Arbeit und Leben 2020 - Wie ein Virus unseren Alltag verändert - Zeitschrift des Deutschen Ärztinnenbundes e.V - Deutscher Ärztinnenbund eV
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67. Jahrgang . ISSN 0341-2458 08 | 2020 Zeitschrift des Deutschen Ärztinnenbundes e.V. Arbeit und Leben 2020 Wie ein Virus unseren Alltag verändert
INHALT/IMPRESSUM Inhalt ärztin Offizielles Organ des Deutschen Ärztinnenbundes e. V. ISSN 0341-2458 Herausgegeben vom 03 Editorial Deutschen Ärztinnenbund e. V. PD Dr. med. Barbara Puhahn-Schmeiser Präsidentin: Dr. med. Christiane Groß, M.A. E-Mail: gsdaeb@aerztinnenbund.de 04 Gastbeitrag Redaktion und V.i.S.d.P.: Edith Heitkämper Alexandra von Knobloch Pressereferentin des Deutschen Ärztinnenbundes Journalistinnen wollen die Hälfte – auch bei E-Mail: presse@aerztinnenbund.de Expertinnen in den Medien Redaktionsausschuss: 05 Schwerpunkt: Arbeit und Leben 2020 – Dr. med. Christiane Groß, M.A. Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk Wie ein Virus unseren Alltag verändert Dr. med. Heike Raestrup Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk PD Dr. med. Barbara Puhahn-Schmeiser Dr. med. Margret Stennes Dr. med. Arndt Berson Geschäftsstelle des DÄB Rhinstraße 84, 12681 Berlin Aurica Ritter, Philip Plättner Tel.: 030 54 70 86 35 Im Interview: Dr. jur. Berit Jaeger Fax: 030 54 70 86 36 E-Mail: gsdaeb@aerztinnenbund.de 13 Dr. med. Christiane Groß, M.A. Wir bitten alle Mitglieder, uns ihre aktuelle Spitzenfrauen Gesundheit jetzt ein Verein E-Mail-Adresse mitzuteilen 14 Deutscher Ärztinnenbund Grafikdesign: d‘sign, Anne-Claire Martin „Mutige Löwin“ für PD Dr. Doreen Richardt: Auszeichnung Mommsenstraße 70, 10629 Berlin für den Kampf für gerechte Arbeitsbedingungen Tel.: 030 883 94 95 E-Mail: anneclaire.martin@berlin.de 14 Im Interview: Prof. Dr. Regine Graml, M.A. Druck: „Langfristig schadet schlechte Führung einem DBM Druckhaus Berlin-Mitte GmbH Unternehmen immer“ Wilhelm-Kabus-Straße 21-35, 10829 Berlin 16 Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk Buchbesprechung: Die aktuelle Sicht auf die Wechseljahre Die Zeitschrift erscheint dreimal pro Jahr. 17 Prof. Dr. med. Dorothée Nashan Heftpreis 5 Euro. Bestellungen werden von der Geschäftsstelle Dermatologie: Eine Karriereoption für Ärztinnen entgegengenommen. Für ordentliche Mitglieder des DÄB ist der Be- 18 Christine Hidas zugspreis durch den Mitgliedsbeitrag abgegolten. Notfallmedizin: Wo sind die Frauen auf Tagungen Redaktionsschluss der Ausgabe 03/2020: 25. September 2020 und in Zeitschriften? Fotos: 20 Aus dem Verband Titelseite: 123rf_Iurii Stepanov, 123rf_ Kateryna Kon Neue Mitglieder • Wir gratulieren Seite 10: 123rf_ Melinda Nagy, Seite 13: 123rf_ Siam Pukkato, Seite 15: Pixabay, Seite 17: 123rf_ serezniy, Seite 19: 123rf_ Albert Yuralaits 21 Forum 60 plus • Aus den Regionalgruppen: Gießen • Leipzig • Münster • Wiesbaden-Mainz Haftungsbeschränkung Der DÄB übernimmt weder die Verantwortung für den Inhalt noch die geäußerte Meinung in den veröffent 23 Prof. Dr. med. Julia Stingl lichten Beiträgen. Für unverlangt eingesandte Manu Einstieg in den Ärztinnenbund – skripte und Fotos übernehmen wir keine Haftung. Auch in Corona-Zeiten positiv Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des jeweiligen Autors oder der jeweiligen Autorin und nicht immer die Meinung der Redaktion 24 Save the Date: Gemeinsamer Kongress der wieder. Wir behalten uns das Recht vor, Beiträge und Ärztinnen in der DACH-Region auch Anzeigen nicht zu veröffentlichen. 2 ärztin 2 August 2020 67. Jahrgang
EDITORIAL Liebe Kolleginnen, ich kann mich noch sehr genau an den von 174 TV-Informationssendungen mit Beginn dieses Jahres erinnern. Es fing an Corona-Bezug im April zeigte, dass auf wie immer – mit dem Unterschied, dass eine Expertin vier männliche Experten aus China von einer grippeähnlichen kamen. ProQuote fand: Uns reicht’s und Erkrankung berichtet wurde. In welchem hat Corona-Expertinnen gesammelt. Ausmaß das verantwortliche Virus unse Auch Pro Quote Medizin und der DÄB ren Alltag verändern wird, drang jedoch haben die Aktion unterstützt. Mehr dazu erst in unser Bewusstsein, als sich plötzlich die Fälle in im Gastbeitrag (Seite 4). Ähnlich ernüchternd: Die Si- Italien und Spanien häuften und europäische Gesund- tuation bei medizinischen Fachkongressen und in me heitssysteme unter der Corona-Last zu zerbrechen dizinischen Zeitschriften. Eine Studie aus der Notfall- drohten. Nach dem ersten Krankheitsfall in Deutsch- medizin zeigt auch Lösungswege auf (Seite 18-19). land, am 27. Januar, war man noch eher abwartend. Im März passierte dann alles ganz schnell: 3. März – Erschüttert hat den DÄB der Mobbing-Skandal um un- Absage der Leipziger Buchmesse, 13. März – Ankün- ser engagiertes Mitglied PD Dr. Doreen Richardt. Der digung der Schul- und Kitaschließungen, 18. März – NDR hat die Vorgänge ab Mai in einer Reihe von Be- Fernsehansprache der Bundeskanzlerin. richten, in denen auch die Herzchirurgin sich äußerte, öffentlich gemacht (Seite 14-15). So kamen Zustände Meine persönliche Herausforderung bestand dann da- im hierarchisch geprägten Medizinsystem ans Licht, rin, gemeinsam mit meinem Mann die Betreuung un- von denen wir im DÄB leider immer wieder hören. Die seres eineinhalbjährigen Sohnes irgendwie mit Tele- Belastung für Betroffene ist enorm, nur wenige können fonkonferenzen, Forschungsaktivitäten, E-Mails etc. darüber sprechen. Das ist nur zu verständlich, spielt unter einen Hut zu bekommen. Ein Szenario, das si- dem ungesunden System aber in die Karten. cher vielen nur allzu gut bekannt ist. Spontan wurde Doreen Richardt als „Mutige Löwin“ Es gab jedoch zahlreiche weitere Themen, die mich vorgeschlagen – und der DÄB und die Stifterin Elke während dieser Zeit beschäftigt haben. Fürchterlich Burghard haben sich entschieden, ihr diese Auszeich- erschreckt haben mich beispielsweise Berichte über nung abweichend vom zweijährigen Turnus sofort zu die erhöhte Gewaltbereitschaft gegenüber Frauen und verleihen. Im Oktober wird die Anstecknadel überge- Kindern in dieser Zeit. Aber auch Berichte über den ben. Rückfall in alte Rollenmuster schockierten mich. Noch ist nicht absehbar, wie nachhaltig Corona unsere Ge- Ich wünsche Ihnen viel Kraft und Gesundheit in die- sellschaft und auch die Situation von Frauen verän- sem außergewöhnlichen Jahr! dert. Für diese ärztin haben wir viele verschiedene Blickpunkte und Analysen gesammelt. Unter anderem diesen: Fast nur Männer dürfen die Welt erklären. Wer die Berichterstattung zur akuten Pandemie-Hochzeit verfolgt hat, musste diesen Ein- druck unmittelbar gewinnen. Eine Studie im Auftrag PD Dr. med. Barbara Puhahn-Schmeiser, der MaLisa Stiftung hat ihn bestätigt. Eine Auswertung Vizepräsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes ärztin 2 August 2020 3
