Digitalisierung "Made in China" - Daten- und Plattformökonomie 2.2019 - ZVEI
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Chancenkompass Datenwirtschaft Orientierungshilfe für datenbasierte Geschäftsmodelle in der Elektroindustrie KONFERENZ | 25. JUNI 2019 | FRANKFURT A.M. www.zvei-akademie.de/chancenkompass Bild: demarco, juniart, High-resolution, Nmedia, Gorodenkoff / Fotolia.com ERFAHREN SIE, … : welche Herausforderungen Datenmodelle an Ihr Unternehmen stellen : welche Daten einen Wertbetrag im Unternehmen erzielen : wofür die generierten Daten genutzt werden können : welche Positionierungsmöglichkeiten sich bieten und wann Partnerschaften notwendig sind : welche Erlösmodelle sich für Ihr Unternehmen ergeben : welche Maßnahmen ABB, Calvatis, Infineon und Siemens ergriffen haben, um ihre führenden Positionen auszubauen Mit Mitinteraktiven interaktivenBreak-out Break-outSessions Sessionszur zurBeantwortung BeantwortungIhrer Ihrerkonkreten konkretenFragen Fragen
EDI TORIAL 3 „Wir sollten den Diskurs über die Rolle Chinas hierzulande künftig differenzierter führen.“ Liebe Leserin, lieber Leser, das Gewicht Chinas in der Weltwirtschaft nimmt weiter zu – und damit die Intensität, mit der über die Rolle der neuen Weltmacht in Politik und Gesellschaft diskutiert wird. Grundsätzlich ist das in einem demokratischen Gemeinwesen nicht verkehrt. Dennoch sind wir gut beraten, weder übermütig noch allzu demütig aufzutreten. Stattdessen braucht es Mut, auf die eigenen Stärken zu setzen und diese auszubauen. Zum Beispiel, wenn es um den Einsatz künstlicher Intelligenz in unseren Betrieben, aber auch anderen Lebensbereichen geht. Wenn es uns gelingt, Spitzentechnologie mit einem hohen Maß an Persönlichkeitsschutz zu verbinden, dann kann „KI made in Europe“ zu einem Markenzeichen werden. Etwas Mut braucht es auch, von den eigenen Vorurteilen abzurücken und in den Dialog zu treten. Denn dann wird rasch klar: Angesichts steigender Löhne und dramatischer Umweltverschmutzung kann China keinen anderen Weg gehen, als seine Industrie und seine Megastädte rasch zu moder- nisieren. Der Ersatz fossiler Kraftwerke und die Elektrifizierung des Verkehrs sind aus chinesischer Sicht alternativlos. Für deutsche Unternehmen liegen darin nicht nur Risiken, sondern auch riesige Chancen: Es eröff net sich ein gewaltiger Markt für innovative Technologien. Ich wünsche mir, dass wir sowohl den Dialog mit China als auch den Diskurs über die Rolle Chinas hierzulande künftig differenzierter führen. Einen kleinen Beitrag dazu wollen wir mit der vorliegen- den Ausgabe von AMPERE leisten. Ihr Foto: ZVEI MICHAEL ZIESEMER Präsident des ZVEI AMPERE 2.2019
4 INHALT ILLUSTRATION AUF DER TITELSEITE Ein Serverschrank in der Verbo- tenen Stadt: Mit Digitalisierung und Industrie 4.0 will China seine Wirtschaft modernisieren. Partner sind willkommen – Wie Digitalisierung und Vernetzung aber wie kommt man an den die Wertschöpfungsketten verändern. Wächterlöwen vorbei? Editorial 3 STATUS QUO KOPF ODER ZAHL? SESAM, ÖFFNE DICH! Am Singles’ Day klingeln DIE PLATTFORMMACHER Wie Konzerne und Mittelständler die Chancen der Plattformökonomie nutzen können 8 16 in China die Kassen 6 CHEFSACHE EINST UND JETZT „AUCH MAL AUF DIE SCHNAUZE FALLEN” BILDUNG À LA CARTE Daniel Hager will sich auf den Vom muffigen Tagungshotel Erfolgen seines Familienunternehmens zum Blended Learning 20 nicht ausruhen 12 MEIN ERSTES MAL ENTSCHLÜSSELT EIN LEBEN LANG SOUVERÄN Wie Wolfgang Reichelt aus Fundstücken Die Netzgemeinde streitet um Detektorradios baute 46 den Begriff der „Datensouveränität”. Versuch einer Definition 16 46 CHECKLISTE BEREIT FÜR DIE DATENWIRTSCHAFT? Sieben Erfolgsfaktoren auf dem Weg in die Daten- und Plattformökonomie 18 12 Illustration auf der Titelseite: shutterstock.com / MuchMania, shutterstock.com / ProStockStudio Download & Bestellung Sie können die Ausgabe von AMPERE über den QR-Code downloaden oder unter zsg@zvei -services.de bestellen. QR-Code-Reader im App Store herunterladen und Code mit Ihrem Smartphone scannen. www.zvei.org /ampere ISSN-Nummer 2196 -2561 Postvertriebskennzeichen 84617 AMPERE 2.2019
INHALT 5 Von der verlängerten Werkbank zum füh- renden Anbieter von Hochtechnologie: Das Reich der Mitte ist aufgebrochen. IMAGINE STANDPUNKTE KEINE FALSCHE EHRFURCHT VOR ALGORITHMEN Prof. Dr. Katharina Zweig kämpft um Aufklärung über maschinelles Lernen 22 VERSTEHEN STATT VERURTEILEN Ostasien-Wissenschaftler Prof. Dr. Thomas Heberer und SEG-Manager Dr. Ulrich Kirschner 32 über China und den Westen 32 22 LÄNDERREPORT BOOMTOWN NACH PLAN Wie keine andere Stadt steht Shenzhen für den Aufstieg Chinas. Ein Ortstermin 36 HEISSES EISEN ALLEINE KANN ES KEINER REPORT Cybersicherheit ist Gemeinschafts- NICHT OHNE MEIN SMARTPHONE aufgabe, sagt Siemens-Manager Die meisten Chinesen organisieren Dr. Henning Rudolf 42 ihren gesamten Alltag elektronisch 24 Impressum 24 Die Nachweise der im Inhaltsverzeichnis verwendeten Bildmotive sind in den entsprechenden Artikeln vermerkt. CHEFREDAK TEUR VERL AG, KONZEP T & REALISIERUNG Thorsten Meier Publik. Agentur für Kommunikation GmbH Rheinuferstraße 9, 67061 Ludwigshafen HER AUSGEBER Projektleitung: Stefanie Lutz, ZVEI-Services GmbH s.lutz@agentur -publik.de Dr. Henrik Kelz, Patricia Siegler (Geschäftsführung) Inhalt: Redaktionsbüro delta eta Lyoner Straße 9, Paschek & Winterhagen GbR 60528 Frankfurt am Main Telefon +49 69 6302-412 Art-Direktion: Barbara Geising E-Mail: zsg@zvei-services.de www.zvei-services.de Korrektorat: exact! Sprachenservice und Informations- management GmbH ZSG ist eine 100-prozentige Servicegesellschaft des ZVEI – Zentralverband