Deutsche Musiker in der Stadt an der Newa - Gartow Stiftung
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Petersburg ist ein ordentlicher Mensch, ein richtiger Deutscher Nikolai Gogol Petersburger Notizen von 1836 Deutsche haben in der russischen Musikgeschichte eine immens wichtige Rolle gespielt. Der Kontakt der Russen zur deutschen Kultur und zu deutschen Bräuchen und Traditio- nen begann sich Anfang des 16. Jahrhun- derts, während der Herrschaft des Zaren Wassili III., zu vertiefen und gewann dann in der Ära Peters des Großen besonderes Gewicht: Da waren die Orgelmusik und der Chorgesang in der Moskauer deutschen Vorstadt, die Konzerte der Hofkapelle des Herzogs von Holstein-Gottorf, es gab säch- sische Sackpfeifer und den Glockenspieler 1 Johann Förster, die von Kaiserin Anna Iwa- nowna aus Dresden angeforderte „Italienische Truppe“ und schließlich Karl Knippers Deutsches Theater in St. Peters- burg. Mit der Zeit bildeten sich vielfältige russisch-deutsche Musikbeziehungen heraus. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die junge rus- sische Hauptstadt zu einem Anziehungspunkt für aus- wanderungsfreudige deutsche Musiker, Komponisten, Instrumentenbauer und Musikverleger. Die Stadt an der Newa lockte mit ihrem europäischen Erscheinungsbild, enormen Möglichkeiten zur beruflichen Selbstverwirkli- chung — und ordentlichem Verdienst. Wie der Notenver- 2 leger Johann Daniel Gerstenberg schrieb, konnte man hier „sein Glück zehnmal schneller machen als in der Heimat“. Wobei er Glück als Zusammenspiel von künstlerischem Schaffen und materiellem Wohlergehen verstand. Die Musikbegeisterung der herrschen- den Romanow-Familie förderte das Auf- blühen dieser Kunst. Hervorgehoben sei- en die Kaiser Nikolaus I. und Alexander III., die Großfürstin Jelena Pawlowna, die großfürstliche Dynastie der „Konstantino- witschej“ und die russischen Zweige der Herzogsfamilien von Oldenburg und Meck- lenburg-Strelitz. Ihnen nicht nach standen 3 1
Wilhelm Wurm die musikfördernden Adelssippen der Scheremetjews, Jus- supows, Naryschkins, Demidows und Stroganows. In der Zusammenschau mit dem sich erst später entwickeln- den Mäzenatentum von Kaufleuten und Fabrikbesitzern bot sich hier das Bild eines Tätigkeitsfelds von kaum 1826-1904 überschaubarer Weite: „Theater und Konzerte sind die Orte, wo die Klassen der Petersburger Gesellschaft Wilhelm Wurm wurde am 25. September 1826 im deu aufeinandertreffen“, konstatierte Gogol in seinen „Pe- tschen Braunschweig in der Familie eines Militärkapell- tersburger Notizen des Jahres 1836“, in denen er auch meisters der unbesiegbaren „Schwarzen Husaren“ des Ballett und Oper zu „Zar und Zarin“ des hauptstädtischen dortigen Großherzogs Friedrich Wilhelm geboren. 4 Kulturlebens erhob. Der Vater war auch der erste musikalische Ausbilder Deutsche Musikinterpreten und Pädagogen von Weltklas- des Sohnes auf einem Instrument, dessen Popula- se waren in Petersburg hochwillkommen. Sie standen an der rität zu dieser Zeit in Europa ungewöhnlich schnell Wiege des russischen Operntheaters (Hermann Friedrich wuchs: Das Kornett (eine technisch vervollkommnete Raupach) wie auch an den Anfängen der privaten wie pro- Variante der Trompete) konkurrierte damals mit der fessionellen Musikausbildung in Russland (Friedrich Scholz Geige und der Flöte und wurde zum heimlichen König 9 und Adolph von Henselt). Sie waren Koryphäen ihres Fachs der Blasinstrumente. Und der 20-jährige Wilhelm Wurm wie der geniale Geiger Anton Ferdinand Titz, der Alexander avancierte nach Abschluss der Braunschweiger Musikschu- I. unterrichtete. Andere schafften es zwar nicht in den Musi- le zu einem Kornett-Virtuosen europäischen Maßstabs. Lud- ker-Olymp, bildeten aber doch eine vortreffliche Meistergilde. wig Maurer, der Musikinspektor der russischen Kaiserlichen Diese Ausstellung ruft ihre Namen ins Bewusstsein zurück; Theater, konnte dieses herausragende Talent einfach nicht Namen, die durch die historischen Ereignisse und Prozesse übersehen — und so trat der braunschweigisch-Lüneburger 5 des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit gerieten oder ver- Untertan zum 8. Oktober 1847 „in den Dienst der Theater“. drängt wurden. Die hier vorgestellten Musiker haben Hand Laut der archivierten Personalformular-Liste erfüllte der Kor- in Hand mit russischen Künstlerkollegen das unvergleich- nett-Solist in den Theatern bis zu seiner Entlassung am 5. Fe- liche Bild der Stadt Puschkins, Glinkas und Tschaikowskis bruar 1878 „seine Verpflichtungen mit vortrefflichem Talent 10 geprägt. Einer Stadt, die — wie diese großen Namen auch — und vorbildlichem Eifer“. „fremde Genies, als wären es die eigenen, in ihre Seele Russlands Herrscher Alexander III. hatte sich schon in einschloss“ und „das weltumspannende Streben des rus- früher Kindheit für das Kornett begeistert. Das Instrument sischen Geistes“ verkörperte (Fjodor Dostojewski). wurde zu einem treuen Begleiter des Zarewitschs, der spä- ter den Beinamen „Der Friedensstifter“ erhielt. Zu den Zei- ten, als dieser Kaiser heranwuchs und herrschte, wurde St. Petersburg zum Mekka für europäische Blasmusiker. Wurm, der zunächst (1861-1868) Musiklehrer des hochwohlgebo- renen Schülers und dann (1875-1885) Leiter von dessen Hobby-Brassorchester wurde, hatte unter ihnen einen be- sonderen Ehrenplatz inne. 1862 wurde er mit dem Titel eines Solisten seiner Kaiserlichen Hoheit ausgezeichnet, zwischen 1865 und 1884 mehrfach zum Träger russischer Orden 6 7 (Stanislaus-, Annen- und Wladimirorden) ernannt, außer- 8 dem bekam er diverse Medaillen verliehen. Seine Verdienste 2 3
wurden auch mit dem preußischen Kronen-Orden, dem lin, Juri Bolschijanow, Daniil Ginezinski und Boris Niko- schwedischen Wasaorden und dem österreichischen now eine großartige Reihe Leningrader Trompeter heran. Franz-Joseph-Orden gewürdigt. Der Lebensabend des Blasmusik-Patriarchen verlief Die pädagogische Tätigkeit Wassili Wassiljewitschs (wie nicht ungetrübt. Den häufigen Bitten um Darlehen der sich Wurm auf russische Manier nannte) hatte in der Thea- Kaiserlichen Russischen Musikgesellschaft und den Bit- terschule begonnen, weitete sich dann (1868-1904) auf das ten um Stundung der Rückzahlung dieser Darlehen aus Petersburger Konservatorium aus und umfasste auch Bil- seinem Gehalt am Konservatorium nach zu urteilen, leb- dungsinstitutionen des Militärs im Petersburger Wehrbezirk: te Wurm in äußerst bescheidenen materiellen Verhält- Die Leitung von „Chören“ genannten Orchestern der Garde- nissen. Als gutherziger Vater — er hatte vier Kinder aus truppen (1861-1888) und seine Inspektorenrolle im Bereich zwei Ehen — versorgte er auch die Familie seines früh der Militärmusik (1868-1889) nahmen ebenfalls viel Zeit und verstorbenen Erstgeborenen Karl, der als Lehrer am Kon- Kraft in Anspruch. Parallel führte er ein aktives Konzertleben servatorium unterrichtet hatte. Nun waren es schon die 11 als Solist, Ensemblemitglied (als Partner von Anton Rubin- Kollegen und Schüler von Wassili Wassiljewitsch Wurm, stein und Karl Dawidow) und Dirigent. Zudem war er noch die zu seinen Gunsten Benefizkonzerte abhielten. Auf von 1864 bis 1897 ohne Unterbrechung Vorsitzender der Pe- eine Eingabe von Iwan Wsewoloschski hin wurde Wurm tersburger Philharmonischen Gesellschaft. in Anerkennung seiner 50-jährigen künstlerischen Tätig- Wurms Kreativität manifestierte sich sowohl in seinem keit, seines außerordentlichen Talents und seiner un- Erfindungsreichtum im Bereich der Blechblasinstrumente schätzbaren pädagogischen Errungenschaften durch als auch in einer mustergültigen Reorganisation der russi- einen allerhöchsten Ukas vom 7. Februar 1898 eine schen Militärmusik. Für seine Zeitgenossen waren Wurms jährliche Leibrente erster Klasse von 1140 Rubel zu- grandiose Konzertveranstaltungen mit über 1000 Musikern gesprochen — ebenso wie den Kollegen Friedrich der Garde-Orchester und Sängern der Hofsängerkapelle un- Homilius und Albert Zabel. Wurm starb 1904. Das vergesslich. Er hinterließ eine Vielzahl an Märschen sowie seither vergangene Jahrhundert hat die Verdienste 12 Transkriptionen für Trompete und Kornett von damals popu- des „göttlichen Kornettisten“ nicht aus dem Gedächtnis lären Romanzen und Stücken aus dem Opern- und Ballett- des musikalischen Petersburgs getilgt, sondern dessen repertoire. Doch historisch gesehen sind seine zahlreichen Bedeutung als unangefochtener Gründervater der Peters- Etüden von noch höherer Bedeutung, sind sie doch bis heute burger Trompeten-Schule nur gefestigt. „die Bibel“ für professionelle Bläser. Darin sowie in einigen Lehrbüchern legte er seine über viele Jahre ausgearbeite- ten methodischen Prinzipien eines Ausbildungssystems für Blasmusiker nieder, mit dem Wurm im Konservatorium erst- klassige einheimische Künstler heranzog. So steckte Iwan Ferrero, der Inspektor der Theaterorchester, in einer schier ausweglosen Lage, nachdem Wurm sein Entlassungsgesuch eingereicht hatte: „Ihm ebenbürtige Künstler gibt es in Pe- tersburg nicht“, berichtete Ferrero, als er die sich lange hin- ziehende, europaweite Suche nach einem Bewerber für den vakant gewordenen Posten zu erklären versuchte. Dennoch brillierten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Peters- burg nacheinander August Johanson, Alexander Gordon, Jo- hann (Iwan) Armsheimer und Alexander Schmidt. Letzterer hatte Wurm noch am Ende seiner Karriere und seines Lebens persönlich erlebt und zog seinerseits mit Weniamin Margo- 4 5
Ludwig Maurer Chefs. Auch Maurers Instrumentalkompositionen wurden aufgeführt und publiziert. So ist ein Artikel aus dem „Da- men-Journal“ von 1830 erhalten, in dem es um künstleri- und Söhne sche Bewährungsproben in der Adelspension der Moskauer Universität ging, bei denen der damals 15-jährige Michail Lermontow nicht nur für seine malerischen Arbeiten, son- dern auch für den „hervorragenden Vortrag eines Allegro 1789-1878 aus einem Maurer-Konzert auf der Geige“ erwähnt wurde. Das russische Schicksal von Ludwig Wilhelm Maurer begann in Moskau. Dorthin hatte es ihn als 17 Jahre alten und durchaus vielversprechen- den Geiger verschlagen, nachdem er 1806 vor dem Einmarsch Napoleons aus Preußen geflohen war. Hinter ihm lagen eine Kindheit in Potsdam und das Erlernen der Geigenkunst bei dem geachteten Mentor Karl Haack, erste Solo-Erfolge und Konzert- 13 erfahrung in der Berliner Königlichen Hofkapelle sowie 16 16а eine kurze Zeit der Wanderschaft in Kurland. Aufgrund der Fürsprache durch einen Kollegen, den berühmten Geiger Senator Wsewoloschski investierte auch nach Maurers Pierre Baillot, wurde er von Wsewolod Wsewoloschski als Abreise sein Vermögen in seinen aufwändigen Lebensstil Dirigent in dessen Orchester berufen. So hatte das Schick- und erwarb nahe der Zaren-Metropole das Landgut Rjabo- sal Maurer mit einer der damals schillerndsten russischen wo. Er verdiente sich den pompösen Spitznamen eines „Krö- Unternehmerpersönlichkeiten von Rang und Namen zu- sus von Petersburg“, da er dort schier unglaubliche Feste sammengeführt. Seinen kolossalen Reichtum investierte und Konzert-Events für die Aristokratie und Bohème Peters- Wsewoloschski nicht nur in seine boomenden Geschäfts- burgs ausrichtete. Als notorischer Störenfried arrivierter aktivitäten, sondern auch in die Kultur: Er schuf eine vor- Verhältnisse und Liebhaber talentierter kreativer Köpfe ver- treffliche Theatertruppe aus Leibeigenen, die über einen langte es Wsewoloschski nach wie vor nach erstklassigen hervorragenden Chor und ein virtuoses Orchester verfügte. Musikern. 1833 bestellte er Ludwig Maurer erneut nach St. 14 Napoleons Invasion in Russland unterbrach die erfolg- Petersburg, wo der Geiger und Dirigent nun für die nächsten reich begonnene Karriere Maurers: Mit seinem Schutzherrn 45 Jahre tätig blieb. 17 zog Ludwig Wilgemowitsch — wie er in Russland genannt Der Tod seines Herrn und Beschützers 1836 hemmte wurde — fast bis nach Sibirien, wobei er die Nöte von den weiteren Aufstieg des Maestros auf der Karriereleiter Kriegszeiten am eigenen Leib erfuhr. 1818 kehrte er ver- nicht: Am 30. Mai 1835 unterzeichnet der allmächtige Di- heiratet nach Deutschland zurück — zur Ehefrau hatte er rektor der Petersburger Theater, der Geheime Staatsrat Ge- eine Erzieherin aus dem Hause Wsewoloschskis erwählt. deonow mit dem Musiker einen Kontrakt für die Petersbur- Nach sechs Jahren voller Konzertreisen (Leipzig, Paris, ger Französische Operntruppe mit einem Jahresgehalt von Danzig) ließ sich Maurer als Konzertmeister in Hannover 5000 Rubel. In seiner Aufenthaltsgenehmigung aus dieser nieder. Seine Verbindungen nach Russland waren jedoch Zeit sind die persönlichen Merkmale des von seiner Gattin nicht abgebrochen: Er kam zu Konzerten nach St. Peters- Anna und den Söhnen Alexander und Wsewolod begleite- burg, schickte seine Opern dorthin und schrieb in Co-Au- ten 46-jährigen „preußischen Untertans und Hannoveraner 15 torenschaft mit Aljabew und Werstowski die Musik für ein Konzertisten“ genau aufgeführt. Zum 1. März 1841 wurden 18 neues Vaudeville-Stück des Theaters seines ehemaligen 6 7