GASTBEITRAG Journalistinnen wollen die Hälfte – auch bei Expertinnen in den Medien Foto: © Ulla Brauer, NDR EDITH HEITKÄMPER Männer erklären die Corona-Krise. Dieser Eindruck war so übermächtig, dass ProQuote Medien die Aktion #Coronaexpertin gestartet hat. Der Verein traf damit einen Nerv bei vielen Wissenschaftlerinnen. Was sich Journalistinnen wünschen, um Expertinnen das angemessene Gehör zu verschaffen. S eit ein paar Wochen verbreitete sucht seit Jahren, bei der Hälfte aller ßern wie Männer. „Wir sind die Hälfte, wir sich das neue Corona-Virus in Äußerungen in Radio und Fernsehen wollen die Hälfte“, so unser Slogan von Deutschland. Die Zeitungen und Frauen zu Wort kommen zu lassen. Das ProQuote Medien zu Frauen in Führungs- Online-Portale waren voll davon. Im Ra- klappt nicht immer. Aber beispielsweise positionen. Das gilt auch für Expertinnen dio und Fernsehen gab es jeden Tag in Nachrichtensendungen bezahlt man in den Medien. Wir Journalist*innen Sondersendungen. Und wer erklärte uns die Autor*innen dafür, dass sie etwas sollten deshalb stets genauso nach der die Krise? Experten aus der Virologie, Im- mehr Zeit brauchen, um in einem Fach- Expertin wie nach dem Experten suchen. munologie, Epidemiologie. Ja, ExpertEN. gebiet für ein Statement auch eine Frau Unsere Liste #Coronaexpertin kann da- zu finden. bei Hilfe sein, die Recherche abnehmen Warum waren nicht annähernd so viele kann sie nicht. ExpertINNEN in den Medien wie Män- Seit Anfang Mai ist unsere Liste #Coro ner? Da hieß es oft: Es gibt sie nicht. Das naexpertin auf unserer Webseite www. Mehr Frauen sollten „ja“ sagen ist in wenigen Fällen nachvollziehbar, pro-quote.de veröffentlicht. Und noch wenn Wissenschaftler genau über Coro jetzt bekommen wir neue Namen ge- Ich persönlich, die ich als Journalistin na-Viren und nicht über HIV oder Ebola nannt. Dutzende Wissenschaftlerinnen für eine Medizinsendung arbeite, würde forschen. Aber ansonsten: die schlech- schrieben uns, die Kampagne habe ih- mir wünschen, dass Ärztinnen und For- teste Ausrede. Denn auch bei allgemei- nen aus der Seele gesprochen. Auch sie scherinnen bewusst „ja“ sagen, wenn sie neren Interviews, in denen es um eine hätten die übergroße Männerpräsenz angefragt werden. Dass sie nicht zögern, Einordnung der Lage ging, um Erfahrun- nicht mehr ertragen. Unseren Vorstoß zu auch wenn sie nicht mehrere Jahre über gen im klinischen Alltag oder all die Maß- mehr Diversität in der Berichterstattung genau dieses Thema geforscht haben. nahmen, wie man sich als Gesellschaft unterstützen zudem viele Männer. Dass sie, wenn sie den Termin nicht schützen könnte – auch da waren es wahrnehmen können, andere Frauen fast nur Männer, die sprachen. Aber es gibt auch andere: Die Experten empfehlen. Denn auch das war eine Re- hätten die Krise doch gut erklärt. Au- aktion auf unsere Kampagne: Ein Hör- Vorbild: 50:50 Projekt der BBC ßerdem sei inzwischen die Mehrzahl funk-Redakteur erzählte, wie er, nach- der Studierenden in der Medizin weib- dem ihm mehrere Frauen im Lauf des Uns von ProQuote Medien reichte es! lich und darum würde sich das Problem Tages abgesagt hatten, am Ende einen Deshalb haben wir unter dem Hashtag demnächst ohnehin von selbst erledi- Mann für das Interview nehmen musste. #Coronaexpertin eine Liste gestartet und gen. Aha. Das hat ja schon mal gut ge- So etwas sollte noch seltener werden. einfach gesammelt: Wissenschaftlerin- klappt in den letzten Jahrzehnten. nen, die zur Corona-Krise etwas zu sa- Edith Heitkämper ist Vorsitzende von gen haben. Immunologinnen, Infektiolo- Was hat sich seit der Liste geändert? Bei ProQuote Medien. Der Verein setzt sich ginnen, Virologinnen, Epidemiologinnen, jeder weiblichen Stimme, die in den Me- seit 2012 für mehr Frauen in Führungs- aber auch Wirtschaftswissenschaftlerin dien zu Corona-Fragen vorkommt, haben positionen in den Medien ein. Sie arbei- nen, Psychologinnen, Pädagoginnen. In- wir die Hoffnung, unsere Initiative könnte tet als Redakteurin für das Gesundheits- spiriert ist diese Aktion durch das 50:50 einen Anstoß dazu gegeben haben. Un- magazin „Visite“ im NDR Fernsehen. Projekt in der BBC. Der öffentlich-recht- ser Ziel: Es sollte normal sein, dass sich liche Rundfunk in Großbritannien ver- genauso viele Frauen zu Fachfragen äu- E-Mail: edith.heitkaemper@pro-quote.de 4 ärztin 2 August 2020 67. Jahrgang
ARBEIT UND LEBEN 2020 Corona-Krise und Gendermedizin: Mehr Aufmerksamkeit, aber viele offene Fragen Foto: privat PROF. DR. MED. GABRIELE KACZMARCZYK Angesichts der beispiellosen Umstände der Corona-Krise hatte der Deutsche Ärztinnenbund im April gefordert, die Genderforschung in medizinischen und sozialen Fragen zu intensivieren. Aktuell gibt es nun viele Veröffentlichungen zu „Corona und Gender“ – wie schön, dass Genderfragen ins Bewusstsein kommen und bearbeitet werden! Mit drei Publikationen möchte ich Sie hier bekannt machen. Sie be- leuchten das Thema aus verschiedenen Perspektiven. schnitt 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf VERSCHÄRFUNG VON PROBLEMEN als Männer. Dieser Unterschied wird als „Gender Care Gap“ be- zeichnet. Ob sich dieser Graben nach der Krise weiter öffnet Corona und Gender – ein geschlechts- oder sich die Hoffnung erfüllt, dass er sich schließt, weil wir bezogener Blick auf die Pandemie und alle (!) aus der Krise gelernt haben? Das ist derzeit offen. ihre (möglichen) Folgen Überlastung und Konflikte sind programmiert, wenn Berufs- Die Politikwissenschaftlerin Dr. Regina Frey, Leiterin der Ge- tätigkeit, Haushalt, Kinderbetreuung und Schulunterricht in schäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregie- einem engen familiären Umfeld stattfinden müssen. Und wer rung, hat mit ihrem Arbeitspapier Aufmerksamkeit erregt. Sie macht das meiste: die Frauen, die überdies in Corona-Zeiten listet darin auf, welche geschlechtsrelevanten sozialen Pro- noch häufiger Opfer häuslicher Gewalt sind. bleme die Corona-Pandemie verschärft hat. Ähnlich war es schon 2008 Sie berichtet, dass Forderungen zur Aufwertung sogenannter systemrelevanter Berufe in der Sorge- und Care-Arbeit schon Schon in der Wirtschaftskrise 2008 erhielten bedeutend mehr lange vor Corona auf