. „jetzt dringlich“ sind und solchen, die mit unklarem Geschlecht verfasst. Diese In der Kombination mit Big Data machen „bleibend wichtig“ sind. In der ersten Empfehlungen sind jetzt – mehr als fünf wir darauf aufmerksam, dass längst alle 18 KBV Klartext > 4. Quartal 2017
Lebensbereiche von der Digitalisierung Wenn der Patient diese Datensouverä- Blick auf die Position „dafür“ und „dage- durchdrungen sind. Das bedeutet eine ent- nität behalten oder erlangen soll, muss gen“. Man entschied sich, die Argumente scheidende Veränderung für das persön- er wissen, wann wo welche Daten vor- beider Seiten offenzulegen, ohne dem liche und gesellschaftliche Verständnis handen sind. Ist das nicht der eigentliche Bundestag oder der Öffentlichkeit eine ab- von Gesundheit und Krankheit. Für mich Knackpunkt? schließende Empfehlung zu geben. Auch ist hierbei das Faszinierende, dass wir an mit einem solchen Vorgehen kann man einem für die Menschen enorm wichtigen Im Grunde gibt es zwei Sphären, in denen erheblich zur Entscheidungsfindung jedes Themenfeld zugleich, quasi paradig- die Frage von Big Data und Gesundheit Einzelnen beitragen. matisch, etwas noch Grundsätzlicheres relevant wird. Zum einen der eher offene thematisieren. Deshalb ist es zu dieser Bereich, der etwa in den sogenannten Ich nenne Ihnen jetzt zwei Aussagen. Zeit das geradezu perfekte Thema für den Wearables genutzt wird, der nicht den Erstens: Neue Technologien müssen ma- Ethikrat. klassischen Medizinstandards entspricht. ximal genutzt werden – nur so ist echter Hier geht es vor allem darum, die Men- medizinischer Fortschritt überhaupt Zu welchem Ergebnis sind Sie bei schen im Sinne einer digitalen Bildung möglich. Zweitens: Technische Machbar- Ihren Beratungen gekommen? dafür zu sensibilisieren, dass sie kritisch keit allein darf kein Freifahrtschein sein. mit diesen ganzen Mustererkennungen Beide Positionen lassen sich ethisch Zunächst einmal erkennt der Deutsche umgehen und dass eine App auf Kau- begründen, oder? Ethikrat an, dass wir in einer digitalen gummiautomatenniveau nicht ernsthaft Gesellschaft leben. Das heißt, wenn wir für medizinische Fragen herangezogen Absolut. Ich komme noch einmal auf das die Vorteile von Big Data im Gesundheits- werden sollte. Der andere Bereich ist die Beispiel Big Data zurück. Einerseits muss bereich nutzen wollen, dann müssen medizinisch-relevante Forschung. Auch man sich fragen, um welcher Ziele Willen wir uns eingestehen, dass wir mit dem dort müssen Patienten und Probanden die man diese Technologien nutzt. Man muss gut bewährten Paradigma der informa- Möglichkeit haben, die Nutzung ihrer Da- sich zweitens fragen, ob diese Technolo- tionellen Selbstbestimmung und der ten weiterverfolgen zu können. Sie sollten gien nicht bereits ein so intrinsischer Teil alten Datenschutzprinzipien nicht mehr sich außerdem proaktiv als Proben- oder unserer Lebenswelt geworden sind, dass einfach fortfahren können. Der effektive Datenspender einsetzen können. Für den ein Sich-zurückbeamen-wollen in eine Datenschutz – gerade im Umgang mit Ethikrat spielt in diesem Zusammenhang „Vor-Big-Data“-Zeit einfach nicht realis- hochsensiblen Daten – würde dadurch auch der Gedanke der Solidarität eine tisch ist. Und eine Ethik, die wirklichkeits- geschwächt. Wir schlagen deshalb vor, große Rolle. Wir brauchen eine Transfor- fremd ist, muss sich fragen, ob sie ihrer vom „Datenschutz“ auf ein neues Konzept mation des alten „informed consent“, also Aufgabe gerecht wird. Drittens muss man der „Datensouveränität“ umzusteigen. Wir der informierten Einwilligung. Hierfür schauen, welche allgemeinen Normen nennen das „informationelle Freiheitsbe- machen wir