DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE - Wie der Bedeutungsverlust der Wahlen Ungleichheit und Ungerechtigkeit befördert Von John Nichols
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DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE ROSA Wie der Bedeutungsverlust der Wahlen Ungleichheit LUXEMBURG STIFTUNG und Ungerechtigkeit befördert NEW YORK OFFICE Von John Nichols
Inhaltsverzeichnis Demokratischer Tiefpunkt. Von den Herausgebern.......................................................................1 Die Aushöhlung der amerikanischen Demokratie Wie der Bedeutungsverlust der Wahlen Ungleichheit und Ungerechtigkeit befördert Von John Nichols Versagen der Demokratie............................................................................................................3 Wahlbeteiligung: Aus dem demokratischen Raster herausgefallen......................................5 Plutokraten und Dollarokratie.....................................................................................................8 Geldmacht................................................................................................................................10 Die Medien als Komplizen..........................................................................................................12 Beabsichtigter Bankrott: Der Fall Detroit..................................................................................13 Die Gesetze zum Wählerausweis: Märchen und Wahnsinn.................................................15 Echte Demokratisierung............................................................................................................17 Eine Ära demokratischer Erneuerung.....................................................................................20 Veröffentlicht von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro New York, April 2014 Herausgeber: Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg Adresse: 275 Madison Avenue, Suite 2114, New York, NY 10016 E-Mail: info@rosalux-nyc.org; Telefon: +1 (917) 409-1040 Gefördert mit Mitteln des Auswärtigen Amts Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine international tätige, progressive Non-Profit-Organisation für politische Bildung. In Zusammenarbeit mit vielen Organisationen rund um den Globus arbeitet sie für demokratische und soziale Partizipation, die Ermächtigung von benachteiligten Gruppen, Alternativen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und für friedliche Konfliktlösungen. Das New Yorker Büro erfüllt zwei Hauptaufgaben: sich mit Themen der Vereinten Nationen zu befassen und mit nordamerikanischen Linken in Hochschulen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der Politik zusammenzuarbeiten. ww w .r osal u x - n yc.or g
Demokratischer Tiefpunkt Die Vereinigten Staaten sind das Leuchtfeuer für Freihet, Demokratie und unbegrenzte Möglichkei- ten – Werte, die bereits seit der Gründung in der gefeierten US-Verfassung festgeschrieben sind. So erzählt man sich jedenfalls. Die Wahrheit ist leider weitaus komplizierter. Wie so häufig lautet die entscheidende Frage nämlich: Freiheit, Möglichkeiten und Demokratie für wen? Das Urteil des Obersten Gerichtshofs im Fall McCutcheon v. Federal Election Commission, das im April 2014 die noch bestehenden Beschränkungen für Wahlkampfspenden aufhob, gibt hierauf eine ein- deutige Antwort: Die Vereinigten Staaten entwickeln sich immer mehr von einer repräsentativen zu einer Corporate Democracy. Das jüngste Urteil ist der Gipfel eines Trends, den wir seit langem beobachten. Denken wir an das Urteil zur Wahl Bush gegen Gore, welches dem individuellen Bür- ger gewissermaßen das konstitutionelle Wahlrecht absprach, das Citizens-United-Urteil, welches Un- ternehmen weitgehend freien Lauf beim Erkaufen von Wahlen ließ, sowie die zahlreichen neueren Versuche, den Voting Rights Act, eine wichtige Errungenschaft der Bürgerrechtsbewegung 1965, zu demontieren oder auszuhöhlen, so müssen wir erkennen, dass sich die US-Demokratie – und damit der „Amerikanische Traum“ – in einem Zustand der Dysfunktionalität und des Zerfalls befinden. Wir leben in einem Staat von Plutokraten und Dollarokratie, in dem Milliardäre wie die Koch-Brüder und Medienmogule wie Rupert Murdoch unvergleichbaren Einfluss auf das Wahlverfahren ausüben. Ihr Ziel sind dreckige politische Verfahren, bei denen die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger be- hindert und das Wahlrecht denjenigen, die wirklichen Wandel wählen wollen, sogar direkt entzogen wird. Das bedeutet Möglichkeiten, Freiheiten und Demokratie für die Reichen – und die Verminde- rung von Chancen für den Rest von uns. Es wäre nicht ganz so schlimm, wenn diese Attacken auf die Demokratie nur von den üblichen Gegnern aus der rechten Szene ausgingen. Doch der sozialistische Senator Bernie Sanders aus Vermont bemerkt: „Obwohl die Demokraten im Vergleich mit den radikal rechten Republikanern natürlich vorzuziehen sind, wäre es sehr naiv zu glauben, dass die Demokra- ten nicht auch enorm von den Interessen der Vermögenden und der Konzerne beeinflusst werden.“ Was muss geschehen? Eine Reihe linker Bewegungen wie die Fast-Food-Streiks, Demonstrationen für die Rechte der Einwanderer, die Moral-Monday-Proteste gegen die republikanische Politik in North Carolina sowie die Kampagne für einen Mindestlohn von 15 Dollar bieten einige Antworten. Dieser Aktivismus findet jedoch weitgehend außerhalb des Bereichs der Wahlpolitik statt. Und obgleich diese Bewegungen zweifellos wichtig sind, brauchen wir genauso viel für einen erneuten Kampf, um unsere Demokratie zurückzugewinnen – und unsere Stimme wiederzuholen. In diesem Essay beschreibt der Politikjournalist John Nichols das Auf und Ab in der Geschichte der der US-Demokratie und erklärt, wie wir auf dem gegenwärtigen Tiefpunkt gelandet sind. Umso wich- tiger sind seine Vorschläge, wie wir die US-Wahlen wiederbeleben können. Nichols berichtet aus Washington für die Wochenzeitung „The Nation“ und ist Autor zahlreicher Bücher, einschließlich „The S Word: A Short History of an American Tradition... Socialism“. Außerdem ist er Verfasser von „Die Welt von Neuem beginnen“, einer Studie über die Proteste in Wisconsin 2011 und 2012, die vom New Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht wurde. Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg Leiter des Büros New York, April 2014 1