dem Tisch der politischen Entschei- Männer Kurzarbeitergeld als Frauen. Zudem bekamen die dungsträger lagen: bessere Arbeitsbedingungen, angemesse- Frauen – weil sie oft weniger verdienen als Männer – natür- nere Bezahlung, Aus- und Weiterbildung. Dort liegen sie immer lich weitaus geringere Beträge. Die berechtigte Frage nach noch. „Es sind die Frauen, die das Land rocken“, zitiert Frey der Unterstützung, wenn Zehntausende weibliche Beschäf- den Berliner Tagesspiegel und verweist auf die zahlreichen tigte ihren Job verlieren – wie etwa bei der Drogeriekette Dankesbekundungen, auch von hochrangigen Politiker*innen, Schlecker –, hatte schon in der damaligen Krise keine politi- an Supermarktkassiererinnen und Pflegerinnen. schen Konsequenzen. Im Gesundheitsbereich arbeiten fast sechs Frey appelliert: In der Pandemie muss die Po- Millionen Menschen, davon sind etwa vier litik Rechenschaft darüber ablegen können, Millionen Frauen. In der Krise erledigen wie sich alle getroffenen Maßnahmen auf sie ihre Arbeit unter großer Belastung Männer und auf Frauen auswirken, ein und mit einem hohen persönlichen Infek- geschlechtssensibler Blick mit entspre- tionsrisiko. Sie wurden als letzte Bevöl- chenden Konsequenzen ist notwendig! kerungsgruppe überhaupt wirksam ge- schützt. Download des Arbeitspapiers von Regina Frey: http://www.gender.de/cms-gender/wp- Mehr unbezahlte Sorgearbeit content/uploads/gender_corona.pdf Doch die Care-Krise betrifft nicht nur die be- Das Corona-Virus prägt das Jahr 2020 beruflich, privat und in der zahlte Sorgearbeit. Frauen wenden pro Tag im Durch- Wissenschaft ärztin 2 August 2020 5
ARBEIT UND LEBEN 2020 Geschlechtern. Medikamente, die jetzt als Therapie bei der Co- WECHSELWIRKUNG GESCHLECHT rona-Infektion getestet werden, müssen die Vulnerabilität der UND GENDER kardialen Erregungsleitung (QT-Verlängerung) bei Frauen mit berücksichtigen, ebenso spielt die höhere Nebenwirkungsrate The impact of sex and gender in the bei verschiedenen Arzneien bei Frauen eine Rolle. COVID-19 pandemic Genderspezifische Risiken bergen die meist von Frauen ge- Prof. Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione ist Professorin für leisteten Arbeiten in der Gesundheitsversorgung ohne eine ad- Gendermedizin an der Radboud Universität in Nijmegen, äquate, individuell angepasste Schutzausstattung trotz eines Niederlande. In ihrer Fallstudie für die European Commission hohen Infektionsrisikos durch Patientenkontakt. (Directorate-General for Research and Innovation) geht es um die gegenseitige Abhängigkeit von biologischem (Sex) Frauen offener für Infektionsschutz und sozialem (Gender) Geschlecht und die gesundheitlichen Auswirkungen in der gegenwärtigen Pandemie. Präventionskampagnen zeigten, dass mehr Frauen als Männer die Handhygiene beachten. Offensichtlich reagieren Frauen Die Autorin beschreibt die Herausforderung so: Obwohl In- bereitwilliger auf die Empfehlungen für Schutzmaßnahmen. fektionserkrankungen jeden treffen können, werden Immun- Männer dagegen stimmen eher widerwillig zu. antwort und Krankheitsverlauf wesentlich sowohl durch das biologische als auch durch das soziale Geschlecht geprägt. Auch öffentliche Regelungen führen zu genderspezifischen So sind biologische Faktoren etwa auch von der Qualität der Belastungen, denn die angeordneten Kontaktbeschränkungen Gesundheitsversorgung, von ökonomischen und logistischen und Quarantänemaßnahmen betreffen unterschiedliche Grup- Verfügbarkeiten beeinflusst. Aktuelle Studien weltweit – pen in verschiedenem Maß. „Systemrelevante Berufe“ werden https://globalhealth5050.org/covid19/ – zeigen: Es sterben sichtbar, die Vertreter und Vertreterinnen arbeiten jedoch auch mehr Männer an der Infektion. Allerdings leiden Frauen mehr unter hohem physischem und psychologischem Stress. Ande- als Männer langfristig unter den ökonomischen und sozialen re verlieren ihre Arbeit und geraten in unvorhergesehene finan- Konsequenzen der Corona-Pandemie. zielle Abhängigkeiten. Ein ganzes Sozialgefüge gerät durchein- ander – mit Auswirkungen auf Machtverhältnisse, Rollenbilder Die Immunantwort fällt bei beiden Geschlechtern unterschied- etc. Darüber hinaus erfahren Patienten und Patientinnen even- lich aus: Frauen scheinen auf virale Infekte und auch auf Imp- tuell medizinische Einschränkungen, auch wenn sie gar nicht fungen heftiger mit einer Antikörperproduktion zu reagieren als vom Corona-Virus betroffen sind. Männer. Die Gründe dafür liegen in der hormonellen und in der unterschiedlichen genetischen Ausstattung von Männern und Insgesamt benennt die Autorin folgende sexgebundene Fak Frauen. Frauen haben so zwar ein höheres Risiko für Autoim- toren: den Virus-Rezeptor und seine Verteilung und Repro- munerkrankungen, ein geringeres jedoch für Infektionen. duktion im Wirts-Organismus, Antikörperbildung, hormonelle Einflüsse, Wirksamkeit und Nebenwirkung von Therapien. Geschlechtsspezifische Rezeptormenge Gendergebundene Faktoren sind: Virus-Exposition, Bewusst- sein für Symptome, Zugang zu einem Virus-Test, Vorhanden- Bestimmte Antikörpertypen (IgGs) fanden sich bei Frauen sein und Zugang zu Schutzmaßnahmen, Präventionsverhalten nach einer SARS-CoV-2 Infektion in größerer Ausprägung als und Einbindung in klinische Studien. bei Männern. Diese Unterschiede könnten für die Sensitivität und Spezifität von serologischen Tests von Bedeutung sein. Fazit: Genderdimensionen müssen beim Umgang mit der Pan- Das Virus benutzt unter anderem einen ACE-Rezeptor, um demie eine Rolle spielen – in Forschung und Entwicklungs die Wirtszellen zu infizieren. Dieser Rezeptor wird über das X- prozessen. Nur dann können die aus den sozio-ökonomischen Chromosom durch hormonelle Faktoren und Therapien be- Verhältnissen resultierenden akuten und längerfristigen Un- einflusst. Allerdings ist seine genaue Bedeutung noch unklar. gleichheiten zwischen den Geschlechtern beseitigt werden. Studien liefern bisher widersprüchliche Ergebnisse. Die Studie von Sabine Oertelt-Prigione lässt sich hier abrufen: Passende Dosierungen und Nebenwirkungen von Impfstoffen https://ec.europa.eu/info/publications/impact-sex-and-gender- und Medikamenten unterscheiden sich wahrscheinlich bei den covid-19-pandemic_en 6 ärztin 2 August 2020 67. Jahrgang