Maurer — unter Beibehaltung seiner bisherigen Aufga- auch zusammen mit ihrem Vater (eine Namensliste der Or- ben — noch die Pflichten eines Musikinspektors der chestermusiker der Kaiserlichen Theater vom 30.05.1860 Kaiserlichen Theater auferlegt. Im selben Jahr be- und eine Reihe Rapports erwähnen alle drei Maurers). Wse- gann auch seine Tätigkeit als Dirigent bei den sin- wolod vertrat seinen Vater oft auf dem Inspektorenposten fonischen Programmen der Konzertgesellschaft, (s. seinen Rapport vom 24.02.1868). die er bis 1871 wahrnahm. Beide Söhne nahmen im Kulturleben der russischen Maurers Verdienste um die russische Kultur Hauptstadt würdige Plätze ein. Doch auf seinen Geiger-Sohn sind enorm. Die meinungsbildenden Musikkriti- konnte der Vater besonders stolz sein: Es sind zahlreiche ker Fürst Wladimir Odojewski und Alexander Se- Zeugnisse über Wsewolod Maurers außerordentliches row bezeichneten ihn als den besten Dirigenten Spiel in den Quartetten Alexej Lwows (zusammen mit dem Petersburgs. Bei der Premiere von Beethovens glänzenden Cellisten Graf Matwej Wijelgorski) und des bel- Violinkonzert in Russland brillierte er 1841 als So- gischen Starvirtuosen Henri Vieuxtemps erhalten. Parallel list. Und in seinen Konzertprogrammen propagierte betätigte er sich über 50 Jahre als Orchestersolist und Kon- er unermüdlich Mozart, Haydn und russische Kompo- zertmeister in der Italienischen Oper (und bekam in Russ- 19 nisten. Die erhaltenen Konzertplakate seiner Auftritte im land gleichzeitig mit seinem Vater eine Pension aufgrund Saal der Hofsängerkapelle beeindrucken durch die Viel- der Verdienstjahre). Für viele Jahre war Wsewolod Maurer falt und Komplexität des Repertoires. Auch seine eigene einfühlsamer und talentierter Musiklehrer in den Instrumen- Schöpferkraft ließ nicht nach: In seinen Balletten glänzte talklassen der Hofsängerkapelle. Einige Dokumente bele- die unvergleichliche Maria Taglioni. Es waren auch sein gen seine Bemühungen, eine private Musikschule im Stadt- Name und seine Musik, die die Opernsängerin Pauline teil Kolomna zu eröffnen. Am 15. September 1875 bat er Viardot nach Russland lockte. Das umfangreiche kom- um die Aufnahme seines Sohnes (der ebenfalls Wsewolod positorische Erbe Maurers mit Werken für Oper und Bal- hieß) als Schüler in die Klavierklasse des Konservatoriums lett, Sinfoniekonzerten und Kammermusik beeindruckt zu vergünstigten Bedingungen. So hatte also auch ein Enkel nicht nur mit seinem Umfang, sondern auch mit seiner von Ludwig Maurer das Gewerbe des Berufsmusikers ge- Meisterhaftigkeit. Seine besten Opern „Aloise“ und „Der wählt. Im Weiteren verlieren sich in St. Petersburg die Spu- Neue Paris“, seine filigranen Vaudevilles und das Ballett ren der Familie. „Der Schatten“ waren überaus gefragt, besonders ange- sichts des Repertoiremangels, der die zahlreichen Büh- nen Petersburgs quälte. Ludwig Maurer war ein „russischer Pionier“ in der Musik für Blasmusikorchester. Blechbläserquintette aller Perfektionsstufen spielen mit Begeisterung seine 20 Stücke. Die Ursprünge der professionellen Kammermu- sikaufführung in Petersburg (noch vor der Gründung der Russischen Musikalischen Gesellschaft) sind ebenfalls mit seinem Familiennamen verbunden — denn die Mau- rers lebten als Musikerdynastie in Russland glücklich fort. Die in Potsdam zur Welt gekommenen Söhne von Ludwig Wilgelmowitsch wuchsen in St. Petersburg zu hochqualifizierten Musikern heran. Wsewolod (Geiger, 1819-1892) und Alexej (Cellist, Lebensdaten unbekannt) traten schon als Kinder zusammen mit ihrem Vater bei Konzerten als familiäres Trio auf. Später arbeiteten sie 8 9
Carl Schuberth russifizierten Vatersnamens lebte Karl Bogdanowitsch Schuberth nun für die folgenden 27 Jahre in Russland und entwickelte geradezu umtriebige Aktivitäten zum Wohle seiner neuerworbenen musikalischen 1811-1863 Heimat. Er verzückte das Publikum als virtuoser Solist wie auch hervorragendes Ensemblemitglied, erfüllte perfekt seine Pflichten als Erster Cellist der Carl Schuberth wurde 1811 in Magdeburg, der heu- Direktion der kaiserlichen Theater und schrieb viele tigen Hauptstadt des Bundeslandes Sachsen-Anhalt, Musikstücke — die allerdings heute leider weitgehend in einer Musikerfamilie geboren. Sein Vater Gottlob in Vergessenheit geraten sind. 23 Schuberth war ein hervorragender Oboen-Virtuose Das musikalische Erbe Schuberths umfasst neben und Musiklehrer für Flügel, Geige und Klarinette, der einem Cello-Konzert mit Orchesterbegleitung eine Vielzahl sich auch aufs Dirigieren verstand und Musik schrieb. von Konzertstücken und Fantasien für Cello und Klavier — 21 Seine netten Salonstücke für Klavier fanden reißenden unter anderem auch zu Themen russischer Lieder und Glin- Absatz, zumal es sein ältester Sohn Julius zu einem so- ka-Opern. Er schuf mehrere Streichquartette und -quintette; liden und erfolgreichen Geschäft als Musikverleger in Ham- ein von ihm geschriebenes Streicher-Oktett wird bis heute burg gebracht hatte. Dank seines Vaters beherrschte Karl immer wieder aufgeführt. Seine effektvolle Große Sonate für das Klavierspiel und eignete sich das Dirigieren und Kom- Cello und Klavier ist seinem herausragenden Kollegen Anton ponieren an. Europaweiten Ruhm errang er jedoch als Cellist. Rubinstein und seinem geliebten Schüler Karl Dawidow ge- Dank seiner angeborenen Begabung trat er schon als Acht- widmet. Bei Schuberths Stellung geradezu unvermeidlich wa- jähriger öffentlich auf. Mit ungewöhnlichem Fleiß verfeinerte ren „Gelegenheitskompositionen“: So erhielt die Kaiserliche er sein Können in einer Klasse des hervorragenden Pädago- Theaterdirektion am 13. März 1854 Nachricht über die von gen Friedrich Dotzauer. Auch reicherte er seine Kenntnisse in seiner Kaiserlichen Hoheit gnädigst angenommene Kantate 24 Musikerkreisen an, wobei ihm die besten Verbindungen seiner namens „Unser Volksruf“ mit untertänigster Widmung des Familie ins Künstlermilieu zugutekamen. Autors. Und am 16. Dezember 1860 überstellte das Minis- Sein Cellisten-Debüt mit elf Jahren wurde zum Auftakt terium des Kaiserhofs an die gleiche einer stürmischen Karriere: Nach einem nur kurzen Engage- Adresse einen diamantbesetzten Ring ment im Theaterorchester seiner Heimatstadt brach Schub- als Dank für eine musikalische Gabe erth zu einer großen Solotournee durch Europa auf, die ihn Schuberths anlässlich des Todes der nach Köln, Brüssel, Antwerpen, London, Paris und Wien Kaiserin Alexandra Fjodorowna. Der 22 führte. 1834 verlieh ihm der König der Niederlande den Titel deutsche Musiker zeigte ungewöhn- eines „Hofsolisten“. Danach reiste Schuberth zu Gastspie- liches Interesse für die nationale Viel- len nach Russland. Nach einem triumphalen Konzert in St. falt der russischen Folklore, zu deren Petersburg war es nun schon Kaiser Nikolaus I., der ihm Erforschung er ethnografische Studi- den Rang eines „Kaiserlichen Solisten“ verlieh. Am 1. Ap- enreisen durch die russische Provinz ril 1836 engagierte die kaiserliche Theaterdirektion den bis in die Steppen des Orenburger „ausländischen Violoncello-Konzertisten Schuberth“ und Gouvernements unternahm. Eines 25 25а gewährte ihm aufgrund seines „hervorragenden Talents“ seiner Quartette trägt den Titel „Meine ein Salär von 3500 Rubel im ersten Jahr und 4000 Rubel in Reise in die Kirgisen-Steppe“ und beinhaltet Themata aus ta- den beiden darauf folgenden Jahren — zur damaligen Zeit tarischen, kasachischen und baschkirischen Liedern. durchaus ansehnliche Beträge. Unter Hinzufügung eines Es ist keine Übertreibung zu sagen, Schuberth habe mit seinem Talent und seiner Autorität das Kulturklima der nörd- lichen Hauptstadt mitbestimmt. Und es ist auch nicht so 10 11
