DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE - Wie der Bedeutungsverlust der Wahlen Ungleichheit und Ungerechtigkeit befördert Von John Nichols

 
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DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE - Wie der Bedeutungsverlust der Wahlen Ungleichheit und Ungerechtigkeit befördert Von John Nichols
DIE AUSHÖHLUNG DER
                  AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE
ROSA              Wie der Bedeutungsverlust der Wahlen Ungleichheit
LUXEMBURG
STIFTUNG
                  und Ungerechtigkeit befördert
NEW YORK OFFICE   Von John Nichols
Inhaltsverzeichnis

    Demokratischer Tiefpunkt. Von den Herausgebern.......................................................................1

    Die Aushöhlung der amerikanischen Demokratie
    Wie der Bedeutungsverlust der Wahlen Ungleichheit und Ungerechtigkeit befördert

    Von John Nichols

        Versagen der Demokratie............................................................................................................3

        Wahlbeteiligung: Aus dem demokratischen Raster herausgefallen......................................5

        Plutokraten und Dollarokratie.....................................................................................................8

        Geldmacht................................................................................................................................10

        Die Medien als Komplizen..........................................................................................................12

        Beabsichtigter Bankrott: Der Fall Detroit..................................................................................13

        Die Gesetze zum Wählerausweis: Märchen und Wahnsinn.................................................15

        Echte Demokratisierung............................................................................................................17

        Eine Ära demokratischer Erneuerung.....................................................................................20

Veröffentlicht von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro New York, April 2014

Herausgeber: Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg
Adresse: 275 Madison Avenue, Suite 2114, New York, NY 10016
E-Mail: info@rosalux-nyc.org; Telefon: +1 (917) 409-1040

Gefördert mit Mitteln des Auswärtigen Amts

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine international tätige, progressive Non-Profit-Organisation für
politische Bildung. In Zusammenarbeit mit vielen Organisationen rund um den Globus arbeitet sie für
demokratische und soziale Partizipation, die Ermächtigung von benachteiligten Gruppen, Alternativen
zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und für friedliche Konfliktlösungen.

Das New Yorker Büro erfüllt zwei Hauptaufgaben: sich mit Themen der Vereinten Nationen zu befassen
und mit nordamerikanischen Linken in Hochschulen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der
Politik zusammenzuarbeiten.

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Demokratischer Tiefpunkt
Die Vereinigten Staaten sind das Leuchtfeuer für Freihet, Demokratie und unbegrenzte Möglichkei-
ten – Werte, die bereits seit der Gründung in der gefeierten US-Verfassung festgeschrieben sind. So
erzählt man sich jedenfalls. Die Wahrheit ist leider weitaus komplizierter. Wie so häufig lautet die
entscheidende Frage nämlich: Freiheit, Möglichkeiten und Demokratie für wen?

Das Urteil des Obersten Gerichtshofs im Fall McCutcheon v. Federal Election Commission, das im April
2014 die noch bestehenden Beschränkungen für Wahlkampfspenden aufhob, gibt hierauf eine ein-
deutige Antwort: Die Vereinigten Staaten entwickeln sich immer mehr von einer repräsentativen
zu einer Corporate Democracy. Das jüngste Urteil ist der Gipfel eines Trends, den wir seit langem
beobachten. Denken wir an das Urteil zur Wahl Bush gegen Gore, welches dem individuellen Bür-
ger gewissermaßen das konstitutionelle Wahlrecht absprach, das Citizens-United-Urteil, welches Un-
ternehmen weitgehend freien Lauf beim Erkaufen von Wahlen ließ, sowie die zahlreichen neueren
Versuche, den Voting Rights Act, eine wichtige Errungenschaft der Bürgerrechtsbewegung 1965, zu
demontieren oder auszuhöhlen, so müssen wir erkennen, dass sich die US-Demokratie – und damit
der „Amerikanische Traum“ – in einem Zustand der Dysfunktionalität und des Zerfalls befinden.

Wir leben in einem Staat von Plutokraten und Dollarokratie, in dem Milliardäre wie die Koch-Brüder
und Medienmogule wie Rupert Murdoch unvergleichbaren Einfluss auf das Wahlverfahren ausüben.
Ihr Ziel sind dreckige politische Verfahren, bei denen die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger be-
hindert und das Wahlrecht denjenigen, die wirklichen Wandel wählen wollen, sogar direkt entzogen
wird. Das bedeutet Möglichkeiten, Freiheiten und Demokratie für die Reichen – und die Verminde-
rung von Chancen für den Rest von uns. Es wäre nicht ganz so schlimm, wenn diese Attacken auf die
Demokratie nur von den üblichen Gegnern aus der rechten Szene ausgingen. Doch der sozialistische
Senator Bernie Sanders aus Vermont bemerkt: „Obwohl die Demokraten im Vergleich mit den radikal
rechten Republikanern natürlich vorzuziehen sind, wäre es sehr naiv zu glauben, dass die Demokra-
ten nicht auch enorm von den Interessen der Vermögenden und der Konzerne beeinflusst werden.“

Was muss geschehen? Eine Reihe linker Bewegungen wie die Fast-Food-Streiks, Demonstrationen für
die Rechte der Einwanderer, die Moral-Monday-Proteste gegen die republikanische Politik in North
Carolina sowie die Kampagne für einen Mindestlohn von 15 Dollar bieten einige Antworten. Dieser
Aktivismus findet jedoch weitgehend außerhalb des Bereichs der Wahlpolitik statt. Und obgleich
diese Bewegungen zweifellos wichtig sind, brauchen wir genauso viel für einen erneuten Kampf, um
unsere Demokratie zurückzugewinnen – und unsere Stimme wiederzuholen.

In diesem Essay beschreibt der Politikjournalist John Nichols das Auf und Ab in der Geschichte der
der US-Demokratie und erklärt, wie wir auf dem gegenwärtigen Tiefpunkt gelandet sind. Umso wich-
tiger sind seine Vorschläge, wie wir die US-Wahlen wiederbeleben können. Nichols berichtet aus
Washington für die Wochenzeitung „The Nation“ und ist Autor zahlreicher Bücher, einschließlich „The
S Word: A Short History of an American Tradition... Socialism“. Außerdem ist er Verfasser von „Die
Welt von Neuem beginnen“, einer Studie über die Proteste in Wisconsin 2011 und 2012, die vom New
Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht wurde.

                                                              Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg
                                                                  Leiter des Büros New York, April 2014

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Die Aushöhlung der amerikanischen
Demokratie
Wie der Bedeutungsverlust der Wahlen Ungleichheit und
Ungerechtigkeit befördert

Von John Nichols

                 Das Wort ‚Demokratie’ lesen wir überall. Aber ich kann nicht oft genug wiederholen, dass
               es im Kern den Schlaf der Gerechten schläft. Es ist ein großartiges Wort, dessen Geschichte
               noch nicht geschrieben worden ist, weil diese Geschichte erst noch vermittelt werden muss.
                                                                     Walt Whitman, „Democratic Vistas“