in unserer Stellungnahme und Grundrechte durch den Einsatz einer stimmung“. Um diese Datensouveränität einen entsprechenden Vorschlag. bestimmten Technologie tangiert sind. des Einzelnen zu gewährleisten, müssen Das sind für mich die drei entscheidenden neue technische Möglichkeiten geschaffen Der Ethikrat hat 26 Mitglieder mit unter- Fragen: Was sind die Ziele? Wie realistisch werden – etwa Schnittstellen, die es dem schiedlichem professionellem Hinter- ist das Ganze? Welche Grundrechte sind Einzelnen erlauben, in den Verwertungs- grund. Sie selbst sind Theologe und Phi- betroffen? Die Frage, ob wir eher Fort- prozess seiner persönlichen und vor allem losoph. Liegen Sie oft mit den Medizinern schrittsgläubige oder Technikfeinde sind, gesundheitsbezogenen Daten jederzeit in Ihrem Gremium „über Kreuz“? Wie würde ich demgegenüber als sekundär eingreifen zu können, also eine Kontroll- kommen Sie trotzdem zu gemeinsamen betrachten. möglichkeit zu besitzen. Stellungnahmen? Wenn Patienten heutzutage in die Pra- Zum anderen weisen wir darauf hin, dass Der Ethikrat soll die Pluralität der Gesell- xis kommen, haben sie oft schon ihre sich im Kontext von Big Data die klassi- schaft widerspiegeln. Deswegen wäre Symptome gegoogelt oder konfrontieren sche Unterscheidung von Medizinbereich es geradezu alarmierend, wenn es keine ihren Arzt mit Werten einer Gesundheits- und Nichtmedizinbereich verflüchtigt. Kontroversen gäbe. Wir sind nicht der Mo- App. Ist das aus Ihrer Sicht ein Risiko Aus jedem Datum kann ein gesundheits- ralgerichtshof der Republik. Wir sind dazu oder eine Chance für die Arzt-Patienten- relevantes Datum werden. Ein Beispiel: da, ethische Kontroversen aufzudecken Beziehung? Facebook arbeitet an einem Tool, mit dem und zu debattieren. Dort, wo es mög- aus der sozialen Kommunikation eines lich ist, versuchen wir sozusagen einen Patienten, die mit einem „gesunden Halb- Nutzers identifiziert werden kann, ob Korridor der Orientierung anzubieten, in wissen“ daher kommen, sind vielleicht jemand eine Neigung zu Depressionen hat dem durchaus unterschiedliche Positionen schwieriger zu behandeln als andere. oder gegebenenfalls sogar suizidgefährdet zum Tragen kommen können. Um das zu Aber es bringt nichts, sich nach einer Zeit ist. Soll man ein solches Tool installieren, erreichen, ringen wir bei jeder Stellung- zurückzusehnen, die es nicht mehr gibt, oder ist das etwas, was zu stark in die Per- nahme, manchmal bis wenige Minuten vor sondern man muss mit dieser Situation sönlichkeitssphäre des Einzelnen eintritt? Verabschiedung des endgültigen Textes. umgehen. Patienten, die eine seltene Dabei stellt sich auch die Frage, welche Natürlich versuchen wir, eine möglichst Erkrankung haben, und sich etwa in einer Daten werden wie miteinander vermischt hohe Gemeinsamkeit zu erzielen, weil Selbsthilfegruppe organisieren, sind oft und dürfen miteinander vermischt wer- das schon ein starkes Signal ist. Aber wir exquisite Experten. So etwas sollte man den? Bei Big Data geht es ja darum, Muster trachten nicht nach Konsens nur um des als Arzt dankbar zur Kenntnis nehmen zu erkennen. Das kann gravierende Folgen lieben Friedens willen. Nehmen wir die und das eigene Tun noch dialogischer für den Einzelnen haben. Deshalb ist die Stellungnahme zur Präimplantationsdia- gestalten. Was die anderen betrifft: Ja, es Qualität der Daten so wichtig, damit nicht gnostik aus dem Jahr 2011. Der damalige wird sicher anstrengender für den Arzt. falsche Schlüsse gezogen werden. Rat war quasi „fifty fifty“ aufgeteilt mit Dessen Kompetenz wird sich auch daran > KBV Klartext > 4. Quartal 2017 19
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