einfach, den Überblick über alle seine Aktivitäten neben den seinen jüngeren Kollegen aus. Nicht zufällig zeigten sich schon genannten Sphären zu wahren: Er war Direktor der Kai- nach seinem plötzlichen und unerwarteten Tod alle führen- serlichen Hofsängerkapelle, Direktor und Dirigent der St. Pe- den Musiker Petersburgs zu einem Wohltätigkeitskonzert tersburger Philharmonischen Gesellschaft, Dirigent von Kon- zu seinem Andenken und zur Unterstützung der verwaisten zerten der „Kostenlosen Musikschule“ sowie Gründer und Familie bereit. Der kaiserliche Hof bewilligte es trotz eini- über 20 Jahre ständiger künstlerischer Leiter und Dirigent ger Verstöße gegen Verwaltungsregularien, worauf es unter des „Symphonischen Orchesters der Herren Professoren Verzicht auf die Saalmiete am 2. Februar 1864 im Großen und Studenten der Kaiserlichen Universität“. Deren als „Mu- Theater abgehalten werden durfte. Der Witwe und den Kin- sikalische Übungen der Studenten“ bezeichneten Konzerte dern wurde ein solides Sammelergebnis überschrieben, ein- 26 waren, den damaligen Zeitungen nach zu urteilen, überaus schließlich jener 100 Rubel, die für die Zarenloge gespendet populär und wurden von Fachkoryphäen vom Kaliber eines worden waren. Später waren dann Amalia Schuberth und ihre Alexander Serow, Pjotr Tschaikowski oder Alexander Borodin noch nicht volljährigen Kinder Pensionsempfänger der Rus- gebührend gewürdigt. sischen Musikalischen Gesellschaft, deren gemeinnützige 28 Michail Glinka, der mit Karl Bogdanowitsch auf „Du“ war, Tätigkeit maßgeblich von den deutschstämmigen Musikern hielt dessen Darbietungen seiner Musik für „vollkommen Wilhelm Wurm, Friedrich Homilius, Karl Friedrich Waterstraat und alles Vorstellbare übertreffend“. Glinkas Begeisterung und Karl Niedmann getragen wurden. galt auch Schuberths Interpretationen von Werken Beetho- Den Ruf eines herausragenden Pädagogen hatte sich vens, Liszts und Schumanns als Dirigent: „Meiner Meinung Schuberth faktisch gleich nach seiner Ankunft angeeig- nach sind Du und Berlioz die beiden besten Dirigenten, die net. Er unterrichtete an der Kaiserlichen Universität, an der ich kenne und fürwahr verdanke ich Euch beiden den größten Rechtshochschule und bei Lehrgängen der Russischen Mu- Musikgenuss“. Treue Verehrer Schuberths waren auch Alex- sikalischen Gesellschaft. Darüber hinaus erfüllte er am Thea- ander Dargomyschski, Anton Rubinstein, Wladimir Stassow terinstitut die Aufgabe eines Inspektors und später die des und César Cui. Oberlehrers der Musikklassen — wobei hinsichtlich dieser Сarl Schuberth stand an den Anfängen der professionel- Position am 28. Oktober 1856 ein spezieller Erlass ergangen len Kammermusik in Russland. Zusammen mit dem aus war: „Der Musiker und Pensionär der St. Petersburger Thea- Nürnberg gebürtigen Bratschisten Hieronymus Weickmann ter darf die Position eines Oberlehrers für Musik am Theater- und den russischen Geigern deutscher Herkunft institut unter Beibehaltung der Auszahlung seines Gehalts Johann Pickel und Jewgeni Albrecht formierte er aufgrund der Position eines Cello-Solisten einnehmen, wobei ein famoses Quartett. Später spielte darin Henryk er diese unter Rücksichtnahme auf seine neuen Verpflich- Wienawski die erste Geige, doch Weltruhm er- tungen nur dann zu erfüllen hat, wenn dafür Bedarf besteht.“ langte das Ensemble erst mit dem Ersten Geiger 1862 wurde er zum Ersten Professor für Cello am neu er- Leopold Auer und den Cellisten Karl Dawidow und öffneten Petersburger Konservatorium berufen. Aufgrund Alexander Werschbilowitsch. seiner schwächelnden Gesundheit konnte er diesen Posten Trotz der Last der schöpferischen Tätigkeit und jedoch nur ein Jahr lang wahrnehmen. Doch sein bester der dienstlichen Verpflichtungen war Schuberth Schüler Karl Dawidow übernahm dann unter Umsetzung der auf gute deutsche Art ein verantwortlicher Vater Maßgaben seines Lehrers die Führung der russischen Cellis- seiner vier Kinder. Er kümmerte sich – wie Archiv- tenschule. So ist es statthaft, Schuberth zu Recht als Begrün- dokumente belegen – rührend um die Aufnahme der der russischen Cello-Schule zu betrachten. seines Sohnes Karl ins Gymnasium und um eine gebührende Erziehung seiner Tochter Jewge- nia-Doroth. Intrigen waren diesem Mann der Küns- te fremd: Er zeichnete sich durch Seelengröße, Be- 27 scheidenheit und väterliche Fürsorge gegenüber 12 13
Adolf von Henselt zum Freund der adligen Aufklärer Wla- dimir Odojewski und der Gebrüder Wi- jelgorski, seines Lehrers und väterlichen Freundes Balakirew, Stassows und auch 1814-1889 zu einem würdigen Kollegen und Konkur- renten für Anton Rubinstein und Theodor Leschetizky. Er war bekannt mit Glinka, Der Komponist, Pianist und Pädagoge Adolf von Henselt Dargomyschski und Tschaikowski, wobei (1814—1889) nimmt in der Geschichte der Klaviermusik des er diesem (zu dessen großer Verblüffung) 19. Jh. die überaus wichtige Stellung des Vermittlers zwi- seinen Taktstock vermachte. Er hatte schen zwei großen europäischen Kulturen ein, der deutschen Einfluss auf Tanejew, Ljapunow, Ljadow und der russischen. Geboren wurde er in der bayerischen und — über seinen herausragenden Schü- Kleinstadt Schwabach. Die Zeit seiner Ausbildung und seiner ler Swerew — auch auf Skrjabin und Rach- ersten kompositorischen Erfolge wie auch triumphaler Gast- maninow. Letzterer schätzte Henselt aufs spiele verbrachte er in München, Weimar, Dresden, Leipzig, Höchste als herausragenden Pädagogen Berlin, Breslau und Wien. Diese Zeit fiel in die Epoche der He- und Komponisten. 32 rausbildung der romantischen Klaviermusik — und Henselts Klavierunterricht wurde zu Henselts 29 Name war bald in aller Munde, genannt in einer Reihe von Na- Hauptbeschäftigung in Russland. Aber er ergänzte nicht nur men wie Chopin, Liszt und Schumann. Letzterer nannte ihn einfach die engen Reihen der ausländischen Pädagogen, „einen Gott am Flügel“ und war geradezu besessen von ihm. sondern nahm als Hofpianist und Mentor der Klavierausbil- Und Liszt riet jedem seiner Schüler, doch dem Geheimnis von dung eine besondere Rolle ein. Im Verlauf von 40 Jahren war „Henselts Samtpfoten“ auf die Spur zu kommen. 