Als sich der Amerikaner Medgar Wylie Evers im          kameraden am Morgen des 2. Juni 1946 zum
Jahr 1946 entschloss, sein Wahlrecht wahrzu-           Gerichtsgebäude des Bezirks Newton zog, um
nehmen, lagen das Ende des amerikanischen              sich in die Wählerliste einzuschreiben, stellten
Bürgerkrieges und die Abschaffung der Skla-            sich diesen stolzen antifaschistischen Kriegs-
verei im 13. Verfassungszusatz acht Jahrzehn-          veteranen schwer bewaffnete weiße Bürger in
te zurück, und die bürgerlichen Gleichstellung         den Weg. Ihr Verhalten bewies, dass der Sieg,
war 78 Jahre zuvor im 14. Verfassungszusatz            den Evers und seine Kameraden in Europa er-
festgeschrieben worden. Seit 76 Jahren galt das        rungen hatten, in Mississippi folgenlos geblie-
Versprechen des 15. Verfassungszusatzes: „Das          ben war: Die Gefühle und Einstellungen der
Wahlrecht der Bürger der Vereinigten Staaten           Weißen gegenüber den Schwarzen hatten sich
darf von den Vereinigten Staaten oder einem            nicht geändert.
Einzelstaat nicht aufgrund der Rassenzuge-
hörigkeit, der Hautfarbe oder des vormaligen           Demokratische Rechte waren vielen Ameri-
Dienstbarkeitsverhältnisses versagt oder be-           kanern im davorliegenden Jahrhundert aber-
schränkt werden.“ Viele Jahre nach diesen his-         kannt, dann zugestanden, und dann erneut
torischen Einschnitten entschied sich Evers, an        aberkannt worden. Auch an jenem Tag war im
den Vorwahlen der Demokratischen Partei in             Apartheid-Süden der USA die Demokratie au-
seinem Heimatstaat Mississippi teilzunehmen.           ßer Kraft gesetzt.
Evers’ Entschluss war aus moralischer Sicht ein-
wandfrei; er befand sich in Übereinstimmung            Bürgern ein grundlegendes Recht wie das Wahl-
mit dem, was die Amerikaner sonst von ande-            recht zu verweigern, ihnen die Gelegenheit zu
ren Ländern erwarteten.                                versagen, gemäß der Verfassung „den Bund
                                                       [der Vereinigten Staaten] zu vervollkommnen“,
Nur: Die weißen Bürgerinnen und Bürger von             beschränkte sich nicht auf das Jahr 1946 oder
Decatur in Mississippi waren anderer Meinung.          auf den rassistisch segregierten Staat Missis-
Denn Evers, ein ehrenhaft entlassener Veteran          sippi. Seit ihrer Gründung hadern die USA mit
des Zweiten Weltkriegs, war kein Weißer. Als er        der Frage, wie viel Demokratie erlaubt sein soll.
zusammen mit afroamerikanischen Soldaten-              Sicherlich, es gab Phasen des Fortschritts, in de-

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nen das Wahlrecht hochgehalten und respek-                Bürgerrechtsausschuss des US-Justizministeri-
tiert und das Potenzial für Selbstbestimmung,             ums sichergestellt wird. Dieses angenommene
das sich daraus ergibt, ausgedehnt wurde.                 Recht wird jedoch ständig für politische Zwecke
Aber der Respekt vor den Willensäußerungen                uminterpretiert.
des Volkes ist mal mehr, mal weniger vorhan-
den. Gegenwärtig verkommt in Amerika die                  Das Urteil Bush vs. Gore kam kaum überra-
Demokratie – eine Entwicklung, die sehr ernst             schend angesichts der Art und Weise der Ver-
zu nehmen ist. Das Bürgerengagement in den                handlungen und Anhörungen vor dem Obers-
Vereinigten Staaten war zu keinem Zeitpunkt               ten Gerichtshof. Schon bevor die Mehrheit der
stark genug, um den Traum von einer reprä-                Richterinnen und Richter im Dezember 2000
sentativen Demokratie wahr werden zu las-                 eine Neuauszählung der in Florida abgegebe-
sen, geschweige denn den einer partizipativen             nen Stimmen vereitelte – welche möglicher-
Demokratie. Tatsächlich ist die amerikanische             weise verhindert hätte, dass George W. Bush
Demokratie im Gegensatz zu einem Großteil                 der 43. US-Präsident wurde –, deutete sich das
der Welt – und vor allem gegenüber denjenigen             Ergebnis an. Bei den Anhörungen vor dem Ur-
Ländern, mit denen wir uns gerne vergleichen –            teilsspruch hatten der Vorsitzende des Obers-
dramatisch unterentwickelt und wird mehr und              ten Gerichtshofs, William Rehnquist, und sein
mehr funktionsunfähig.                                    Kollege Richter Antonin Scalia gegenüber An-
                                                          wälten des demokratischen Präsidentschafts-
Das außergewöhnliche Gerichtsurteil Bush vs.              kandidaten Al Gore klipp und klar zu verstehen
Gore vom Dezember 2000 machte diese Funkti-               gegeben, dass sie ein verfassungsrechtlich ga-
onsunfähigkeit der amerikanischen Demokratie              rantiertes Wahlrecht nicht erkennen könnten
offensichtlich. In dem Urteil hieß es: „Der einzel-       – ja, dass sie es sich nicht einmal vorstellen
ne Bürger hat kein von der Verfassung garan-              könnten. Dies kommentierte der Juraprofes-
tiertes Recht, Wahlmänner zu wählen, die den              sor Jamin B. Raskin von der American Univer-
Präsidenten bestimmen.“ Diesem Urteil zufolge             sity so: „Nach Auffassung des Gerichts wurzelt
besitzen Amerikaner also kein klar definiertes            die Demokratie nicht im Recht des amerikani-
Wahlrecht. Im besten Fall haben sie ein ange-             schen Volks zu wählen und zu regieren, son-
nommenes Recht, das manchmal in strittigen                dern in einem staatlichen System von Institu-
Fällen durch Paragraphen im Voting Rights Act             tionen, aus denen Führungsfiguren hervor-
(dem Wahlrechtsgesetz von 1965) oder vom                  gehen.“

Versagen der Demokratie

Die Funktionsschwäche der US-amerikanischen               in der Vergangenheit, mit aller Entschiedenheit
Demokratie hat weitreichende Folgen wirt-                 der Bedrohung ihrer Demokratie und deren Po-
schaftlicher, ökologischer und sozialer Art für           tenzialen begegnen? Schließlich geht es darum,
das Land. Zweck der vorliegenden Studie ist es,           Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Tatenlosig-
den gegenwärtigen Debatten über die Unter-                keit in ihr Gegenteil zu verkehren, damit sich, so
drückung von Wählern, den Entzug des Wahl-                Langston Hughes, die Gleichheit wieder „in der
rechts, die Wahlbeteiligung und damit über die            Luft befindet, die wir einatmen“. Es geht um viel
Demokratie selbst auf den Grund zu gehen. Die             mehr als um die zwar wichtigen, aber zu eng
Frage lautet: Werden die Amerikaner, wie schon            gefassten technischen Diskussionen, wie eine