Die Aushöhlung der amerikanischen Demokratie Wie der Bedeutungsverlust der Wahlen Ungleichheit und Ungerechtigkeit befördert Von John Nichols Das Wort ‚Demokratie’ lesen wir überall. Aber ich kann nicht oft genug wiederholen, dass es im Kern den Schlaf der Gerechten schläft. Es ist ein großartiges Wort, dessen Geschichte noch nicht geschrieben worden ist, weil diese Geschichte erst noch vermittelt werden muss. Walt Whitman, „Democratic Vistas“ Als sich der Amerikaner Medgar Wylie Evers im kameraden am Morgen des 2. Juni 1946 zum Jahr 1946 entschloss, sein Wahlrecht wahrzu- Gerichtsgebäude des Bezirks Newton zog, um nehmen, lagen das Ende des amerikanischen sich in die Wählerliste einzuschreiben, stellten Bürgerkrieges und die Abschaffung der Skla- sich diesen stolzen antifaschistischen Kriegs- verei im 13. Verfassungszusatz acht Jahrzehn- veteranen schwer bewaffnete weiße Bürger in te zurück, und die bürgerlichen Gleichstellung den Weg. Ihr Verhalten bewies, dass der Sieg, war 78 Jahre zuvor im 14. Verfassungszusatz den Evers und seine Kameraden in Europa er- festgeschrieben worden. Seit 76 Jahren galt das rungen hatten, in Mississippi folgenlos geblie- Versprechen des 15. Verfassungszusatzes: „Das ben war: Die Gefühle und Einstellungen der Wahlrecht der Bürger der Vereinigten Staaten Weißen gegenüber den Schwarzen hatten sich darf von den Vereinigten Staaten oder einem nicht geändert. Einzelstaat nicht aufgrund der Rassenzuge- hörigkeit, der Hautfarbe oder des vormaligen Demokratische Rechte waren vielen Ameri- Dienstbarkeitsverhältnisses versagt oder be- kanern im davorliegenden Jahrhundert aber- schränkt werden.“ Viele Jahre nach diesen his- kannt, dann zugestanden, und dann erneut torischen Einschnitten entschied sich Evers, an aberkannt worden. Auch an jenem Tag war im den Vorwahlen der Demokratischen Partei in Apartheid-Süden der USA die Demokratie au- seinem Heimatstaat Mississippi teilzunehmen. ßer Kraft gesetzt. Evers’ Entschluss war aus moralischer Sicht ein- wandfrei; er befand sich in Übereinstimmung Bürgern ein grundlegendes Recht wie das Wahl- mit dem, was die Amerikaner sonst von ande- recht zu verweigern, ihnen die Gelegenheit zu ren Ländern erwarteten. versagen, gemäß der Verfassung „den Bund [der Vereinigten Staaten] zu vervollkommnen“, Nur: Die weißen Bürgerinnen und Bürger von beschränkte sich nicht auf das Jahr 1946 oder Decatur in Mississippi waren anderer Meinung. auf den rassistisch segregierten Staat Missis- Denn Evers, ein ehrenhaft entlassener Veteran sippi. Seit ihrer Gründung hadern die USA mit des Zweiten Weltkriegs, war kein Weißer. Als er der Frage, wie viel Demokratie erlaubt sein soll. zusammen mit afroamerikanischen Soldaten- Sicherlich, es gab Phasen des Fortschritts, in de- 2
JOHN NICHOLS DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE nen das Wahlrecht hochgehalten und respek- Bürgerrechtsausschuss des US-Justizministeri- tiert und das Potenzial für Selbstbestimmung, ums sichergestellt wird. Dieses angenommene das sich daraus ergibt, ausgedehnt wurde. Recht wird jedoch ständig für politische Zwecke Aber der Respekt vor den Willensäußerungen uminterpretiert. des Volkes ist mal mehr, mal weniger vorhan- den. Gegenwärtig verkommt in Amerika die Das Urteil Bush vs. Gore kam kaum überra- Demokratie – eine Entwicklung, die sehr ernst schend angesichts der Art und Weise der Ver- zu nehmen ist. Das Bürgerengagement in den handlungen und Anhörungen vor dem Obers- Vereinigten Staaten war zu keinem Zeitpunkt ten Gerichtshof. Schon bevor die Mehrheit der stark genug, um den Traum von einer reprä- Richterinnen und Richter im Dezember 2000 sentativen Demokratie wahr werden zu las- eine Neuauszählung der in Florida abgegebe- sen, geschweige denn den einer partizipativen nen Stimmen vereitelte – welche möglicher- Demokratie. Tatsächlich ist die amerikanische weise verhindert hätte, dass George W. Bush Demokratie im Gegensatz zu einem Großteil der 43. US-Präsident wurde –, deutete sich das der Welt – und vor allem gegenüber denjenigen Ergebnis an. Bei den Anhörungen vor dem Ur- Ländern, mit denen wir uns gerne vergleichen – teilsspruch hatten der Vorsitzende des Obers- dramatisch unterentwickelt und wird mehr und ten Gerichtshofs, William Rehnquist, und sein mehr funktionsunfähig. Kollege Richter Antonin Scalia gegenüber An- wälten des demokratischen Präsidentschafts- Das außergewöhnliche Gerichtsurteil Bush vs. kandidaten Al Gore klipp und klar zu verstehen Gore vom Dezember 2000 machte diese Funkti- gegeben, dass sie ein verfassungsrechtlich ga- onsunfähigkeit der amerikanischen Demokratie rantiertes Wahlrecht nicht erkennen könnten offensichtlich. In dem Urteil hieß es: „Der einzel- – ja, dass sie es sich nicht einmal vorstellen ne Bürger hat kein von der Verfassung garan- könnten. Dies kommentierte der Juraprofes- tiertes Recht, Wahlmänner zu wählen, die den sor Jamin B. Raskin von der American Univer- Präsidenten bestimmen.“ Diesem Urteil zufolge sity so: „Nach Auffassung des Gerichts wurzelt besitzen Amerikaner also kein klar definiertes die Demokratie nicht im Recht des amerikani- Wahlrecht. Im besten Fall haben sie ein ange- schen Volks zu wählen und zu regieren, son- nommenes Recht, das manchmal in strittigen dern in einem staatlichen System von Institu- Fällen durch Paragraphen im Voting Rights Act tionen, aus denen Führungsfiguren hervor- (dem Wahlrechtsgesetz von 1965) oder vom gehen.“ Versagen der Demokratie Die Funktionsschwäche der US-amerikanischen in der Vergangenheit, mit aller Entschiedenheit Demokratie hat weitreichende Folgen wirt- der Bedrohung ihrer Demokratie und deren Po- schaftlicher, ökologischer und sozialer Art für tenzialen begegnen? Schließlich geht es darum, das Land. Zweck der vorliegenden Studie ist es, Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Tatenlosig- den gegenwärtigen Debatten über die Unter- keit in ihr Gegenteil zu verkehren, damit sich, so drückung von Wählern, den Entzug des Wahl- Langston Hughes, die Gleichheit wieder „in der rechts, die Wahlbeteiligung und damit über die Luft befindet, die wir einatmen“. Es geht um viel Demokratie selbst auf den Grund zu gehen. Die mehr als um die zwar wichtigen, aber zu eng Frage lautet: Werden die Amerikaner, wie schon gefassten technischen Diskussionen, wie eine 3
JOHN NICHOLS DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE Wahlurne oder ein Wahllokal auszusehen hat. zum Kriegsdienst einzog, ebenfalls mitreden Es geht um die Kernfrage, ob das Volk regieren konnten über Krieg und Frieden. Eine gewisse soll, um etwas, was Benjamin Franklin vor über Zeit lang schien es, als hätten sich die Opfer ge- zwei Jahrhunderten so umriss: „Wer weder lohnt, die Evers und diejenigen erbracht hatten, Stimme noch Wahlrecht hat, um Volksvertreter die mit ihm litten, marschierten und starben. zu bestimmen, ist nicht frei, sondern jenen völ- lig unterjocht, die das Recht zu wählen haben.“ Doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfolg- te eine historische Kehrtwende: Der Supreme Franklin gehörte zusammen mit Thomas Pai- Court verhinderte die Neuauszählung der ne zu den wenigen Staatsgründern, die gegen Stimmzettel in Florida, und die Gesetze zur Sklaverei und Knechtschaft opponierten. Seine Wählerregistrierung wurden verschärft. Der Haltung war vorausahnend. Die blutigen Aus- Begriff „Wählerunterdrückung“ gewann wieder einandersetzungen zwischen den entgegenge- an Aktualität, und die Einteilung der Wahlkreise setzten Positionen, die „Wählen als ein Recht war so umkämpft und manipuliert wie nie zu- und Wählen als etwas, das nur den richtigen vor. Es tauchten Vorschläge auf, das Wahlmän- Leuten zugestanden wird,“ betrachten, haben nergremium, das den Präsidenten bestimmt, so das amerikanische Experiment von Anfang an zu verändern, dass es noch häufiger vorkäme, entstellt und verunstaltet, meint der Historiker dass ein Kandidat Präsident würde, auf den nur Eric Foner. In Amerika hat es immer Kräfte ge- eine Minderheit der Wählerstimmen entfielen. geben, denen es um eine demokratische Hülle Man trivialisierte die Rolle, die die freie Presse ohne Inhalt geht, die „das Wahlvolk säubern bei der Aufklärung der Bevölkerung normaler- wollen“, wie Foner es ausdrückte, damit eine weise spielt und gab sie schließlich ganz auf. privilegierte Schicht in ihrem eigenen Interesse Zudem beseitigte man die Gesetze, die die Fi- regieren kann. Diesen Kräfte stellen sich aller- nanzierung der Wahlkämpfe regulierten, und dings echte Demokraten unter dem Motto „Das ließ der Macht des Geldes auf die Wahlen freien Volk soll herrschen“ entgegen. Lauf. Wahlkämpfe verkamen zum Spielfeld der Reichen. Medgar Evers aus Decatur in Mississippi ver- stand nur allzu genau, was Franklin Jahrzehn- Medgar Evers’ Witwe Myrlie sprach am 21. Ja- te zuvor an der Entrechtung von Amerikanern nuar 2013 bei der feierlichen Einführung in die kritisiert hatte. Da die Entmündigung, wie er zweite Amtszeit Obamas, des ersten afroame- selbst erfahren hatte, in vieler Hinsicht fortbe- rikanischen US-Präsidenten, das Bittgebet. Sie stand, entschied Evers sich nicht nur für das rief nicht nur „eine Geschichte unterdrückter Wahlrecht, sondern für die Erweiterung demo- Wählerstimmen“ ins Gedächtnis, sondern warn- kratischer Rechte im Allgemeinen zu kämpfen. te vor dem augenblicklichen Pfad, der „voller Sein Engagement kostete ihn letztendlich das Dornen der Unterdrückung und ausgelegt mit Leben. Weiße Rassisten erschossen ihn vor sei- Schmerzen der Verzweiflung“ sei. Sie sprach von nem Haus in Mississippi – 17 Jahre nach seinem der „Verheißung Amerika“, die längst noch nicht Versuch, an jenem Junimorgen 1946 wählen zu wahr geworden sei. Myrlie Evers-Williams stellte gehen. Wenige Zeit später kam es zum „Marsch an jenem Tag eine genaue Verbindung her. auf Washington für Arbeit und Freiheit,“ und zwei bahnbrechende Gesetze wurden verab- Die Geschichte der Entmündigung und die fort- schiedet: der „Voting Rights Act“, ein Verfas- währende Unterdrückung verhindern, dass die sungszusatz, der die Wahlsteuer abschaffte, Vereinigten Staaten Abraham Lincolns Verspre- und ein weiterer, der das wahlfähige Alter auf chen einer „Regierung des Volkes, durch das 18 Jahre absenkte, damit diejenigen, die man Volk und für das Volk“ einlösen, und das Schei- 4
JOHN NICHOLS DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE tern der Demokratie hat Folgen bis in den letz- fernen sowie von den Menschenrechtsnormen, ten gesellschaftlichen Winkel. Die USA können die die Amerikaner dem Rest der Welt bisweilen keine „Freiheit und Gerechtigkeit für alle“ bie- mit Waffengewalt aufzuzwingen versuchten.“ ten, wenn Wahlen nichts weiter sind als eine ge- schmacklose Abfolge von Rufmorden. Die Wäh- Aus meiner eigenen Erfahrung heraus gebe ich lerinnen und Wähler haben nur wenig Auswahl Epps recht. Ich verfolge die Wahlen in den USA zur Verfügung, und die Einmischung der Zivilge- als Zeitungs- und Zeitschriftenreporter sowie sellschaft ist nicht erwünscht. Stattdessen sind als Radio- und TV-Kommentator seit 30 Jahren. die Wahlen geprägt von den Machenschaften Außerdem habe ich zusammen mit Robert W. der Millionäre, der eigentlichen Hauptakteu- Chesney 15 Jahre lang in einer Buchreihe über re in der Politik. Nur in einer gesunden De- Medien und Politik untersucht, wie es um die mokratie mit lebhaften politischen Debatten Verwirklichung des „großen Experiments“ ist die Wahlbeteiligung hoch und spiegeln die (Alexis de Tocqueville) der amerikanischen Entscheidungen der Regierung während der Demokratie bestellt ist. Epps unterschätzt viel- gesamten Legislaturperiode den Willen der Be- leicht sogar, wie sehr das Wahlsystem und die völkerung wider – nicht nur einen Tag nach den Regierungsinstitutionen der Vereinigten Staa- Wahlen. Nur mit einer solchen Demokratie sind ten antidemokratische Züge aufweisen. die USA den weitreichenden wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Herausforderungen Die Demokratiedefizite lassen sich auf verschie- der Gegenwart gewachsen. dene Weise untersuchen. Beginnen wir mit dem Offensichtlichen, der Wahlbeteiligung. Zu Recht Gegenwärtig entwickeln sich die Vereinigten hat der UN-Statistiker und Wirtschaftswissen- Staaten indes in die entgegengesetzte Richtung. schaftler Howard Steven Friedman Wahlen als Die hart erkämpften demokratischen Errungen- „den nächstliegenden Maßstab für die Beteili- schaften des 20. Jahrhunderts werden leichtfer- gung der Bürger am demokratischen Prozess“ tig aufgegeben, darunter auch die erweiterten bezeichnet. Die Frage, wie viele Menschen an Wählerrechte und die Begrenzung des Einflus- wie vielen Wahlen teilnehmen, rührt an das ses der Reichen auf den politischen Prozess. grundsätzliche Thema der Legitimität. Reprä- Der Rechtswissenschaftler Garrett Epps nimmt sentieren die regierenden Politiker wirklich an, dass es sich bei der Aushöhlung der Demo- den Willen der gesamten amerikanischen Be- kratie um eine jener „Phasen der Kontraktion“ völkerung? Oder beruht ihre Macht auf einem handelt, die sich in der Vergangenheit während funktionsgestörten Prozess, der die Wahlver- Zeiten des Umbruchs ereignet haben. Trifft dies drossenheit fördert – und das in einem so gro- zu, so „sollten wir uns bewusst sein, dass wir ßen Ausmaß, dass viele US-Amerikaner diese uns von unseren Gesetzesgrundlagen, dem al- Ungerechtigkeit inzwischen als unabänderlich leinigen Fundament für Selbstverwaltung, ent- erachten und kapituliert haben? Wahlbeteiligung: Aus dem demokratischen Raster herausgefallen Die Antwort auf diese Fragen beunruhigt und kommentieren das Bruttoinlandsprodukt, aber wird in der US-amerikanischen Öffentlichkeit zu das „Bruttodemokratieprodukt“ thematisieren wenig diskutiert. Unsere Medien messen und sie überhaupt nicht. Sonst würde uns nämlich 5