Elektrotechnik- und ANZEIGEN Elektronikindustrie e. V. Dr. Henrik Kelz, kelz@zvei-services.de ANSPRECHPARTNER ZVEI E.V. DRUCK Thorsten Meier SEW-EURODRIVE GmbH & Co KG (Abteilungsleiter Kommunikation und Marketing), meier@zvei.org Der Bezug des Magazins ist im ZVEI-Mitgliederbeitrag enthalten. Alle Angaben sind ohne Gewähr, Änderungen vorbehalten. Nachdruck, Vervielfältigung und Karen Baumgarten, Stella Loock Onlinestellung nur mit schriftlicher Genehmigung des Herausgebers gestattet. PRAXIS (Referenten Kommunikation und Marketing), Alle Rechte vorbehalten. baumgarten@zvei.org, loock@zvei.org DAS APOLLO-PROGRAMM www.zvei.org Stand: 5 / 2019 Wie die Apollo-Plattform von Baidu das autonome Fahren beflügeln will 28 Dieses Magazin wurde auf FSC®-zertifiziertem Papier gedruckt. Mit der AUS OSTWESTFALEN-LIPPE NACH HUAI'AN FSC®-Zertifizierung (Forest Stewardship Council) wird garantiert, dass sämtlicher verwendete Zellstoff aus nachhaltiger Forstwirtschaft stammt. Fraunhofer hat eine Forschungsfabrik Der FSC® setzt sich für eine umweltgerechte, sozial verträgliche und wirtschaftlich tragfähige Bewirtschaftung der Wälder ein und fördert die nach China exportiert 30 Vermarktung ökologisch und sozial korrekt produzierten Holzes. AMPERE 2.2019
6 KOP F ODER Z AHL? Sesam, öffne dich! Text: Laurin Paschek SHANGHAI, CHINA V ier Mal die Eins: Das ist der 11.11., der in China schon seit den 1990er-Jahren als „Singles’ Day“ begangen wird. Das Da- tum wurde so gewählt, weil die Zahl 1 einen Alleinstehenden ausdrücken soll. Viele wol- len das aber nicht bleiben, und deswegen organi- sieren junge Chinesen an diesem Tag Partys und Karaoke-Events, um mit anderen zu feiern und sich – wenn’s klappt – zu verlieben. Weil dabei auch kleine und große Geschenke helfen können, hat sich der 11.11. zugleich zum weltweit umsatz- stärksten Onlineshopping-Tag entwickelt. Der „Singles’ Day“ stellt die hierzulande etwas be- kannteren „Cyber Mondays“ oder „Black Fridays“ in den Schatten, die ebenfalls im November abge- halten werden, damit die Kassen von Amazon und anderen Onlinehändlern klingeln. AMPERE 2.2019
KOP F ODER Z AHL ? 7 213,5 Milliarden Yuan (umgerechnet rund 28 Milliarden Euro) Umsatz erreichte der chinesische Onlinehändler Alibaba Group an einem einzigen Tag, dem 11.11.2018. Gegenüber dem 11.11.2017 bedeutete dies eine Steigerung um 26 Prozent. Foto: STR / AFP AMPERE 2.2019
8 S TAT US QU O In Endverbrauchermärkten ist der Wandel zur Plattformökonomie weit fortgeschritten. Auch in der Industrie setzt sie sich durch und wird nach Ansicht von Experten das Gesicht der Elektroindustrie verändern. Wie gehen Unternehmen diese Herausforderung an? Und wie stehen die Chancen des deutschen Mittelstands gegenüber den neuen Wettbewerbern aus den USA und Asien? Eine Bestandsaufnahme. Text: Peter Trechow E ine Plattform hat einiges für sich. Zwar ist der Firmen hinaus. Und damit hält die Plattformökonomie Aufstieg beschwerlich, aber einmal oben ange- auch in der Industrie Einzug. Für die Elektrobranche langt, breitet sich die Landschaft zu den eige- liegt darin eine große Chance. So sagt Dr. Bernd nen Füßen aus. Was heute vor allem als Heinrichs, Chief Digital Officer von Bosch Mobility touristische Attraktion dient, war in früheren Zeiten Solutions: „Die Entwicklung starker digitaler Plattfor- strategisch höchst relevant, um potenzielle Angreifer men steht am Anfang. In der Industrie wird künftig bereits auf große Entfernungen zu erkennen. Wie es kein Unternehmen mehr ohne sie auskommen.“ der Begriff in die Digitalökonomie geschafft hat, ist Das sieht auch McKinsey-Berater Dr. Bernhard nicht genau zu rekonstruieren. Früher, als Computer Mühlreiter, der für den ZVEI den Chancenkompass für die Erstellung von Gehaltsabrechnungen die Größe Digitalwirtschaft erarbeitet hat. Doch er weist auch auf von Kleiderschränken hatten, bezeichnete man mit Risiken hin: „Player wie Google, Microsoft oder Ama- „Plattform“ zunächst nur ein Betriebssystem, auf dem zon treten mit ihrer Daten- und IT-Kompetenz in verschiedene Programme laufen konnten. Als mit Wettbewerb mit Industrieunternehmen“. Zwar verfü- dem Internet der Onlinehandel in Schwung kam, ent- gen Letztere über sogenanntes Domänen-Know-how, standen zunächst digitale Marktplätze, die Händlern also das Wissen um Produkte, Prozesse und Branchen, realer Produkte eine Plattform bieten wollten. Und doch fehlt ihnen die Datenkompetenz der IT-Player. Foto: shutterstock.com / frank_peters, Illustration: Barbara Geising mit einem Mal war auch das Produkt nur noch virtu- Daher rät der Experte zu Allianzen – auch mit Wettbe- ell, Bits und Bytes, zu beziehen über App Stores, die werbern. Nur so könne man den Playern aus den USA sich nun ebenfalls Plattform nannten. und Asien Paroli bieten. Schon heute finden auf Die Welt professioneller IT-Systeme entzog sich die- industriellen IoT-Plattformen viele Mittelständler zu- sem Trend lange Zeit – erst recht, wenn sie der Echt- sammen, die positive Netzwerkeffekte der Platt- zeitsteuerung von Fahrzeugen, Gebäudetechnik oder formökonomie nutzen wollen: geringere Transak- Produktionsanlagen diente. Die hohen Sicherheitsan- tionskosten, geteilte Risiken, Zugriff auf die Kreativität forderungen führten dazu, dass mit wenigen Ausnah- von Vielen. Diese Vorteile wachsen mit der Relevanz men Hard- und Software sowie begleitende der Plattformen. Das wissen auch Großunternehmen Dienstleistungen eng gekoppelt waren. Doch diese wie Bosch und reihen sich. einstmals weitgehend geschlossene Welt hat sich geöff- „Digitale Plattformen spielen bei uns eine zentrale net – im Internet der Dinge erfolgt die Steuerung von Rolle“, betont Heinrichs. Dazu zählt auch die Mobility Prozessen über einzelne Produktionsschritte oder gar Cloud Suite. „Aufbauend auf der Bosch-IoT-Suite AMPERE 2.2019