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Wahlurne oder ein Wahllokal auszusehen hat.             zum Kriegsdienst einzog, ebenfalls mitreden
Es geht um die Kernfrage, ob das Volk regieren          konnten über Krieg und Frieden. Eine gewisse
soll, um etwas, was Benjamin Franklin vor über          Zeit lang schien es, als hätten sich die Opfer ge-
zwei Jahrhunderten so umriss: „Wer weder                lohnt, die Evers und diejenigen erbracht hatten,
Stimme noch Wahlrecht hat, um Volksvertreter            die mit ihm litten, marschierten und starben.
zu bestimmen, ist nicht frei, sondern jenen völ-
lig unterjocht, die das Recht zu wählen haben.“         Doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfolg-
                                                        te eine historische Kehrtwende: Der Supreme
Franklin gehörte zusammen mit Thomas Pai-               Court verhinderte die Neuauszählung der
ne zu den wenigen Staatsgründern, die gegen             Stimmzettel in Florida, und die Gesetze zur
Sklaverei und Knechtschaft opponierten. Seine           Wählerregistrierung wurden verschärft. Der
Haltung war vorausahnend. Die blutigen Aus-             Begriff „Wählerunterdrückung“ gewann wieder
einandersetzungen zwischen den entgegenge-              an Aktualität, und die Einteilung der Wahlkreise
setzten Positionen, die „Wählen als ein Recht           war so umkämpft und manipuliert wie nie zu-
und Wählen als etwas, das nur den richtigen             vor. Es tauchten Vorschläge auf, das Wahlmän-
Leuten zugestanden wird,“ betrachten, haben             nergremium, das den Präsidenten bestimmt, so
das amerikanische Experiment von Anfang an              zu verändern, dass es noch häufiger vorkäme,
entstellt und verunstaltet, meint der Historiker        dass ein Kandidat Präsident würde, auf den nur
Eric Foner. In Amerika hat es immer Kräfte ge-          eine Minderheit der Wählerstimmen entfielen.
geben, denen es um eine demokratische Hülle             Man trivialisierte die Rolle, die die freie Presse
ohne Inhalt geht, die „das Wahlvolk säubern             bei der Aufklärung der Bevölkerung normaler-
wollen“, wie Foner es ausdrückte, damit eine            weise spielt und gab sie schließlich ganz auf.
privilegierte Schicht in ihrem eigenen Interesse        Zudem beseitigte man die Gesetze, die die Fi-
regieren kann. Diesen Kräfte stellen sich aller-        nanzierung der Wahlkämpfe regulierten, und
dings echte Demokraten unter dem Motto „Das             ließ der Macht des Geldes auf die Wahlen freien
Volk soll herrschen“ entgegen.                          Lauf. Wahlkämpfe verkamen zum Spielfeld der
                                                        Reichen.
Medgar Evers aus Decatur in Mississippi ver-
stand nur allzu genau, was Franklin Jahrzehn-           Medgar Evers’ Witwe Myrlie sprach am 21. Ja-
te zuvor an der Entrechtung von Amerikanern             nuar 2013 bei der feierlichen Einführung in die
kritisiert hatte. Da die Entmündigung, wie er           zweite Amtszeit Obamas, des ersten afroame-
selbst erfahren hatte, in vieler Hinsicht fortbe-       rikanischen US-Präsidenten, das Bittgebet. Sie
stand, entschied Evers sich nicht nur für das           rief nicht nur „eine Geschichte unterdrückter
Wahlrecht, sondern für die Erweiterung demo-            Wählerstimmen“ ins Gedächtnis, sondern warn-
kratischer Rechte im Allgemeinen zu kämpfen.            te vor dem augenblicklichen Pfad, der „voller
Sein Engagement kostete ihn letztendlich das            Dornen der Unterdrückung und ausgelegt mit
Leben. Weiße Rassisten erschossen ihn vor sei-          Schmerzen der Verzweiflung“ sei. Sie sprach von
nem Haus in Mississippi – 17 Jahre nach seinem          der „Verheißung Amerika“, die längst noch nicht
Versuch, an jenem Junimorgen 1946 wählen zu             wahr geworden sei. Myrlie Evers-Williams stellte
gehen. Wenige Zeit später kam es zum „Marsch            an jenem Tag eine genaue Verbindung her.
auf Washington für Arbeit und Freiheit,“ und
zwei bahnbrechende Gesetze wurden verab-                Die Geschichte der Entmündigung und die fort-
schiedet: der „Voting Rights Act“, ein Verfas-          währende Unterdrückung verhindern, dass die
sungszusatz, der die Wahlsteuer abschaffte,             Vereinigten Staaten Abraham Lincolns Verspre-
und ein weiterer, der das wahlfähige Alter auf          chen einer „Regierung des Volkes, durch das
18 Jahre absenkte, damit diejenigen, die man            Volk und für das Volk“ einlösen, und das Schei-

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tern der Demokratie hat Folgen bis in den letz-        fernen sowie von den Menschenrechtsnormen,
ten gesellschaftlichen Winkel. Die USA können          die die Amerikaner dem Rest der Welt bisweilen
keine „Freiheit und Gerechtigkeit für alle“ bie-       mit Waffengewalt aufzuzwingen versuchten.“
ten, wenn Wahlen nichts weiter sind als eine ge-
schmacklose Abfolge von Rufmorden. Die Wäh-            Aus meiner eigenen Erfahrung heraus gebe ich
lerinnen und Wähler haben nur wenig Auswahl            Epps recht. Ich verfolge die Wahlen in den USA
zur Verfügung, und die Einmischung der Zivilge-        als Zeitungs- und Zeitschriftenreporter sowie
sellschaft ist nicht erwünscht. Stattdessen sind       als Radio- und TV-Kommentator seit 30 Jahren.
die Wahlen geprägt von den Machenschaften              Außerdem habe ich zusammen mit Robert W.
der Millionäre, der eigentlichen Hauptakteu-           Chesney 15 Jahre lang in einer Buchreihe über
re in der Politik. Nur in einer gesunden De-           Medien und Politik untersucht, wie es um die
mokratie mit lebhaften politischen Debatten            Verwirklichung des „großen Experiments“
ist die Wahlbeteiligung hoch und spiegeln die          (Alexis de Tocqueville) der amerikanischen
Entscheidungen der Regierung während der               Demokratie bestellt ist. Epps unterschätzt viel-
gesamten Legislaturperiode den Willen der Be-          leicht sogar, wie sehr das Wahlsystem und die
völkerung wider – nicht nur einen Tag nach den         Regierungsinstitutionen der Vereinigten Staa-
Wahlen. Nur mit einer solchen Demokratie sind          ten antidemokratische Züge aufweisen.
die USA den weitreichenden wirtschaftlichen,
ökologischen und sozialen Herausforderungen            Die Demokratiedefizite lassen sich auf verschie-
der Gegenwart gewachsen.                               dene Weise untersuchen. Beginnen wir mit dem
                                                       Offensichtlichen, der Wahlbeteiligung. Zu Recht
Gegenwärtig entwickeln sich die Vereinigten            hat der UN-Statistiker und Wirtschaftswissen-
Staaten indes in die entgegengesetzte Richtung.        schaftler Howard Steven Friedman Wahlen als
Die hart erkämpften demokratischen Errungen-           „den nächstliegenden Maßstab für die Beteili-
schaften des 20. Jahrhunderts werden leichtfer-        gung der Bürger am demokratischen Prozess“
tig aufgegeben, darunter auch die erweiterten          bezeichnet. Die Frage, wie viele Menschen an
Wählerrechte und die Begrenzung des Einflus-           wie vielen Wahlen teilnehmen, rührt an das
ses der Reichen auf den politischen Prozess.           grundsätzliche Thema der Legitimität. Reprä-
Der Rechtswissenschaftler Garrett Epps nimmt           sentieren die regierenden Politiker wirklich
an, dass es sich bei der Aushöhlung der Demo-          den Willen der gesamten amerikanischen Be-
kratie um eine jener „Phasen der Kontraktion“          völkerung? Oder beruht ihre Macht auf einem
handelt, die sich in der Vergangenheit während         funktionsgestörten Prozess, der die Wahlver-
Zeiten des Umbruchs ereignet haben. Trifft dies        drossenheit fördert – und das in einem so gro-
zu, so „sollten wir uns bewusst sein, dass wir         ßen Ausmaß, dass viele US-Amerikaner diese
uns von unseren Gesetzesgrundlagen, dem al-            Ungerechtigkeit inzwischen als unabänderlich
leinigen Fundament für Selbstverwaltung, ent-          erachten und kapituliert haben?

Wahlbeteiligung: Aus dem demokratischen Raster herausgefallen

Die Antwort auf diese Fragen beunruhigt und            kommentieren das Bruttoinlandsprodukt, aber
wird in der US-amerikanischen Öffentlichkeit zu        das „Bruttodemokratieprodukt“ thematisieren
wenig diskutiert. Unsere Medien messen und             sie überhaupt nicht. Sonst würde uns nämlich