JOHN NICHOLS DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE sofort auffallen, dass das Land in einer Krise kratie unfertig und fehlerhaft ist. Trotzdem un- steckt. Viele Millionen US-Amerikaner haben terscheidet sich die Wahlbeteiligung in beiden sich aus dem politischen Prozess ausgeklinkt Ländern stark. und beteiligen sich nicht mehr an den Wahlen, was die USA im Vergleich mit anderen Demo- Der Wiederwahl von Bundeskanzlerin Angela kratien zu einer Ausnahmeerscheinung macht. Merkel im Herbst 2013 erfolgte in einer Wahl- Genau dies müsste eigentlich das Hauptthema kampfatmosphäre, die deutsche Medien als in der amerikanischen Politik sein. Denn die ereignislos und langweilig bezeichneten. Den Politikverdrossenheit hat nicht nur erhebliche gesamten Wahlkampf über herrschte die Stim- politische Konsequenzen, sondern beeinflusst mung vor, Merkels CDU würde die Mehrheit auch die Debatten über die Wirtschaft. Eine ver- der Stimmen erhalten und erneut dominie- meintliche repräsentive Demokratie, die in der rende Regierungspartei werden. Ungeachtet Realität nicht den Willen der großen Mehrheit des eher eintönigen Wahlkampfes betrug die der Amerikaner vertritt, neigt dazu, die Forde- Wahlbeteiligung am 22. September 2013 rund rungen der reichen Eliten zu erfüllen. 72 Prozent – 14 Prozent mehr als die Teilnahme wahlberechtigter US-Bürger an der Präsident- Laut Institutionen wie dem International Insti- schaftswahl 2012 und fast 20 Prozent mehr tute for Democracy and Electoral Assistance, die als die Wahlteilnahme aller US-Amerikaner im die Wahlbeteiligung analysieren, rangieren die wahlfähigen Alter. Nicht vergessen sollte man Vereinigten Staaten im weltweiten Vergleich dabei, dass Deutschland keinen Präsidenten regelmäßig am unteren Ende. Verglichen mit wählt, sondern einen Bundestag, der dem Ländern, die eine hohe Wahlbeteiligung för- US-Repräsentantenhaus ähnelt. Vergleicht man dern, beträgt die Wahlbeteiligung in den USA die deutsche Wahlbeteiligung von 72 Prozent etwa nur die Hälfte. In Malta beteiligten sich an im Jahr 2013 mit der zu den US-Kongresswah- der jüngsten Parlamentswahl 93 Prozent der len 2010, so fällt der Unterschied noch gravie- Wahlberechtigten. In den USA betrug die Wahl- render aus: Im Jahr 2010 betrug die Wahlbetei- beteiligung an den Kongresswahlen 2010 weni- ligung nur 41 Prozent, und von den US-Ameri- ger als 40 Prozent. Nun kann man zu Recht er- kanern im wahlfähigen Alter nahmen nur 37 widern, dass Malta oder auch Belgien, wo eine Prozent teil. ähnlich hohe Wahlbeteiligung gemessen wird, sehr viel kleinere Länder sind. Was also sind Obwohl die Wahlbeteiligung in Deutschland vergleichbare Länder? nach diesem „langweiligen“ Wahlkampf ver- gleichsweise niedrig war, lag sie dennoch fast „Egal, wie man Wahlgänge misst“, schrieb Fried- doppelt so hoch wie bei einem amerikanischen man 2012 in einem Artikel für die „Huffington Durchschnittswahlkampf. Dabei ist die Wahlbe- Post“, „im Vergleich gehören die Vereinigten teiligung in Deutschland bei weitem nicht die Staaten zu den Ländern mit der niedrigsten höchste unter den etablierten Demokratien Wahlbeteiligung“. Nehmen wir Deutschland, weltweit. In Norwegen hatten sich wenige Wo- das oft mit den USA verglichen wird und mit chen zuvor 78 Prozent an Wahlen beteiligt. In dem sich das Land gerne vergleicht. Es hat Frankreich liegt die Beteiligung bei den jüngs- eine bevölkerungsstarke, stabile Demokratie. ten Wahlgängen bei über 80 Prozent, in Belgien In beiden Staaten klagen viele Menschen über bei 90 Prozent oder sogar noch darüber. das jeweilige Wahlsystem, die Wahlstrukturen und den Zustand der Demokratie im Allgemei- Wenn es um die Wahlbeteiligung geht, fallen die nen. Sowohl nachdenkliche Deutsche als auch USA also aus dem Rahmen. Das Land wird von US-Amerikaner gestehen ein, dass ihre Demo- Politikern regiert, die vielfach nur von einer klei- 6
JOHN NICHOLS DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE nen Minderheit der Wahlberechtigten gewählt gistrieren, dann wählen – machen es komplizierter wurden. In zahlreichen Bundesstaaten und oft als in vielen anderen Ländern. Einige Amerikaner hält dies gänzlich vom Wählen ab. In Österreich, auch auf der nationalen Ebene wird die Politik Kanada, Deutschland, Frankreich und Belgien von Gesetzgebern bestimmt, die ihre Mandate basieren die Wählerlisten auf umfassenden Da- bei den „off-year elections“ erzielt haben, den tenbanken oder sie sind von Regierungsbehörden „Zwischenwahlen“ zum Kongress, bei denen be- erstellt worden, was den Wahlprozess vereinfacht. sonders wenige Wählerinnen und Wähler ihre So erhält beispielsweise jeder Deutsche, der am Stimmen abgeben. Fest steht: Auch wenn die Wahltag 18 Jahre oder älter ist, automatisch einen Bescheid über die bevorstehende Wahl. In Kanada Wahlen in den USA einer engen Definition von dienen die Einkommensteuerbescheide zur Wahl- Demokratie genügen mögen, sind sie von einer registrierung. In England erhält jeder Haushalt wahrhaft repräsentativen Politik und Regierung einen Bescheid. Zusätzliche Wähler können sich weit entfernt. dort per Post registrieren lassen. Weshalb hat das US-System so viele Stolper- Die USA erschweren den Urnengang. Dies ist steine? ein Grund, weshalb die Vereinigten Staaten auf dem „Demokratie-Index“ der Zeitschrift In der Vergangenheit lag die Wahlbeteiligung in „The Economist“ auf Platz 21 der Rangliste ab- den Vereinigten Staaten ziemlich hoch. Im Jahr gerutscht sind. Wir erörtern dieses Problem 1960 beispielsweise beteiligten sich 65 Prozent weiter unten. Und doch gilt: Selbst wenn die der Wahlberechtigten. Seitdem nimmt die Be- USA ihre Wahlen stark vereinfachten, wären teiligung merklich bergab, wie das United States die tiefer liegenden Gründe für Frustration Election Project in Studien nachgezeichnet hat. und Politikverdrossenheit trotzdem nicht be- Schlimmer noch: Zwischen der Beteiligung seitigt. von Wahlberechtigten und der Beteiligung von Menschen im wahlfähigen Alter tut sich seit den Jede ernsthafte Diskussion über Demokra- frühen 1970er Jahren eine deutliche Kluft auf. tie in den USA muss zuallererst anerkennen, Mit anderen Worten: Weniger Menschen gehen dass die Wahl- und Politikstrukturen zu einem wählen, und mehr Menschen ist das Wahlrecht derart gravierenden Bedeutungsverlust der entzogen worden bzw. wird das Wählen schwer Stimmabgabe geführt haben, dass es sich bei gemacht. Teilweise geschieht dies mit voller Ab- Wahlen um kaum mehr als ein inhaltsleeres po- sicht. Zumeist geht der Ausschluss von poten- litisches Spektakel handelt. Benjamin Franklin ziellen Wählerinnen und Wählern jedoch auf und Medgar Evers glaubten, dass das Wählen Regelungen und Strukturen der Bundesstaaten die große Masse der Bevölkerung von Unter- zurück, die im besten Fall archaisch zu nennen drückung befreien könnte und sollte. Dabei sind. Während andere Länder Hindernisse, die beschränkten sie sich nicht auf die Formen der die Beteiligung an Wahlen erschweren oder Repression, die sie unmittelbar selbst betrafen. verhindern, gezielt angehen, unternehmen die Auch wir sollten uns in dieser Hinsicht nicht USA in dieser Hinsicht kaum etwas. Friedman beschränken. Als der herausragende ameri- schreibt: kanische Gewerkschaftsführer und Sozialist A. Philip Randolph den „March on Washington“ Verbraucherfreundlichkeit hat Auswirkungen auf initiierte, sagte er: „Eine Gemeinschaft ist nur das Wahlverhalten. Bis auf einen Bundesstaat dann demokratisch, wenn ihr ärmstes und müssen Wähler in den USA vor den Wahlen einen schwächstes Mitglied ebenso weitreichende separaten Registrierungsprozess durchlaufen. Die große Mehrzahl der Bundesstaaten lässt die Ein- bürgerliche, wirtschaftliche und soziale Rech- tragung in Wählerverzeichnisse am eigentlichen te genießt wie ihr reichstes und mächtigstes Wahltag nicht zu. Diese beiden Phasen – erst re- Mitglied.“ 7