S TAT US QU O 9 In unseren privaten Alltag ist die Cloud längst eingezogen. Jetzt werden digitale Plattformen auch die Industrie verändern. AMPERE 2.2019
10 S TAT US QU O BEKANNTHEIT TECHNOLOGIEPROJEKTE VON DIGITALPLATTFORMEN VON UNTERNEHMEN „Der Begriff Digitale Plattformökonomie „In unserem Unternehmen ist mir ...” laufen bereits Projekte zu ...” bekannt: 43 % nicht bekannt: 54 % Digitale Predictive Produkt- Analytics: keine Angabe: 3 % merkmale: 37 % 39 % Entwicklung Platzierung einer von Services eigenen auf anderen Plattform: Plattformen: 19 % 17 % Basis: 505 Unternehmen mit >20 Mitarbeitern in Deutschland Quelle: Deutscher Industrie-4.0-Index 2018, Staufen AG Quelle: Bitkom Research, 2018 bietet sie alle Funktionen, um Fahrzeuge, Anwender, 2016 die Automatisierungsplattform PLCnext auf. Ist Unternehmen und Domänen auf einer Plattform zu- das westfälische Sturheit oder geschickte strategische sammenzubringen“, erklärt er. Individuell können Weichenstellung? Ulrich Leidecker, Leiter des Ge- Fahrzeughersteller auf eine communitybasierte Park- schäftsbereichs Industry Management & Automation, platz-Suchmaschine, eine cloudbasierte Falschfahrer- wirkt keineswegs stur. Ein zugewandter Gesprächs- warnung oder drahtlos auf Software-Updates partner, der die Schwierigkeiten der Plattformökono- zugreifen. Mit Coup betreibt Bosch auch eine Platt- mie klar benennt. Etwa die Absicherung der form für das Ridesharing von Elektrorollern in Berlin, Plattformen gegen unbefugte Zugriffe, vor allem weil Paris und Madrid. Und Töchter wie Etas und Escrypt auch Drittanbieter eigene Apps in den PLCnext-Store setzen auf Plattformansätze, um vernetzte Fahrzeug- einstellen können. Oder das lästige Zertifikate- flotten rundum vor unbefugtem Zugriff zu schützen – Management. Die praktische Umsetzung digitaler aus Angriffen lernend, wie ein Immunsystem. Plattformen – so viel wird klar – erfordert Sorgfalt im Die Leitposition in Plattform-Ökosystemen ist be- Detail. Doch sei die Plattformökonomie vor allem gehrt, lautet die Frage doch: Lenken oder Mitmachen? eine Chance. Viele Unternehmen starten eigene Plattformen. „Es geht darum, Veränderungen selbst zu gestalten Mühlreiter warnt: „Für manche mittelständischen und davon zu profitieren“, sagt Leidecker. Es gehe da- Player ist es aussichtslos, eine Plattform in relevanter rum, für digitale Geschäftsmodelle bereit zu sein. Die Größe aufzuziehen. Ihnen fehlt es an personeller und Ausgründung von Protiq war ein Zündfunke. Weil es finanzieller Kraft, an Know-how und am Netzwerk.“ keinen Sinn machte, 3-D-Druckanlagen anzuschaffen, Um das Dilemma zu lösen, gebe es zwei Möglichkei- ohne sie auszulasten, setzte das Team auf eine Platt- ten: Entweder bilde man schlagkräftige Netzwerke form mit Kunden und Partnerfirmen. „Was einfach oder man bringe sich in florierende Plattformen ein. klingt, war in den Strukturen von Phoenix Contact Spätestens hier bietet sich ein Gespräch mit nicht umsetzbar, da unsere gesamte Logik der diskre- Phoenix Contact an. Denn der Mittelständler mit ten Fertigung für vorqualifizierte Kunden ganz anders weltweit 17.400 Mitarbeitern und 2,38 Milliarden strukturiert ist“, sagt er. Das Spin-off etablierte neue Euro Umsatz setzt auf eigene Plattformen. Im Additive Prozesse, dachte Geschäftsmodelle neu und forderte Manufacturing treibt das Spin-off Protiq einen Markt- so das Mindset des etablierten Mittelständlers heraus. platz voran. Und Phoenix Contact selbst baut seit Protiq stieß auf Konstanten der Plattformökonomie: AMPERE 2.2019
S TAT US QU O 11 Sofortiges Zahlen, Lieferung an nicht qualifizierte gewährleistet PLCnext die einfache Integration von Kunden oder das Abtreten von Wertschöpfungs- Open-Source-Software und reibungslose Vernetzung potenzial an Partner. Bei der Finanzabwicklung kam durch direkte Cloud-Anbindung. sogar die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs- „Wir haben uns für die Öffnung entschieden, weil aufsicht (Bafin) ins Spiel. proprietäre Engineering-Ansätze nicht in die vernetz- Auch PLCnext wirkt wie ein Katalysator für die te Welt passen“, erklärt Leidecker. Eine Vorausset- Transformation vom Traditionsunternehmen zum zung in der Industrie 4.0 sei es nun einmal, dass digitalen Industrie-4.0-Anbieter. „Die Plattform wird Anwender Lösungen verschiedener Anbieter in ihre umso attraktiver, je mehr Partner mitwirken. Das ist Prozessketten integrieren können. „Mit der Plattform ein Geben und Nehmen“, berichtet Leidecker. Natür- schaffen wir ein Ökosystem, in dem Kunden neben lich gehen auch attraktive Aufträge an andere Anbie- der klassischen Industriesteuerung in Echtzeit sowie ter auf der Plattform. Doch auf diese Weise soll ein zeitversetzt vielfältige externe Lösungen für ihre Der „Chancenkompass selbstverstärkender Kreislauf in Gang kommen. Dafür Automatisierungsprojekte finden“, sagt Leidecker. Datenwirtschaft” ist der PLCnext-Store offen für Kreative aus Bereichen Als Techniker geht er im Gespräch tief ins techni- kann zum Preis von 99,90 Euro (netto) wie Künstliche Intelligenz, Big Data oder Automati- sche Detail und benennt spezifische Kundenvorteile. bestellt werden: sierungstechnik. Junge Anbieter kommen mit Indus- Dabei wird klar, dass Phoenix Contact und andere www.zvei-shop.de trieunternehmen zusammen. Wo bisher aufwendige Mittelständler mit ihren Plattformen eine Karte aus- Marktrecherche nötig war, können Anbieter und Su- spielen, die große IT-Player nicht im Blatt haben: chende