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sofort auffallen, dass das Land in einer Krise          kratie unfertig und fehlerhaft ist. Trotzdem un-
steckt. Viele Millionen US-Amerikaner haben             terscheidet sich die Wahlbeteiligung in beiden
sich aus dem politischen Prozess ausgeklinkt            Ländern stark.
und beteiligen sich nicht mehr an den Wahlen,
was die USA im Vergleich mit anderen Demo-              Der Wiederwahl von Bundeskanzlerin Angela
kratien zu einer Ausnahmeerscheinung macht.             Merkel im Herbst 2013 erfolgte in einer Wahl-
Genau dies müsste eigentlich das Hauptthema             kampfatmosphäre, die deutsche Medien als
in der amerikanischen Politik sein. Denn die            ereignislos und langweilig bezeichneten. Den
Politikverdrossenheit hat nicht nur erhebliche          gesamten Wahlkampf über herrschte die Stim-
politische Konsequenzen, sondern beeinflusst            mung vor, Merkels CDU würde die Mehrheit
auch die Debatten über die Wirtschaft. Eine ver-        der Stimmen erhalten und erneut dominie-
meintliche repräsentive Demokratie, die in der          rende Regierungspartei werden. Ungeachtet
Realität nicht den Willen der großen Mehrheit           des eher eintönigen Wahlkampfes betrug die
der Amerikaner vertritt, neigt dazu, die Forde-         Wahlbeteiligung am 22. September 2013 rund
rungen der reichen Eliten zu erfüllen.                  72 Prozent – 14 Prozent mehr als die Teilnahme
                                                        wahlberechtigter US-Bürger an der Präsident-
Laut Institutionen wie dem International Insti-         schaftswahl 2012 und fast 20 Prozent mehr
tute for Democracy and Electoral Assistance, die        als die Wahlteilnahme aller US-Amerikaner im
die Wahlbeteiligung analysieren, rangieren die          wahlfähigen Alter. Nicht vergessen sollte man
Vereinigten Staaten im weltweiten Vergleich             dabei, dass Deutschland keinen Präsidenten
regelmäßig am unteren Ende. Verglichen mit              wählt, sondern einen Bundestag, der dem
Ländern, die eine hohe Wahlbeteiligung för-             US-Repräsentantenhaus ähnelt. Vergleicht man
dern, beträgt die Wahlbeteiligung in den USA            die deutsche Wahlbeteiligung von 72 Prozent
etwa nur die Hälfte. In Malta beteiligten sich an       im Jahr 2013 mit der zu den US-Kongresswah-
der jüngsten Parlamentswahl 93 Prozent der              len 2010, so fällt der Unterschied noch gravie-
Wahlberechtigten. In den USA betrug die Wahl-           render aus: Im Jahr 2010 betrug die Wahlbetei-
beteiligung an den Kongresswahlen 2010 weni-            ligung nur 41 Prozent, und von den US-Ameri-
ger als 40 Prozent. Nun kann man zu Recht er-           kanern im wahlfähigen Alter nahmen nur 37
widern, dass Malta oder auch Belgien, wo eine           Prozent teil.
ähnlich hohe Wahlbeteiligung gemessen wird,
sehr viel kleinere Länder sind. Was also sind           Obwohl die Wahlbeteiligung in Deutschland
vergleichbare Länder?                                   nach diesem „langweiligen“ Wahlkampf ver-
                                                        gleichsweise niedrig war, lag sie dennoch fast
„Egal, wie man Wahlgänge misst“, schrieb Fried-         doppelt so hoch wie bei einem amerikanischen
man 2012 in einem Artikel für die „Huffington           Durchschnittswahlkampf. Dabei ist die Wahlbe-
Post“, „im Vergleich gehören die Vereinigten            teiligung in Deutschland bei weitem nicht die
Staaten zu den Ländern mit der niedrigsten              höchste unter den etablierten Demokratien
Wahlbeteiligung“. Nehmen wir Deutschland,               weltweit. In Norwegen hatten sich wenige Wo-
das oft mit den USA verglichen wird und mit             chen zuvor 78 Prozent an Wahlen beteiligt. In
dem sich das Land gerne vergleicht. Es hat              Frankreich liegt die Beteiligung bei den jüngs-
eine bevölkerungsstarke, stabile Demokratie.            ten Wahlgängen bei über 80 Prozent, in Belgien
In beiden Staaten klagen viele Menschen über            bei 90 Prozent oder sogar noch darüber.
das jeweilige Wahlsystem, die Wahlstrukturen
und den Zustand der Demokratie im Allgemei-             Wenn es um die Wahlbeteiligung geht, fallen die
nen. Sowohl nachdenkliche Deutsche als auch             USA also aus dem Rahmen. Das Land wird von
US-Amerikaner gestehen ein, dass ihre Demo-             Politikern regiert, die vielfach nur von einer klei-

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JOHN NICHOLS
                                                 DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE

nen Minderheit der Wahlberechtigten gewählt                gistrieren, dann wählen – machen es komplizierter
wurden. In zahlreichen Bundesstaaten und oft               als in vielen anderen Ländern. Einige Amerikaner
                                                           hält dies gänzlich vom Wählen ab. In Österreich,
auch auf der nationalen Ebene wird die Politik
                                                           Kanada, Deutschland, Frankreich und Belgien
von Gesetzgebern bestimmt, die ihre Mandate                basieren die Wählerlisten auf umfassenden Da-
bei den „off-year elections“ erzielt haben, den            tenbanken oder sie sind von Regierungsbehörden
„Zwischenwahlen“ zum Kongress, bei denen be-               erstellt worden, was den Wahlprozess vereinfacht.
sonders wenige Wählerinnen und Wähler ihre                 So erhält beispielsweise jeder Deutsche, der am
Stimmen abgeben. Fest steht: Auch wenn die                 Wahltag 18 Jahre oder älter ist, automatisch einen
                                                           Bescheid über die bevorstehende Wahl. In Kanada
Wahlen in den USA einer engen Definition von
                                                           dienen die Einkommensteuerbescheide zur Wahl-
Demokratie genügen mögen, sind sie von einer               registrierung. In England erhält jeder Haushalt
wahrhaft repräsentativen Politik und Regierung             einen Bescheid. Zusätzliche Wähler können sich
weit entfernt.                                             dort per Post registrieren lassen.

Weshalb hat das US-System so viele Stolper-              Die USA erschweren den Urnengang. Dies ist
steine?                                                  ein Grund, weshalb die Vereinigten Staaten
                                                         auf dem „Demokratie-Index“ der Zeitschrift
In der Vergangenheit lag die Wahlbeteiligung in          „The Economist“ auf Platz 21 der Rangliste ab-
den Vereinigten Staaten ziemlich hoch. Im Jahr           gerutscht sind. Wir erörtern dieses Problem
1960 beispielsweise beteiligten sich 65 Prozent          weiter unten. Und doch gilt: Selbst wenn die
der Wahlberechtigten. Seitdem nimmt die Be-              USA ihre Wahlen stark vereinfachten, wären
teiligung merklich bergab, wie das United States         die tiefer liegenden Gründe für Frustration
Election Project in Studien nachgezeichnet hat.          und Politikverdrossenheit trotzdem nicht be-
Schlimmer noch: Zwischen der Beteiligung                 seitigt.
von Wahlberechtigten und der Beteiligung von
Menschen im wahlfähigen Alter tut sich seit den          Jede ernsthafte Diskussion über Demokra-
frühen 1970er Jahren eine deutliche Kluft auf.           tie in den USA muss zuallererst anerkennen,
Mit anderen Worten: Weniger Menschen gehen               dass die Wahl- und Politikstrukturen zu einem
wählen, und mehr Menschen ist das Wahlrecht              derart gravierenden Bedeutungsverlust der
entzogen worden bzw. wird das Wählen schwer              Stimmabgabe geführt haben, dass es sich bei
gemacht. Teilweise geschieht dies mit voller Ab-         Wahlen um kaum mehr als ein inhaltsleeres po-
sicht. Zumeist geht der Ausschluss von poten-            litisches Spektakel handelt. Benjamin Franklin
ziellen Wählerinnen und Wählern jedoch auf               und Medgar Evers glaubten, dass das Wählen
Regelungen und Strukturen der Bundesstaaten              die große Masse der Bevölkerung von Unter-
zurück, die im besten Fall archaisch zu nennen           drückung befreien könnte und sollte. Dabei
sind. Während andere Länder Hindernisse, die             beschränkten sie sich nicht auf die Formen der
die Beteiligung an Wahlen erschweren oder                Repression, die sie unmittelbar selbst betrafen.
verhindern, gezielt angehen, unternehmen die             Auch wir sollten uns in dieser Hinsicht nicht
USA in dieser Hinsicht kaum etwas. Friedman              beschränken. Als der herausragende ameri-
schreibt:                                                kanische Gewerkschaftsführer und Sozialist A.
                                                         Philip Randolph den „March on Washington“
  Verbraucherfreundlichkeit hat Auswirkungen auf         initiierte, sagte er: „Eine Gemeinschaft ist nur
  das Wahlverhalten. Bis auf einen Bundesstaat           dann demokratisch, wenn ihr ärmstes und
  müssen Wähler in den USA vor den Wahlen einen
                                                         schwächstes Mitglied ebenso weitreichende
  separaten Registrierungsprozess durchlaufen. Die
  große Mehrzahl der Bundesstaaten lässt die Ein-        bürgerliche, wirtschaftliche und soziale Rech-
  tragung in Wählerverzeichnisse am eigentlichen         te genießt wie ihr reichstes und mächtigstes
  Wahltag nicht zu. Diese beiden Phasen – erst re-       Mitglied.“