JOHN NICHOLS DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE Plutokraten und Dollarokratie Die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten Ran- raler Prägung wie auch freie Märkte würden dolphs Postulat bis heute nicht gerecht werden, die Zukunft prägen, entgegnete mein (kürzlich hat viele Gründe. Einige sind so alt wie die Re- verstorbener) Freund Tony Benn – ein langjäh- publik selbst, die bei ihrer Gründung gerade riges Mitglied im englischen Parlament –, die mal einem von 20 Amerikanern das Wahlrecht Geschichte habe einen höchst unerfreulichen gewährte. Andere Gründe sind neu und ge- Ausgang genommen: massive Ungleichheit, hen beispielsweise auf die Einflussnahme der gravierende Armut, Umweltzerstörung, Diskri- milliardenschweren Gebrüder Koch sowie auf minierung und Gewalt. Seit Fukuyama das Ende die von ihnen geschaffene rechte Infrastruktur der Geschichte verkündete, haben sich die zurück, mit deren Hilfe sie die Wählerrechte in Verhältnisse stetig verschlechtert – und zwar einzelnen Bundesstaaten aushöhlen. Als roter so sehr, dass sich der Autor im Jahr 2010 mit Faden in der Geschichte lässt sich erkennen: Je einem Aufsatz zum Thema „Ist Amerika eine enger die Definition von Demokratie gefasst ist, Plutokratie?“ zurückmeldete. Fukuyama beant- desto größer sind der Reichtum und die Macht wortete seine rhetorische Frage geradeheraus der Eliten. Amerikanische Geschichte ist aus mit den Worten: „Wenn die Frage bedeutet ‚Ha- dieser Sicht – zumindest bis jetzt – keine Ge- ben die Reichen in den USA einen unverhältnis- schichte des Fortschritts hin zu einer vollstän- mäßig großen politischen Einfluss?‘, dann muss dig verwirklichten Demokratie, sondern eine die Antwort klipp und klar ‚ja‘ lauten.“ Dieses Geschichte von Vorstößen und Rückschlägen. „Ja“ bezieht sich auf den Zusammenbruch der „Freiheit gibt es nicht umsonst – sie muss er- Demokratie, der die Menschen nicht nur ihrer kämpft werden. Gerechtigkeit ist keine Gege- politischen Macht beraubt, sondern ihnen auch benheit – sie muss abverlangt werden“, erklärte die wirtschaftliche Stabilität entzogen hat. Fu- Randolph. Der große Stratege der Kampag- kuyama schrieb: nen für Wahl- und Wirtschaftsdemokratie des In den Ohren der Republikaner, die mit den 20. Jahrhunderts erinnerte seine Verbünde- „Reagonomics“ [Wirtschaftspolitik unter Präsi- ten stets daran, dass „der Kampf weitergehen dent Reagan] aufgewachsen und bis heute deren muss“. Denn die Eliten verbündeten sich immer Anhänger sind, mag es wie Hohn klingen, aber ein wieder aufs Neue, um die von Demonstranten wesentlicher Maßstab für eine lebendige, moder- und Bewegungen erzielten Errungenschaften ne Demokratie ist ihre Fähigkeit, bei den eigenen rückgängig zu machen. Eliten für ein angemessenes Steueraufkommen zu sorgen. Die dysfunktionalsten Gesellschaften in der entwickelten Welt sind diejenigen, deren Eliten Heute sichern die Mächtigen aus Politik und sich auf legalem Weg der Steuerzahlung entziehen Wirtschaft ihren Status mit dem Argument ab, oder durch Schlupflöcher Steuerflucht betreiben Gesellschaften sollten sich über Märkte, nicht – womit sie dem Rest der Gesellschaft die öffent- über Demokratie definieren. Das neolibera- lichen Ausgaben aufbürden. le Wirtschaftsdogma, das Überfluss für die Darüber hinaus wies Fukuyama auf die unzu- Wenigen und Sparsamkeit für die Vielen pro- reichenden Reaktionen einer „Opposition“ hin, pagiert, ist eine echte Bedrohung für demo- die zu selten wirklich opponiert: kratische Werte und Institutionen. Als Francis Fukuyama am Ende des Kalten Krieges behaup- Von der Demokratischen Partei hätte man sich tete, die Welt sei am „Ende der Geschichte“ eigentlich erwartet, dass sie das Thema politisch angelangt und die Demokratie westlich-libe- in den Mittelpunkt rückt. Stattdessen verhielt sie sich unschlüssig und zögerlich. Obwohl sie im Re- 8
JOHN NICHOLS DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE präsentantenhaus und im Senat die Mehrheit der die beiden großen US-Parteien sich den neoli- Sitze zurückerhielt und zwischen 1993 und 2001 beralen Schwindel zu eigen gemacht haben, be- (sowie natürlich ab 2009) den Präsidenten stellte, finden wir uns in einer „post-demokratischen“ führten ihre politischen Erfolge nicht dazu, dass sie die wirtschaftliche Ungleichheit stärker thema- Phase. Die Wahlen wie der gesamte politische tisierte. In einem unerwarteten Ausmaß haben die Prozess sind, so Crouch, verkommen zu einem Demokraten alles von dem Marktfundamentalis- „streng kontrollierten Spektakel, dessen Rah- mus der 1990er Jahre geschluckt, was man ihnen men von rivalisierenden Teams von PR-Profis vorsetzte. Dies spiegelt einen weit verbreiteten in- gestaltet wird, wobei die beiden Teams nur eine tellektuellen Trend wider. begrenzte Zahl von Inhalten zulassen“. Gewählt Diese Ansicht bestätigte der Senator Bernie wird in regelmäßigen Abständen, und Regie- Sanders aus Vermont, der seit über zwei Jahr- rungswechsel finden statt – aber die paar Milliar- zehnten als unabhängiger Sozialist im Kongress däre setzen sich anscheinend immer durch: sitzt, in einem Interview, das ich Ende des Jah- Rettungspläne für die Wall Street, keine Steuer- res 2013 mit ihm führte. „Ich bin kein Parteimit- erhöhungen, eine investorenfreundliche und glied, weil die Demokratische Partei seit vielen gleichzeitig lokal verheerende Freihandelspoli- Jahren und bis heute die Interessen meiner tik, Einschnitte in soziale Sicherungsnetze sowie Wählerinnen und Wähler nicht vertritt. Das sind Angriffe auf Gewerkschaften und öffentliche hauptsächlich lohnabhängige Familien, Ange- Einrichtungen, die eigentlich das Gemeinwesen hörige der Mittelschicht und Niedriglohnverdie- aufrechterhalten und definieren sollen. ner“, erläuterte Sanders. „Die Demokratische Partei ist gegenüber den weitaus rechteren Re- Strukturelle Veränderungen haben diese Ver- publikanern natürlich vorzuziehen. Aber man hältnisse mit verschärft. Den Wählerinnen und ist ganz schön naiv, wenn man nicht weiß, dass Wählern entgleiten zunehmend die Einfluss- die Demokratische Partei ebenfalls stark beein- möglichkeiten auf den politischen Diskurs. flusst wird vom Geld der Konzerne und anderer Das geht inzwischen so weit, dass selbst ein Interessengruppen.