nun quasi per Mausklick aus dem Füllhorn Erfahrung aus Tausenden Kundenprojekten – bei schöpfen. Der Store ist nur eine Facette der Plattform. Phoenix Contact seit 1923. Indem sie dieses gewach- Das technologische Herzstück ist eine neuartige sene Branchenwissen mit den neuen Möglichkeiten kollaborative Entwicklungsumgebung. Da Program- des digitalen Miteinanders verknüpfen, stoßen sie mierer nicht mehr die klassische SPS-Programmierung für sich, ihre Kunden und Partner die Tür zu rascher lernen, sondern allenfalls Hochsprachen, über- Weiterentwicklung auf. „Wir müssen umdenken, setzt PLCnext. Die Plattform setzt klassischen und offener werden und dürfen auch vor einer Kollabora- Hochsprachen-Code sowie Daten aus gängigen Simu- tion mit bisherigen Wettbewerbern nicht zurück- lationsprogrammen automatisch zu Echtzeit- schrecken“, sagt Leidecker. „Dazu gehört auch Steuerungssoftware zusammen. Entwickler aus unter- die Mitarbeit auf Plattformen anderer Anbieter“. schiedlichen Generationen können so in verschiede- Nach westfälischer Sturheit klingt das nun wirklich nen Programmiersprachen zusammenarbeiten. Auch nicht. DIGITALISIERUNGSGRAD VERSCHIEDENER INDUSTRIEN Wendepunkt Progressive ELEKTROINDUSTRIE MEDIEN Unternehmen DIGITAL und etablierte Start-ups bilden die neue KONSUMGÜTER Normalität Mainstream- BANKEN Kunden adaptieren neue Modelle VERSORGUNGS- INDUSTRIE Progressive UNTERNEHMEN Unternehmen Nachzügler beginnen, neue scheitern Early Adopters Geschäftsmodelle Innovative Start-ups starten mit zu adaptieren Neue Trends kreieren disruptive neuen Geschäfts- Adaptionskurve entstehen Geschäftsmodelle modellen Status der Industrien Digitaler Reifegrad Quelle: McKinsey, ZVEI Services Chancenkompass Datenwirtschaft AMPERE 2.2019
12 CHEFS ACHE Seit Daniel Hager vor elf Jahren die Geschäftsführung des 1955 gegründeten Familienunternehmens übernommen hat, hat sich der Umsatz mehr als verdoppelt. Doch auf Erfolgen will sich der Chef der Hager Group nicht ausruhen. Stattdessen malt er auch mal den Teufel an die Wand. Text: Johannes Winterhagen | Fotografie: Alexander Grüber 2018 lag Ihr Umsatz erstmals bei mehr als zwei Milli- wir über Tugenden sprechen, dann bleibt auch in arden. Zu sagen „Läuft doch!“ wäre da eine nachvoll- einer digitalen, sich schneller wandelnden Welt ziehbare Grundhaltung. der direkte Kundenkontakt einer der wichtigsten Wir fragen uns stattdessen, wie wir uns auf die Erfolgsfaktoren. Zukunft vorbereiten können. Tatsächlich ist die gute Baukonjunktur auch ein Grund dafür, dass Ist das nur eine Frage des Know-hows oder auch der sich komplexere Technik schwer verkaufen lässt. Haltung? Ein Zählerschrank ist halt schneller an den Mann Start-up-Kultur bedeutet für mich vor allem, neue gebracht als ein intelligentes Zuhause. Arbeitsmethoden wie agile Entwicklung oder Design Thinking einzusetzen. Diese Methoden integrieren Wir reden schon lange über das Smart Home. Wann wir bei uns mit der gleichen Stringenz, mit der wir passiert nun endlich etwas? heute Projekte umsetzen. Das Smart Home ist schon Realität. Der nächste Schritt wäre nun, in eine Dienstleistungswirtschaft zu Wo stehen Sie da? gehen. Dafür sind noch einige Grundsatzfragen zu Das ist natürlich ein Kulturwandel. Was die neuen lösen, auch technische. Zudem gilt es, die Marktvor- Arbeitsmethoden betrifft, so haben wir ein um- aussetzungen zu schaffen, damit unsere Lösungen fassendes Programm aufgelegt, um sie im ganzen wirtschaftlich sind. Unternehmen bekannt zu machen. Es geht auch da- rum, unter den Mitarbeitern die Kompetenz zu ent- Welche Tugenden aus der alten Elekrotechnikwelt wickeln, diese neuen Methoden richtig anzuwenden. braucht man, um in der neuen, dienstleistungsge- Dabei ist die Frage von Bedeutung, wie man solche trieben Welt erfolgreich zu sein? Arbeitsweisen standardisieren kann – nur so erzielen Was Qualität und Professionalität betrifft, so sind wir Akzeptanz in einer wachsenden Organisation. wir bei der Hager Group gut aufgestellt. In dem Wir kommen aus dem klassischen Mittelstand, in Spezialwissen, etwa über die Applikationen, die für dem viele Arbeitsweisen nicht kodifiziert sind. Ein die Gebäudetechnik benötigt werden, erarbeitet Teil der Transformation besteht darin, Prozesse so unser Team kontinuierlich Know-how, um schluss- zu standardisieren, dass wir auch in einer größeren endlich die passenden Lösungen parat zu haben, Organisation erfolgreich zusammenarbeiten und die die gleiche Professionalität bieten. Wenn weiter wachsen können. AMPERE 2.2019
CHEFS ACHE 13 AMPERE 2.2019
14 CHEFS ACHE „E Es gibtt zw wei Biild derr, die e ich h nutzze: Da as des Dra ach hens, de er bekämmpftt we erdeen muss,, und da as deer Prin nze essin n, de eren Herzz ess zu ge ewinnen n gillt.” ” DANIEL HAGER Transformation funktioniert über Standardisierung und nicht über chaotisch-kreative Typen, die ohne Rücksicht auf Prozesse arbeiten? Ich würde das eher als mathematische Formel betrach- ten. Es gibt immer wieder einen Punkt, an den wir an- docken können. In einer großen Organisation mit einer großen Vielfalt an Produkten müssen sich auch neu gedachte Lösungen in das Gesamtsystem integrie- ren. Die Transformation innerhalb unseres Unter- nehmens birgt viele Komponenten und Faktoren. Der allerwichtigste Faktor ist und bleibt der Kunde. Er steht für uns zu jedem Zeitpunkt im Mittelpunkt. Nun geht es Hager wirtschaftlich ja gut. Wie stiften Sie Unruhe, um Ihren Mitarbeitern die Notwendig- keit einer Transformation zu vermitteln? Es gibt zwei Bilder, die ich nutze: Das des Drachens, der bekämpft werden muss, und das der Prinzessin, deren Herz es zu gewinnen gilt. Wir