Arbeit und Leben 2020 - Wie ein Virus unseren Alltag verändert - Zeitschrift des Deutschen Ärztinnenbundes e.V - Deutscher Ärztinnenbund eV

Die Seite wird erstellt Hugo Schön
 
WEITER LESEN
Arbeit und Leben 2020 - Wie ein Virus unseren Alltag verändert - Zeitschrift des Deutschen Ärztinnenbundes e.V - Deutscher Ärztinnenbund eV
67. Jahrgang . ISSN 0341-2458

                                                          08 | 2020

                        Zeitschrift des
                        Deutschen Ärztinnenbundes e.V.

Arbeit und Leben 2020
Wie ein Virus unseren Alltag verändert
Arbeit und Leben 2020 - Wie ein Virus unseren Alltag verändert - Zeitschrift des Deutschen Ärztinnenbundes e.V - Deutscher Ärztinnenbund eV
INHALT/IMPRESSUM

                Inhalt                                                      ärztin
                                                                            Offizielles Organ
                                                                            des Deutschen Ärztinnenbundes e. V.
                                                                            ISSN 0341-2458

                                                                            Herausgegeben vom
          03     Editorial                                                  Deutschen Ärztinnenbund e. V.
                 PD Dr. med. Barbara Puhahn-Schmeiser                       Präsidentin: Dr. med. Christiane Groß, M.A.
                                                                            E-Mail: gsdaeb@aerztinnenbund.de

          04     Gastbeitrag                                                Redaktion und V.i.S.d.P.:
                 Edith Heitkämper                                           Alexandra von Knobloch
                                                                            Pressereferentin des Deutschen Ärztinnenbundes
                 Journalistinnen wollen die Hälfte – auch bei
                                                                            E-Mail: presse@aerztinnenbund.de
                 Expertinnen in den Medien
                                                                            Redaktionsausschuss:
          05     Schwerpunkt: Arbeit und Leben 2020 –                       Dr. med. Christiane Groß, M.A.
                                                                            Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk
                 Wie ein Virus unseren Alltag verändert
                                                                            Dr. med. Heike Raestrup
                 Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk                        PD Dr. med. Barbara Puhahn-Schmeiser
                 Dr. med. Margret Stennes
                 Dr. med. Arndt Berson                                      Geschäftsstelle des DÄB
                                                                            Rhinstraße 84, 12681 Berlin
                 Aurica Ritter, Philip Plättner                             Tel.: 030 54 70 86 35
                 Im Interview: Dr. jur. Berit Jaeger                        Fax: 030 54 70 86 36
                                                                            E-Mail: gsdaeb@aerztinnenbund.de
          13     Dr. med. Christiane Groß, M.A.
                                                                            Wir bitten alle Mitglieder, uns ihre aktuelle
                 Spitzenfrauen Gesundheit jetzt ein Verein                  E-Mail-Adresse mitzuteilen

          14     Deutscher Ärztinnenbund                                    Grafikdesign:
                                                                            d‘sign, Anne-Claire Martin
                 „Mutige Löwin“ für PD Dr. Doreen Richardt: Auszeichnung
                                                                            Mommsenstraße 70, 10629 Berlin
                  für den Kampf für gerechte Arbeitsbedingungen             Tel.: 030 883 94 95
                                                                            E-Mail: anneclaire.martin@berlin.de
          14     Im Interview: Prof. Dr. Regine Graml, M.A.
                                                                            Druck:
                 „Langfristig schadet schlechte Führung einem
                                                                            DBM Druckhaus Berlin-Mitte GmbH
                 Unternehmen immer“                                         Wilhelm-Kabus-Straße 21-35, 10829 Berlin

          16     Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk
                 Buchbesprechung: Die aktuelle Sicht auf die Wechseljahre
                                                                            Die Zeitschrift erscheint dreimal pro Jahr.
          17     Prof. Dr. med. Dorothée Nashan                             Heftpreis 5 Euro.
                                                                            Bestellungen werden von der Geschäftsstelle
                 Dermatologie: Eine Karriereoption für Ärztinnen
                                                                            entgegengenommen.
                                                                            Für ordentliche Mitglieder des DÄB ist der Be-
          18     Christine Hidas                                            zugspreis durch den Mitgliedsbeitrag abgegolten.
                 Notfallmedizin: Wo sind die Frauen auf Tagungen            Redaktionsschluss der Ausgabe 03/2020:
                                                                            25. September 2020
                 und in Zeitschriften?
                                                                            Fotos:
          20     Aus dem Verband                                            Titelseite: 123rf_Iurii Stepanov, 123rf_ Kateryna Kon
                 Neue Mitglieder • Wir gratulieren                          Seite 10: 123rf_ Melinda Nagy, Seite 13: 123rf_ Siam
                                                                            Pukkato, Seite 15: Pixabay, Seite 17: 123rf_ serezniy,
                                                                            Seite 19: 123rf_ Albert Yuralaits
          21     Forum 60 plus • Aus den Regionalgruppen:
                 Gießen • Leipzig • Münster • Wiesbaden-Mainz               Haftungsbeschränkung
                                                                            Der DÄB übernimmt weder die Verantwortung für den
                                                                            Inhalt noch die geäußerte Meinung in den veröffent­
          23     Prof. Dr. med. Julia Stingl                                lichten Beiträgen. Für unverlangt eingesandte Manu­
                 Einstieg in den Ärztinnenbund –                            s­kripte und Fotos übernehmen wir keine Haftung.
                 Auch in Corona-Zeiten positiv                              Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die
                                                                            Meinung des jeweiligen Autors oder der jeweiligen
                                                                            Autorin und nicht immer die Meinung der Redaktion
          24     Save the Date: Gemeinsamer Kongress der                    wieder. Wir behalten uns das Recht vor, Beiträge und
                 Ärztinnen in der DACH-Region                               auch Anzeigen nicht zu veröffentlichen.

 2    ärztin 2 August 2020                                                                                          67. Jahrgang
Arbeit und Leben 2020 - Wie ein Virus unseren Alltag verändert - Zeitschrift des Deutschen Ärztinnenbundes e.V - Deutscher Ärztinnenbund eV
EDITORIAL

Liebe Kolleginnen,

ich kann mich noch sehr genau an den                                       von 174 TV-Informationssendungen mit
Beginn dieses Jahres erinnern. Es fing an                                  Corona-Bezug im April zeigte, dass auf
wie immer – mit dem Unterschied, dass                                      eine Expertin vier männliche Experten
aus China von einer grippeähnlichen                                        kamen. ProQuote fand: Uns reicht’s und
Erkrankung berichtet wurde. In welchem                                     hat Corona-Expertinnen gesammelt.
Ausmaß das verantwortliche Virus unse­                                     Auch Pro Quote Medizin und der DÄB
ren Alltag verändern wird, drang jedoch                                    haben die Aktion unterstützt. Mehr dazu
erst in unser Bewusstsein, als sich plötzlich die Fälle in   im Gastbeitrag (Seite 4). Ähnlich ernüchternd: Die Si-
Italien und Spanien häuften und europäische Gesund-          tuation bei medizinischen Fachkongressen und in me­
heitssysteme unter der Corona-Last zu zerbrechen             dizinischen Zeitschriften. Eine Studie aus der Notfall-
drohten. Nach dem ersten Krankheitsfall in Deutsch-          medizin zeigt auch Lösungswege auf (Seite 18-19).
land, am 27. Januar, war man noch eher abwartend.
Im März passierte dann alles ganz schnell: 3. März –         Erschüttert hat den DÄB der Mobbing-Skandal um un-
Absage der Leipziger Buchmesse, 13. März – Ankün-            ser engagiertes Mitglied PD Dr. Doreen Richardt. Der
digung der Schul- und Kitaschließungen, 18. März –           NDR hat die Vorgänge ab Mai in einer Reihe von Be-
Fernsehansprache der Bundeskanzlerin.                        richten, in denen auch die Herzchirurgin sich äußerte,
                                                             öffentlich gemacht (Seite 14-15). So kamen Zustände
Meine persönliche Herausforderung bestand dann da-           im hierarchisch geprägten Medizinsystem ans Licht,
rin, gemeinsam mit meinem Mann die Betreuung un-             von denen wir im DÄB leider immer wieder hören. Die
seres eineinhalbjährigen Sohnes irgendwie mit Tele-          Belastung für Betroffene ist enorm, nur wenige können
fonkonferenzen, Forschungsaktivitäten, E-Mails etc.          darüber sprechen. Das ist nur zu verständlich, spielt
unter einen Hut zu bekommen. Ein Szenario, das si-           dem ungesunden System aber in die Karten.
cher vielen nur allzu gut bekannt ist.
                                                             Spontan wurde Doreen Richardt als „Mutige Löwin“
Es gab jedoch zahlreiche weitere Themen, die mich            vorgeschlagen – und der DÄB und die Stifterin Elke
während dieser Zeit beschäftigt haben. Fürchterlich          Burghard haben sich entschieden, ihr diese Auszeich-
erschreckt haben mich beispielsweise Berichte über           nung abweichend vom zweijährigen Turnus sofort zu
die erhöhte Gewaltbereitschaft gegenüber Frauen und          verleihen. Im Oktober wird die Anstecknadel überge-
Kindern in dieser Zeit. Aber auch Berichte über den          ben.
Rückfall in alte Rollenmuster schockierten mich. Noch
ist nicht absehbar, wie nachhaltig Corona unsere Ge-         Ich wünsche Ihnen viel Kraft und Gesundheit in die-
sellschaft und auch die Situation von Frauen verän-          sem außergewöhnlichen Jahr!
dert. Für diese ärztin haben wir viele verschiedene
Blickpunkte und Analysen gesammelt.