“ Auch mit folgender Ein- deutliches Resultat wie die Wiederwahl Barack schätzung hat Sanders Recht: Obamas im Jahr 2012 – fünf Millionen mehr Stimmen als sein Gegner und ein gewaltiger Wenn das so weitergeht, dann besteht Politik in Vorsprung von 332 zu 206 im Wahlmännergre- Zukunft darin, dass ein paar Milliardäre ihre Köpfe mium – frappierend geringe Auswirkungen hat. über einer Landkarte zusammenstecken und dann Die Wähler mögen austeritätspolitische Vor- absprechen, wie viele hunderte Millionen Dollar sie in diesen oder jenen Wahlkampf investieren schläge wie etwa die Kürzung der staatlichen wollen. Renten und der Sozialprogramme für Alte und Arme ablehnen und damit Kandidaten wie den Wenn jemand wie Sanders Senator ist, einer Vizepräsidentschafts-Kandidaten Paul Ryan, der wie der progressive Demokrat Bill de Blasio solche Vorschläge gemacht hat, zurückweisen. zum Bürgermeister von New York gewählt wur- Und doch treffen sich, noch bevor die letzten de oder eine bekennende Sozialistin wie Ksha- Stimmen überhaupt ausgezählt sind, erneut die ma Sawant Stadträtin im großen Seattle wird, Wirtschaftseliten, um ihre alten Drohungen zu dann müssen wir sagen, dass „die paar Milliar- wiederholen. Einiges davon beruht auf nichts däre“ das Steuer doch noch nicht gänzlich über- anderem als bloßem wirtschaftlichem Kalkül. nommen haben. Trotzdem sollten wir vorsich- Das Urteil des Obersten Gerichtshofs im Fall Mc- tig sein, damit wir uns von solchen Ausnahmen Cutcheon v. Federal Election Commission vom Ap- nicht zu falschen Hoffnungen verleiten lassen. ril 2014 beseitigt die bisherigen Obergrenzen für Denn größtenteils treffen die Beobachtungen die Gesamtsumme, die ein Einzelner an Kandi- des englischen Soziologen Colin Crouch zu. Seit daten und Parteien spenden darf. Diese richter- 9
JOHN NICHOLS DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE liche Entscheidung ist allerdings nur das jüngs- ten und diffusen Medien, die ja oft am Tropf te in einer ganzen Reihe von Urteilen während dieser Werbeeinnahmen hängen, nichts in den der letzten vier Jahrzehnte, die für die reichsten Weg. Geldinteressen sind so dominant in der Amerikaner jahrhundertealte Hürden aus dem Politik, dass das Gezänk zwischen Demokraten Weg räumen. Bereits das Urteil des Obersten und Republikanern, zwischen Liberalen und Gerichtshofs im Jahr 2010 im Fall Citizens United Konservativen nur noch einen Nebenschauplatz vs. Federal Election Commission ermöglichte Kon- darstellt. Auf der großen Bühne finden Plutokra- zernen die fast unbegrenzte Einflussnahme auf tie und Plünderei statt. So etwas ist keine Demo- Wahlen. Infolge dieser Urteile sind die amerika- kratie. So etwas haben Robert W. Chesney und nischen Wahlen jetzt tatsächlich käuflich. Wer ich als „Dollarokratie“ bezeichnet. Dollarokratie sich TV-Werbung leisten kann, hat jetzt mehr ist das Gegenteil von Demokratie. In einer De- Macht als je zuvor in der Geschichte des Fern- mokratie legen die Stimmen von Wählern fest, sehens, die politischen Einsatzregeln zu bestim- was nach den Wahlen passieren soll. In einer men. Schließlich legen ihnen die kaputtgespar- Dollarokratie hat das Geld die Macht darüber. Geldmacht Übel zugerichtet von einer Hochwasserflut Einfluss auf regionaler und lokaler Ebene wird an Geld stürzen allmählich die Strukturen der von den Medien aber leider kaum wahrgenom- Zivilgesellschaft ein, während die Grundfesten men, da sie sich zu sehr von dem Geschehen der bürgerlichen Entscheidungsinstanzen zu in Washington ablenken lassen. Wenn wir uns verfaulen beginnen. Dies nützt der „Handvoll über die Ausmaße dieser Geldmacht klar wer- Milliardäre“ ganz gewaltig. Denn die schrump- den, dann ergibt sich im Gesamtbild, dass das fende Anzahl aktiver Wähler und die Auflösung Gerichtsurteil Citizens United zu einer raschen demokratischer Strukturen macht es für sie Umstrukturierung der US-Politik führt – eine noch leichter, die politische Agenda festzulegen Entwicklung, die sich durch das jüngste Urteil und damit die neoliberale Umverteilung von McCutcheon v. Federal Election Commission unten nach oben zu beschleunigen. noch beschleunigen wird. Einige Aspekte dieses Phänomens lassen sich Kaum jemand bestreitet, dass beide großen leicht ermitteln. So ist es beispielsweise unstrit- Parteien vor „der Macht des Geldes“ einknicken. tig, dass Geld die Lingua Franca unserer Politik Es wäre indes falsch zu behaupten, dass Demo- darstellt. Der Wahlkampf von 2012 war mit kraten und Republikaner identisch seien. Tat- Kosten von rund 10,5 Milliarden Dollar der teu- sächlich unterscheiden sie sich in einer Reihe erste in der amerikanischen Geschichte. Mas- wichtiger Themen beträchtlich. Dennoch war es sive Finanzspritzen gaben die Ausrichtung der albern, als vermeintliche Politikexperten nach Präsidentschafts- und Kongresswahlen vor. Die dem Wahlkampf 2012 die Phrase droschen, Spenden beeinflussten darüber hinaus Wahlen der Wahlsieg Obamas beweise, dass Gras- in den einzelnen Bundesstaaten und auf lokaler wurzel-Aktivismus sich gegen das große Geld Ebene sowie Wahlen von Richtern und Referen- doch immer noch durchsetzen könne. Das war den. Das Geld kommt in fast all diesen Fällen ein Trugschluss. In Wirklichkeit hatten Obama von den immergleichen reichen Einzelperso- und seine Unterstützer über 1,1 Mrd. Dollar an nen, Konzernen und Interessengruppen. Deren Spenden gesammelt und wieder ausgegeben. 10
JOHN NICHOLS DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE Bei Mitt Romney und seinen Unterstützern wa- Stillstand. Sie gaben bei den Wahlen 2008 und ren es 1,2 Mrd. Dollar. Richtig ist, dass Obamas dann 2012 ihre Stimmen in der Hoffnung, dass Team mehr an individuellen Kleinspenden sam- sich die Regierung dieser Probleme annimmt. meln konnte als Romney. Aber Obama erhielt Doch nur die Hoffnungen der Eliten, die sich auch mehr Großspenden als der Republikaner. hinsichtlich der Einkommensungleichheit auf Romneys leichter finanzieller Vorsprung lag da- der Gewinnerseite befinden, haben sich erfüllt. ran, dass sogenannte „Super PACs“ (kurz für Po- litical Action Committee), von Milliardären finan- Der Forschungsbeauftragte der Sunlight Founda- ziell ausgestattete Organisationen, mehr für tion Lee Drutman stellte 2013 fest, dass „Groß- Romney ausgaben. Entscheidend ist Folgendes: konzerne oft und gerne politischen Stillstand ha- Im Jahr 2012 übertrumpfte eine Geldmacht die ben. Fragen Sie nur einmal die großen Ölfirmen, andere. Das Center for Responsive Politics drück- ob ihnen ein aktiver Kongress in Sachen Kli- te es so aus: „Politiker reden liebend gern über mapolitik lieb ist. Oder Hedgefonds, was sie von die ‚kleinen’ Spenden, die ihnen zukommen. einem aktiven Kongress halten, der die Gewinn- Aber die Summen, die die Wahlen hauptsäch- beteiligungen besteuern will.“ Selbst wenn sich lich finanzieren werden, kommen von großen, diesbezüglich in der Regierung etwas tut, stellt nicht kleinen Spendern.