müssen also einerseits ein attraktives Ziel vorgeben, andererseits aber auch den Teufel an die Wand malen. Was ist denn der Teufel an der Wand? Das ist alles, was heute in unserer Welt passiert. Große Internetkonzerne beispielsweise, die in unsere Welt drängen und die, wenn sie erfolgreich wären, unser Geschäftsmodell möglicherweise zerstören könnten. Die Internetkonzerne werden aber doch keine elek- trotechnischen Komponenten bauen. Wir möchten uns aber nicht auf die Rolle eines Kom- ponentenlieferanten beschränken. Damit sehen Sie, dass die Metapher vom Teufel an der Wand eine Über- spitzung ist. Klar ist aber, dass wir dank des Know- hows unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter starke Abwehrkräfte haben. Doch eine sich immer rasanter entwickelnde Technologie kann eben dafür sorgen, dass der Teufel schnell vor der Tür steht. Anders als bei Smartphones haben sich aber im Home-Bereich noch keine dominanten Plattformen herausgebildet. Das ist richtig. Aber wir sehen, bei Alarmanlagen bei- spielsweise, dass eine Art Plattformökonomie AMPERE 2.2019
CHEFS ACHE 15 entsteht. Da wird das Hardware-Geschäft bereits Wofür haben Sie denn bereits fruchtbares Lehrgeld durch Dienstleistungsmodelle in Mitleidenschaft ge- gezahlt? zogen. In den USA, aber auch in England und in Bei einem vor ein paar Jahren gestarteten Projekt Frankreich etablieren sich Geschäftsmodelle, in denen wollten wir Alarmanlagen als Dienstleistungen der Elektroinstallateur von einer Plattform beauftragt verkaufen. Hier hat sich leider nicht der erwartete wird und dann gar nicht mehr darüber entscheiden Erfolg eingestellt. Trotzdem haben wir viele Er- kann, welche Produkte er einsetzt. kenntnisse gewonnen und vor dem Hintergrund auch eine entsprechende Infrastruktur entwickelt, Lassen Sie uns noch über die Prinzessin sprechen. etwa für die Abrechnung. Und wir haben gelernt, Wer verbirgt sich dahinter? welche technischen Fähigkeiten unsere Komponen- Die Prinzessin steht für die elektrische Welt von mor- ten für ein Dienstleistungsgeschäft benötigen. Dazu gen, die zahlreiche begeisternde Möglichkeiten bietet. gehört auch, den Endkunden besser zu verstehen. Ich denke dabei an die Energiewende oder an das Etwa, dass für alle Bedienelemente heute das Smart- Thema der Elektromobilität. Damit verbunden sind phone der Maßstab ist. Technologien, die uns morgen mehr Effizienz und da- mit auch einen größeren Nutzen bieten. Wir müssen Wie können Sie da mithalten? in dieser Welt unseren Platz finden und darauf ach- Schwierig ist dabei nur die zeitliche Dimension. Wir ten, dass uns neue Akteure nicht zuvorkommen und haben nun einmal bestehende Produkte, die sukzessi- diesen besetzen. ve abgelöst werden. Letztes Jahr haben wir die erste Tür-Gegensprechanlage vorgestellt, bei der Sie sich So arbeiten Sie mit Audi am induktiven Laden. durch das Menü wischen können. Ich bin nicht Steve Mit klassischer Gebäudetechnik hat das nicht mehr Jobs, aber ich teste so etwas natürlich vorher schon viel zu tun. mal aus. Solche Projekte sind noch in großem Maße experi- mentell, weil der Weg nicht vorgezeichnet ist. Da Anders als Steve Jobs haben Sie auch nicht ver- braucht es Unternehmertum, also die Bereitschaft, sucht, eine eigene Plattform als De-facto-Standard Dinge auszuprobieren, vielleicht auch mal auf die zu setzen. Schnauze zu fallen und es dann besser zu machen. In Um unseren eigenen Standard durchzudrücken, solchen Märkten gibt es keine Gewissheit. Aber sein sind wir zu klein, das kann ich offen sagen. Wir müs- Geschäft nur über ein bestehendes Modell zu bedie- sen offen für verschiedene Standards sein, ohne uns nen, schränkt ein Unternehmen ein. Wir wollen neue völlig zu verzetteln. Denn am Ende bedeutet das Wege gehen. immer auch: mehr Komplexität und zusätzliche Kosten. Ich bezweifle übrigens sogar, dass größere Wo zieht man da die Grenze? Anbieter es schaffen, ihre Plattformen geschlossen Wir betreiben solche Projekte mit begrenzten Ressour- zu halten. cen und sind im Notfall in der Lage, die Reißleine zu ziehen, sodass das Unternehmen bei einem Scheitern Man muss jeden mitnehmen, lautet ein gängiger Satz. nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Ein Beispiel Stimmt das? ist das Projekt „Designnetz“, für das wir 100 Häuser Transformation funktioniert nur über Menschen. Die mit Energiemanagementsystemen inklusive Speicher größte Herausforderung besteht darin, Menschen zu ausgestattet haben. Wenn sich dafür kein Markt ent- bewegen und dafür zu sorgen, dass sich die Denkwei- wickelt, ist das kein Drama. Aber nur so geht es, man se verändern kann. Der Geist muss offen sein für neue kann nicht alles in Powerpoint planen. Themen, neue Lösungsansätze und auch eine gewisse Ungewissheit akzeptieren. Denn Überzeugung fängt Sie haben also ein Risikobudget, das Sie zur Not ver- da an, wo Wissen aufhört. Transformation gelingt spielen können? dann, wenn die Menschen davon überzeugt sind, dass Ich würde in diesem Zusammenhang eher von Lehr- die Zukunft mehr bringt als die Gegenwart. Bis das in geld sprechen. Es kann ja auch passieren, dass eine jedem Kopf angekommen ist, braucht es Zeit. sehr gute Idee zum falschen Zeitpunkt kommt. Den richtigen Zeitpunkt können wir nur finden, wenn wir mittendrin sind. Herr Hager, herzlichen Dank für das Gespräch! AMPERE 2.2019
16 EN T S CHLÜSSELT Die Netzgemeinde streitet um den Begriff der „Datensouveränität“. Doch inwiefern ist diese rich- tungsweisend, um die Digital- kompetenz der Bürger zu fördern? Der Versuch einer Definition erfordert auch die klare Trennung zwischen personenbezogenen Daten und Maschinendaten. Text: Laurin Paschek AMPERE 2.2019