ARBEIT UND LEBEN 2020 Kontakt kommen. Andererseits sind viele Komorbiditäten ge- UNTERSCHIEDLICHE STERBLICHKEIT schlechtsgebunden und betreffen Männer im Durchschnitt vermehrt: COPD, Hypertonie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Impact of sex and gender on aber auch Rauchen und Alkoholkonsum. Vernachlässigung COVID-19 outcomes in Europe von Präventionsmaßnahmen und späteres Aufsuchen von medizinischer Hilfe ist ausgeprägter bei Männern als bei Frau- Die Übersichtsstudie stammt von fünf Autorinnen aus en. Sorgfältige Anamnesen müssen erhoben und ausgewertet der Schweiz, Österreich, Deutschland und USA (Catherine werden, um die bis jetzt bekannten Geschlechtsunterschiede Gebhard, Vera Regitz-Zagrosek, Hannelore K. Neuhauser, weiter aufzuklären. Darunter: kardiovaskuläre Risikofaktoren, Rosemary Morgan und Sabra L. Klein). Der Schwerpunkt liegt sozio-ökonomischer Status, Menopausedaten, Schwanger- auf der Frage nach den biologischen Unterschieden, welche schaften, hormonelle Kontrazeption, Hormonersatztherapie, die unterschiedliche Sterblichkeit bei Männern und Frauen Krebserkrankungen, Medikamentenvorgeschichte. mit einer COVID-19-Erkrankung erklären könnten. Therapietests im Überblick Eine Tabelle belegt die Differenz in der Sterblichkeitsrate in vielen Ländern der Welt: So erkranken zwar beispielsweise in Die Publikation enthält zudem Informationen zu geschlechts- Belgien, Portugal und Frankreich mehr Frauen als Männer. Be- spezifischen Antworten auf Impfungen und eine Übersicht zu zogen darauf sterben jedoch mehr ältere Männer als Frauen Substanzen, die bisher als mögliche COVID-19 Therapeutika an COVID-19. Eine Überprüfung solcher Mitteilungen in der untersucht wurden, etwa Remdesivir und Hydroxychloroquin. Studie ergab: Die Unterschiede bestehen in allen Altersgrup- Nebenwirkungen traten vor allem bei Frauen auf. Hydroxychlo- pen, besonders jedoch im Alter zwischen 50 und 59 Jahren. roquin wurde gegen Corona zurückgenommen. Um in Körperzellen zu gelangen, heftet sich das Virus an eine Fazit: Die sex- und gendergebundenen Ungleichheiten, die zelluläre Serin-Protease und an einen ACE-Rezeptor, der unter durch die gegenwärtige Pandemie sichtbar geworden sind, anderem auch in der Lunge vorhanden ist. Die Beziehung zwi- verlangen die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Da- schen dem Rezeptor und COVID-19 ist derzeit noch unklar. ten bei der Bekämpfung von Pandemien – und nicht nur dort. Die Gesundheitssysteme haben bislang den Einfluss von Sex Serin-Protease in der Prostata und Gender in ihren Anstrengungen bei der Bekämpfung von Epidemien, Ausbrüchen und Pandemien vernachlässigt. Biologisches Geschlecht und Hormone beeinflussen die Kas- kade des Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS) an Die Studie von Gebhard et al. lässt sich hier abrufen: vielen Stellen: Die ACE-Aktivität steigt etwa nach einer Ovarek https://doi.org/10.1186/s13293-020-00304-9 tomie und fällt nach einer Orchiektomie. Ob dies jedoch für Corona eine klinische Relevanz besitzt, bleibt vorerst offen, Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk ist Vizepräsidentin des weil mehrere Studien mit Männern und Frauen widersprüch DÄB. liche Ergebnisse erbracht haben. E-Mail: Gabriele.Kaczmarczyk@aerztinnenbund.de Die Serin-Protease TMPRSS2 begünstigt den Viruseintritt in Köperzellen. Sie wird hauptsächlich in der Prostata exprimiert und durch Androgene hochreguliert. Ihre Funktion und Präsenz in Lungenzellen ist unbekannt. Auch diese Autorinnen verwei- sen außerdem auf die geschlechtsspezifische Immunantwort als möglichen Einflussfaktor. Männer mit mehr Komorbiditäten Darüber hinaus dürfen genderbezogene Risikofaktoren nicht außer Acht gelassen werden, etwa dass all die Frauen in so- zialen Berufen vermehrt mit Menschen und damit Viren in ärztin 2 August 2020 7
ARBEIT UND LEBEN 2020 Der „ambulante Schutzwall“ hat das Gesundheitssystem Foto: © KV Berlin aufrecht gehalten DR. MED. MARGRET STENNES Das deutsche Gesundheitssystem hat in den vergangenen Monaten der akuten SARS-CoV-2-Pandemie schwierige Zeiten durchlebt. Hier eine Analyse, wie sich die Situation in der größten deutschen Stadt, Berlin, darstellte – und die Lehren aus Corona. C orona hat Praxen und Krankenhäuser gleichermaßen um weiterhin erste Anlaufstelle vor allem für die chronisch auf den Kopf gestellt. Bis heute ist nicht klar, wie sich die kranken Patient*innen zu sein und die wirtschaftliche Existenz Pandemie weiterentwickeln wird und ob wir im Herbst zu sichern. Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin hat dabei erneut mit steigenden Infektionszahlen konfrontiert werden. tatkräftig unterstützt. Sei es durch die zentrale Beschaffung Eines aber ist klar: Wir haben diese Ausnahmesituation sehr und Verteilung von Schutzkleidung, stets aktuelle und umfang- gut bewältigt! Wir sind auf eine nächste Welle vorbereitet! reiche Informationen, Kooperationen mit Krankenhäusern und der Feuerwehr zur Eindämmung der Pandemie, der Mitarbeit in Das war im März noch anders. Corona hat uns alle kalt er- Krisenstäben, aber selbstverständlich auch dadurch, dass der wischt, auch die in der Niederlassung tätigen Ärztinnen und Geldfluss stets abgesichert war. Auch in Berlin ist es gelungen, Ärzte. Die Sorge um die eigene Gesundheit, die der Familie und einen Schutzschirm zu spannen, um finanzielle Ausfälle der Mitarbeiter*innen waren ebenso bestimmende Themen wie Praxen aufzufangen. die Ungewissheit, ob die Praxis geöffnet bleiben kann und wie Patientinnen und Patienten ohne Schutzausrüstung, die an- Rückblickend kann man sagen, dass es keine hohlen Worte fangs fehlte, behandelt werden können. sind, dass der „ambulante Schutzwall“ dafür gesorgt hat, dass unser Gesundheitssystem nicht in die Knie gegangen ist. Auch Improvisation, Telefon und Videosprechstunde die Mehrheit der Berliner Praxen blieb offen und konnte den Krankenhäusern den Rücken freihalten. Die Bilder aus Corona-Hotspots wie Italien haben ihr Übriges dazu beigetragen, um sich klarzumachen: So wie der Praxis- Chance der Digitalisierung erlebt alltag bisher war, konnte er nicht bleiben. Neue Wege und Strukturen mussten gefunden werden. Die Kreativität der Mittlerweile hat sich die Situation entspannt, die Praxen arbei- Kolleginnen und Kollegen war gefragt – zum Beispiel bei der ten seit längerem wieder im Regelbetrieb und die Patientinnen Herstellung, Beschaffung oder dem „Wiederaufbereiten“ von und Patienten kehren in die Praxen zurück. Das ambulante Masken, dem „Umbau“ der Praxisräume oder gesonderten System hat sich – auch auf Grund der selbstständigen und Sprechzeiten für Infektpatient*innen. dadurch flexibleren Strukturen – gut auf die Krise eingestellt. Notwendige Maßnahmen wurden