Unter anderem diesen: Fast nur Männer dürfen die
Welt erklären. Wer die Berichterstattung zur akuten
Pandemie-Hochzeit verfolgt hat, musste diesen Ein-
druck unmittelbar gewinnen. Eine Studie im Auftrag           PD Dr. med. Barbara Puhahn-Schmeiser,
der MaLisa Stiftung hat ihn bestätigt. Eine Auswertung       Vizepräsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes

                                                                                                        ärztin 2 August 2020   3
Arbeit und Leben 2020 - Wie ein Virus unseren Alltag verändert - Zeitschrift des Deutschen Ärztinnenbundes e.V - Deutscher Ärztinnenbund eV
GASTBEITRAG

                                                        Journalistinnen wollen die Hälfte –
                                                        auch bei Expertinnen in den Medien
                             Foto: © Ulla Brauer, NDR

                                                                          EDITH HEITKÄMPER

      Männer erklären die Corona-Krise. Dieser Eindruck war so übermächtig, dass ProQuote Medien die Aktion
      #Coronaexpertin gestartet hat. Der Verein traf damit einen Nerv bei vielen Wissenschaftlerinnen. Was
      sich Journalistinnen wünschen, um Expertinnen das angemessene Gehör zu verschaffen.

     S
             eit ein paar Wochen verbreitete                   sucht seit Jahren, bei der Hälfte aller       ßern wie Männer. „Wir sind die Hälfte, wir
             sich das neue Corona-Virus in                     Äußerungen in Radio und Fernsehen             wollen die Hälfte“, so unser Slogan von
             Deutschland. Die Zeitungen und                    Frauen zu Wort kommen zu lassen. Das          ProQuote Medien zu Frauen in Führungs-
      Online-Portale waren voll davon. Im Ra-                  klappt nicht immer. Aber beispielsweise       positionen. Das gilt auch für Expertinnen
      dio und Fernsehen gab es jeden Tag                       in Nachrichtensendungen bezahlt man           in den Medien. Wir Journalist*innen
      Sondersendungen. Und wer erklärte uns                    die Autor*innen dafür, dass sie etwas         sollten deshalb stets genauso nach der
      die Krise? Experten aus der Virologie, Im-               mehr Zeit brauchen, um in einem Fach-         Expertin wie nach dem Experten suchen.
      munologie, Epidemiologie. Ja, ExpertEN.                  gebiet für ein Statement auch eine Frau       Unsere Liste #Coronaexpertin kann da-
                                                               zu finden.                                    bei Hilfe sein, die Recherche abnehmen
      Warum waren nicht annähernd so viele                                                                   kann sie nicht.
      ExpertINNEN in den Medien wie Män-                       Seit Anfang Mai ist unsere Liste #Coro­
      ner? Da hieß es oft: Es gibt sie nicht. Das              naexpertin auf unserer Webseite www.          Mehr Frauen sollten „ja“ sagen
      ist in wenigen Fällen nachvollziehbar,                   pro-quote.de veröffentlicht. Und noch
      wenn Wissenschaftler genau über Coro­                    jetzt bekommen wir neue Namen ge-             Ich persönlich, die ich als Journalistin
      na-Viren und nicht über HIV oder Ebola                   nannt. Dutzende Wissenschaftlerinnen          für eine Medizinsendung arbeite, würde
      forschen. Aber ansonsten: die schlech-                   schrieben uns, die Kampagne habe ih-          mir wünschen, dass Ärztinnen und For-
      teste Ausrede. Denn auch bei allgemei-                   nen aus der Seele gesprochen. Auch sie        scherinnen bewusst „ja“ sagen, wenn sie
      neren Interviews, in denen es um eine                    hätten die übergroße Männerpräsenz            angefragt werden. Dass sie nicht zögern,
      Einordnung der Lage ging, um Erfahrun-                   nicht mehr ertragen. Unseren Vorstoß zu       auch wenn sie nicht mehrere Jahre über
      gen im klinischen Alltag oder all die Maß-               mehr Diversität in der Berichterstattung      genau dieses Thema geforscht haben.
      nahmen, wie man sich als Gesellschaft                    unterstützen zudem viele Männer.              Dass sie, wenn sie den Termin nicht
      schützen könnte – auch da waren es                                                                     wahrnehmen können, andere Frauen
      fast nur Männer, die sprachen.                           Aber es gibt auch andere: Die Experten        empfehlen. Denn auch das war eine Re-
                                                               hätten die Krise doch gut erklärt. Au-        aktion auf unsere Kampagne: Ein Hör-
      Vorbild: 50:50 Projekt der BBC                           ßerdem sei inzwischen die Mehrzahl            funk-Redakteur erzählte, wie er, nach-
                                                               der Studierenden in der Medizin weib-         dem ihm mehrere Frauen im Lauf des
      Uns von ProQuote Medien reichte es!                      lich und darum würde sich das Problem         Tages abgesagt hatten, am Ende einen
      Deshalb haben wir unter dem Hashtag                      demnächst ohnehin von selbst erledi-          Mann für das Interview nehmen musste.
      #Coronaexpertin eine Liste gestartet und                 gen. Aha. Das hat ja schon mal gut ge-        So etwas sollte noch seltener werden. ƒ
      einfach gesammelt: Wissenschaftlerin-                    klappt in den letzten Jahrzehnten.
      nen, die zur Corona-Krise etwas zu sa-                                                                  Edith Heitkämper ist Vorsitzende von
      gen haben. Immunologinnen, Infektiolo-                   Was hat sich seit der Liste geändert? Bei      ProQuote Medien. Der Verein setzt sich
      ginnen, Virologinnen, Epidemiologinnen,                  jeder weiblichen Stimme, die in den Me-        seit 2012 für mehr Frauen in Führungs-
      aber auch Wirtschaftswissenschaftlerin­                  dien zu Corona-Fragen vorkommt, haben          positionen in den Medien ein. Sie arbei-
      nen, Psychologinnen, Pädagoginnen. In-                   wir die Hoffnung, unsere Initia­tive könnte    tet als Redakteurin für das Gesundheits-
      spiriert ist diese Aktion durch das 50:50                einen Anstoß dazu gegeben haben. Un-           magazin „Visite“ im NDR Fernsehen.
      Projekt in der BBC. Der öffentlich-recht-                ser Ziel: Es sollte normal sein, dass sich
      liche Rundfunk in Großbritannien ver-                    genauso viele Frauen zu Fachfragen äu-        E-Mail: edith.heitkaemper@pro-quote.de

 4    ärztin 2 August 2020                                                                                                                 67. Jahrgang
Arbeit und Leben 2020 - Wie ein Virus unseren Alltag verändert - Zeitschrift des Deutschen Ärztinnenbundes e.V - Deutscher Ärztinnenbund eV
ARBEIT UND LEBEN 2020

                                    Corona-Krise und Gendermedizin:
                                    Mehr Aufmerksamkeit, aber viele
                                    offene Fragen
                     Foto: privat

                                           PROF. DR. MED. GABRIELE KACZMARCZYK

Angesichts der beispiellosen Umstände der Corona-Krise hatte der Deutsche Ärztinnenbund im April
gefordert, die Genderforschung in medizinischen und sozialen Fragen zu intensivieren. Aktuell gibt es
nun viele Veröffentlichungen zu „Corona und Gender“ – wie schön, dass Genderfragen ins Bewusstsein
kommen und bearbeitet werden! Mit drei Publikationen möchte ich Sie hier bekannt machen. Sie be-
leuchten das Thema aus verschiedenen Perspektiven.