“ das Resultat unterm Strich nur selten eine radi- kale Abkehr von den üblichen, erfolglosen Ver- Die Wahlkampfspender und Super-PACs, die fahrensweisen dar. Fast immer versuchen die die größten Schecks ausstellen, bestimmen den Führungen beider Parteien dann, eine kaputte Prozess. Und sie bekommen das, wofür sie im Regelung zu „reparieren“, indem sie Steuergel- Voraus bezahlt haben. Ende 2013 verkündeten der aus dem Bundeshaushalt an private Auf- Paul Ryan, Vorsitzender des Haushaltsausschus- sichtsinstanzen desselben Kalibers übertragen. ses im Repräsentantenhaus und Austeritäts-Re- publikaner, und Patty Murray, die Vorsitzende Genau so war es, als die Obama-Regierung des Haushaltsausschusses im Senat, eine rela- und der Kongress in den Jahren 2009 und 2010 tiv liberale Demokratin, dass sie einen „über- die Krise in der Gesundheitsversorgung ange- parteilichen“ Vorschlag für den Bundeshaushalt hen wollten. Dutzende Millionen von Ameri- entwickelt hätten. Ihre Vereinbarung enthielt kanern hatten überhaupt keine Krankenversi- weder neue Steuern für reiche Bürger und Kon- cherung, und weitere Dutzende von Millionen zerne, noch sah sie vor, Steuerschlupflöcher zu nur eine unzureichende. Die „Behebung“ des schließen. Wie also wollten Ryan und Murray Problems bestand in einem Plan, der Gelder das Haushaltsdefizit reduzieren? Dadurch, dass an bestehende Versicherungsgesellschaf- sie sich weigerten, die Zahlungen für Langzeit- ten weiterleitete. Eine einfachere, gerechtere arbeitslose zu verlängern, und dadurch, dass und umfassendere Reform wäre es gewesen, sie Bundesangestellte und Militärangehörige Medicare, die öffentliche Krankenversicherung zu mehr Sozialabgaben zwangen. Diese Ver- für Senioren und Menschen mit Behinderung, einbarung ist daher nichts anderes als ein Tri- für alle Bürgerinnen und Bürger anzubieten mit but für die reichen Wahlkampfspender. Dabei einem Einheitsbeitrag nach dem Solidarprinzip. ging es diesen schon unter den Regelungen Dies hätte leichter implementiert werden kön- des Vorgänger-Kongresses ziemlich gut. Für nen als die Gesundheitsreform, die letztend- die meisten kleinen Spender und die Mehrzahl lich umgesetzt und von den Republikanern als der Amerikaner hingegen bedeuten Einkom- „Obamacare“ beschimpft wird. Der gesunde mensungleichheit, stagnierende Löhne, struk- Menschenverstand und die moralische Priori- turelle Arbeitslosigkeit sowie die Ausblendung tät hätten eigentlich „Gesundheitsversorgung von Umwelt-, Bildungs- und lokalen Problemen ist ein Menschenrecht“ gebieten müssen. Aber 11
JOHN NICHOLS DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE das Wohlergehen der Konzerne hatte politische Beide Seiten treten für soziale Einschnitte und Priorität. Noch schlimmer ist es um die Debatte Privatisierungsvorhaben ein, die von Milliar- über Wirtschaftspolitik und Austerität bestellt: dären wie den Koch-Brüdern, Institutionen Mit Hilfe der Mainstream-Medien, die den Po- wie dem American Legislative Exchange Council litikern oft ihre simpelsten Verdrehungen ab- oder Pete Petersons austeritätsförderndem kaufen, ist dann die Rhetorik beider Parteien Projekt Fix the Debt (Behebt die Schulden) kaum noch voneinander zu unterscheiden. propagiert werden. Die Medien als Komplizen Die Macht des Geldes, das in die Wahlkämpfe ten in hohe Ämter gewählt werden – etwa ein und in die Beeinflussung der Regierung fließt, Senator aus South Carolina oder der stellver- erhält noch mehr Gewicht durch die Tatsache, tretende Gouverneur von Illinois. Die geringe dass die Wahlkampfausgaben nicht länger jour- Berichterstattung, die noch existiert, billigt dem nalistisch mitverfolgt werden. Als Standbein der Kandidaten dann allein wegen seines Spenden- Demokratie müsste der Journalismus eigentlich aufkommens „Legitimität“ zu und analysiert das öffentliche Interesse hochhalten, doch in anstelle seiner inhaltlichen Vorstellungen seine den Vereinigten Staaten steckt er in der Krise. Wahlkampfwerbung. Dieser Trend begann vor Denn die Geldgeber investieren nicht mehr in etwa einem Vierteljahrhundert, als die großen die Informationsbeschaffung und Nachrichten- Fernsehsender die Kontrolle über die Präsident- verbreitung. Die Gründe dafür sind Konsolidie- schaftsdebatten einem Konsortium übertrugen, rungswellen, Profitstreben und die Reduzierung das die ehemaligen Vorsitzenden beider Partei- von Werbeanzeigen. Werbung verschwindet en leiten. Die Wahlkampfberichterstattung im aus herkömmlichen Medien, die einen Großteil US-Fernsehen besteht heute aus nicht sehr viel der lokalen, bundesstaatlichen und nationalen mehr als den abgeschlagenen Phrasen und ver- Nachrichten abdecken, und taucht auf neuen drehten Tatsachen parteiischer Moderatoren. Medienplattformen auf, die diese Inhalte sam- meln und kommentieren. Die daraus resultie- An die Leerstellen, die der dahinschwindende rende Schließung von Zeitungen und die radika- Journalismus hinterlassen hat, tritt Negativwer- le Umstrukturierung von Radiosendern haben bung. Sie dominiert heute den Diskurs in den große Beachtung gefunden. Gerade das Radio meisten Wahlkämpfen und ist so widerlich, dass ist heute eher ein Unterhaltungsmedium denn die Werbespots viele Wähler von den Wahlur- eine ernst zu nehmende Nachrichtenquelle. nen fernhalten. Sie überzeugt die Wähler nicht, statt dem einen den anderen Kandidaten zu Gleichzeitig schrumpfen die Nachrichtenredak- wählen, sondern hält potenzielle Wähler davon tionen in den Printmedien und im Radio. Insge- ab, für ihren Wunschkandidaten zu stimmen samt ergibt sich ein Bild des allgemeinen Nie- und überhaupt zur Wahl zu gehen. Dies passt dergangs. Über große Themenfelder aus Politik gut in die generelle Strategie politischer Hinter- und Regierung wird nahezu gar nicht mehr be- grundakteure, Wähler vom Wählen abzuhalten. richtet. Die mangelnde Berichterstattung über Ihnen ist eine kleine, leicht überschaubare Wäh- größere Wahlkämpfe führt dann so weit, dass lerschaft lieber. Statt dagegen Einspruch zu er- unfähige oder schlicht unwählbare Kandida- heben, schrauben die Eigentümer von TV-Sen- 12