EN TS CHLÜSSELT 17 D er etwas sperrige Begriff war der Aufreger auf eine vorausschauende Wartung und völlig neue Ge- einer Tagung deutscher Datenschützer zum schäftsmodelle. Die Unterschiede sind dabei gewaltig. Europäischen Datenschutztag 2018. Das Während bei personenbezogenen Daten nach DSGVO Konzept der „Datensouveränität“, so berich- insbesondere auf einen möglichst sparsamen Umgang tet die Internetplattform Heise Online, könne beste- zu achten ist, gilt im industriellen Bereich vor allem: hende Schutzprinzipien wie die Zweckbindung und die Mit „Big Data“ soll das Potenzial von Industrie 4.0 Sparsamkeit im Umgang mit personenbezogenen Da- und dem Internet der Dinge überhaupt erst gehoben ten aushebeln. Nach den Worten der niedersächsischen werden können. Landesdatenschutzbeauftragten Barbara Thiel werde Aber wie kann der richtige Umgang mit Maschi- so das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nendaten gestaltet werden? „Wir haben innerhalb der implizit oder direkt infrage gestellt. Thiel fordert: Plattform Industrie 4.0 intensiv darüber diskutiert, ob Damit der Begriff der Souveränität richtungsweisend wir ein Dateneigentumsrecht brauchen“, berichtet werden könne, müsse er konkretisiert werden. Haimo Huhle, der die Abteilung Innovationspolitik Was also verbirgt sich dahinter? In der Netzgemein- im ZVEI leitet. „Doch wir sind der Meinung, dass es de wird anstelle der „Datensouveränität“ der Begriff viel sinnvoller ist, den Zugang zu den Daten über das „digitale Souveränität“ gefordert, etwa von Markus allgemeine Vertragsrecht auszugestalten.“ Soll heißen: Beckedahl, dem Gründer der Plattform Netzpolitik.org. Die einzelnen Akteure, also die Maschinenhersteller, Beide Begriffe beschreiben aber grundsätzlich das die Komponentenlieferanten, die Betreiber von Gleiche: Die Möglichkeiten eines Menschen, die digi- Maschinenparks und die Anbieter von Industrieplatt- talen Medien souverän nutzen zu können. Drei zentra- formen bestimmen eigenständig und souverän, le Voraussetzungen sind dafür zu erfüllen. wer Zugriff auf welche Daten bekommen soll. Denn Ein wesentliches Kriterium sind die individuellen nur so sei es möglich, dass die verschiedenen Akteure Fähigkeiten des Einzelnen. Nach dem D21-Digital-In- ihre Interessen zum Ausgleich bringen können. dex, der im Auftrag des Bundesministeriums für Wirt- Und dennoch sind – jenseits der rechtlichen schaft und Energie das jährliche Lagebild zur Digitalen Bestimmungen – wichtige Rahmenbedingungen zu Gesellschaft erfasst, ist 2018 der Digitalisierungsgrad in setzen. „Technische Daten müssen einfach und sicher Deutschland immerhin auf 55 von 100 möglichen zu übermitteln sein“, fordert Jochen Reinschmidt, der Punkten gestiegen. „Die Kompetenzen nehmen zu: beim ZVEI unter anderem den Arbeitskreis Daten- Es gibt mehr digitale Vorreiter und Mithaltende und wirtschaft betreut. „Dazu gehören vor allem die Inter- weniger Menschen im digitalen Abseits als 2017“, so die operabilität, also die Fähigkeit einzelner Systeme, Studie. Und doch sind es 21 Prozent der Befragten, die miteinander zu kommunizieren, und die notwendige die Studie noch immer im Abseits sieht, 42 Prozent Datensicherheit als Basis für Vertrauen.“ Schon vor Der Digitalisierungs- können immerhin mithalten. Eine möglichst ausge- gut drei Jahren erarbeitete der ZVEI entsprechende grad ist in Deutschland prägte Digitalkompetenz der Bürger ist aber grundle- Leitlinien zum verantwortungsvollen Umgang mit auf 55 von 100 Punkten gestiegen. gende Voraussetzung für Datensouveränität. Abhilfe Daten, um die Monopolisierung technischer Daten zu muss vor allem jeder Einzelne für sich selbst schaffen. verhindern. Demnach solle die Digitalisierung so ge- In der Studie „Zukunftspfade – Digitales Deutschland staltet sein, dass Daten sicher geteilt werden können, 2020“, die vom Bundesministerium des Innern bereits 2013 in Auftrag gegeben wurde, stellen die Autoren ohne eine pauschale Überführung, Auswertung oder selektive Sichtbarkeit zur Voraussetzung zu haben. % der Menschen sind fest: „Beim Aufbau digitaler Souveränität und Kompe- Welche Potenziale mit datengetriebenen Ge- aber noch immer im tenz sehen 93 Prozent aller Befragten zuallererst jeden schäftsmodellen verbunden sind, soll der Chancen- digitalen Abseits. einzelnen Bürger selbst in der Pflicht. Erst dann folgen kompass Datenwirtschaft aufzeigen, den McKinsey im Bildungseinrichtungen wie zum Beispiel Schulen. Der Auftrag der ZVEI-Servicegesellschaft (ZSG) und mit Bürger muss somit selbst Verantwortung übernehmen.“ Unterstützung des ZVEI und einiger seiner Mitglieds- Eine weitere Voraussetzung für Datensouveränität unternehmen erarbeitet hat. „Der Chancenkompass sind sichere Angebote, die digital souveränes Han- gibt Unternehmen der Elektroindustrie eine Orientie- deln überhaupt erst ermöglichen. Denn wenn der rung, wie auf Basis von bereits vorhandenen Daten Datenfluss abgezweigt und Daten missbraucht wer- neue datenbasierte Geschäftsmodelle entwickelt den können, dann helfen souveräne Entscheidungen werden können“, erläutert Jochen Reinschmidt. Ein des Einzelnen auch nicht weiter. In diesem Zusam- Fünf-Schritte-Modell hilft, Potenziale für solche menhang werden häufig sichere Transportwege und Geschäftsmodelle in bestehenden Datensätzen zu er- eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung für die sichere kennen, zu bewerten und umzusetzen. Wichtige Kommunikation gefordert. Eine wichtige Rolle spie- Kriterien für die Bewertung sind dabei vor allem die Foto: iStockphoto.com / Petar Chernaev len außerdem die gesetzlichen Rahmenbedingungen. Verfügbarkeit der Daten, die konkrete Ausgestaltung Mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) der Digitalisierungs-Domäne in Richtung Bestands- besteht für personenbezogene Daten mittlerweile oder Neugeschäft, die strategische Positionierung ein gültiger Rechtsrahmen. eines neuen Angebots im Portfolio, erforderliche Part- Klar abzugrenzen von den personenbezogenen Da- nerschaften, mögliche Erlösmodelle und nicht zuletzt ten sind Maschinendaten. Sie sind der Rohstoff der die Machbarkeit. Unternehmen haben damit einen Digitalisierung und wichtige Zutat für Industrie 4.0, praxisorientierten Leitfaden zur Hand, um die Chan- sie ermöglichen den effizienten Betrieb von Fabriken, cen der Plattformökonomie zu erschließen. AMPERE 2.2019