                                                                 schnitt 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf
VERSCHÄRFUNG VON PROBLEMEN                                       als Männer. Dieser Unterschied wird als „Gender Care Gap“ be-
                                                                 zeichnet. Ob sich dieser Graben nach der Krise weiter öffnet
Corona und Gender – ein geschlechts-                             oder sich die Hoffnung erfüllt, dass er sich schließt, weil wir
bezogener Blick auf die Pandemie und                             alle (!) aus der Krise gelernt haben? Das ist derzeit offen.

ihre (möglichen) Folgen                                          Überlastung und Konflikte sind programmiert, wenn Berufs-
Die Politikwissenschaftlerin Dr. Regina Frey, Leiterin der Ge-   tätigkeit, Haushalt, Kinderbetreuung und Schulunterricht in
schäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregie-    einem engen familiären Umfeld stattfinden müssen. Und wer
rung, hat mit ihrem Arbeitspapier Aufmerksamkeit erregt. Sie     macht das meiste: die Frauen, die überdies in Corona-Zeiten
listet darin auf, welche geschlechtsrelevanten sozialen Pro-     noch häufiger Opfer häuslicher Gewalt sind.
bleme die Corona-Pandemie verschärft hat.
                                                                 Ähnlich war es schon 2008
Sie berichtet, dass Forderungen zur Aufwertung sogenannter
systemrelevanter Berufe in der Sorge- und Care-Arbeit schon      Schon in der Wirtschaftskrise 2008 erhielten bedeutend mehr
lange vor Corona auf dem Tisch der politischen Entschei-         Männer Kurzarbeitergeld als Frauen. Zudem bekamen die
dungsträger lagen: bessere Arbeitsbedingungen, angemesse-        Frauen – weil sie oft weniger verdienen als Männer – natür-
nere Bezahlung, Aus- und Weiterbildung. Dort liegen sie immer    lich weitaus geringere Beträge. Die berechtigte Frage nach
noch. „Es sind die Frauen, die das Land rocken“, zitiert Frey    der Unterstützung, wenn Zehntausende weibliche Beschäf-
den Berliner Tagesspiegel und verweist auf die zahlreichen       tigte ihren Job verlieren – wie etwa bei der Drogeriekette
Dankesbekundungen, auch von hochrangigen Politiker*innen,        Schlecker –, hatte schon in der damaligen Krise keine politi-
an Supermarktkassiererinnen und Pflegerinnen.                          schen Konsequenzen.

Im Gesundheitsbereich arbeiten fast sechs                                         Frey appelliert: In der Pandemie muss die Po-
Millionen Menschen, davon sind etwa vier                                            litik Rechenschaft darüber ablegen können,
Millionen Frauen. In der Krise erledigen                                               wie sich alle getroffenen Maßnahmen auf
sie ihre Arbeit unter großer Belastung                                                  Männer und auf Frauen auswirken, ein
und mit einem hohen persönlichen Infek-                                                  geschlechtssensibler Blick mit entspre-
tionsrisiko. Sie wurden als letzte Bevöl-                                                chenden Konsequenzen ist notwendig!
kerungsgruppe überhaupt wirksam ge-
schützt.                                                                                Download des Arbeitspapiers von Regina
                                                                                       Frey: http://www.gender.de/cms-gender/wp-
Mehr unbezahlte Sorgearbeit                                                           content/uploads/gender_corona.pdf

Doch die Care-Krise betrifft nicht nur die be-                             Das Corona-Virus prägt das Jahr 2020 beruflich, privat und in der
zahlte Sorgearbeit. Frauen wenden pro Tag im Durch-                    Wissenschaft

                                                                                                                    ärztin 2 August 2020       5
Arbeit und Leben 2020 - Wie ein Virus unseren Alltag verändert - Zeitschrift des Deutschen Ärztinnenbundes e.V - Deutscher Ärztinnenbund eV
ARBEIT UND LEBEN 2020

                                                                        Geschlechtern. Medikamente, die jetzt als Therapie bei der Co-
      WECHSELWIRKUNG GESCHLECHT                                         rona-Infektion getestet werden, müssen die Vulnerabilität der
      UND GENDER                                                        kardialen Erregungsleitung (QT-Verlängerung) bei Frauen mit
                                                                        berücksichtigen, ebenso spielt die höhere Nebenwirkungsrate
      The impact of sex and gender in the                               bei verschiedenen Arzneien bei Frauen eine Rolle.
      COVID-19 pandemic
                                                                        Genderspezifische Risiken bergen die meist von Frauen ge-
      Prof. Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione ist Professorin für        leisteten Arbeiten in der Gesundheitsversorgung ohne eine ad-
      Gendermedizin an der Radboud Universität in Nijmegen,             äquate, individuell angepasste Schutzausstattung trotz eines
      Niederlande. In ihrer Fallstudie für die European Commission      hohen Infektionsrisikos durch Patientenkontakt.
      (Directorate-General for Research and Innovation) geht es
      um die gegenseitige Abhängigkeit von biologischem (Sex)           Frauen offener für Infektionsschutz
      und sozialem (Gender) Geschlecht und die gesundheitlichen
      Auswirkungen in der gegenwärtigen Pandemie.                       Präventionskampagnen zeigten, dass mehr Frauen als Männer
                                                                        die Handhygiene beachten. Offensichtlich reagieren Frauen
      Die Autorin beschreibt die Herausforderung so: Obwohl In-         bereitwilliger auf die Empfehlungen für Schutzmaßnahmen.
      fektionserkrankungen jeden treffen können, werden Immun-          Männer dagegen stimmen eher widerwillig zu.
      antwort und Krankheitsverlauf wesentlich sowohl durch das
      biologische als auch durch das soziale Geschlecht geprägt.        Auch öffentliche Regelungen führen zu genderspezifischen
      So sind biologische Faktoren etwa auch von der Qualität der       Belastungen, denn die angeordneten Kontaktbeschränkungen
      Gesundheitsversorgung, von ökonomischen und logistischen          und Quarantänemaßnahmen betreffen unterschiedliche Grup-
      Verfügbarkeiten beeinflusst. Aktuelle Studien weltweit –          pen in verschiedenem Maß. „Systemrelevante Berufe“ werden
      https://globalhealth5050.org/covid19/ – zeigen: Es sterben        sichtbar, die Vertreter und Vertreterinnen arbeiten jedoch auch
      mehr Männer an der Infektion. Allerdings leiden Frauen mehr       unter hohem physischem und psychologischem Stress. Ande-
      als Männer langfristig unter den ökonomischen und sozialen        re verlieren ihre Arbeit und geraten in unvorhergesehene finan-
      Konsequenzen der Corona-Pandemie.                                 zielle Abhängigkeiten. Ein ganzes Sozialgefüge gerät durchein-
                                                                        ander – mit Auswirkungen auf Machtverhältnisse, Rollenbilder
      Die Immunantwort fällt bei beiden Geschlechtern unterschied-      etc. Darüber hinaus erfahren Patienten und Patientinnen even-
      lich aus: Frauen scheinen auf virale Infekte und auch auf Imp-    tuell medizinische Einschränkungen, auch wenn sie gar nicht
      fungen heftiger mit einer Antikörperproduktion zu reagieren als   vom Corona-Virus betroffen sind.
      Männer. Die Gründe dafür liegen in der hormonellen und in der
      unterschiedlichen genetischen Ausstattung von Männern und         Insgesamt benennt die Autorin folgende sexgebundene Fak­
      Frauen. Frauen haben so zwar ein höheres Risiko für Autoim-       toren: den Virus-Rezeptor und seine Verteilung und Repro-
      munerkrankungen, ein geringeres jedoch für Infektionen.           duktion im Wirts-Organismus, Antikörperbildung, hormonelle
                                                                        Einflüsse, Wirksamkeit und Nebenwirkung von Therapien.
      Geschlechtsspezifische Rezeptormenge                              Gendergebundene Faktoren sind: Virus-Exposition, Bewusst-
                                                                        sein für Symptome, Zugang zu einem Virus-Test, Vorhanden-
      Bestimmte Antikörpertypen (IgGs) fanden sich bei Frauen           sein und Zugang zu Schutzmaßnahmen, Präventionsverhalten
      nach einer SARS-CoV-2 Infektion in größerer Ausprägung als        und Einbindung in klinische Studien.
      bei Männern. Diese Unterschiede könnten für die Sensitivität
      und Spezifität von serologischen Tests von Bedeutung sein.        Fazit: Genderdimensionen müssen beim Umgang mit der Pan-
      Das Virus benutzt unter anderem einen ACE-Rezeptor, um            demie eine Rolle spielen – in Forschung und Entwicklungs­
      die Wirtszellen zu infizieren. Dieser Rezeptor wird über das X-   prozessen. Nur dann können die aus den sozio-ökonomischen
      Chromosom durch hormonelle Faktoren und Therapien be-             Verhältnissen resultierenden akuten und längerfristigen Un-
      einflusst. Allerdings ist seine genaue Bedeutung noch unklar.     gleichheiten zwischen den Geschlechtern beseitigt werden.
      Studien liefern bisher widersprüchliche Ergebnisse.
                                                                        Die Studie von Sabine Oertelt-Prigione lässt sich hier abrufen:
      Passende Dosierungen und Nebenwirkungen von Impfstoffen           https://ec.europa.eu/info/publications/impact-sex-and-gender-
      und Medikamenten unterscheiden sich wahrscheinlich bei den        covid-19-pandemic_en