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                                             DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE

Plutokraten und Dollarokratie

Die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten Ran-        raler Prägung wie auch freie Märkte würden
dolphs Postulat bis heute nicht gerecht werden,        die Zukunft prägen, entgegnete mein (kürzlich
hat viele Gründe. Einige sind so alt wie die Re-       verstorbener) Freund Tony Benn – ein langjäh-
publik selbst, die bei ihrer Gründung gerade           riges Mitglied im englischen Parlament –, die
mal einem von 20 Amerikanern das Wahlrecht             Geschichte habe einen höchst unerfreulichen
gewährte. Andere Gründe sind neu und ge-               Ausgang genommen: massive Ungleichheit,
hen beispielsweise auf die Einflussnahme der           gravierende Armut, Umweltzerstörung, Diskri-
milliardenschweren Gebrüder Koch sowie auf             minierung und Gewalt. Seit Fukuyama das Ende
die von ihnen geschaffene rechte Infrastruktur         der Geschichte verkündete, haben sich die
zurück, mit deren Hilfe sie die Wählerrechte in        Verhältnisse stetig verschlechtert – und zwar
einzelnen Bundesstaaten aushöhlen. Als roter           so sehr, dass sich der Autor im Jahr 2010 mit
Faden in der Geschichte lässt sich erkennen: Je        einem Aufsatz zum Thema „Ist Amerika eine
enger die Definition von Demokratie gefasst ist,       Plutokratie?“ zurückmeldete. Fukuyama beant-
desto größer sind der Reichtum und die Macht           wortete seine rhetorische Frage geradeheraus
der Eliten. Amerikanische Geschichte ist aus           mit den Worten: „Wenn die Frage bedeutet ‚Ha-
dieser Sicht – zumindest bis jetzt – keine Ge-         ben die Reichen in den USA einen unverhältnis-
schichte des Fortschritts hin zu einer vollstän-       mäßig großen politischen Einfluss?‘, dann muss
dig verwirklichten Demokratie, sondern eine            die Antwort klipp und klar ‚ja‘ lauten.“ Dieses
Geschichte von Vorstößen und Rückschlägen.             „Ja“ bezieht sich auf den Zusammenbruch der
„Freiheit gibt es nicht umsonst – sie muss er-         Demokratie, der die Menschen nicht nur ihrer
kämpft werden. Gerechtigkeit ist keine Gege-           politischen Macht beraubt, sondern ihnen auch
benheit – sie muss abverlangt werden“, erklärte        die wirtschaftliche Stabilität entzogen hat. Fu-
Randolph. Der große Stratege der Kampag-               kuyama schrieb:
nen für Wahl- und Wirtschaftsdemokratie des
                                                         In den Ohren der Republikaner, die mit den
20. Jahrhunderts erinnerte seine Verbünde-
                                                         „Reagonomics“ [Wirtschaftspolitik unter Präsi-
ten stets daran, dass „der Kampf weitergehen             dent Reagan] aufgewachsen und bis heute deren
muss“. Denn die Eliten verbündeten sich immer            Anhänger sind, mag es wie Hohn klingen, aber ein
wieder aufs Neue, um die von Demonstranten               wesentlicher Maßstab für eine lebendige, moder-
und Bewegungen erzielten Errungenschaften                ne Demokratie ist ihre Fähigkeit, bei den eigenen
rückgängig zu machen.                                    Eliten für ein angemessenes Steueraufkommen zu
                                                         sorgen. Die dysfunktionalsten Gesellschaften in
                                                         der entwickelten Welt sind diejenigen, deren Eliten
Heute sichern die Mächtigen aus Politik und              sich auf legalem Weg der Steuerzahlung entziehen
Wirtschaft ihren Status mit dem Argument ab,             oder durch Schlupflöcher Steuerflucht betreiben
Gesellschaften sollten sich über Märkte, nicht           – womit sie dem Rest der Gesellschaft die öffent-
über Demokratie definieren. Das neolibera-               lichen Ausgaben aufbürden.
le Wirtschaftsdogma, das Überfluss für die
                                                       Darüber hinaus wies Fukuyama auf die unzu-
Wenigen und Sparsamkeit für die Vielen pro-
                                                       reichenden Reaktionen einer „Opposition“ hin,
pagiert, ist eine echte Bedrohung für demo-
                                                       die zu selten wirklich opponiert:
kratische Werte und Institutionen. Als Francis
Fukuyama am Ende des Kalten Krieges behaup-              Von der Demokratischen Partei hätte man sich
tete, die Welt sei am „Ende der Geschichte“              eigentlich erwartet, dass sie das Thema politisch
angelangt und die Demokratie westlich-libe-              in den Mittelpunkt rückt. Stattdessen verhielt sie
                                                         sich unschlüssig und zögerlich. Obwohl sie im Re-

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                                                     DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE

  präsentantenhaus und im Senat die Mehrheit der             die beiden großen US-Parteien sich den neoli-
  Sitze zurückerhielt und zwischen 1993 und 2001             beralen Schwindel zu eigen gemacht haben, be-
  (sowie natürlich ab 2009) den Präsidenten stellte,
                                                             finden wir uns in einer „post-demokratischen“
  führten ihre politischen Erfolge nicht dazu, dass
  sie die wirtschaftliche Ungleichheit stärker thema-
                                                             Phase. Die Wahlen wie der gesamte politische
  tisierte. In einem unerwarteten Ausmaß haben die           Prozess sind, so Crouch, verkommen zu einem
  Demokraten alles von dem Marktfundamentalis-               „streng kontrollierten Spektakel, dessen Rah-
  mus der 1990er Jahre geschluckt, was man ihnen             men von rivalisierenden Teams von PR-Profis
  vorsetzte. Dies spiegelt einen weit verbreiteten in-       gestaltet wird, wobei die beiden Teams nur eine
  tellektuellen Trend wider.
                                                             begrenzte Zahl von Inhalten zulassen“. Gewählt
Diese Ansicht bestätigte der Senator Bernie                  wird in regelmäßigen Abständen, und Regie-
Sanders aus Vermont, der seit über zwei Jahr-                rungswechsel finden statt – aber die paar Milliar-
zehnten als unabhängiger Sozialist im Kongress               däre setzen sich anscheinend immer durch:
sitzt, in einem Interview, das ich Ende des Jah-             Rettungspläne für die Wall Street, keine Steuer-
res 2013 mit ihm führte. „Ich bin kein Parteimit-            erhöhungen, eine investorenfreundliche und
glied, weil die Demokratische Partei seit vielen             gleichzeitig lokal verheerende Freihandelspoli-
Jahren und bis heute die Interessen meiner                   tik, Einschnitte in soziale Sicherungsnetze sowie
Wählerinnen und Wähler nicht vertritt. Das sind              Angriffe auf Gewerkschaften und öffentliche
hauptsächlich lohnabhängige Familien, Ange-                  Einrichtungen, die eigentlich das Gemeinwesen
hörige der Mittelschicht und Niedriglohnverdie-              aufrechterhalten und definieren sollen.
ner“, erläuterte Sanders. „Die Demokratische
Partei ist gegenüber den weitaus rechteren Re-               Strukturelle Veränderungen haben diese Ver-
publikanern natürlich vorzuziehen. Aber man                  hältnisse mit verschärft. Den Wählerinnen und
ist ganz schön naiv, wenn man nicht weiß, dass               Wählern entgleiten zunehmend die Einfluss-
die Demokratische Partei ebenfalls stark beein-              möglichkeiten auf den politischen Diskurs.
flusst wird vom Geld der Konzerne und anderer                Das geht inzwischen so weit, dass selbst ein
Interessengruppen.“ Auch mit folgender Ein-                  deutliches Resultat wie die Wiederwahl Barack
schätzung hat Sanders Recht:                                 Obamas im Jahr 2012 – fünf Millionen mehr
                                                             Stimmen als sein Gegner und ein gewaltiger
  Wenn das so weitergeht, dann besteht Politik in            Vorsprung von 332 zu 206 im Wahlmännergre-
  Zukunft darin, dass ein paar Milliardäre ihre Köpfe        mium – frappierend geringe Auswirkungen hat.
  über einer Landkarte zusammenstecken und dann
                                                             Die Wähler mögen austeritätspolitische Vor-
  absprechen, wie viele hunderte Millionen Dollar
  sie in diesen oder jenen Wahlkampf investieren
                                                             schläge wie etwa die Kürzung der staatlichen
  wollen.                                                    Renten und der Sozialprogramme für Alte und
                                                             Arme ablehnen und damit Kandidaten wie den
Wenn jemand wie Sanders Senator ist, einer                   Vizepräsidentschafts-Kandidaten Paul Ryan, der
wie der progressive Demokrat Bill de Blasio                  solche Vorschläge gemacht hat, zurückweisen.
zum Bürgermeister von New York gewählt wur-                  Und doch treffen sich, noch bevor die letzten
de oder eine bekennende Sozialistin wie Ksha-                Stimmen überhaupt ausgezählt sind, erneut die
ma Sawant Stadträtin im großen Seattle wird,                 Wirtschaftseliten, um ihre alten Drohungen zu
dann müssen wir sagen, dass „die paar Milliar-               wiederholen. Einiges davon beruht auf nichts
däre“ das Steuer doch noch nicht gänzlich über-              anderem als bloßem wirtschaftlichem Kalkül.
nommen haben. Trotzdem sollten wir vorsich-                  Das Urteil des Obersten Gerichtshofs im Fall Mc-
tig sein, damit wir uns von solchen Ausnahmen                Cutcheon v. Federal Election Commission vom Ap-
nicht zu falschen Hoffnungen verleiten lassen.               ril 2014 beseitigt die bisherigen Obergrenzen für
Denn größtenteils treffen die Beobachtungen                  die Gesamtsumme, die ein Einzelner an Kandi-
des englischen Soziologen Colin Crouch zu. Seit              daten und Parteien spenden darf. Diese richter-