1838 kam er der Musikerzieher des gesamten Nachwuchses der kai- es dann auf den Bühnen der russischen Hauptstadt zur „Er- serlichen Familie sowie der schöpferische Gefährte von Her- scheinung“ Adolf Henselts — als nichts Geringeres wurden zog Peter Georgewitsch Oldenburgski. Seine erste Schülerin, seine triumphalen Konzerte in St. Petersburg empfunden. Großfürstin Jelena Pawlowna, eine gebürtige Prinzessin von Der Musiker war auf Empfehlung von Maria Pawlowna ange- Württemberg, avancierte nicht ohne seinen Ratschluss zur 30 reist — einer Schwester des russischen Kaisers Nikolaus I., Patronin der russischen Musikkultur. Adolf Lwowitsch — wie die zugleich die blaublütige Muse des Großherzogtums er in Russland genannt wurde — bestimmte für viele Jahre Sachsen-Weimar-Eisenach war. Langfristige Lebenspläne die musikalische Strategie des russischen Hofes. Sein we- hatte er dabei nicht im Gepäck — doch er sollte 50 Jahre sentlicher Einfluss auf die russische Klavierschule kam auch bleiben. Und die 1840-1860er Jahre können nun in der auf staatlicher Ebene zur Geltung: Im Range eines Inspek- Geschichte der russischen Klaviermusik ohne jede tors kontrollierte er die Klavierausbildung aller höfischer Übertreibung als die Henselt-Epoche bezeichnet Erziehungsanstalten für Mädchen in St. Petersburg wie in werden. ganz Russland und führte auf diese Weise seinen „Regelka- Die Zeit seiner Blüte, aber auch seines Be- non“ für das Klavierspiel und den Klavierunterricht in seiner deutungsverlustes als Pianist und Komponist neuen Heimat ein. Und dies, obwohl er in den 1860er Jahren wie auch seine langen Jahre gründlicher Lehr- nicht ans Petersburger Konservatorium berufen worden war tätigkeit fielen in Russland in die Ära der Her- und dort nur noch kurz — in seinen letzten Lebensjahren und ausbildung einer nationalen Kompositions- und während des „zweiten Auftritts“ Anton Rubinsteins auf des- Interpretationsschule. Während Henselt im ersten sen Direktorenposten — als Professor tätig werden konnte. Drittel seines Lebens dem Kreis der großen deut- Im Leben wie im Werk Henselts verknüpften sich auf para- schen Musik-Romantiker angehört hatte, wurde er hier doxe Weise die Freiheit der Romantik und die Disziplin der 31 Klassik: Seinen Zeitgenossen in Deutschland erschien er als 14 15
„Troubadour der Romantik“, während er der jünge- um 20 Jahre. Die ganze Wärme seiner ren Generation russischer Komponisten als Bollwerk sturen und anspruchsvollen Natur des klassischen Konservatismus galt. Aber alle er- schenkte er seinen zahlreichen kannten — wie zuvor schon Liszt, Schumann, Stas- Schülerinnen und Schülern, sow und Balakirew — die phänomenale Natur von die ihn fürchteten — und doch Henselts Klavierspiel an. Seine Zeitgenossen waren liebten. auch von seinen kompositorischen Fähigkeiten be- Bis in unsere Tage sind geistert. Doch Henselts in jungen Jahren so dyna- viele Porträts Henselts in misch sprudelndes Kompositionstalent versiegte Text wie Bild erhalten geblie- relativ bald. Wie bei vielen furios beginnenden gro- ben: feierlich in voller Parade ßen Romantikern reifte es nicht aus und fiel der Ver- oder im Beamtenalltag, keck gessenheit anheim. in Don-Quijote-Manier oder ver- Die Persönlichkeit Henselts schien aus ineinan- kniffen konzentriert. Auch wenn 35 36 der verwebten Gegensätzen zu bestehen: Seine ro- sie so verblüffend ungleich sind, so mantisch inspirierte Poetik ging mit pädagogischer helfen sie doch in ihrer Zusammenschau dem Phänomen Prosa einher und seine beinahe Schumann’sche seiner Persönlichkeit nahezukommen. Er war eben so, wie 33 Herzlichkeit mit einer trockenen, pedantischen Ver- er war: lebhaft und sonderlich, von klein auf genial begabt schlossenheit. Als glühender Verehrer der Musik und sich doch nie zur vollen Blüte entfaltend. Wie für einen Webers und Wagners, Chopins und Schumanns hielt er wahren deutschen Romantiker typisch verbanden sich in ihm sich in seiner pädagogischen Praxis an die klas- Aufbruch und nüchterne Berechnung als auch der Idealis- sischen Normen der Schule Johann Nepomuk mus der Seele mit der Groteske ihrer irdischen Verkörperung. Hummels. Ungeachtet seiner genialen Virtu- Und wenn er auch nicht nach ewigem Ruhm strebte, so hat osität bevorzugte er eine Karriere als Päda- Henselt doch in der Musikgeschichte einen würdigen Platz goge und Beamter (nicht zuletzt, weil sich gefunden, da er einen einmaligen Beitrag zur Entwicklung sein extremes Lampenfieber als Hemm- der gesamteuropäischen Klavierschule der zweiten Hälfte schuh für eine Karriere als Konzertpianist des 19. Jahrhunderts geleistet hat. Es war gerade Hensel, erwiesen hatte). Der Spross einer respek- in dem sich erstmals das Phänomen der „russischen Euro- tablen, kinderreichen Bürgerfamilie hatte päizität“ (Michail Druskin) manifestierte, zu deren leuchten- in romantischer Liebesleidenschaft eine den heimischen Verkörperungen dann später Tschaikowski großbürgerliche Dame geheiratet. Im Russi- und Strawinski wurden. Deshalb ist Henselt als Person und schen Reich erhielt er die Ehrenbürgerschaft schöpferischer Mensch von ebenso faszinierendem Interes- 34 und einen Adelstitel, auch zahlreiche hohe se wie die von Paradoxen erfüllte Henselt-Epoche und der Orden — aber im Privatleben blieb er äußerst be- sich am Kreuzweg historischer Beeinflussungen verfestigen- scheiden und auf typisch deutsche Art sparsam, wenn de deutsch-russische Kern der Petersburger Musikkultur. nicht gar knausrig. Das von ihm aus seinen Honorareinnah- men erworbene Rittergut im niederschlesischen Gersdorf am Queis beeindruckte zwar seine Zeitgenossen nicht we- nig, doch Henselt verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in seiner Petersburger Mietwohnung an der Annenkirche (Ki- rotschnaja Ul. 8 /10). Nach der Abreise seiner Gattin nach Deutschland lebte er hier mit seinem Diener Zarskij und sei- nem Freund Andrej Andrejewitsch Wagner, einem Beamten im Bildungsministerium. Seinen einzigen Sohn überlebte er 16 17