 6    ärztin 2 August 2020                                                                                                 67. Jahrgang
Arbeit und Leben 2020 - Wie ein Virus unseren Alltag verändert - Zeitschrift des Deutschen Ärztinnenbundes e.V - Deutscher Ärztinnenbund eV
ARBEIT UND LEBEN 2020

                                                                   Kontakt kommen. Andererseits sind viele Komorbiditäten ge-
UNTERSCHIEDLICHE STERBLICHKEIT                                     schlechtsgebunden und betreffen Männer im Durchschnitt
                                                                   vermehrt: COPD, Hypertonie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
Impact of sex and gender on                                        aber auch Rauchen und Alkoholkonsum. Vernachlässigung
COVID-19 outcomes in Europe                                        von Präventionsmaßnahmen und späteres Aufsuchen von
                                                                   medizinischer Hilfe ist ausgeprägter bei Männern als bei Frau-
Die Übersichtsstudie stammt von fünf Autorinnen aus                en. Sorgfältige Anamnesen müssen erhoben und ausgewertet
der Schweiz, Österreich, Deutschland und USA (Catherine            werden, um die bis jetzt bekannten Geschlechtsunterschiede
Gebhard, Vera Regitz-Zagrosek, Hannelore K. Neuhauser,             weiter aufzuklären. Darunter: kardiovaskuläre Risikofaktoren,
Rosemary Morgan und Sabra L. Klein). Der Schwerpunkt liegt         sozio-ökonomischer Status, Menopausedaten, Schwanger-
auf der Frage nach den biologischen Unterschieden, welche          schaften, hormonelle Kontrazeption, Hormonersatztherapie,
die unterschiedliche Sterblichkeit bei Männern und Frauen          Krebserkrankungen, Medikamentenvorgeschichte.
mit einer COVID-19-Erkrankung erklären könnten.
                                                                   Therapietests im Überblick
Eine Tabelle belegt die Differenz in der Sterblichkeitsrate in
vielen Ländern der Welt: So erkranken zwar beispielsweise in       Die Publikation enthält zudem Informationen zu geschlechts-
Belgien, Portugal und Frankreich mehr Frauen als Männer. Be-       spezifischen Antworten auf Impfungen und eine Übersicht zu
zogen darauf sterben jedoch mehr ältere Männer als Frauen          Substanzen, die bisher als mögliche COVID-19 Therapeutika
an COVID-19. Eine Überprüfung solcher Mitteilungen in der          untersucht wurden, etwa Remdesivir und Hydroxychloroquin.
Studie ergab: Die Unterschiede bestehen in allen Altersgrup-       Nebenwirkungen traten vor allem bei Frauen auf. Hydroxychlo-
pen, besonders jedoch im Alter zwischen 50 und 59 Jahren.          roquin wurde gegen Corona zurückgenommen.

Um in Körperzellen zu gelangen, heftet sich das Virus an eine      Fazit: Die sex- und gendergebundenen Ungleichheiten, die
zelluläre Serin-Protease und an einen ACE-Rezeptor, der unter      durch die gegenwärtige Pandemie sichtbar geworden sind,
anderem auch in der Lunge vorhanden ist. Die Beziehung zwi-        verlangen die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Da-
schen dem Rezeptor und COVID-19 ist derzeit noch unklar.           ten bei der Bekämpfung von Pandemien – und nicht nur dort.
                                                                   Die Gesundheitssysteme haben bislang den Einfluss von Sex
Serin-Protease in der Prostata                                     und Gender in ihren Anstrengungen bei der Bekämpfung von
                                                                   Epidemien, Ausbrüchen und Pandemien vernachlässigt. ƒ
Biologisches Geschlecht und Hormone beeinflussen die Kas-
kade des Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS) an             Die Studie von Gebhard et al. lässt sich hier abrufen:
vielen Stellen: Die ACE-Aktivität steigt etwa nach einer Ovarek­   https://doi.org/10.1186/s13293-020-00304-9
tomie und fällt nach einer Orchiektomie. Ob dies jedoch für
Corona eine klinische Relevanz besitzt, bleibt vorerst offen,       Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk ist Vizepräsidentin des
weil mehrere Stu­dien mit Männern und Frauen widersprüch­           DÄB.
liche Ergebnisse erbracht haben.
                                                                   E-Mail: Gabriele.Kaczmarczyk@aerztinnenbund.de
Die Serin-Protease TMPRSS2 begünstigt den Viruseintritt in
Köperzellen. Sie wird hauptsächlich in der Prostata exprimiert
und durch Androgene hochreguliert. Ihre Funktion und Präsenz
in Lungenzellen ist unbekannt. Auch diese Autorinnen verwei-
sen außerdem auf die geschlechtsspezifische Immunantwort
als möglichen Einflussfaktor.

Männer mit mehr Komorbiditäten

Darüber hinaus dürfen genderbezogene Risikofaktoren nicht
außer Acht gelassen werden, etwa dass all die Frauen in so-
zialen Berufen vermehrt mit Menschen und damit Viren in

                                                                                                               ärztin 2 August 2020   7
Arbeit und Leben 2020 - Wie ein Virus unseren Alltag verändert - Zeitschrift des Deutschen Ärztinnenbundes e.V - Deutscher Ärztinnenbund eV
ARBEIT UND LEBEN 2020

                                                 Der „ambulante Schutzwall“
                                                 hat das Gesundheitssystem
                             Foto: © KV Berlin
                                                 aufrecht gehalten

                                                           DR. MED. MARGRET STENNES

      Das deutsche Gesundheitssystem hat in den vergangenen Monaten der akuten SARS-CoV-2-Pandemie
      schwierige Zeiten durchlebt. Hier eine Analyse, wie sich die Situation in der größten deutschen Stadt,
      Berlin, darstellte – und die Lehren aus Corona.

      C
             orona hat Praxen und Krankenhäuser gleichermaßen                um weiterhin erste Anlaufstelle vor allem für die chronisch
             auf den Kopf gestellt. Bis heute ist nicht klar, wie sich die   kranken Patient*innen zu sein und die wirtschaftliche Existenz
             Pandemie weiterentwickeln wird und ob wir im Herbst             zu sichern. Die Kassenärztliche Ver­einigung Berlin hat dabei
      erneut mit steigenden Infektionszahlen konfrontiert werden.            tatkräftig unterstützt. Sei es durch die zentrale Beschaffung
      Eines aber ist klar: Wir haben diese Ausnahmesituation sehr            und Verteilung von Schutzkleidung, stets aktuelle und umfang-
      gut bewältigt! Wir sind auf eine nächste Welle vorbereitet!            reiche Informationen, Kooperationen mit Krankenhäusern und
                                                                             der Feuerwehr zur Eindämmung der Pandemie, der Mitarbeit in
      Das war im März noch anders. Corona hat uns alle kalt er-              Krisenstäben, aber selbstverständlich auch dadurch, dass der
      wischt, auch die in der Niederlassung tätigen Ärztinnen und            Geldfluss stets abgesichert war. Auch in Berlin ist es gelungen,
      Ärzte. Die Sorge um die eigene Gesundheit, die der Familie und         einen Schutzschirm zu spannen, um finanzielle Ausfälle der
      Mitarbeiter*innen waren ebenso bestimmende Themen wie                  Praxen aufzufangen.
      die Ungewissheit, ob die Praxis geöffnet bleiben kann und wie
      Patientinnen und Patienten ohne Schutzausrüstung, die an-              Rückblickend kann man sagen, dass es keine hohlen Worte
      fangs fehlte, behandelt werden können.                                 sind, dass der „ambulante Schutzwall“ dafür gesorgt hat, dass
                                                                             unser Gesundheitssystem nicht in die Knie gegangen ist. Auch
      Improvisation, Telefon und Videosprechstunde                           die Mehrheit der Berliner Praxen blieb offen und konnte den
                                                                             Krankenhäusern den Rücken freihalten.
      Die Bilder aus Corona-Hotspots wie Italien haben ihr Übriges
      dazu beigetragen, um sich klarzumachen: So wie der Praxis-             Chance der Digitalisierung erlebt
      alltag bisher war, konnte er nicht bleiben. Neue Wege und
      Strukturen mussten gefunden werden. Die Kreativität der                Mittlerweile hat sich die Situation entspannt, die Praxen arbei-
      Kolleginnen und Kollegen war gefragt – zum Beispiel bei der            ten seit längerem wieder im Regelbetrieb und die Patientinnen
      Herstellung, Beschaffung oder dem „Wiederaufbereiten“ von              und Patienten kehren in die Praxen zurück. Das ambulante
      Masken, dem „Umbau“ der Praxisräume oder gesonderten                   System hat sich – auch auf Grund der selbstständigen und
      Sprechzeiten für Infektpatient*innen.                                  dadurch flexibleren Strukturen – gut auf die Krise eingestellt.
                                                                             Notwendige Maßnahmen wurden regional wie überregional
      Arbeitsmodelle und -zeiten wurden umgekrempelt, um die Kin-            schnell und oft auch unkompliziert umgesetzt. Und es wur-
      derbetreuung der Ärztinnen und Ärzte und des Praxispersonals           de erkannt, welche Chancen in der Digitalisierung stecken.
      auffangen zu können. Das Telefon avancierte zum wichtigs-              Es bleibt zu wünschen, dass an diese positiven Effekte ange-
      ten Arbeitsinstrument und eine große Anzahl von Praxen bot             knüpft wird. ƒ
      erstmalig Videosprechstunden an – in Berlin sind dies bereits
      mehr als ein Drittel aller Praxen.                                      Dr. med. Margret Stennes ist Vorstandsvorsitzende der Kassen-
                                                                              ärztlichen Vereinigung Berlin. Die Fachärztin für Innere Medizin,
      Schutzschirm gegen Finanzausfälle                                       für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psycho-
                                                                              analyse ist seit 20 Jahren in der Gremienarbeit aktiv.
      Die größte Herausforderung für niedergelassene Ärztinnen und
      Ärzte bestand darin, den eigenen Betrieb aufrechtzuer­halten,          E-Mail: kvbe@kvberlin.de