18 CHECKL IS T E Der vom ZVEI initiierte Chancenkompass Digitalwirtschaft de- finiert sieben Erfolgsfaktoren, die Unternehmen auf dem Weg in die Daten- und Plattformökonomie berücksichtigen sollten. Unsere Checkliste hilft Ihnen, nichts zu vergessen. Text: Johannes Winterhagen 1 : WIE STARK BEZIEHEN SIE IHRE KUNDEN IN DIE PRODUKTENTWICKLUNG EIN? 5 : ERLAUBT IHRE UNTERNEHMENS- KULTUR EXPERIMENTE? Agile Entwicklungsmethoden basieren auf der beständigen Methoden wie Scrum kann man lernen. Doch agiles Ent- Arbeit an einem Prototypen, der von Anfang an mit dem wickeln kann nur erfolgreich sein, wenn die Unterneh- Kunden getestet wird. Zu warten, bis etwas perfekt läuft, menskultur das Experimentieren und sogar das Scheitern und es dann erst dem Kunden zu zeigen, kann zu teuren erlaubt. Bremsen Sie Erbsenzähler also lieber aus. 2 Fehlentwicklungen führen. : HABEN SIE ZWEI BIS FÜNF 6 : HAT SICHERHEIT BEI IHNEN TOP-PRIORITÄT? Erfolgreiche Geschäftsmodelle in der Plattformökono- ANWENDUNGSFÄLLE DEFINIERT? mie beruhen oft darauf, dass sie Daten von anderen nut- Ideen für datengetriebene Geschäftsmodelle sind mittler- zen. Dafür bedarf es des Vertrauens, dass diese Daten bei weile so zahlreich wie Sand am Meer. Doch wer alles in Ihnen sicher aufgehoben sind. Beziehen Sie IT-Sicher- Ruhe erst einmal ausprobiert, kann sich auch verzetteln. heitsexperten in jede Neuentwicklung ein. Besser fährt, wer sich auf wenige, vom Topmanagement be- gleitete Projekte konzentriert. 7 : IST IHR GESCHÄFTSMODELL SKALIERBAR? 3 : STARTEN SIE SCHON ODER WARTEN SIE NOCH? In der Plattformökonomie zählt Geschwindigkeit. Wer den In der Datenökonomie gilt das Metcalf’sche Gesetz: Der Wert des Netzwerks steigt exponentiell mit der Anzahl der Teilnehmer, die Kosten nur linear. Falls Sie Markt als Erster erfolgreich besetzt, hat auf Dauer einen selbst nicht groß genug sind, um einer guten Idee zu Skalenvorteil. Wenn ein neues datenbasiertes Geschäfts- ausreichender Durchschlagskraft modell Ihr Stammgeschäft bedroht, legen Sie lieber selbst zu verhelfen, suchen Sie sich los – und zwar sofort. Kooperationspartner. 4 : HABEN SIE DIE RICHTIGEN LEUTE AN BORD? Datenarchitekten und -analysten oder User-Experience- Experten sind ohnehin rar gesät. Wenn Sie als mittelstän- disches Unternehmen in datengetriebene Geschäftsmodelle investieren, rüsten Sie sich am besten von Anfang an mit jungen Talenten. AMPERE 2.2019
20 EINS T UND JE T Z T Bildung à la carte Text: Laurin Paschek F ünf Tage Weiterbildung: Das bedeutete einst, neun Uhr morgens, Mittagspause von zwölf bis halb in ein Auto zu steigen und zu einem abgelege- zwei. Zum Abendessen wurde ein dunkelroter Hage- nen Tagungshotel zu fahren. Das etwas muffige buttentee gereicht, später am Abend traf man sich an Zimmer war mit diesem dicken, bordeaux- der Hotelbar. Nach zwei Tagen hatte jeder das Gefühl, farbenen Teppich ausgestattet, der seine besten Zeiten die anderen Seminarteilnehmer schon seit langer Zeit bereits hinter sich hatte. Neben dem Röhrenfernseher zu kennen. Am Ende der Woche gab es dann einen di- lugte ein Datenkabel aus dem dunkelbraunen Holzfur- cken Leitz-Ordner mit einem Satz Seminarunterlagen nier des Tisches heraus. Sich dadurch mit dem Internet mit auf den Heimweg. Und natürlich das obligatorische zu verbinden, hätte eine eigene Weiterbildung voraus- Zertifikat, das die erfolgreiche Teilnahme bescheinigte. gesetzt. Doch das Seminar „Projektmanagement für Zurück im Büro kamen einem die Kollegen zunächst Führungskräfte“ wurde offline abgehalten, und das etwas seltsam vor, mit ihren doch recht altmodischen meist im Frontalunterricht. Für praktische Übungen Herangehensweisen. Das allerdings nur für drei Tage. bildeten die Teilnehmer einen Stuhlkreis. Frühstück Dann war man wieder im Alltag angekommen. Und gab es direkt vor Seminarbeginn zwischen acht und arbeitete eigentlich wieder genauso wie zuvor. 37 % Illustrationen: shutterstock.com / PODIS, shutterstock.com / Svetlana Shamshurina betrug die Weiterbildungsquote in Deutschland im Jahr 1991. Der Prozentwert gibt den Anteil der 19- bis 64-Jährigen an, die ihrerzeit in den vorangegangenen zwölf Monaten an einer „nicht formalen Weiterbil- dung“ teilgenommen hatten. Quelle: Berichtssystem Weiterbildung (BSW) 1991, Statistisches Bundesamt AMPERE 2.2019