regional wie überregional Arbeitsmodelle und -zeiten wurden umgekrempelt, um die Kin- schnell und oft auch unkompliziert umgesetzt. Und es wur- derbetreuung der Ärztinnen und Ärzte und des Praxispersonals de erkannt, welche Chancen in der Digitalisierung stecken. auffangen zu können. Das Telefon avancierte zum wichtigs- Es bleibt zu wünschen, dass an diese positiven Effekte ange- ten Arbeitsinstrument und eine große Anzahl von Praxen bot knüpft wird. erstmalig Videosprechstunden an – in Berlin sind dies bereits mehr als ein Drittel aller Praxen. Dr. med. Margret Stennes ist Vorstandsvorsitzende der Kassen- ärztlichen Vereinigung Berlin. Die Fachärztin für Innere Medizin, Schutzschirm gegen Finanzausfälle für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psycho- analyse ist seit 20 Jahren in der Gremienarbeit aktiv. Die größte Herausforderung für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte bestand darin, den eigenen Betrieb aufrechtzuerhalten, E-Mail: kvbe@kvberlin.de 8 ärztin 2 August 2020 67. Jahrgang
ARBEIT UND LEBEN 2020 Corona im Praxisalltag: Die psychologischen Herausforderungen haben dominiert Foto: © Jochen Rolfes DR. MED. ARNDT BERSON Ambulante Testzentren, Alten- und Flüchtlingsheime, die Dynamik sozialer Medien, Existenzängste und verunsicherte Mitarbeiter*innen und Patient*innen: Ein persönlicher Bericht über die Corona-Krise im Landkreis Viersen in Nordrhein. D ie letzten Monate in der haus mit anderen Institutionen des Landkrei- Erschütternde Einblicke ärztlichen Praxis waren extrem ses und nahm regelmäßig an Treffen anstrengend. Meine Kolleginnen des Krisenstabs teil, dem Vertreter des Hinzu kamen die Tests in Gemeinschafts Margot Kops, Dr. med. Gudrun Wirtz Kreisgesundheitsamtes, der Feuerwehr, unterkünften im Kreis Viersen, etwa und ich betreiben an zwei Standorten in der ärztlichen Hilfsorganisationen wie in Altenpflegeheimen und Flüchtlings- Kempen am Niederrhein eine große Deutsches Rotes Kreuz (DRK) und Mal- unterkünften. Die Pflegeheime waren hausärztlich-internistische und diabeto teser Hilfsdienst angehörten. durchweg gut geführt. Unser Eindruck: logische Praxis mit insgesamt sieben Sämtliche möglichen Vorkehrungen wa- Ärzt*innen. 400 Tests an einem Tag ren getroffen, um einerseits die Infek tionsgefahr zu reduzieren und sich ande- Zu Beginn des Jahres war unsere Einstel Gemeinsam hoben wir in enger Zusam- rerseits möglichst liebevoll den Bewoh- lung noch eher verharmlosend, hatten menarbeit mit der Hauptstelle der KV nern zuzuwenden, die ja keinen Besuch wir doch in den Jahren unserer nieder- Nordrhein ein ambulantes Testzentrum von Angehörigen erhalten durften. Be- gelassenen Tätigkeit neben den jähr aus der Taufe, das an täglich wechseln- troffen machten meine Kolleg*innen und lichen Grippe-Hochzeiten auch SARS, den Orten des Kreises die Abstriche ab- mich die Erlebnisse in den Flüchtlings- Schweinegrippe, Vogelgrippe und andere nahm – auch und vor allem, um poten- unterkünften. Sie führten uns teilweise Infektionswellen überwunden. tiell infizierte Menschen aus den Praxen erbarmungswürdige Zustände und auch herauszuhalten. In diese Aktion waren einen fragwürdigen Umgang mit den Handeln trotz Unklarheit mehrere niedergelassene Kolleg*innen Menschen unmittelbar vor Augen. Dies einbezogen. hat uns aufrichtig erschüttert. Doch diesmal war alles anders: Primäres Problem – vor allem zu Beginn der Pan- Allein am ersten Tag kamen wir auf über Neben diesen Problemen gab es in allen demie – war das Fehlen von Schutz 400 Testungen. Täglich bestand ein im- Phasen der SARS-CoV-2-Pandemie vor kleidung. Fast über Nacht wurde es un- menser Organisationsaufwand, von der allem – so meine persönliche Wahrneh- möglich, die geforderten FFP2- oder Diensteinteilung, der EDV-Ausstattung, mung – viele psychologische Aspekte im FFP3-Masken, geschweige denn norma- über die sich ständig ändernden Vorga- Umgang mit Patient*innen und bei der le Mund-Nasen-Masken sowie Desinfek ben des Robert Koch-Instituts (RKI) bis Führung der Mitarbeiter*innen zu beach- tionsmittel und Handschuhe, zu beschaf hin zur Betreuung der zu testenden Per- ten. Von allen Seiten spürten wir eine er- fen. Außerdem war zunächst unklar, wer sonen. Meine ärztlichen und nicht-ärzt hebliche Unsicherheit bis zur beginnen die notwendigen Testungen bezahlen lichen Kolleg*innen in meiner Praxis und den Panik, die es zu objektivieren und ab- würde und wie diese ablaufen sollten. in der Kreisstelle haben mich unterstützt zufedern galt. und entlastet. Sonst wäre dieser Einsatz, Solche Themen beschäftigten mich als der fast meinen gesamten Arbeitstag Praxis leer, Telefon belegt Vorsitzenden der Kreis stelle Viersen füllte, nicht möglich gewesen. der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Die Praxis war fast gespenstisch leer. Nordrhein und Mitglied des Vorstands Außer Corona gab es kaum Erkran der Ärztekammer Nordrhein. In dieser kungen, die eine Rolle gespielt hätten. Funktion hatte ich nun erstmals Kontakt Sämtliche Vorsorgeuntersuchungen und ärztin 2 August 2020 9
ARBEIT UND LEBEN 2020 Termine in Disease-Management-Pro- lebte ich eine Kassiererin, die sich lieber Umstellung für manche schwer grammen (DMPs) kamen quasi zum er- versteckt hätte, als Geld von mir zu neh- liegen. Dafür war unsere Praxis telefo- men: aus Angst vor einer möglichen In- Zur Zeit sind die Patient*innenzahlen nisch kaum noch erreichbar, lahmgelegt fektion. wieder normal. Allerdings bestehen im von zu vielen Anrufen in zu kurzer Zeit. Praxisbetrieb weiter organisatorische E-Mails und Faxe kamen in Fluten und Fast täglich hatte ich Kontakt mit den Einschränkungen, deren Notwendigkeit meine Medizinischen Fachangestellten Kolleg*innen aus den umgebenden Pra- sich nicht allen Praxisbesucher*innen waren nervlich maximal angespannt. xen und Kliniken. Abseits vom Medizi- gleichermaßen sofort erschließt. Bei- nischen ging es immer wieder um den spielsweise haben wir zu Ende der Vor- Auch die Organisationsstruktur unseres Rückgang beim Aufkommen an Patien- mittags- und Nachmittagssprechzeit je Praxistags änderte sich. Wir arbeiteten tinnen und Patienten und existentielle eine Infektionssprechstunde eingerich- in zwei Schichten. Die beiden tet. An sie halten wir uns Teams begegneten sich nicht strikt, um eventuell infektiöse mehr, um die Praxis funk von nichtinfektiösen Patien tionsfähig und die Versorgung t*innen fernzuhalten. Wir er- aufrechtzuerhalten, falls es fahren dafür viel Verständnis in einer Schicht Infektionen und