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liche Entscheidung ist allerdings nur das jüngs-           ten und diffusen Medien, die ja oft am Tropf
te in einer ganzen Reihe von Urteilen während              dieser Werbeeinnahmen hängen, nichts in den
der letzten vier Jahrzehnte, die für die reichsten         Weg. Geldinteressen sind so dominant in der
Amerikaner jahrhundertealte Hürden aus dem                 Politik, dass das Gezänk zwischen Demokraten
Weg räumen. Bereits das Urteil des Obersten                und Republikanern, zwischen Liberalen und
Gerichtshofs im Jahr 2010 im Fall Citizens United          Konservativen nur noch einen Nebenschauplatz
vs. Federal Election Commission ermöglichte Kon-           darstellt. Auf der großen Bühne finden Plutokra-
zernen die fast unbegrenzte Einflussnahme auf              tie und Plünderei statt. So etwas ist keine Demo-
Wahlen. Infolge dieser Urteile sind die amerika-           kratie. So etwas haben Robert W. Chesney und
nischen Wahlen jetzt tatsächlich käuflich. Wer             ich als „Dollarokratie“ bezeichnet. Dollarokratie
sich TV-Werbung leisten kann, hat jetzt mehr               ist das Gegenteil von Demokratie. In einer De-
Macht als je zuvor in der Geschichte des Fern-             mokratie legen die Stimmen von Wählern fest,
sehens, die politischen Einsatzregeln zu bestim-           was nach den Wahlen passieren soll. In einer
men. Schließlich legen ihnen die kaputtgespar-             Dollarokratie hat das Geld die Macht darüber.

Geldmacht

Übel zugerichtet von einer Hochwasserflut                  Einfluss auf regionaler und lokaler Ebene wird
an Geld stürzen allmählich die Strukturen der              von den Medien aber leider kaum wahrgenom-
Zivilgesellschaft ein, während die Grundfesten             men, da sie sich zu sehr von dem Geschehen
der bürgerlichen Entscheidungsinstanzen zu                 in Washington ablenken lassen. Wenn wir uns
verfaulen beginnen. Dies nützt der „Handvoll               über die Ausmaße dieser Geldmacht klar wer-
Milliardäre“ ganz gewaltig. Denn die schrump-              den, dann ergibt sich im Gesamtbild, dass das
fende Anzahl aktiver Wähler und die Auflösung              Gerichtsurteil Citizens United zu einer raschen
demokratischer Strukturen macht es für sie                 Umstrukturierung der US-Politik führt – eine
noch leichter, die politische Agenda festzulegen           Entwicklung, die sich durch das jüngste Urteil
und damit die neoliberale Umverteilung von                 McCutcheon v. Federal Election Commission
unten nach oben zu beschleunigen.                          noch beschleunigen wird.

Einige Aspekte dieses Phänomens lassen sich                Kaum jemand bestreitet, dass beide großen
leicht ermitteln. So ist es beispielsweise unstrit-        Parteien vor „der Macht des Geldes“ einknicken.
tig, dass Geld die Lingua Franca unserer Politik           Es wäre indes falsch zu behaupten, dass Demo-
darstellt. Der Wahlkampf von 2012 war mit                  kraten und Republikaner identisch seien. Tat-
Kosten von rund 10,5 Milliarden Dollar der teu-            sächlich unterscheiden sie sich in einer Reihe
erste in der amerikanischen Geschichte. Mas-               wichtiger Themen beträchtlich. Dennoch war es
sive Finanzspritzen gaben die Ausrichtung der              albern, als vermeintliche Politikexperten nach
Präsidentschafts- und Kongresswahlen vor. Die              dem Wahlkampf 2012 die Phrase droschen,
Spenden beeinflussten darüber hinaus Wahlen                der Wahlsieg Obamas beweise, dass Gras-
in den einzelnen Bundesstaaten und auf lokaler             wurzel-Aktivismus sich gegen das große Geld
Ebene sowie Wahlen von Richtern und Referen-               doch immer noch durchsetzen könne. Das war
den. Das Geld kommt in fast all diesen Fällen              ein Trugschluss. In Wirklichkeit hatten Obama
von den immergleichen reichen Einzelperso-                 und seine Unterstützer über 1,1 Mrd. Dollar an
nen, Konzernen und Interessengruppen. Deren                Spenden gesammelt und wieder ausgegeben.

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                                               DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE

Bei Mitt Romney und seinen Unterstützern wa-              Stillstand. Sie gaben bei den Wahlen 2008 und
ren es 1,2 Mrd. Dollar. Richtig ist, dass Obamas          dann 2012 ihre Stimmen in der Hoffnung, dass
Team mehr an individuellen Kleinspenden sam-              sich die Regierung dieser Probleme annimmt.
meln konnte als Romney. Aber Obama erhielt                Doch nur die Hoffnungen der Eliten, die sich
auch mehr Großspenden als der Republikaner.               hinsichtlich der Einkommensungleichheit auf
Romneys leichter finanzieller Vorsprung lag da-           der Gewinnerseite befinden, haben sich erfüllt.
ran, dass sogenannte „Super PACs“ (kurz für Po-
litical Action Committee), von Milliardären finan-        Der Forschungsbeauftragte der Sunlight Founda-
ziell ausgestattete Organisationen, mehr für              tion Lee Drutman stellte 2013 fest, dass „Groß-
Romney ausgaben. Entscheidend ist Folgendes:              konzerne oft und gerne politischen Stillstand ha-
Im Jahr 2012 übertrumpfte eine Geldmacht die              ben. Fragen Sie nur einmal die großen Ölfirmen,
andere. Das Center for Responsive Politics drück-         ob ihnen ein aktiver Kongress in Sachen Kli-
te es so aus: „Politiker reden liebend gern über          mapolitik lieb ist. Oder Hedgefonds, was sie von
die ‚kleinen’ Spenden, die ihnen zukommen.                einem aktiven Kongress halten, der die Gewinn-
Aber die Summen, die die Wahlen hauptsäch-                beteiligungen besteuern will.“ Selbst wenn sich
lich finanzieren werden, kommen von großen,               diesbezüglich in der Regierung etwas tut, stellt
nicht kleinen Spendern.“                                  das Resultat unterm Strich nur selten eine radi-
                                                          kale Abkehr von den üblichen, erfolglosen Ver-
Die Wahlkampfspender und Super-PACs, die                  fahrensweisen dar. Fast immer versuchen die
die größten Schecks ausstellen, bestimmen den             Führungen beider Parteien dann, eine kaputte
Prozess. Und sie bekommen das, wofür sie im               Regelung zu „reparieren“, indem sie Steuergel-
Voraus bezahlt haben. Ende 2013 verkündeten               der aus dem Bundeshaushalt an private Auf-
Paul Ryan, Vorsitzender des Haushaltsausschus-            sichtsinstanzen desselben Kalibers übertragen.
ses im Repräsentantenhaus und Austeritäts-Re-
publikaner, und Patty Murray, die Vorsitzende             Genau so war es, als die Obama-Regierung
des Haushaltsausschusses im Senat, eine rela-             und der Kongress in den Jahren 2009 und 2010
tiv liberale Demokratin, dass sie einen „über-            die Krise in der Gesundheitsversorgung ange-
parteilichen“ Vorschlag für den Bundeshaushalt            hen wollten. Dutzende Millionen von Ameri-
entwickelt hätten. Ihre Vereinbarung enthielt             kanern hatten überhaupt keine Krankenversi-
weder neue Steuern für reiche Bürger und Kon-             cherung, und weitere Dutzende von Millionen
zerne, noch sah sie vor, Steuerschlupflöcher zu           nur eine unzureichende. Die „Behebung“ des
schließen. Wie also wollten Ryan und Murray               Problems bestand in einem Plan, der Gelder
das Haushaltsdefizit reduzieren? Dadurch, dass            an     bestehende     Versicherungsgesellschaf-
sie sich weigerten, die Zahlungen für Langzeit-           ten weiterleitete. Eine einfachere, gerechtere
arbeitslose zu verlängern, und dadurch, dass              und umfassendere Reform wäre es gewesen,
sie Bundesangestellte und Militärangehörige               Medicare, die öffentliche Krankenversicherung
zu mehr Sozialabgaben zwangen. Diese Ver-                 für Senioren und Menschen mit Behinderung,
einbarung ist daher nichts anderes als ein Tri-           für alle Bürgerinnen und Bürger anzubieten mit
but für die reichen Wahlkampfspender. Dabei               einem Einheitsbeitrag nach dem Solidarprinzip.
ging es diesen schon unter den Regelungen                 Dies hätte leichter implementiert werden kön-
des Vorgänger-Kongresses ziemlich gut. Für                nen als die Gesundheitsreform, die letztend-
die meisten kleinen Spender und die Mehrzahl              lich umgesetzt und von den Republikanern als
der Amerikaner hingegen bedeuten Einkom-                  „Obamacare“ beschimpft wird. Der gesunde
mensungleichheit, stagnierende Löhne, struk-              Menschenverstand und die moralische Priori-
turelle Arbeitslosigkeit sowie die Ausblendung            tät hätten eigentlich „Gesundheitsversorgung
von Umwelt-, Bildungs- und lokalen Problemen              ist ein Menschenrecht“ gebieten müssen. Aber

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                                             DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE

das Wohlergehen der Konzerne hatte politische           Beide Seiten treten für soziale Einschnitte und
Priorität. Noch schlimmer ist es um die Debatte         Privatisierungsvorhaben ein, die von Milliar-
über Wirtschaftspolitik und Austerität bestellt:        dären wie den Koch-Brüdern, Institutionen
Mit Hilfe der Mainstream-Medien, die den Po-            wie dem American Legislative Exchange Council
litikern oft ihre simpelsten Verdrehungen ab-           oder Pete Petersons austeritätsförderndem
kaufen, ist dann die Rhetorik beider Parteien           Projekt Fix the Debt (Behebt die Schulden)
kaum noch voneinander zu unterscheiden.                 propagiert werden.

Die Medien als Komplizen

Die Macht des Geldes, das in die Wahlkämpfe             ten in hohe Ämter gewählt werden – etwa ein
und in die Beeinflussung der Regierung fließt,          Senator aus South Carolina oder der stellver-
erhält noch mehr Gewicht durch die Tatsache,            tretende Gouverneur von Illinois. Die geringe
dass die Wahlkampfausgaben nicht länger jour-           Berichterstattung, die noch existiert, billigt dem
nalistisch mitverfolgt werden. Als Standbein der        Kandidaten dann allein wegen seines Spenden-
Demokratie müsste der Journalismus eigentlich           aufkommens „Legitimität“ zu und analysiert
das öffentliche Interesse hochhalten, doch in           anstelle seiner inhaltlichen Vorstellungen seine
den Vereinigten Staaten steckt er in der Krise.         Wahlkampfwerbung. Dieser Trend begann vor
Denn die Geldgeber investieren nicht mehr in            etwa einem Vierteljahrhundert, als die großen
die Informationsbeschaffung und Nachrichten-            Fernsehsender die Kontrolle über die Präsident-
verbreitung. Die Gründe dafür sind Konsolidie-          schaftsdebatten einem Konsortium übertrugen,
rungswellen, Profitstreben und die Reduzierung          das die ehemaligen Vorsitzenden beider Partei-
von Werbeanzeigen. Werbung verschwindet                 en leiten. Die Wahlkampfberichterstattung im
aus herkömmlichen Medien, die einen Großteil            US-Fernsehen besteht heute aus nicht sehr viel
der lokalen, bundesstaatlichen und nationalen           mehr als den abgeschlagenen Phrasen und ver-
Nachrichten abdecken, und taucht auf neuen              drehten Tatsachen parteiischer Moderatoren.
Medienplattformen auf, die diese Inhalte sam-
meln und kommentieren. Die daraus resultie-             An die Leerstellen, die der dahinschwindende
rende Schließung von Zeitungen und die radika-          Journalismus hinterlassen hat, tritt Negativwer-
le Umstrukturierung von Radiosendern haben              bung. Sie dominiert heute den Diskurs in den
große Beachtung gefunden. Gerade das Radio              meisten Wahlkämpfen und ist so widerlich, dass
ist heute eher ein Unterhaltungsmedium denn             die Werbespots viele Wähler von den Wahlur-
eine ernst zu nehmende Nachrichtenquelle.               nen fernhalten. Sie überzeugt die Wähler nicht,
                                                        statt dem einen den anderen Kandidaten zu
Gleichzeitig schrumpfen die Nachrichtenredak-           wählen, sondern hält potenzielle Wähler davon
tionen in den Printmedien und im Radio. Insge-          ab, für ihren Wunschkandidaten zu stimmen
samt ergibt sich ein Bild des allgemeinen Nie-          und überhaupt zur Wahl zu gehen. Dies passt
dergangs. Über große Themenfelder aus Politik           gut in die generelle Strategie politischer Hinter-
und Regierung wird nahezu gar nicht mehr be-            grundakteure, Wähler vom Wählen abzuhalten.
richtet. Die mangelnde Berichterstattung über           Ihnen ist eine kleine, leicht überschaubare Wäh-
größere Wahlkämpfe führt dann so weit, dass             lerschaft lieber. Statt dagegen Einspruch zu er-
unfähige oder schlicht unwählbare Kandida-              heben, schrauben die Eigentümer von TV-Sen-