JOHN NICHOLS DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE dern die Ortsberichterstattung herunter, um kaner anzuregen, über den Zerfall ihrer Demo- mehr Werbeplätze anbieten zu können. Denn kratie und über substanzielle Veränderungen vor allem in jenen Bundesstaaten mit Kopf- nachzudenken. Hierbei handelt es nicht um an-Kopf-Rennen sind Zahlungen für politische höhere Mathematik. Weltweit verstanden die Werbespots zur Haupteinnahmequelle des lo- Menschen ziemlich gut, was Nelson Mandela kalen Fernsehens geworden. Es überrascht da- meinte, als er hervorhob, wie wichtig die Aus- her nicht, dass die Medienkonglomerate einer gewogenheit zwischen Minderheitenschutz und Reform der Regeln für die Wahlkampffinanzie- einer auf demokratischen Entscheidungen be- rung am vehementesten entgegentreten. Sie ruhenden Regierungspolitik ist: bieten den Amerikanern anstelle von richtigen Nachrichten Polit-Propaganda und profitieren Ein Wahlrecht ohne Verfügbarkeit von Nahrung, auch noch davon. Unterkunft und Krankenversorgung erweckt bloß den Anschein von Gleichheit und Gerechtigkeit, obwohl die Ungerechtigkeit in so einer Gesellschaft Eine tiefe Kluft ist entstanden. Wahlen sollten Wurzeln geschlagen hat. Wir wollen keine Freiheit eigentlich etwas nach sich ziehen, was sowohl ohne Brot und wir wollen kein Brot ohne Freiheit. die Neubesetzung von Ämtern als auch die Richtung betrifft, die die Kommunen, Bundes- Amerikaner, die in den 1960er Jahren für soziale staaten und Nationen einschlagen. In jungen und wirtschaftliche Gerechtigkeit kämpften, Nationen und solchen, die sich von kolonialer verstanden Martin Luther King sehr wohl, als er und interner Unterdrückung freizumachen dieselbe Verbindung herstellte: „Das garantier- versuchen, wird dies vermutlich viel eher ver- te Wahlrecht kostete die Nation keinen einzigen standen als in Nationen mit fest eingefahrenen Penny. Die Probleme, die sich vor uns auftun, Systemen. Die Amerikaner sind frustriert vom werden die Nation Milliarden Dollars kosten.“ Kongress, dessen Zustimmungswerte in einigen Das Ziel der Bürger- und Wahlrechtsaktivisten Umfragen auf sieben Prozent gesunken sind. bestand laut den Wissenschaftlern Richard D. Ihre Verärgerung ist berechtigt. Aber die Me- Kahlenberg und Moshe Z. Marvit von der Cen- dien sowie die wirtschaftlichen und politischen tury Foundation in der „Herstellung eines Rah- Eliten haben diese Wut mit bemerkenswertem mens, innerhalb dessen sich die Armen und die Erfolg umlenken können in Sympathieerklärun- Arbeiterschaft ihren gerechten Anteil am Reich- gen für die eine oder andere Parteiseite und in tum der Nation beschaffen konnten“. Heute ideologisches Gerangel. Sie tragen nichts dazu drängt die Umsetzung von demokratischen bei, die viel grundlegenderen Probleme zu ver- Prinzipien in die politische Praxis der Regierung, stehen. Wenn Wahlergebnisse nicht zu einer genauso wie damals. Allerdings wird die Demo- Regierung führen, die den Willen der Bevölke- kratie derart missachtet, dass sie unter dem rung widerspiegelt, verkommt die Demokratie. Druck, den Forderungen aus der Wirtschaft ge- Es ist dringend notwendig, diesen verheeren- recht zu werden, als unbrauchbar dargestellt den Kreislauf zu unterbrechen und die Ameri- und ausrangiert wird. Beabsichtigter Bankrott: Der Fall Detroit Werfen wir nun einen Blick auf die Stadt Detroit. an jenem Tag weder durch die Wählerinnen und Die Stadt wählte am 5. November 2013 einen Wähler festgelegt noch durch den von ihnen ge- neuen Bürgermeister. Aber ihre Zukunft wurde wählten Bürgermeister. Denn wenige Wochen 13
JOHN NICHOLS DIE AUSHÖHLUNG DER AMERIKANISCHEN DEMOKRATIE nach der Wahl bestimmte ein Konkursgericht likanischen Gouverneurs Rick Snyder war. Der die Zukunft Detroits – ein Richter ermächtigte wiederum erhielt bei seiner Wahl im gesamten einen „Notfall-Manager“ ohne jegliche demo- Bundesstaat Michigan in der Stadt Detroit nur kratische Legitimation, die Geschicke der Stadt ein Zwanzigstel der Stimmen – gerade einmal zu leiten. Mit dem Urteil des Konkursrichters fünf Prozent der Wählerschaft in Detroit waren Steve Rhodes im Dezember 2013 wurde De- der Meinung, Snyder solle in ihrem Staat und troit offiziell die größte US-Stadt, die je nach Pa- ihrer Stadt die Geschicke bestimmen. Trotzdem ragraph 9 ihren Bankrott erklärt hatte. Obwohl wurde er über seinen Notfall-Manager und mit der Richter in seiner Begründung eingestand, der Billigung des Konkursrichters, den er zum dass die Verhandlungen mit potenziellen exter- Eingreifen gebeten hatte, zum Herrscher über nen Kreditgebern nicht in gutem Glauben ver- das Schicksal von Detroit. laufen waren, setzte er den Notfall-Manager und dessen Anwaltsfirma ein. Diese sollten ih- Und was wurde aus dem neuen, demokrati- ren „Anpassungsplan“ auf den Weg bringen. schen Bürgermeister von Detroit, Mike Duggan, Unabhängige Beobachter hatten vorhergesagt, einem erfahrenen Kommunalpolitiker und dass dieser Plan umfassende Rentenkürzun- hochangesehenen Manager, der 55 Prozent der gen für ehemalige Stadtangestellte beinhalten Stimmen in der Stadt erhalten hatte? Duggan werde: „Ein Konkurs würde das völlige Aus der beantwortete diese Frage gegenüber Reportern ohnehin bescheidenen Renten der Feuerwehr- im November so: „Die einzige Befugnis, die ich leute, der Polizisten und anderer Stadtangestell- haben werde, ist die, die ich dem Gouverneur ter von Detroit bedeuten. Und das zur gleichen und dem Notfall-Manager abbetteln kann.“ Zeit, da die Wall Street Hunderte von Millionen Dollar aus der Wirtschaft der Stadt absaugt“, er- Dies hat mit Demokratie nichts zu tun. Es hat klärte der Leiter der National Public Pension Coa- auch nichts zu tun mit dem Willen der Bevölke- lition, die sich für die öffentlichen Renten ein- rung Detroits. Weshalb wir das wissen? Weil das setzt, Jordan Marks. „Dies ist ein schwarzer Tag Gesetz, das Gouverneur Synder befugte, einen für die Menschen in Detroit, die hart gearbeitet Notfall-Manager zu berufen und die Stadt damit und sich immer an die Regeln gehalten haben. in den Bankrott zu treiben, von den Wählern im Jetzt laufen sie Gefahr, alles zu verlieren.“ Jahr 2012 abgelehnt worden war. Snyder muss- te sich ein neues Notfall-Manager-Gesetz aus- Detroit hat, wie viele andere amerikanische denken, nachdem die ursprüngliche Version, Städte, Finanzprobleme infolge der Deindus- auf dessen Grundlage er bereits kleinere Städte trialisierung und aufgrund einer gescheiterten übernommen hatte, von den Wählern in Michi- Wirtschaftspolitik auf bundesstaatlicher Ebe- gan mit einem Referendum gekippt worden ne. Dazu kommen Fehlentscheidungen und war. In Detroit hatten 82 Prozent dagegen ge- Fehltritte von Kommunalpolitikern. Aber gegen stimmt. Und trotzdem mussten sie die neue Finanzprobleme kann man einiges unterneh- Version des Gesetzes schlucken. Auf diese men. Leider haben politische Kräfte, die nie ge- Weise verlor der gewählte Bürgermeister sei- wählt worden sind und nicht zur Rechenschaft ne Macht, über Renten und Arbeitsverträge zu gezogen werden können, Lösungen ausge- wachen und Prioritäten in der Grundversorgung schlagen, die der gesunde Menschenverstand der Bürgerinnen und Bürger festzulegen. fordert und die wirtschaftspolitisch einwandfrei sind. Der Richter, der nicht gewählt, sondern Für Detroit bestand das größte Problem nicht in ernannt worden war, händigte den Schlüssel der Kommunalverwaltung, sondern in der Dein- der Stadt dem Notfall-Manager Kevyn Orr aus, dustrialisierung. Sie erschütterte Hunderte von der seinerseits der Wunschkandidat des repub- Fabriken und trieb Hunderttausende von Stadt- 14
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