 8    ärztin 2 August 2020                                                                                                          67. Jahrgang
Arbeit und Leben 2020 - Wie ein Virus unseren Alltag verändert - Zeitschrift des Deutschen Ärztinnenbundes e.V - Deutscher Ärztinnenbund eV
ARBEIT UND LEBEN 2020

                                             Corona im Praxisalltag:
                                             Die psychologischen Herausforderungen
                                             haben dominiert
                     Foto: © Jochen Rolfes

                                                          DR. MED. ARNDT BERSON

Ambulante Testzentren, Alten- und Flüchtlingsheime, die Dynamik sozialer Medien, Existenzängste und
verunsicherte Mitarbeiter*innen und Patient*innen: Ein persönlicher Bericht über die Corona-Krise im
Landkreis Viersen in Nordrhein.

D
        ie letzten Monate in der haus­             mit anderen Institutionen des Landkrei-     Erschütternde Einblicke
        ärztlichen Praxis waren extrem             ses und nahm regelmäßig an Treffen
        anstrengend. Meine Kolleginnen             des Krisenstabs teil, dem Vertreter des     Hinzu kamen die Tests in Gemeinschafts­
Margot Kops, Dr. med. Gudrun Wirtz                 Kreisgesundheitsamtes, der Feuerwehr,       unterkünften im Kreis Viersen, etwa
und ich betreiben an zwei Standorten in            der ärztlichen Hilfsorganisationen wie      in Altenpflegeheimen und Flüchtlings-
Kempen am Niederrhein eine große                   Deutsches Rotes Kreuz (DRK) und Mal-        unterkünften. Die Pflegeheime waren
hausärztlich-internistische und diabeto­           teser Hilfsdienst angehörten.               durchweg gut geführt. Unser Eindruck:
logische Praxis mit insgesamt sieben                                                           Sämtliche möglichen Vorkehrungen wa-
Ärzt*innen.                                        400 Tests an einem Tag                      ren getroffen, um einerseits die Infek­
                                                                                               tionsgefahr zu reduzieren und sich ande-
Zu Beginn des Jahres war unsere Einstel­           Gemeinsam hoben wir in enger Zusam-         rerseits möglichst liebevoll den Bewoh-
lung noch eher verharmlosend, hatten               menarbeit mit der Hauptstelle der KV        nern zuzuwenden, die ja keinen Besuch
wir doch in den Jahren unserer nieder-             Nordrhein ein ambulantes Testzentrum        von Angehörigen erhalten durften. Be-
gelassenen Tätigkeit neben den jähr­               aus der Taufe, das an täglich wechseln-     troffen machten meine Kolleg*innen und
lichen Grippe-Hochzeiten auch SARS,                den Orten des Kreises die Abstriche ab-     mich die Erlebnisse in den Flüchtlings-
Schweinegrippe, Vogelgrippe und andere             nahm – auch und vor allem, um poten-        unterkünften. Sie führten uns teilweise
Infektionswellen überwunden.                       tiell infi­zierte Menschen aus den Praxen   erbarmungswürdige Zustände und auch
                                                   herauszuhalten. In diese Aktion waren       einen fragwürdigen Umgang mit den
Handeln trotz Unklarheit                           mehrere niedergelassene Kolleg*innen        Menschen unmittelbar vor Augen. Dies
                                                   einbezogen.                                 hat uns aufrichtig erschüttert.
Doch diesmal war alles anders: Primäres
Problem – vor allem zu Beginn der Pan-             Allein am ersten Tag kamen wir auf über     Neben diesen Problemen gab es in allen
demie – war das Fehlen von Schutz­                 400 Testungen. Täglich bestand ein im-      Phasen der SARS-CoV-2-Pandemie vor
kleidung. Fast über Nacht wurde es un-             menser Organisationsaufwand, von der        allem – so meine persönliche Wahrneh-
möglich, die geforderten FFP2- oder                Diensteinteilung, der EDV-Ausstattung,      mung – viele psychologische Aspekte im
FFP3-Masken, geschweige denn norma-                über die sich ständig ändernden Vorga-      Umgang mit Patient*innen und bei der
le Mund-Nasen-Masken sowie Desinfek­               ben des Robert Koch-Instituts (RKI) bis     Führung der Mitarbeiter*innen zu beach-
tionsmittel und Handschuhe, zu beschaf­            hin zur Betreuung der zu testenden Per-     ten. Von allen Seiten spürten wir eine er-
fen. Außerdem war zunächst unklar, wer             sonen. Meine ärztlichen und nicht-ärzt­     hebliche Unsicherheit bis zur beginnen­
die notwendigen Testungen bezahlen                 lichen Kolleg*innen in meiner Praxis und    den Panik, die es zu objektivieren und ab-
würde und wie diese ablaufen sollten.              in der Kreisstelle haben mich unterstützt   zufedern galt.
                                                   und entlastet. Sonst wäre dieser Einsatz,
Solche Themen beschäftigten mich als               der fast meinen gesamten Arbeitstag         Praxis leer, Telefon belegt
Vorsitzenden der Kreis­  stelle Viersen            füllte, nicht möglich gewesen.
der Kassenärztlichen Vereinigung (KV)                                                          Die Praxis war fast gespenstisch leer.
Nordrhein und Mitglied des Vorstands                                                           Außer Corona gab es kaum Erkran­
der Ärztekammer Nordrhein. In dieser                                                           kungen, die eine Rolle gespielt hätten.
Funktion hatte ich nun erstmals Kontakt                                                        Sämtliche Vorsorgeuntersuchungen und