Eduard Zabel Zabels Spiel das Publikum geradezu. So zählt ein Kritiker in der Zeitung „Nowoje Wremja“ vom 19. August 1880 bei der Beschreibung eines Sommerkonzerts im damals modischen Erholungsort Oserki die namhafte Besetzung der Solistenrol- 1834-1910 len (inklusive Opernprimadonnen) auf und kommt dann zum Resümee: „Alle wurden vom Publikum mit Applaus über- schüttet. Doch am meisten davon erhielt Herr Zabel, dessen Als Begründer der russischen Harfenschule kann Harfe den Saal in bedingungslose Begeisterung versetzte.“ zweifellos Eduard Albert Zabel gelten. Der gebürtige Charisma und sprühendes Temperament verbanden sich Berliner hatte im Alter von acht Jahren mit dem Har- in ihm mit tiefgehender Interpretation, außergewöhnlichem fenspiel begonnen. Mit 13 Jahren trat sein Talent Kenntnisreichtum und kompositorischer Begabung. Ihm 38 so offenkundig zu Tage, dass es die Aufmerksam- gelang es, das Harfen-Repertoire um effektvolle Miniaturen keit des Erfolgskomponisten und damaligen Ge- („Margarita am Spinnrad“, „Legende“, „Am Springbrunnen“) neralmusikdirektors der Königlichen Berliner Oper, und glänzende, Opern-Themen paraphrasierende Fantasien Giacomo Meyerbeer, erregte. Ein persönliches Sti- zu bereichern. Von Interesse ist auch sein in Russland ge- pendium sicherte die zweijährige Ausbildung Eduard schriebenes Konzert für Harfe und Orchester op. 35. Alberts in der Klasse des hervorragenden Musikpäd- Als Instrumentalist war Zabel eine anerkannte Autorität. agogen Karl Grimm am Königlichen Kirchen-Musik-In- Seine Redaktionsfassungen von Harfenpartien (und - ka- 37 stitut. Zudem legte Meyerbeer seinen Protegé den bes- denzen) in Opern und Balletten aus den damaligen Reper- ten Dirigenten der Stadt ans Herz. Unter ihnen war auch toires sind bis heute erhalten. Auch anerkannte Komponis- Josef Gungl, ein erfolgreicher Kapellmeister in den Genres ten suchten seinen Rat: Der deutschstämmige Petersburger der ernsten und unterhaltenden Musik, zudem ein angese- Harfenspezialist legte nicht nur Hand an die Wagner-Oper hener Komponist und umtriebiger Manager seines eigenen „Die Walküre“, sondern auch an zwei Tschaikowski-Ballette Orchesters. Mit ihm gastierte Zabel in Deutschland, England („Schwanensee“ und „Der Nussknacker“). und den USA. Mit diesem Orchester kam Zabel auch zweimal Doch Zabels Karriere war keineswegs nur auf Rosen ge- nach St. Petersburg, denn Gungl trat ab 1850 im Verlauf von bettet. Davon zeugen Dokumente aus seiner Personalakte sieben Jahren bei den Sommerkonzerten im Bahnhof von im Theater. Ab 1859 geben darin Eingaben des Musikers we- Pawlowsk auf. gen ungerechter Bezahlung seiner Arbeit den Ton an. Als so- Das inspirierte und virtuose Spiel des feingliedrigen wohl für das Opern- wie für das Ballettrepertoire eingesetzter Beaus an der Harfe beeindruckte nicht nur nachhaltig das Musiker trug er faktisch Publikum, sondern verschaffte dem jungen Harfenisten auch eine Doppelbelastung, einen Kontrakt mit der Direktion der Kaiserlichen Theater. bekam aber nur ein Am 30. März 1855 bestätigte Musikinspektor Ludwig Maurer einfaches Gehalt (das den dauerhaften Dienstantritt des „ausländischen Harfenis- zudem nur spärlich ten Zabel“. Anfänglich spielte er (mit einem Jahressalär von anstieg). Seine ersten 600 Rubel) im Orchester der Russischen Oper. Ab Oktober Unterrichtsjahre an der 1870 stand er zudem auch als Solist des Ballettorchesters Theaterschule wurden in der Pflicht, und noch später arbeitete er dann im Ensemb- überhaupt nicht ent- le der Italienischen Operntruppe in St. Petersburg. Zugleich lohnt. Ihm versproche- trat Zabel auch als Solist auf, wodurch er weit herumkam: ne Einmalzahlungen Er gastierte in Riga, Reval (Tallinn), Derpt (Tartu), Moskau, für Ballettaufführungen in russischen Provinzstädten wie europäischen Metropolen. (10 Rubel pro Auftritt) Den damaligen Rezensionen nach zu urteilen, verzauberte gab es über Jahre nur 39 18 19
auf dem Papier. In einem verzweifelten Beschwerdebrief unter ihrem späteren Namen Olga von Stein an die Theaterdirektion vom 9. Januar 1892 beschreibt der weltbekannt gewordenen Betrügerin. Die Harfenist detailliert seine Existenz als Bettelmönch im Ballett leidvollen Jahre seiner zweiten Ehe und der und verweist darauf, dass er sich aufgrund seiner Arbeitsüber- unangenehme Scheidungsprozess (bei dem lastung nicht einmal mit Privatstunden oder Konzerten etwas Zabel als Beklagter als schuldhafte Seite hinzuverdienen kann. anerkannt wurde) zerrütteten sowohl die Fi- Wenn man diese Dokumente studiert, erstaunen die Be- nanzen wie die Gesundheit des Musikers, der scheidenheit und der Anstand dieses Menschen umso mehr, mit seiner behinderten Tochter und gewalti- da er schon den Status eines Solisten seiner Kaiserlichen gen Schulden allein blieb. Von Lähmungen 40 Hoheit hatte. Wobei Zabel auch um diesen Titel kämpfen gequält konnte er weder im Orchester noch musste: In der diesbezüglichen, sich fast ein Jahrzehnt hin- im Konservatorium arbeiten, aber er ließ den ziehenden Bataille gab es mehrere abgewiesene Anträge. Mut nicht sinken und spielte weiterhin mit der Selbst eine 1870 von Zarewitsch Alexander Alexandrowitsch linken Hand auf seinem geliebten Instrument, wohlwollend unterstützte Eingabe Zabels beschleunigte den verfolgte die Karrieren seiner Zöglinge und in- Prozess nicht. Erst sechs Jahre später fand der Streit ein teressierte sich für Neuigkeiten aus der Welt positives Ende. Allerlei Auszeichnungen und Orden bekam des Harfenspiels. Zabel dennoch: Neben einer am Stanislaus-Band getragenen Eine Eingabe mit der Bitte um materielle 41 Goldmedaille war er auch Träger des Anna-, Stanislaus- und Unterstützung, Pensionserhöhungen oder Wladimirordens. Letzterer wurde ihm mit Ukas vom 14. Sep- Einmalzahlungen für Heilbehandlungen folg- tember 1897 für seine „überaus nutzbringende und fruchtba- te auf die andere. Zabel bekam die Wertlosig- re Musiklehrer-Tätigkeit“ am Petersburger Konservatorium keit und Vergänglichkeit weltlichen Ruhms verliehen — in Anerkennung von 35 Jahren „treuen und ta- in aller Härte zu spüren. Sein neues Heimat- dellosen Diensten“. Den Vorschlag zu seiner Auszeichnung land (der Preuße hatte 1891 Russland den hatte Großfürst Konstantin (der Dichter mit dem Pseudonym Untertanen-Eid geschworen), dem er fast K.R.) eigenhändig unterzeichnet. 50 Jahre gedient hatte, ließ ihn jedoch nicht Zabel war unter den ersten ans Konservatorium berufenen ohne Unterstützung. Seinen verbitterten Le- Lehrkräften (seine Einstellung datiert auf den 1.9.1862), sei- bensabend versüßte ihm aber auch der treue ne dortige Laufbahn beendete er im Rang eines Verdienten Beistand seiner dritten Ehefrau Jewgenia Professors. Er schuf eine echte Aufführungspraxis-Schule Matwejewna. 1910, nach dem Tod des Pro- (dazu müssen nur die Namen seiner herausragenden Schü- fessors im Alter von 76 Jahren, zeigten das ler Catherine Walter-Kühne, Iwan Pomasanski, Nikolai Amos- Konservatorium und das Theater Verständnis sow und Dmitri Andrejew genannt werden), er fasste seine für die ausweglose Lage seiner jungen Witwe Prinzipien in einer großen “Methodik für Harfe“ zusammen und der Tochter. Sie gewährten ihnen eine und war um seine Schüler geradezu väterlich bemüht. Pension und übernahmen auch alle Kosten 42 Die letzten 15 Lebensjahre des Harfenisten verliefen über- der Bestattung des Künstlers auf dem Smo- aus dramatisch: In die lange Zeit als Witwer, in der er sich lensker Friedhof in St. Petersburg. Die Kinder allein um die Erziehung und den Lebensweg seiner Kinder überlebten ihren Vater aber nicht lange und zu kümmern hatte, fiel auch noch die schwere Krankheit starben 1913 kurz hintereinander. Der her- seiner Tochter Ida Zabel-Raschat, einer talentierten Harfe- ausragende Militärarzt, Doktor der Medizin nistin, Sängerin und Assistentin ihres Vaters in der Harfen- und Staatsrat Oskar Zabel vermachte dem klasse des Konservatoriums. Der gealterte und sich für alles Konservatorium dabei eine erkleckliche Sum- 42а Schöne begeisternde Professor wurde zu seinem Unglück me zur Einrichtung eines nach seiner gelieb- auch noch zum ersten Opfer von Olga Segalowitsch, einer ten Schwester benannten Stipendiums, das 20 21