Lob. Immer wieder gibt gäbe und alle in Quarantäne es aber auch Beschwerden, müssten. weil die alten, vertrauten Strukturen nicht mehr gelten. Große Verunsicherung be- stand zunächst beim Kon- Grundsätzlich spüren wir Nie- takt mit Infizierten. Instinktiv dergelassene von unseren hatten manche Mitarbeiter*- Patient*innen viel Wertschät- innen das Bedürfnis, sich zung. Es hat sich herumge- selbst bei einem positiven Was desinfizieren? Wie oft und womit? Zu Beginn der Krise herrschte Verunsiche- sprochen, dass im Durch- Test auch sofort testen zu rung in vielen Bereichen schnitt sieben von acht lassen – unabhängig davon, ob die Um- Sorgen, die daraus erwuchsen. Zumal Corona-Patient*innen in den niederge- stände das sinnvoll erscheinen ließen. die Terminabsagen bei den Privatpa lassenen Praxen versorgt wurden und tient*innen überdurchschnittlich aus- wahrscheinlich deswegen in Deutsch- Unfreiwillige lokale Bekanntheit fielen. Von der Corona-Soforthilfe profi- land die SARS-CoV-2-Pandemie so viel tierte fast keine Praxis, dafür stand nun glimpflicher abgelaufen ist als in ande- Unvergesslich ist der erste positive Fall in Kurzarbeit auf der Tagesordnung – mit ren europäischen Staaten. Momentan unserer Praxis: Nachdem uns das Labor vielen Unklarheiten für die ärztlichen und hoffen wir auf weiterhin vernünftiges das positive Testergebnis gemeldet hat- nichtärztlichen Mitarbeiter*innen und Verhalten und darauf, einer zweiten Wel- te, schlossen wir für etwa eine Stunde, der Frage nach dem Schutzschirm. le zu entgehen. um das Vorgehen mit dem Gesundheits amt zu klären. An der Tür infor mierte Erfreulicherweise blieben italienische Dr. med. Arndt Berson ist Vorsitzender ein Aushang die Patient*innen. Eine Per- Verhältnisse auf den Intensivstationen der Kreisstelle Viersen der Kassenärzt- son fotografierte ihn und verbreitete aus. Trotzdem haben wir uns mit Tria- lichen Vereinigung (KV) Nordrhein und ihn über soziale Medien. Unsere Praxis gierungssystemen und den Grenzen Mitglied im Vorstand der Ärztekammer ging dadurch quasi viral. Am nächsten ärztlicher Entscheidungsprozesse aus- Nordrhein. Der Facharzt für Allgemein- Morgen meldeten sich das Radio und einandersetzen müssen. Im Falle eines medizin betreibt mit mehreren Kolleg*in- alle örtlichen Zeitungen telefonisch. Ich zu großen Krankenaufkommens in zu nen zwei Hausarztpraxen in Kempen. musste unsere angebliche Schließung kurzer Zeit hätte das alle Ärzt*innen in dementieren. Und an der Tankstelle er- erhebliche Gewissenskonflikte gebracht. E-Mail: kreis.viersen@kvno.de 10 ärztin 2 August 2020 67. Jahrgang
ARBEIT UND LEBEN 2020 Studium, Praktika, Staats- examen: Mit Studierenden sprechen statt über sie Foto: privat Foto: privat AURICA RITTER, PHILIP PLÄTTNER Die Corona-Pandemie hat das Medizinstudium in Deutschland schlagartig verändert. Examina wurden verschoben, Unterricht abgesagt und die Lehre auf digitale Formate umgestellt. Welche Hürden ergeben sich vier Monate nach der initialen Schließung der Hochschulen? A m Freitag, 13. März, verkündete auch in anderen Lebensbereichen vor Evaluation neuer Lehrformate Bundeskanzlerin Angela Merkel Hürden: finanzielle Notlagen, weil der die Schließung aller Hochschu- Nebenjob weggebrochen ist oder eine Besonders in der Umstellung der Lehre len – also kurz vor Semesterbeginn. adäquate Kinderbetreuung fehlt. Zudem hat sich wieder gezeigt, dass der Dialog Zehntausende Medizinstudierende mel- leben rund 3,6 Prozent aller 15- bis 24- auf Augenhöhe mit den Studierenden deten sich freiwillig, um bei der Bewälti- Jährigen mit mindestens einer COVID-19 großes Potenzial birgt. In der kommen- gung der Pandemie zu helfen. relevanten Vorerkrankung. Das ist vor al- den Zeit wird die Evaluation und Weiter- lem in der medizinisch-praktischen Aus- entwicklung digitaler Lehrformate zur Übergang zu digitaler Lehre bildung ein Problem. Sicherung der Qualität des Studiums einen unserer Schwerpunkte darstellen. In wenigen Wochen setzten die Hoch- Empfehlungen wurden gehört Die digitale Lehre muss ausgebaut und schulen um, was lange in Deutschland etwa durch die Implementierung der undenkbar war: Vorlesungen, Seminare, Trotzdem hat der starke Zusammenhalt neuen Gegenstandskataloge zukunfts- der Unterricht am Krankenbett und Klau- aller in den letzten Monaten ein Weiter- fähig gemacht werden. In der Ausgestal- suren wurden weitgehend durch digi- führen unseres Studiums ermöglicht. Wir tung der Praxiseinheiten besteht zudem tale Lehrformate ersetzt. Viele Modelle freuen uns, dass unsere Einschätzungen noch großer Entwicklungsbedarf. Wir funktionieren gut und zeigen, was aus und Empfehlungen gehört und aufge- sind uns sicher: Wenn weiterhin mit um- Sicht der Bundesvertretung der Medi- griffen wurden, wie etwa die Zusage zu fassender Gesprächsbereitschaft und zinstudierenden in Deutschland (bvmd) kulanten Fehlzeitenregelungen bei Qua- unabhängig von Hierarchien an Lösun- schon lange möglich gewesen wäre. Wir rantäne oder COVID-19-Erkrankungen gen gearbeitet wird, werden wir gemein- hoffen, dass diese Entwicklung nach der sowie gelockerte Anrechnungsregelun- sam diese und kommende Herausforde- Pandemie fortgeführt wird. gen von Einkünften auf das BAföG. rungen meistern. Größere Schwierigkeiten zeigten sich Gleichzeitig setzen wir uns weiterhin ein. Aurica Ritter ist Präsidentin der bvmd bei den medizinischen Staatsexamina: Für zielführende Lösungen zum ver- und Co-Founderin von match4health- Bayern und Baden-Württemberg ent- schobenen Examen in Bayern und Ba- care, einer Plattform, die freiwillige Hel- schlossen sich leider dazu, das zweite den-Württemberg, für eine faire Auf fende und Hilfesuchende im Gesund- Staatsexamen (M2) zu verschieben und wandsentschädigung im PJ und sichere heitswesen vernetzt. Sie studiert im 10. die Studierenden ohne Prüfung in ein Konzepte für Studierende mit Kind oder Semester Medizin in Gießen. vorzeitiges Praktisches Jahr (PJ) zu schi- chronischen Erkrankungen sind wir aktiv. cken. Hierdurch stehen nach dem PJ In der bvmd wurde uns vor allem eines Philip Plättner ist Vorstandsmitglied zwei Staatsexamina an. Zusätzlich zu wiederholt vor Augen geführt: Nur ge- der bvmd und dort Bundeskoordinator dieser Doppelbelastung verkürzt sich die meinsam, mit vielen helfenden Köpfen für Gesundheitspolitik. Er studiert im 10. Lernzeit für das M2 von regulär über 100 und Kreativität, Flexibilität und Offenheit Semester Medizin in Göttingen und ar- Tagen auf weniger als sechs Wochen. für neue Meinungen, Perspektiven und beitete während der Pandemie freiwillig Wege sowie Kompromissbereitschaft im lokalen COVID-19 Testzentrum. Neben den Herausforderungen im Stu sind wir in der Lage, die zahlreichen Ver- dium stehen zahlreiche junge Menschen änderungen vorantragen zu können. E-Mail: pr@bvmd.de ärztin 2 August 2020 11