                                                                                                                     ärztin 2 August 2020   9
ARBEIT UND LEBEN 2020

      Termine in Disease-Management-Pro-             lebte ich eine Kassiererin, die sich lieber    Umstellung für manche schwer
      grammen (DMPs) kamen quasi zum er-             versteckt hätte, als Geld von mir zu neh-
      liegen. Dafür war unsere Praxis telefo-        men: aus Angst vor einer möglichen In-         Zur Zeit sind die Patient*innenzahlen
      nisch kaum noch erreichbar, lahmgelegt         fektion.                                       wieder normal. Allerdings bestehen im
      von zu vielen Anrufen in zu kurzer Zeit.                                                      Praxisbetrieb weiter organisatorische
      E-Mails und Faxe kamen in Fluten und           Fast täglich hatte ich Kontakt mit den         Einschränkungen, deren Notwendigkeit
      meine Medizinischen Fachangestellten           Kolleg*innen aus den umgebenden Pra-           sich nicht allen Praxisbesucher*innen
      waren nervlich maximal angespannt.             xen und Kliniken. Abseits vom Medizi-          gleichermaßen sofort erschließt. Bei-
                                                     nischen ging es immer wieder um den            spielsweise haben wir zu Ende der Vor-
      Auch die Organisationsstruktur unseres         Rückgang beim Aufkommen an Patien-             mittags- und Nachmittagssprechzeit je
      Praxistags änderte sich. Wir arbeite­ten       tinnen und Patienten und existentielle         eine Infektionssprechstunde eingerich-
      in zwei Schichten. Die beiden                                                                            tet. An sie halten wir uns
      Teams begegneten sich nicht                                                                              strikt, um eventuell infektiöse
      mehr, um die Praxis funk­                                                                                von nichtinfektiösen Patien­
      tionsfähig und die Versorgung                                                                            t*innen fernzuhalten. Wir er-
      aufrechtzuerhalten, falls es                                                                             fahren dafür viel Verständnis
      in einer Schicht Infektionen                                                                             und Lob. Immer wieder gibt
      gäbe und alle in Quarantäne                                                                              es aber auch Beschwerden,
      müssten.                                                                                                 weil die alten, vertrauten
                                                                                                               Strukturen nicht mehr gelten.
      Große Verunsicherung be-
      stand zunächst beim Kon-                                                                                    Grundsätzlich spüren wir Nie-
      takt mit Infizierten. Instinktiv                                                                            dergelassene von unseren
      hatten manche Mitarbeiter*-                                                                                 Patient*innen viel Wertschät-
      innen das Bedürfnis, sich                                                                                   zung. Es hat sich herumge-
      selbst bei einem positiven Was desinfizieren? Wie oft und womit? Zu Beginn der Krise herrschte Verunsiche- sprochen, dass im Durch-
      Test auch sofort testen zu rung in vielen Bereichen                                                         schnitt sieben von acht
      lassen – unabhängig davon, ob die Um- Sorgen, die daraus erwuchsen. Zumal Corona-Patient*innen in den niederge-
      stände das sinnvoll erscheinen ließen.       die Terminabsagen bei den Privatpa­ lassenen Praxen versorgt wurden und
                                                   tient*innen überdurchschnittlich aus- wahrscheinlich deswegen in Deutsch-
      Unfreiwillige lokale Bekanntheit             fielen. Von der Corona-Soforthilfe profi- land die SARS-CoV-2-Pandemie so viel
                                                   tierte fast keine Praxis, dafür stand nun glimpflicher abgelaufen ist als in ande-
      Unvergesslich ist der erste positive Fall in Kurzarbeit auf der Tagesordnung – mit ren europäischen Staaten. Momentan
      unserer Praxis: Nachdem uns das Labor vielen Unklarheiten für die ärztlichen und hoffen wir auf weiterhin vernünftiges
      das positive Testergebnis gemeldet hat- nichtärztlichen Mitarbeiter*innen und Verhalten und darauf, einer zweiten Wel-
      te, schlossen wir für etwa eine Stunde, der Frage nach dem Schutzschirm.                        le zu entgehen. ƒ
      um das Vorgehen mit dem Gesundheits­
      amt zu klären. An der Tür infor­    mierte Erfreulicherweise blieben italienische                 Dr. med. Arndt Berson ist Vorsitzender
      ein Aushang die Patient*innen. Eine Per- Verhältnisse auf den Intensivstationen                   der Kreisstelle Viersen der Kassenärzt-
      son fotografierte ihn und verbreitete aus. Trotzdem haben wir uns mit Tria-                       lichen Vereinigung (KV) Nordrhein und
      ihn über soziale Medien. Unsere Praxis gierungssystemen und den Grenzen                           Mitglied im Vorstand der Ärztekammer
      ging dadurch quasi viral. Am nächsten ärztlicher Entscheidungsprozesse aus-                       Nordrhein. Der Facharzt für Allgemein-
      Morgen meldeten sich das Radio und einandersetzen müssen. Im Falle eines                          medizin betreibt mit mehreren Kolleg*in-
      alle örtlichen Zeitungen telefonisch. Ich zu großen Krankenaufkommens in zu                       nen zwei Hausarztpraxen in Kempen.
      musste unsere angebliche Schließung kurzer Zeit hätte das alle Ärzt*innen in
      dementieren. Und an der Tankstelle er- erhebliche Gewissenskonflikte gebracht. E-Mail: kreis.viersen@kvno.de

 10   ärztin 2 August 2020                                                                                                         67. Jahrgang
ARBEIT UND LEBEN 2020

                                                               Studium, Praktika, Staats-
                                                               examen: Mit Studierenden
                                                               sprechen statt über sie
                      Foto: privat

                                                Foto: privat
                                                   AURICA RITTER, PHILIP PLÄTTNER

Die Corona-Pandemie hat das Medizinstudium in Deutschland schlagartig verändert. Examina wurden
verschoben, Unterricht abgesagt und die Lehre auf digitale Formate umgestellt. Welche Hürden ergeben
sich vier Monate nach der initialen Schließung der Hochschulen?

A
        m Freitag, 13. März, verkündete      auch in anderen Lebensbereichen vor           Evaluation neuer Lehrformate
        Bundeskanzlerin Angela Merkel        Hürden: finanzielle Notlagen, weil der
        die Schließung aller Hochschu-       Nebenjob weggebrochen ist oder eine           Besonders in der Umstellung der Lehre
len – also kurz vor Semesterbeginn.          adäquate Kinderbetreuung fehlt. Zudem         hat sich wieder gezeigt, dass der Dialog
Zehntausende Medizinstudierende mel-         leben rund 3,6 Prozent aller 15- bis 24-      auf Augenhöhe mit den Studierenden
deten sich freiwillig, um bei der Bewälti-   Jährigen mit mindestens einer COVID-19        großes Potenzial birgt. In der kommen-
gung der Pandemie zu helfen.                 relevanten Vorerkrankung. Das ist vor al-     den Zeit wird die Evaluation und Weiter-
                                             lem in der medizinisch-praktischen Aus-       entwicklung digitaler Lehrformate zur
Übergang zu digitaler Lehre                  bildung ein Problem.                          Sicherung der Qualität des Studiums
                                                                                           einen unserer Schwerpunkte darstellen.
In wenigen Wochen setzten die Hoch-          Empfehlungen wurden gehört                    Die digitale Lehre muss ausgebaut und
schulen um, was lange in Deutschland                                                       etwa durch die Implementierung der
undenkbar war: Vorlesungen, Seminare,        Trotzdem hat der starke Zusammenhalt          neuen Gegenstandskataloge zukunfts-
der Unterricht am Krankenbett und Klau-      aller in den letzten Monaten ein Weiter-      fähig gemacht werden. In der Ausgestal-
suren wurden weitgehend durch digi-          führen unseres Studiums ermöglicht. Wir       tung der Praxiseinheiten besteht zudem
tale Lehrformate ersetzt. Viele Modelle      freuen uns, dass unsere Einschätzungen        noch großer Entwicklungsbedarf. Wir
funktionieren gut und zeigen, was aus        und Empfehlungen gehört und aufge-            sind uns sicher: Wenn weiterhin mit um-
Sicht der Bundesvertretung der Medi-         griffen wurden, wie etwa die Zusage zu        fassender Gesprächsbereitschaft und
zinstudierenden in Deutschland (bvmd)        kulanten Fehlzeitenregelungen bei Qua-        unabhängig von Hierarchien an Lösun-
schon lange möglich gewesen wäre. Wir        rantäne oder COVID-19-Erkrankungen            gen gearbeitet wird, werden wir gemein-
hoffen, dass diese Entwicklung nach der      sowie gelockerte Anrechnungsregelun-          sam diese und kommende Herausforde-
Pandemie fortgeführt wird.                   gen von Einkünften auf das BAföG.             rungen meistern. ƒ

Größere Schwierigkeiten zeigten sich         Gleichzeitig setzen wir uns weiterhin ein.     Aurica Ritter ist Präsidentin der bvmd
bei den medizinischen Staatsexamina:         Für zielführende Lösungen zum ver-             und Co-Founderin von match4health-
Bayern und Baden-Württemberg ent-            schobenen Examen in Bayern und Ba-             care, einer Plattform, die freiwillige Hel-
schlossen sich leider dazu, das zweite       den-Württemberg, für eine faire Auf­           fende und Hilfesuchende im Gesund-
Staatsexamen (M2) zu verschieben und         wandsentschädi­gung im PJ und sichere          heitswesen vernetzt. Sie studiert im 10.
die Studierenden ohne Prüfung in ein         Konzepte für Studierende mit Kind oder         Semester Medizin in Gießen.
vorzeitiges Praktisches Jahr (PJ) zu schi-   chronischen Erkrankungen sind wir aktiv.
cken. Hierdurch stehen nach dem PJ           In der bvmd wurde uns vor allem eines          Philip Plättner ist Vorstandsmitglied
zwei Staatsexamina an. Zusätzlich zu         wiederholt vor Augen geführt: Nur ge-          der bvmd und dort Bundeskoordinator
dieser Doppelbelastung verkürzt sich die     meinsam, mit vielen helfenden Köpfen           für Gesundheitspolitik. Er studiert im 10.
Lernzeit für das M2 von regulär über 100     und Kreativität, Flexibilität und Offenheit    Semester Medizin in Göttingen und ar-
Tagen auf weniger als sechs Wochen.          für neue Meinungen, Perspektiven und           beitete während der Pandemie freiwillig
                                             Wege sowie Kompromissbereitschaft              im lokalen COVID-19 Testzentrum.
Neben den Herausforderungen im Stu­          sind wir in der Lage, die zahlreichen Ver-
dium stehen zahlreiche junge Menschen        änderungen vorantragen zu können.             E-Mail: pr@bvmd.de