Friedrich Homilius den in Theorie und Komposition besten Studenten des Konservatoriums zugutekommen sollte. So brach zwar die Zabelsche Familienlinie von Harfenisten ab, doch die und Söhne Petersburger Harfenschule lebte weiter — und viele ihrer heutigen Vertreter sehen sich als künstlerische Erben die- ses deutschen Musikers. 1834-1910 Die Suche nach den Ursprüngen der russischen Horn-Schule führt uns in die sächsische Klein- stadt Sayda. Hier wurde in einer traditionellen Musikerfamilie am 9. September 1813 Friedrich Sigismund Ludwig Homilius geboren. In den deut- schen Abschnitt seiner Biografie fallen eine solide Ausbildung auf zwei Musikinstrumenten (Cello und Waldhorn) am Dresdner Konservatorium, sein Dienst als Horn-Solist in einem Militärorchester und der Beginn einer Konzertkarriere sowohl als 45 Solist wie als Ensemble-Mitglied. Am 14. November 1838 kam er aufgrund eines Dreijahresvertrags mit der Direktion der Kaiserli- chen Theater für den Posten eines Ersten Hornis- ten nach Russland, doch sollte er dort für den Rest 43 44 seines Lebens bleiben: Homilius wurde zu einer markanten Erscheinung im Kulturleben der russi- schen Hauptstadt, zog drei musikalisch begabte Söhne groß und begründete im Petersburger Kon- servatorium eine viel gerühmte Horn-Klasse. Die Linie seines Erbes zieht sich über Homilius‘ bes- ten Schüler Jan Tamm zu den altgedienten Pro- fessoren sowjetischer Schule Michail und Witali Bujanowski, Pawel Orechow und Andrej Gluchow. Das Homilius gewährte Jahresgehalt von 2500 Rubel zeugt von seinem hohen professionellen 46 Niveau. Nach zwölf Jahren plädierte Musikins- pektor Ludwig Maurer nachdrücklich für eine Fort- setzung des Dienstes des Hornisten, bewertete sein Können in den höchsten Tönen und verwies darauf, dass es absolut niemanden von ebenbürti- gem Talent gebe. Der Musiker arbeitete auf seiner Orchesterstelle 39 Jahre lang und verließ erst zum 15. September 1877 aus gesundheitlichen Grün- 47 22 23
den das Theater. In dieser langen Zeit bekanntesten Petersburger Musiker. war er ständiger Interpret der schwie- Alle drei Söhne von Friedrich Homilius wählten die Musi- rigsten Horn-Solos im umfangreichen kantenlaufbahn. Der älteste, Konstantin, (ein Organist, Gei- Theater-Repertoire — und seine musi- ger und Komponist) sowie Julius (ein früh verstorbener Gei- kalische Leistung im Orchester erhielt ger) erhielten ihre Ausbildung in Dresden. Der jüngste Sohn, nicht umsonst das Etikett „herausra- Ludwig, trat 1862 in das neu eröffnete Petersburger Konser- gend“. vatorium ein und setzte die Musikerdynastie besonders mar- Parallel gab Homilius fleißig Kon- kant fort. Nach seiner Einschreibung in die Klavierklasse von zerte und propagierte so allerorten Anton Rubinstein und danach in die Cello-Klasse von Karl Da- das Horn, sei es bei Konzerten der widow erhielt er 1868 ein Diplom mit dem Rang eines Freien 48 Kaiserlichen Russischen Musikali- Künstlers. Für eine Weile spielte er als Orchester-Cellist und schen Gesellschaft (IRMO) oder auf Tour- setzte seine Ausbildung in der Peters- 50 neen durch Russland und im Ausland. burger Klasse des bekannten deutschen 1870 verlieh ihm der italienische König Organisten Heinrich Stiehl fort. Die Orgel eine Medaille für musikalische Verdiens- wurde zur Berufung für Ludwig Homilius. te. Später wurden ihm zwei russische Ver- Als Konzertmusiker und großartiger Päd- dienstorden, der Stanislaus-Orden und der agoge schuf er — wie schon sein Vater — Anna-Orden, verliehen, was mit seiner „ta- am Konservatorium ein durchdachtes Sys- dellosen und beflissenen“ Diensterfüllung tem zur Organistenausbildung, das sich am Petersburger Konservatorium im Ver- durch seine ungewöhnlich schöpferische 49 lauf von 30 Jahren (1869-1899) begrün- Atmosphäre auszeichnete. Ludwig Homi- det wurde. lius widmete dem Konservatorium fast 35 51 Friedrich Christijanowitsch Gomilius (wie er in Russland Jahre seines Lebens und zog eine ganze genannt wurde) unterrichtete Militärmusiker an der Musik- Schar würdiger Organisten für Petersburg und die Pro- schule der Baltischen Flotte und erfüllte auch verschiedene vinz heran. Mit dem plötzlichen Tod des verdienten Pro- gesellschaftliche Ehrenämter, etwa das des Ehrenvorsitzen- fessors am 14. Dezember 1908 endete dieses selbstlose den der IRMO einschließlich der peniblen Kassenführung, zu Schaffen „zum Wohle der musikalischen Künste und zum der auch die Auszahlung von Finanzhilfen an pensionierte Nutzen der Entwicklung der studierenden Jugend“ (so der Musiker, Witwen und Waisen gehörte. Wie ein ritterlicher, Komponist Alexander Glasunow). Ludwig hat seinen Va- 52 gutmütiger Riese beherbergte er bei sich Schüler, stellte aus ter nur um sechs Jahre überlebt. eigenen Mitteln ansehnliche Summen zur Anschaffung von Alle Söhne hatten auch dessen kompositorische Bega- Instrumenten für Studenten zur Verfügung und bewirtete bung geerbt. Die damaligen Musikkritiker lobten die meister- gerne großzügig Gäste. Da er einen Zuverdienst benötigte, haften Bearbeitungen von Homilius senior, während Ludwig gab er, wie Jewgeni Albrecht berichtete, noch im hohen Alter und Konstantin originäre Stücke schrieben, die bis heute auf- von früh bis spät private Klavierstunden. geführt werden. So gibt es ein bei Hornisten äußerst belieb- Zu seinem 50. Schaffensjubiläum in St. Petersburg wurde tes B-Dur-Quartett von Konstantin. Beide Brüder waren auch der 75 Jahre alte Musiker zusätzlich zu seiner Pension mit als fähige Dirigenten von Orchestern und Chören bekannt. einer Leibrente des kaiserlichen Kabinetts ausgezeichnet. Und seine Kollegen im Konservatorium, die mit einer Unter- schriftenliste eine ansehnliche Summe gesammelt hatten, verehrten dem Jubilar eine goldene Uhr mit persönlicher Gravur und einem Waldhorn als Anhänger. In der erhalten 53 gebliebenen Sammelliste finden sich die Namen der damals 24 25