ARBEIT UND LEBEN 2020 IM INTERVIEW „Eine gute Vernetzung hat sich in der Corona-Hochzeit als nützlich erwiesen“ Foto: privat DR. JUR. BERIT JAEGER Sie sind Fachanwältin für Medizinrecht und engagieren sich blick über alle Problemstellungen zu behalten. So entstand beim Deutschen Juristinnenbund, einem Partnernetzwerk dann oft juristischer Klärungsbedarf. des DÄB. Wie hat die Corona-Krise den juristischen Bera- tungsbedarf von Ärzt*innen verändert? Hatten Sie vermehrt Anfragen von Frauen, etwa wegen feh- lender Kinderbetreuung? In unserer Kanzlei bin ich auf die Beratung und Vertretung von niedergelassenen (Zahn-)Ärzt*innen, Gemeinschaftspraxen Nein, weil dies nicht ins Medizinrecht fällt. Tätigkeitsverbote und Medizinischen Versorgungszentren spezialisiert. Meine für schwangere Ärztinnen sind uns dagegen gelegentlich be- Kolleg*innen und ich hatten in der ersten Phase der Corona- gegnet. Hier muss man für jedes Fachgebiet genau differen Krise deutlich mehr zu tun als üblich. Dagegen hatten Kanzlei- zieren, was gerechtfertigt ist. Es ist ja klar, dass sich die Situa- en, die sich zum Beispiel mit Arzthaftung beschäftigen, kaum tion für Augenärztinnen anders darstellt als beispielsweise für Termine. Im Lockdown konzentrierte sich alles auf die akute Ärztinnen auf einer Intensivstation mit an COVID-19 Erkrank- Situation, nicht so dringende Verfahren wurden – auch bei Ge- ten. Erschwerend kam hinzu, dass die Wissenschaft in den richt – zurückgestellt. Die niedergelassenen Ärzt*innen hatten ersten Wochen der Pandemie nichts darüber wusste, wie sich es mit Themenfeldern zu tun, mit denen sie sich zuvor noch das Virus auf ein Ungeborenes auswirkt. nie beschäftigen mussten. Darum gab es viele Fragen. Haben Sie Tipps für rechtlich unsichere Situationen? Welche zum Beispiel? Ein Schlüssel ist sicher eine gute Vernetzung mit dem jeweili- Kurzarbeit war ein großes Thema. Angefangen bei der Frage, gen Fachverband. Wer Kontakte in seine spezielle Fachärzt*in- wie man Kurzarbeit überhaupt beantragt bis hin zu den Aus- nengruppe pflegt, erhält von dort aktuelle Informationen, die wirkungen auf die Statusentscheidungen des Zulassungsaus- wohl am ehesten zu den persönlichen Problemstellungen pas- schusses. Beim Antrag halfen oft die Steuerberater*innen. Bei sen. Die Corona-Krise hatte beispielsweise für Häusärzt*innen den Statusentscheidungen kamen wir ins Spiel. Dabei ging es ganz andere Auswirkungen als für Chirurg*innen. Zudem kön- vor allem um die Mindestsprechstunden, die man anbieten nen Verbände auch als Interessensvertretung hilfreich sein, musste, um unter den Schutzschirm zu kommen. etwa bei der Zwangsverpflichtung zu ärztlichen Diensten, die es unter anderem in Bayern phasenweise gab. Da muss man Was hat den Ärzt*innen Ihrer Wahrnehmung nach am meis- seine Interessen eventuell sehr schnell individuell wahren. Aber ten zu schaffen gemacht? es ist auch beruhigend zu wissen, dass sich eine Standesver- tretung wie der Hausärzteverband um das Problem kümmert Das war die Geschwindigkeit, mit der sich alles gleichzeitig und auch in der Politik Gehör findet. verändert hat. Die Praxisräume den Vorschriften entsprechend umgestalten, viele neue Abrechnungsziffern, teilweise unklare Interview: Alexandra v. Knobloch Vorgaben, Schutzausrüstung besorgen und dann die Verän derungen im Aufkommen an Patientinnen und Patienten: das Dr. jur. Berit Jaeger ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für alles innerhalb weniger Tage. Dadurch hat sich das Gefüge in Medizinrecht. Mit einem Partner führt sie eine Kanzlei in Lein- den Praxen, das Verhältnis der Ärzt*innen untereinander und felden-Echterdingen. Sie ist Mitglied im Deutschen Juristinnen zu den Mitarbeiter*innen schlagartig verändert. In Praxen, an bund (djb) und engagiert sich dort unter anderem für einen hö- denen mehrere Ärzt*innen beteiligt sind, haben ja nicht auto- heren Anteil an Frauen in Führungspositionen, zudem ist sie matisch alle Teilhaber*innen die gleiche Auffassung, wie mit Mitglied in der AG Anwältinnen des Deutschen Anwaltvereins. einer Krise umzugehen ist. Und bei der Komplexität der Situa- tion war es allgemein kaum möglich, gleichermaßen den Über- E-Mail: jaeger@boldjaeger.de 12 ärztin 2 August 2020 67. Jahrgang
KARRIERECHANCEN Interessen noch effektiver vertreten: Spitzenfrauen Gesundheit jetzt ein Verein Foto: © J. Rolfes DR. MED. CHRISTIANE GROSS, M.A. Mit ganz viel Frauenpower für mehr Gemeinsamkeit im Gesundheitswesen: So beschreibt der neue Verein seine Gründungsversammlung. Dr. med. Christiane Groß, M.A., die Präsidentin des Deutschen Ärztinnen- bundes, wurde zu einem Vorstandsmitglied gewählt. Worum geht es ihr in dieser Initiative? Ein Bericht. A ntje Kapinsky von der Techniker Krankenkasse und Die Politik sensibilisieren Cornelia Wanke vom Verein der Akkreditierten Labore in der Medizin sind die beiden Co-Vorständinnen des Sie setzen sich insbesondere für die Förderung der Gleichbe- neuen Vereins „Spitzenfrauen Gesundheit“. In der vergangenen rechtigung von Frauen im Gesundheitswesen und in der Ge- Ausgabe der ärztin hatten die beiden die Ziele der Initiative sundheitspolitik ein, für die Wahrung ihrer beruflichen und so- bereits vorgestellt. Am 18. Juni wurde der Verein nun in den zialen Interessen sowie die Förderung von genderbezogenen Räumen des Hartmannbundes in Berlin aus der Taufe geho- Ansätzen in der Medizin und gesundheitlichen Versorgung. Sie ben. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth, Gründerin des Forums vertreten die Belange der Frauen gegenüber dem Gesetzgeber, Hausärztinnen, komplettiert den geschäftsführenden Vorstand. der Verwaltung und der Öffentlichkeit. Die Vereinsgründung bietet nun eine Struktur, mit der „wir uns effektiver für mehr Zu weiteren Vorstandsmitgliedern sind gewählt: Nadiya Frauen an der Spitze einsetzen und vielen Kolleginnen aus un- Romanova (vdek), die sich um Kommunikation und Social terschiedlichen Bereichen der Gesundheit eine gemeinsame Media kümmern wird, Prof. Dr. med. Anke Lesinski-Schiedat, Plattform anbieten“, wie Antje Kapinsky sagt. Landesvorsitzende des Hartmannbundes Niedersachsen und Mitglied im Geschäftsführenden Bundesvorstand, sowie Dr. Mir geht es bei den Spitzenfrauen auch darum, den Anteil der Christina Tophoven, Geschäftsführerin der Bundespsycho- Ärztinnen in den Gremien der Ärzte- und Zahnärztekammern therapeutenkammer und ich. und der KVen und KZVen deutlich zu erhöhen. Das liegt mir seit Jahren am Herzen. Hierzu müssen wir den seit langem Dachverband von Gesundheitsfrauen gut funktionierenden, meist inoffiziellen Männernetzwerken ein gut funktionierendes offizielles Frauennetzwerk entgegen- Eine Anfangsidee stammt aus dem Jahr 2016, als mir mehr setzen. Nur durch sichtbare Veränderung und mehr weibliche und mehr klar wurde, dass auch Berufe, die einen noch hö- Rollenvorbilder werden wir es schaffen, die jüngere Generation heren Frauenanteil aufweisen als die Ärzteschaft, in ihren der Ärztinnen und Zahnärztinnen für die Gremienarbeit zu in- Gremienstrukturen weiterhin – zum Teil sogar fast zu 100 Pro- teressieren und sie zu motivieren, sich dafür zur Verfügung zu zent – von Männern dominiert waren: beispielweise die Psy- stellen. Das ist die eine Seite. chologischen Psychotherapeut*innen, die Zahnärzteschaft, die Tierärzteschaft und die Apothekerschaft. Daraus entstand Weibliche Sicht stärken mit Dr. Christina Tophoven die Idee eines Dachverbandes von Frauenverbänden aus dem Gesundheitswesen. Die andere Seite bedeutet, Sensibilisierung dafür zu schaffen, dass die Frauen – und damit deren weibliche Sicht auf das 2017/2018 traf diese Idee auf einen weiteren Impuls für ein Gesundheitswesen – in den Gremien fehlen. Damit wird ein Netzwerk der Spitzenfrauen im Gesundheitswesen, der von Defizit der aktuellen Struktur offengelegt. Antje Kapinsky, Cornelia Wanke und der Bundestagsabgeord- neten Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Bündnis 90/Die Grünen) Dr. med. Christiane Groß, M.A., ist Präsidentin des Deutschen eingebracht wurde. Seit Sommer 2018 sind die Spitzenfrauen Ärztinnenbundes. Gesundheit aktiv. ärztin 2 August 2020 13
MUTIGE LÖWIN „Mutige Löwin“ würdigt IM INTERVIEW „Langfristig schadet Kampf für gerechte schlechte Führung Arbeitsbedingungen einem Unternehmen Foto: © Frankfurt UAS immer“ PD Dr. med. Doreen Richardt, Herzchirurgin aus Lübeck, erhält die Auszeichnung „Mutige Löwin“ des Deutschen Ärztinnenbundes e. V. (DÄB). Die Ehrennadel wird ihr am 10. Oktober 2020 bei der PROF. DR. REGINE GRAML, M.A. Beiratssitzung des DÄB in Berlin überreicht. N ormalerweise vergibt der DÄB den Preis in einem zwei- Nach den Vorfällen am UKSH hat Schleswig-Holsteins Bil- jährigen Turnus. Abweichend davon wird er diesmal dungsministerin Karin Prien (CDU) eine Reform der Medi- schon nach einem Jahr vergeben. Doreen Richardt hat zinausbildung gefordert. Ärztinnen und Ärzte müssten sich jüngst mit ihrem Arbeitgeber, dem Universitätsklinikum besser auf eine Rolle als Vorgesetzte vorbereitet werden. Schleswig-Holstein (UKSH) in Lübeck, gerichtlich auseinander Lässt sich überhaupt definieren, was gute Personalführung gesetzt, nachdem sie im November 2019 freigestellt worden bedeutet? war. Dabei kamen Umstände der Personalführung (siehe auch Interview rechts) am UKSH ans Licht, die auf eine gezielte Ak- Nicht pauschal. Wenn wir zunächst betrachten, was über- tion gegen die Karriere der Oberärztin schließen lassen. Das haupt erfolgreiche Führung ausmacht, lässt sich diese zum Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein gab Doreen Richardt einen durch Ergebnisse wie Gewinn, Wachstum sowie Plan- Recht. Es kritisierte den Klinikvorstand. Das NDR-Magazin abweichung oder Arbeitsunfälle erfassen. Zum anderen kann Panorama 3 machte den Vorgang in mehreren Beiträgen man erfolgreiche Führung an der Reaktion der Mitarbeiter*in- öffentlich und sprach von einem Skandal. nen festmachen, hierzu zählen etwa Engagement oder Arbeits zufriedenheit, aber auch Krankenstand oder Personalfluktua- Für ihren unerschütterlichen tion können Hinweise auf die Stimmung in einem Team sein. Einsatz für gerechte Arbeits- Welche Indikatoren gewählt werden und wie man sie gewich- bedingungen zollt der DÄB tet, entscheiden die Organisationen individuell. ihr mit der „Mutigen Löwin“ Respekt und würdigt ihre Was beeinflusst die Führungsleistung? Hängt sie nur vom außergewöhnliche Leistung Verhalten einzelner Vorgesetzter ab? und Stärke: Ärztinnen mit ih- rem Werdegang sind im deut- Nein. In Führungssituationen spielen immer viele Faktoren schen Medizinsystem, beson hinein. Die Unternehmenskultur spielt eine wichtige Rolle Preisträgerin: Doreen Richardt ders in der Chirurgie, nach und ebenso die Machtbasis, über die Führungskräfte verfü- wie vor die Ausnahme. Die gen, aber natürlich auch das Selbstverständnis einer ganzen Preisträgerin ist Mitglied im DÄB und dort aktiv als Vorsitzende Branche oder auch die Organisationsstruktur. Im Kontext sol- der Regionalgruppe Lübeck sowie als Mitglied im Ausschuss cher Rahmenbedingungen wirkt das Verhalten einer Führungs- „MentorinnenNetzwerk“. Zudem ist sie Beisitzerin im Vorstand kraft, das wiederum von deren Persönlichkeit und deren Fach-, der Ärztekammer Schleswig-Holstein. Sie ist seit langem ein Methoden- und Sozialkompetenz geprägt ist. Dazu kommen Vorbild für viele junge Ärztinnen. Wechselwirkungen mit den Mitarbeiter*innen, die natürlich selbst ganz individuelle Erwartungen haben. In diesem Fall hat das nach wie vor massiv hierarchisch ge- prägte Medizinwesen seine dunkle Seite gezeigt. Indem die Bei so einem komplexen Wechselspiel: Wie könnte eine sinn- Ärztin die Vorgänge öffentlich macht, setzt sie sich für die volle Vorbereitung auf Führungsaufgaben für Medizinstudie- Bekämpfung von Ungerechtigkeiten in der Arbeitswelt ein. rende aussehen? DÄB-Präsidentin Dr. Christiane Groß sagt im Namen des Vor- stands: „Der DÄB ist froh, dass wir eine Kollegin auszeichnen Längst nicht alle Medizinstudierenden werden später eine können, die anderen Frauen als Beispiel dienen kann.“ Die Stif- klassische Führungsposition einnehmen. Darum hat es wenig terin des Preises „Mutige Löwin“, Elke Burghard, Ärztliche Psy Sinn, alle in typische Führungsseminare zu stecken. Wichtiger chotherapeutin aus Neumünster, sagt: „Doreen Richardt ist wäre es, das Studium so zu gestalten, dass es bei den Studie- eine ‚Mutige Löwin‘ im Sinne des Gründungsgedankens hinter renden die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zur Selbst dieser Auszeichnung.“ reflektion stärkt. Das sind soziale Kompetenzen, die sich im 14 ärztin 2 August 2020 67. Jahrgang
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