                                                                                                                  ärztin 2 August 2020    11
ARBEIT UND LEBEN 2020

                                            IM INTERVIEW

                                            „Eine gute Vernetzung hat sich
                                            in der Corona-Hochzeit
                                            als nützlich erwiesen“
                             Foto: privat

                                                           DR. JUR. BERIT JAEGER

      Sie sind Fachanwältin für Medizinrecht und engagieren sich       blick über alle Problemstellungen zu behalten. So entstand
      beim Deutschen Juristinnenbund, einem Partnernetzwerk            dann oft juristischer Klärungsbedarf.
      des DÄB. Wie hat die Corona-Krise den juristischen Bera-
      tungsbedarf von Ärzt*innen verändert?                            Hatten Sie vermehrt Anfragen von Frauen, etwa wegen feh-
                                                                       lender Kinderbetreuung?
      In unserer Kanzlei bin ich auf die Beratung und Vertretung von
      niedergelassenen (Zahn-)Ärzt*innen, Gemeinschaftspraxen          Nein, weil dies nicht ins Medizinrecht fällt. Tätigkeitsverbote
      und Medizinischen Versorgungszentren spezialisiert. Meine        für schwangere Ärztinnen sind uns dagegen gelegentlich be-
      Kolleg*innen und ich hatten in der ersten Phase der Corona-      gegnet. Hier muss man für jedes Fachgebiet genau differen­
      Krise deutlich mehr zu tun als üblich. Dagegen hatten Kanzlei-   zieren, was gerechtfertigt ist. Es ist ja klar, dass sich die Situa-
      en, die sich zum Beispiel mit Arzthaftung beschäftigen, kaum     tion für Augenärztinnen anders darstellt als beispielsweise für
      Termine. Im Lockdown konzentrierte sich alles auf die akute      Ärztinnen auf einer Intensivstation mit an COVID-19 Erkrank-
      Si­tuation, nicht so dringende Verfahren wurden – auch bei Ge-   ten. Erschwerend kam hinzu, dass die Wissenschaft in den
      richt – zurückgestellt. Die niedergelassenen Ärzt*innen hatten   ersten Wochen der Pandemie nichts darüber wusste, wie sich
      es mit Themenfeldern zu tun, mit denen sie sich zuvor noch       das Virus auf ein Ungeborenes auswirkt.
      nie beschäftigen mussten. Darum gab es viele Fragen.
                                                                       Haben Sie Tipps für rechtlich unsichere Situationen?
      Welche zum Beispiel?
                                                                       Ein Schlüssel ist sicher eine gute Vernetzung mit dem jeweili-
      Kurzarbeit war ein großes Thema. Angefangen bei der Frage,       gen Fachverband. Wer Kontakte in seine spezielle Fachärzt*in-
      wie man Kurzarbeit überhaupt beantragt bis hin zu den Aus-       nengruppe pflegt, erhält von dort aktuelle Informationen, die
      wirkungen auf die Statusentscheidungen des Zulassungsaus-        wohl am ehesten zu den persönlichen Prob­lemstellungen pas-
      schusses. Beim Antrag halfen oft die Steuerberater*innen. Bei    sen. Die Corona-Krise hatte beispielsweise für Häusärzt*innen
      den Statusentscheidungen kamen wir ins Spiel. Dabei ging es      ganz andere Auswirkungen als für Chirurg*innen. Zudem kön-
      vor allem um die Mindestsprechstunden, die man anbieten          nen Verbände auch als Interessensvertretung hilfreich sein,
      musste, um unter den Schutzschirm zu kommen.                     etwa bei der Zwangsverpflichtung zu ärztlichen Diensten, die
                                                                       es unter anderem in Bayern phasenweise gab. Da muss man
      Was hat den Ärzt*innen Ihrer Wahrnehmung nach am meis-           seine Interessen eventuell sehr schnell individuell wahren. Aber
      ten zu schaffen gemacht?                                         es ist auch beruhigend zu wissen, dass sich eine Standesver-
                                                                       tretung wie der Hausärzteverband um das Problem kümmert
      Das war die Geschwindigkeit, mit der sich alles gleichzeitig     und auch in der Politik Gehör findet. ƒ
      verändert hat. Die Praxisräume den Vorschriften entsprechend
      umgestalten, viele neue Abrechnungsziffern, teilweise unklare    Interview: Alexandra v. Knobloch
      Vorgaben, Schutzausrüstung besorgen und dann die Verän­
      derungen im Aufkommen an Patientinnen und Patienten: das          Dr. jur. Berit Jaeger ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für
      alles innerhalb weniger Tage. Dadurch hat sich das Gefüge in      Medizinrecht. Mit einem Partner führt sie eine Kanzlei in Lein-
      den Praxen, das Verhältnis der Ärzt*innen untereinander und       felden-Echterdingen. Sie ist Mitglied im Deutschen Juristinnen­
      zu den Mitarbeiter*innen schlagartig verändert. In Praxen, an     bund (djb) und engagiert sich dort unter anderem für einen hö-
      denen mehrere Ärzt*innen beteiligt sind, haben ja nicht auto-     heren Anteil an Frauen in Führungspositionen, zudem ist sie
      matisch alle Teilhaber*innen die gleiche Auffassung, wie mit      Mitglied in der AG Anwältinnen des Deutschen Anwaltvereins.
      einer Krise umzugehen ist. Und bei der Komplexität der Situa-
      tion war es allgemein kaum möglich, gleichermaßen den Über-      E-Mail: jaeger@boldjaeger.de

 12   ärztin 2 August 2020                                                                                                    67. Jahrgang
KARRIERECHANCEN

                                         Interessen noch effektiver vertreten:
                                         Spitzenfrauen Gesundheit
                                         jetzt ein Verein
                     Foto: © J. Rolfes

                                                 DR. MED. CHRISTIANE GROSS, M.A.

Mit ganz viel Frauenpower für mehr Gemeinsamkeit im Gesundheitswesen: So beschreibt der neue Verein
seine Gründungsversammlung. Dr. med. Christiane Groß, M.A., die Präsidentin des Deutschen Ärztinnen-
bundes, wurde zu einem Vorstandsmitglied gewählt. Worum geht es ihr in dieser Initiative? Ein Bericht.