Karl Waterstraat andere“ wurde Waterstraat als einem im Verlauf von 38 Jahren ununterbrochen tätigen Solisten eine hohe Pension von 1140 Rubel zugebilligt. Anatoli Baranzew, ein Kenner der russischen und europäischen Blasmusik-Schulen, hob 1825-1896 die seltene kreative „Langlebigkeit“ Waterstraats hervor, betonte aber auch dessen ungewöhnlich nutzbringende pädagogische Arbeit bei der Heranziehung von Orchester- Für die russische Flötenschule spielt Karl Fried- musikern. Mit dem Unterrichten hatte der preußische Flö- rich Waterstraat (1825-1896) eine bedeutsame tist gleich nach seiner Ankunft in St. Petersburg begonnen. Rolle. Der jüngere Kollege des glanzvollen Lange Jahre arbeitete er in den Instrumentenklassen der 56 Italieners Cesare Ciardi war als solider Meis- Hofsängerkapelle, und fast 30 Jahre lang widmete er sich ter der deutschen Blasinstrumentenschule der Arbeit am Petersburger Konservatorium, wo er nach 1857 nach St. Petersburg gekommen. Der dem Tode seines Kollegen und Konkurrenten Ciardi die preußische Untertan wollte sein berufliches Leitung der Flötenklasse übernommen hatte. Unter seinen Glück in Russland suchen und trat zunächst zahlreichen Schülern wurde Fjodor Stepanow zu seinem „als Flötenkünstler in den Theaterdienst mit würdigen Nachfolger am Mariinski-Theater und im Konser- selbstständigem Unterhalt“. Flötistenstellen vatorium — und schließlich auch zum Patriarchen der rus- 54 im Orchester der Russischen Oper waren da- sischen Flötenschule. mals äußerst bescheiden bezahlt: Von 1858 bis 1874 wuchs Waterstraats spärliches Jahresgehalt nur von 480 auf 700 Rubel. Die fünfköpfige Familie leb- te bescheiden, zumal sich die Solokarriere Waterstraats im Schatten des großen Ciardi äußerst schwierig anließ. Dennoch wurden der untadelige Professionalismus und schier unglaubliche Fleiß, der distinguierte Geschmack und die tiefgründige Belesenheit dieses Musikers von echten Kennern — wie seinen Kollegen, den Inspektoren und Diri- genten der Orchester — sehr geschätzt. Im Mariinski-Thea- ter erlebte Waterstraat dann in der Ära Eduard Napravniks seine Sternstunde. Der konzentrierter, aufrechter, diszi- plinierter und systematischer Arbeit zugetane Flötist von aristokratischem Erscheinungsbild avancierte zu einem der Lieblingsmusiker des gestrengen Maestros. Erst unter 57 Napravnik erhielt Waterstraat den Rang eines Solisten der Kaiserlichen Theater, womit sein reifes Talent zur Gänze ge- fordert und gewürdigt wurde — nicht nur in Form adäqua- ter Honorare, sondern auch mit Auszeichnungen von aller- höchster Stelle: Er erhielt Orden und eine Goldmedaille „am Stanislaus-Halsband“. 1882 wurde der Musiker als russischer Untertan ver- eidigt. 1890 registrierte der Regierende Senat einen An- trag auf Verleihung der Petersburger Ehrenbürgerschaft. 55 „Als Ausnahme von den Regeln und nicht zum Beispiel für 26 27
Julius Satzenhofer Lehrtätigkeit Satzenhofers am St. Petersburger Konserva- torium, wo ihn seine Karriere bis zum Titel eines außeror- dentlichen Professors Ersten Ranges führte. Nach seiner Vereidigung als russischer Untertan 1877 verdiente sich 1850-1901 Satzenhofer noch eine ansehnliche Pension. Per Ukas Ale- xanders III. vom 21. Juli 1888 wurde ihm der Stanislaus-Or- den dritter Klasse in Anerkennung „seines hervorragenden und beflissenen Dienstes und seiner besonderen Bemühun- Die Petersburger Fagott-Schule gedieh in gen“ verliehen. Später folgte noch der Titel eines Hofrats. der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dank 1896 war es dann schon das Konservatorium, das ihn „für der Arbeit zahlreicher deutscher Musiker. Nach beflissene und nützliche Dienste“ für die Verleihung des An- den „Pionieren“ Wilhelm Krankenhagen und Karl na-Ordens dritten Ranges vorschlug. Kutschbach spielten für sie Julius Satzenhofer Ab Anfang der 1880er Jahre machte dem Fagott-Enthu- 59 und dann dessen Nachfolger im Theater und siasten leider die Gesundheit zunehmend Schwierigkeiten. Konservatorium Friedrich Kotte eine besondere Immer öfter ersuchte er im Theater um Beurlaubung und Rolle. Sie waren es, die in Russland die Meinung Beihilfen für seine Behandlung (die ihm nie verwehrt wur- zum Fagott als Instrument mit Konzertperspek- den!). Die Ärzte empfahlen ihm, seinen Dienst aufzugeben, tive veränderten. Der bayerische Untertan Julius da dieser Hirnblutungen und einen Verlust des Augenlichts Adolf Satzenhofer war 1875 aus München nach provozierte. Doch der Orchestermusiker arbeitete weiter St. Petersburg gereist und kam im Ensemble des und bat erst zum 1. Oktober 1898 um Entlassung. Am 26. Kapellmeisters Benjamin Bilse in Pawlowsk un- September 1901 ereilte den 50-jährigen Musiker ein weite- ter. Seine Charakterstärke und auch der Mangel rer Hirnschlag, den er nicht überlebte. Sein Leichnam wurde an orchestererfahrenen Fagott-Solisten erlaub- aus der Wohnung Nr. 17 am Newski Prospekt 88 zu seiner ten es ihm, bei seinen Verhandlungen mit der Grabstätte auf dem Wolkow-Friedhof überführt. Direktion der Kaiserlichen Theater wegen eines Der nur für die Musik lebende und kinderlos gebliebene 58 Engagements im Orchester der Russischen Oper, Satzenhofer (seine Gattin, die Musikertochter Laura-Jelena, das zunächst angebotene Jahressalär von 700 war ihm zu einem treuen Freund geworden), hatte es jedoch Rubel auszuschlagen. Auf nachdrückliche Forderung Na- geschafft, neben seinem markanten Spiel und seiner Unter- 60 pravniks hin, der im Verlauf von drei Proben das Talent des richtstätigkeit am Konservatorium seine langjährige Arbeit Fagottisten erkannt und „absolut niemand anderen“ zur Ver- in einer publizierten „Fagottschule“ zusammenzufassen. fügung hatte, wurden dann innerhalb einer Woche aus den Dieses vom künstlerischen Beirat des Konservatoriums Etats für die vakanten Stellen eines Posaunisten und eines bewilligte methodische Kompendium für Fagottisten blieb Oboisten 100 Rubel umgeschichtet — und Julius Satzenho- lange Zeit das einzige in Russland und hat, wie Autoritäten fer trat seinen Dienst an. dieses Faches beteuern, seine Aktualität bis heute bewahrt. Er widmete diesem Orchester über 23 Jahre und erfüllte „gewissenhaft und mit großem Eifer“ seine Verpflichtungen als Orchestersolist sowohl in der Oper als auch im Ballett. Nicht nur Napravnik, sondern auch die drei Orchesterins- pektoren Ferrero, Wsewoloschski und Kutscher waren mit dieser Einschätzung einverstanden (was sich in seiner vom 9. September 1875 bis zum 1. Oktober 1898 geführten Personalakte widerspiegelte). Fast gleichzeitig begann die 28 29
Sie können auch lesen