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dern die Ortsberichterstattung herunter, um              kaner anzuregen, über den Zerfall ihrer Demo-
mehr Werbeplätze anbieten zu können. Denn                kratie und über substanzielle Veränderungen
vor allem in jenen Bundesstaaten mit Kopf-               nachzudenken. Hierbei handelt es nicht um
an-Kopf-Rennen sind Zahlungen für politische             höhere Mathematik. Weltweit verstanden die
Werbespots zur Haupteinnahmequelle des lo-               Menschen ziemlich gut, was Nelson Mandela
kalen Fernsehens geworden. Es überrascht da-             meinte, als er hervorhob, wie wichtig die Aus-
her nicht, dass die Medienkonglomerate einer             gewogenheit zwischen Minderheitenschutz und
Reform der Regeln für die Wahlkampffinanzie-             einer auf demokratischen Entscheidungen be-
rung am vehementesten entgegentreten. Sie                ruhenden Regierungspolitik ist:
bieten den Amerikanern anstelle von richtigen
Nachrichten Polit-Propaganda und profitieren               Ein Wahlrecht ohne Verfügbarkeit von Nahrung,
auch noch davon.                                           Unterkunft und Krankenversorgung erweckt bloß
                                                           den Anschein von Gleichheit und Gerechtigkeit,
                                                           obwohl die Ungerechtigkeit in so einer Gesellschaft
Eine tiefe Kluft ist entstanden. Wahlen sollten            Wurzeln geschlagen hat. Wir wollen keine Freiheit
eigentlich etwas nach sich ziehen, was sowohl              ohne Brot und wir wollen kein Brot ohne Freiheit.
die Neubesetzung von Ämtern als auch die
Richtung betrifft, die die Kommunen, Bundes-             Amerikaner, die in den 1960er Jahren für soziale
staaten und Nationen einschlagen. In jungen              und wirtschaftliche Gerechtigkeit kämpften,
Nationen und solchen, die sich von kolonialer            verstanden Martin Luther King sehr wohl, als er
und interner Unterdrückung freizumachen                  dieselbe Verbindung herstellte: „Das garantier-
versuchen, wird dies vermutlich viel eher ver-           te Wahlrecht kostete die Nation keinen einzigen
standen als in Nationen mit fest eingefahrenen           Penny. Die Probleme, die sich vor uns auftun,
Systemen. Die Amerikaner sind frustriert vom             werden die Nation Milliarden Dollars kosten.“
Kongress, dessen Zustimmungswerte in einigen             Das Ziel der Bürger- und Wahlrechtsaktivisten
Umfragen auf sieben Prozent gesunken sind.               bestand laut den Wissenschaftlern Richard D.
Ihre Verärgerung ist berechtigt. Aber die Me-            Kahlenberg und Moshe Z. Marvit von der Cen-
dien sowie die wirtschaftlichen und politischen          tury Foundation in der „Herstellung eines Rah-
Eliten haben diese Wut mit bemerkenswertem               mens, innerhalb dessen sich die Armen und die
Erfolg umlenken können in Sympathieerklärun-             Arbeiterschaft ihren gerechten Anteil am Reich-
gen für die eine oder andere Parteiseite und in          tum der Nation beschaffen konnten“. Heute
ideologisches Gerangel. Sie tragen nichts dazu           drängt die Umsetzung von demokratischen
bei, die viel grundlegenderen Probleme zu ver-           Prinzipien in die politische Praxis der Regierung,
stehen. Wenn Wahlergebnisse nicht zu einer               genauso wie damals. Allerdings wird die Demo-
Regierung führen, die den Willen der Bevölke-            kratie derart missachtet, dass sie unter dem
rung widerspiegelt, verkommt die Demokratie.             Druck, den Forderungen aus der Wirtschaft ge-
Es ist dringend notwendig, diesen verheeren-             recht zu werden, als unbrauchbar dargestellt
den Kreislauf zu unterbrechen und die Ameri-             und ausrangiert wird.

Beabsichtigter Bankrott: Der Fall Detroit

Werfen wir nun einen Blick auf die Stadt Detroit.        an jenem Tag weder durch die Wählerinnen und
Die Stadt wählte am 5. November 2013 einen               Wähler festgelegt noch durch den von ihnen ge-
neuen Bürgermeister. Aber ihre Zukunft wurde             wählten Bürgermeister. Denn wenige Wochen

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nach der Wahl bestimmte ein Konkursgericht                  likanischen Gouverneurs Rick Snyder war. Der
die Zukunft Detroits – ein Richter ermächtigte              wiederum erhielt bei seiner Wahl im gesamten
einen „Notfall-Manager“ ohne jegliche demo-                 Bundesstaat Michigan in der Stadt Detroit nur
kratische Legitimation, die Geschicke der Stadt             ein Zwanzigstel der Stimmen – gerade einmal
zu leiten. Mit dem Urteil des Konkursrichters               fünf Prozent der Wählerschaft in Detroit waren
Steve Rhodes im Dezember 2013 wurde De-                     der Meinung, Snyder solle in ihrem Staat und
troit offiziell die größte US-Stadt, die je nach Pa-        ihrer Stadt die Geschicke bestimmen. Trotzdem
ragraph 9 ihren Bankrott erklärt hatte. Obwohl              wurde er über seinen Notfall-Manager und mit
der Richter in seiner Begründung eingestand,                der Billigung des Konkursrichters, den er zum
dass die Verhandlungen mit potenziellen exter-              Eingreifen gebeten hatte, zum Herrscher über
nen Kreditgebern nicht in gutem Glauben ver-                das Schicksal von Detroit.
laufen waren, setzte er den Notfall-Manager
und dessen Anwaltsfirma ein. Diese sollten ih-              Und was wurde aus dem neuen, demokrati-
ren „Anpassungsplan“ auf den Weg bringen.                   schen Bürgermeister von Detroit, Mike Duggan,
Unabhängige Beobachter hatten vorhergesagt,                 einem erfahrenen Kommunalpolitiker und
dass dieser Plan umfassende Rentenkürzun-                   hochangesehenen Manager, der 55 Prozent der
gen für ehemalige Stadtangestellte beinhalten               Stimmen in der Stadt erhalten hatte? Duggan
werde: „Ein Konkurs würde das völlige Aus der               beantwortete diese Frage gegenüber Reportern
ohnehin bescheidenen Renten der Feuerwehr-                  im November so: „Die einzige Befugnis, die ich
leute, der Polizisten und anderer Stadtangestell-           haben werde, ist die, die ich dem Gouverneur
ter von Detroit bedeuten. Und das zur gleichen              und dem Notfall-Manager abbetteln kann.“
Zeit, da die Wall Street Hunderte von Millionen
Dollar aus der Wirtschaft der Stadt absaugt“, er-           Dies hat mit Demokratie nichts zu tun. Es hat
klärte der Leiter der National Public Pension Coa-          auch nichts zu tun mit dem Willen der Bevölke-
lition, die sich für die öffentlichen Renten ein-           rung Detroits. Weshalb wir das wissen? Weil das
setzt, Jordan Marks. „Dies ist ein schwarzer Tag            Gesetz, das Gouverneur Synder befugte, einen
für die Menschen in Detroit, die hart gearbeitet            Notfall-Manager zu berufen und die Stadt damit
und sich immer an die Regeln gehalten haben.                in den Bankrott zu treiben, von den Wählern im
Jetzt laufen sie Gefahr, alles zu verlieren.“               Jahr 2012 abgelehnt worden war. Snyder muss-
                                                            te sich ein neues Notfall-Manager-Gesetz aus-
Detroit hat, wie viele andere amerikanische                 denken, nachdem die ursprüngliche Version,
Städte, Finanzprobleme infolge der Deindus-                 auf dessen Grundlage er bereits kleinere Städte
trialisierung und aufgrund einer gescheiterten              übernommen hatte, von den Wählern in Michi-
Wirtschaftspolitik auf bundesstaatlicher Ebe-               gan mit einem Referendum gekippt worden
ne. Dazu kommen Fehlentscheidungen und                      war. In Detroit hatten 82 Prozent dagegen ge-
Fehltritte von Kommunalpolitikern. Aber gegen               stimmt. Und trotzdem mussten sie die neue
Finanzprobleme kann man einiges unterneh-                   Version des Gesetzes schlucken. Auf diese
men. Leider haben politische Kräfte, die nie ge-            Weise verlor der gewählte Bürgermeister sei-
wählt worden sind und nicht zur Rechenschaft                ne Macht, über Renten und Arbeitsverträge zu
gezogen werden können, Lösungen ausge-                      wachen und Prioritäten in der Grundversorgung
schlagen, die der gesunde Menschenverstand                  der Bürgerinnen und Bürger festzulegen.
fordert und die wirtschaftspolitisch einwandfrei
sind. Der Richter, der nicht gewählt, sondern               Für Detroit bestand das größte Problem nicht in
ernannt worden war, händigte den Schlüssel                  der Kommunalverwaltung, sondern in der Dein-
der Stadt dem Notfall-Manager Kevyn Orr aus,                dustrialisierung. Sie erschütterte Hunderte von
der seinerseits der Wunschkandidat des repub-               Fabriken und trieb Hunderttausende von Stadt-

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