A
         ntje Kapinsky von der Techniker Krankenkasse und        Die Politik sensibilisieren
         Cornelia Wanke vom Verein der Akkreditierten Labore
         in der Medizin sind die beiden Co-Vorständinnen des     Sie setzen sich insbesondere für die Förderung der Gleichbe-
neuen Vereins „Spitzenfrauen Gesundheit“. In der vergangenen     rechtigung von Frauen im Gesundheitswesen und in der Ge-
Ausgabe der ärztin hatten die beiden die Ziele der Initiative    sundheitspolitik ein, für die Wahrung ihrer beruflichen und so-
bereits vorgestellt. Am 18. Juni wurde der Verein nun in den     zialen Interessen sowie die Förderung von genderbezogenen
Räumen des Hartmannbundes in Berlin aus der Taufe geho-          Ansätzen in der Medizin und gesundheitlichen Versorgung. Sie
ben. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth, Gründerin des Forums         vertreten die Belange der Frauen gegenüber dem Gesetzgeber,
Hausärztinnen, komplettiert den geschäftsführenden Vorstand.     der Verwaltung und der Öffentlichkeit. Die Vereinsgründung
                                                                 bietet nun eine Struktur, mit der „wir uns effektiver für mehr
Zu weiteren Vorstandsmitgliedern sind gewählt: Nadiya            Frauen an der Spitze einsetzen und vielen Kolleginnen aus un-
Romanova (vdek), die sich um Kommunikation und Social            terschiedlichen Bereichen der Gesundheit eine gemeinsame
Media kümmern wird, Prof. Dr. med. Anke Lesinski-Schiedat,       Plattform anbieten“, wie Antje Kapinsky sagt.
Landesvorsitzende des Hartmannbundes Niedersachsen und
Mitglied im Geschäftsführenden Bundesvorstand, sowie Dr.         Mir geht es bei den Spitzenfrauen auch darum, den Anteil der
Christina Tophoven, Geschäftsführerin der Bundespsycho-          Ärztinnen in den Gremien der Ärzte- und Zahnärztekammern
therapeutenkammer und ich.                                       und der KVen und KZVen deutlich zu erhöhen. Das liegt mir
                                                                 seit Jahren am Herzen. Hierzu müssen wir den seit langem
Dachverband von Gesundheitsfrauen                                gut funktionierenden, meist inoffiziellen Männernetzwerken
                                                                 ein gut funktionierendes offizielles Frauennetzwerk entgegen-
Eine Anfangsidee stammt aus dem Jahr 2016, als mir mehr          setzen. Nur durch sichtbare Veränderung und mehr weibliche
und mehr klar wurde, dass auch Berufe, die einen noch hö-        Rollenvorbilder werden wir es schaffen, die jüngere Generation
heren Frauenanteil aufweisen als die Ärzteschaft, in ihren       der Ärztinnen und Zahnärztinnen für die Gremienarbeit zu in-
Gremienstrukturen weiterhin – zum Teil sogar fast zu 100 Pro-    teressieren und sie zu motivieren, sich dafür zur Verfügung zu
zent – von Männern dominiert waren: beispielweise die Psy-       stellen. Das ist die eine Seite.
chologischen Psychotherapeut*innen, die Zahnärzteschaft,
die Tierärzteschaft und die Apothekerschaft. Daraus entstand     Weibliche Sicht stärken
mit Dr. Christina Tophoven die Idee eines Dachverbandes von
Frauenverbänden aus dem Gesundheitswesen.                        Die andere Seite bedeutet, Sensibilisierung dafür zu schaffen,
                                                                 dass die Frauen – und damit deren weibliche Sicht auf das
2017/2018 traf diese Idee auf einen weiteren Impuls für ein      Gesundheitswesen – in den Gremien fehlen. Damit wird ein
Netzwerk der Spitzenfrauen im Gesundheitswesen, der von          Defizit der aktuellen Struktur offengelegt. ƒ
Antje Kapinsky, Cornelia Wanke und der Bundestagsabgeord-
neten Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Bündnis 90/Die Grünen)          Dr. med. Christiane Groß, M.A., ist Präsidentin des Deutschen
eingebracht wurde. Seit Sommer 2018 sind die Spitzenfrauen         Ärztinnenbundes.
Gesundheit aktiv.

                                                                                                             ärztin 2 August 2020   13
MUTIGE LÖWIN

      „Mutige Löwin“ würdigt                                                                                          IM INTERVIEW

                                                                                                                      „Langfristig schadet
      Kampf für gerechte                                                                                              schlechte Führung
      Arbeitsbedingungen                                                                                              einem Unternehmen

                                                                                              Foto: © Frankfurt UAS
                                                                                                                      immer“
      PD Dr. med. Doreen Richardt, Herzchirurgin aus
      Lübeck, erhält die Auszeichnung „Mutige Löwin“
      des Deutschen Ärztinnenbundes e. V. (DÄB). Die
      Ehrennadel wird ihr am 10. Oktober 2020 bei der                                   PROF. DR. REGINE GRAML, M.A.

      Beiratssitzung des DÄB in Berlin überreicht.

      N
               ormalerweise vergibt der DÄB den Preis in einem zwei-     Nach den Vorfällen am UKSH hat Schleswig-Holsteins Bil-
               jährigen Turnus. Abweichend davon wird er diesmal         dungsministerin Karin Prien (CDU) eine Reform der Medi-
               schon nach einem Jahr vergeben. Doreen Richardt hat       zinausbildung gefordert. Ärztinnen und Ärzte müssten
      sich jüngst mit ihrem Arbeitgeber, dem Universitätskli­nikum       besser auf eine Rolle als Vorgesetzte vorbereitet werden.
      Schleswig-Holstein (UKSH) in Lübeck, gerichtlich aus­einander­     Lässt sich überhaupt definieren, was gute Personalführung
      gesetzt, nachdem sie im November 2019 freigestellt worden          bedeutet?
      war. Dabei kamen Umstände der Personalführung (siehe auch
      Interview rechts) am UKSH ans Licht, die auf eine gezielte Ak-     Nicht pauschal. Wenn wir zunächst betrachten, was über-
      tion gegen die Karriere der Oberärztin schließen lassen. Das       haupt erfolgreiche Führung ausmacht, lässt sich diese zum
      Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein gab Doreen Richardt        einen durch Ergebnisse wie Gewinn, Wachstum sowie Plan-
      Recht. Es kritisierte den Klinikvorstand. Das NDR-Magazin          abweichung oder Arbeitsunfälle erfassen. Zum anderen kann
      Panorama 3 machte den Vorgang in mehreren Beiträgen                man erfolgreiche Führung an der Reaktion der Mitarbeiter*in-
      öffentlich und sprach von einem Skandal.                           nen festmachen, hierzu zählen etwa Engagement oder Arbeits­
                                                                         zufriedenheit, aber auch Krankenstand oder Personalfluktua-
                                         Für ihren unerschütterlichen    tion können Hinweise auf die Stimmung in einem Team sein.
                                         Einsatz für gerechte Arbeits-   Welche Indikatoren gewählt werden und wie man sie gewich-
                                         bedingungen zollt der DÄB       tet, entscheiden die Organisationen individuell.
                                         ihr mit der „Mutigen Löwin“
                                         Respekt und würdigt ihre        Was beeinflusst die Führungsleistung? Hängt sie nur vom
                                         außergewöhnliche Leistung       Verhalten einzelner Vorgesetzter ab?
                                         und Stärke: Ärztinnen mit ih-
                                         rem Werdegang sind im deut-     Nein. In Führungssituationen spielen immer viele Faktoren
                                         schen Medizinsystem, beson­     hinein. Die Unternehmenskultur spielt eine wichtige Rolle
      Preisträgerin: Doreen Richardt     ders in der Chirurgie, nach     und ebenso die Machtbasis, über die Führungskräfte verfü-
                                         wie vor die Ausnahme. Die       gen, aber natürlich auch das Selbstverständnis einer ganzen
      Preisträgerin ist Mitglied im DÄB und dort aktiv als Vorsitzende   Branche oder auch die Organisationsstruktur. Im Kontext sol-
      der Regionalgruppe Lübeck sowie als Mitglied im Ausschuss          cher Rahmenbedingungen wirkt das Verhalten einer Führungs-
      „MentorinnenNetzwerk“. Zudem ist sie Beisitzerin im Vorstand       kraft, das wiederum von deren Persönlichkeit und deren Fach-,
      der Ärztekammer Schleswig-Holstein. Sie ist seit langem ein        Methoden- und Sozialkompetenz geprägt ist. Dazu kommen
      Vorbild für viele junge Ärztinnen.                                 Wechselwirkungen mit den Mitarbeiter*innen, die natürlich
                                                                         selbst ganz individuelle Erwartungen haben.
      In diesem Fall hat das nach wie vor massiv hierarchisch ge-
      prägte Medizinwesen seine dunkle Seite gezeigt. Indem die          Bei so einem komplexen Wechselspiel: Wie könnte eine sinn-
      Ärztin die Vorgänge öffentlich macht, setzt sie sich für die       volle Vorbereitung auf Führungsaufgaben für Medizinstudie-
      Bekämpfung von Ungerechtigkeiten in der Arbeitswelt ein.           rende aussehen?
      DÄB-Präsidentin Dr. Christiane Groß sagt im Namen des Vor-
      stands: „Der DÄB ist froh, dass wir eine Kollegin auszeichnen      Längst nicht alle Medizinstudierenden werden später eine
      können, die anderen Frauen als Beispiel dienen kann.“ Die Stif-    klassische Führungsposition einnehmen. Darum hat es wenig
      terin des Preises „Mutige Löwin“, Elke Burghard, Ärztliche Psy­    Sinn, alle in typische Führungsseminare zu stecken. Wichtiger
      chotherapeutin aus Neumünster, sagt: „Doreen Richardt ist          wäre es, das Studium so zu gestalten, dass es bei den Studie-
      eine ‚Mutige Löwin‘ im Sinne des Gründungsgedankens hinter         renden die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zur Selbst­
      dieser Auszeichnung.“ ƒ                                            reflektion stärkt. Das sind soziale Kompetenzen, die sich im

 14   ärztin 2 August 2020                                                                                                           67. Jahrgang
Sie können auch lesen