EINS T UND JE T Z T 21 Heute kann man sich auch weiterhin ein her- führen. Damit sollen emotionale Lernerlebnisse ge- kömmliches Präsenzseminar zur Weiterbildung schaffen werden – und wenn das Lernen mehr Spaß buchen. Immer beliebter werden aber die digitalen macht, so die Annahme, dann investieren die Men- Angebote. Sie reichen vom fast schon klassischen schen auch mehr Zeit und Geld dafür. Computer Based Training, das lokal am eigenen Gemeinsames Merkmal aller digitalen Angebote Rechner absolviert wird, über das vernetzte Web ist die Verstetigung des Lernens: Gelernt werden Based Training per Internet bis hin zu neuen Formen kann eigentlich immer und überall. Deswegen wer- wie dem Blended Learning – darunter verstehen die den die Inhalte meist in verdaulichen Häppchen ge- Anbieter integrierte Lernkonzepte, die die Vorteile reicht und können à la carte immer dann, wenn mal von Präsenzveranstaltungen mit dem E-Learning ver- Zeit ist, bearbeitet werden – etwa beim Warten am binden. Große Hoffnungen legt die Branche auch auf Flughafen-Gate, während einer längeren Fahrt mit neue Formen, etwa das „Game Based Training“, also dem Zug (stabile Internetverbindung vorausgesetzt) das Lernen wie in einem Computerspiel, oder Lern- oder auch mal zwischendurch im Wanderurlaub auf formate mit VR-Brillen, die in die virtuelle Realität der Berghütte. 50 % 2016 absolvierte jeder zweite Deutsche (Wohnbevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren) eine Weiterbildung. Bei den Erwerbstätigen waren es sogar 56 Prozent. Immer wichtiger wird dabei das E-Learning: Dieser Markt wächst seit zehn Jahren meist im zweistelligen Bereich, zuletzt 2017 um weitere 9,7 Prozent. Quelle: Adult Education Survey (AES) 2016, Statistisches Bundesamt 2018, mmb Branchenmonitor 2018 AMPERE 2.2019
22 IMAGINE Selbst im deutschen Feuilleton tobt mittlerweile eine intensive Debatte über die Macht der Algorithmen. Prof. Dr. Katharina Zweig von der Technischen Universität Kaisers- lautern kämpft um Aufklärung. Im Gespräch mit AMPERE skizziert sie einen Weg in eine Zukunft, in der wir gelernt haben, wo wir ma- schinelles Lernen einsetzen – und wo wir bewusst darauf verzichten. Text: Aufgezeichnet von Johannes Winterhagen Für Prof. Katharina Zweig ist ein Algorithmus eine detaillierte Hand- lungsanleitung für ein allgemeines Problem. In diesem Sinn ist jedes Kochrezept ein Algorithmus. AMPERE 2.2019
IM AGINE 23 H auptbahnhof Frankfurt, am Sonntag Mit- In der Debatte um den Einsatz künstlicher Intelli- tag. Katharina Zweig ist auf dem Weg nach genz gibt es durchaus Stimmen, die die automatisierte Berlin und nimmt sich Zeit für ein Ge- Entscheidungsfindung als großen Fortschritt empfin- spräch. Zeit, die sie eigentlich nicht hat, den. Schließlich können Maschinen, anders als denn ihre Arbeit steht auf zwei Beinen. Einerseits ist menschliche Entscheider, niemanden bevorzugen, sie Forscherin, leitet das „Algorithm Accountability weil sie ihn als sympathisch empfinden. Doch diese Lab“ an der Technischen Universität Kaiserslautern. Illusion ist Zweig zufolge zerstört: Enthalten die Dass es an dieser Universität seit einigen Jahren Datensätze auch Angaben zu Geschlecht, Nationalität einen Studiengang „Sozioinformatik“ gibt, ist wesent- oder Wohnort, kann es zu einer systematischen lich ihrer Initiative zu verdanken. Die Sozioinforma- Diskriminierung ganzer Bevölkerungsgruppen kom- tik geht der Frage nach, wie sich IT-Systeme und men. Bis heute hält sich hartnäckig die Vorstellung, Gesellschaft gegenseitig beeinflussen. Andererseits es reiche, einen Algorithmen-TÜV einzurichten. versucht Zweig in Vorträgen und populärwissen- Dieser Ansatz ist Zweig zufolge von vornherein zum schaftlichen Veröffentlichungen die Erkenntnisse Scheitern verurteilt. dieser jungen Forschungsdisziplin für jeden verständ- Zumindest in Europa reift mittlerweile die Er- lich zu machen. Dafür verleiht ihr die Deutsche kenntnis, dass es uns nicht gelingen wird, mithilfe sta- Forschungsgemeinschaft dieses Jahr den renom- tistischer Daten Entscheidungen zu treffen, die dem mierten Communicator-Preis. Individualisierungsgebot Genüge tun. Das bedeutet Zweig ist es wichtig, erst einmal zu erläu- nicht, dass künstliche Intelligenz nicht trotzdem viele tern, was ein Algorithmus überhaupt ist: eine sinnvolle Anwendungsbereiche hat. So kann die detaillierte Handlungsanleitung für ein all- Macht der Maschinen im Produktionsumfeld, wo sich gemeines Problem. In diesem Sinn ist jedes ethische Fragen in der Regel gar nicht stellen, zu Kochrezept ein Algorithmus und die höherer Wettbewerbsfähigkeit führen. Zweig plädiert menschliche Gesellschaft seit jeher durch auch dafür, sie zu nutzen, um unsere Gesellschaft bes- Algorithmen bestimmt. Dass viele Men- ser zu verstehen – beispielsweise um zu analysieren, schen Angst vor dem Begriff haben, liegt unter welchen Verhältnissen gute Bildungsabschlüsse Zweig zufolge an einer bestimmten entstehen. Und entsprechend gegenzusteuern, Klasse von Algorithmen, die maschi- um jene sozialen Verhältnisse politisch zu verändern, nelles Lernen ermöglichen. Dafür gibt die Einfluss auf den Bildungsabschluss haben. man der Maschine keine Regeln mehr „Die Gesellschaft sollte Regeln dafür entwickeln, in vor, sondern füttert sie lediglich mit welchen Bereichen maschinelles Lernen für die Ent- Daten, also einer Menge bisheriger scheidungsfindung eingesetzt werden darf und wie Lösungen. Auf dieser Basis entsteht hoch das Maß an Transparenz sein muss“, sagt Zweig. dann ein algorithmisches Entschei- Dafür sind zwei grundlegende Kriterien zu ent- dungssystem. Auch wenn das die wickeln. Das erste Kriterium besteht im Schadenspo- Art und Weise auf den Kopf stellt, wie tenzial, sowohl für das Leben des einzelnen Menschen üblicherweise programmiert wird, sind als auch für bestimmte gesellschaftliche Bereiche. Da- auch solche Systeme per se nichts runter fällt auch die gezielte Verbreitung von Des- Schlechtes. So ermöglichte erst maschi- informationen über soziale Medien im Wahlkampf. nelles Lernen einigermaßen korrekte Das zweite Kriterium besteht im Grad der Monopoli- Computer-Übersetzungen. sierung. Die ist bei Kaufentscheidungen meist gering. Allerdings haben solche Entscheidungs- Man muss seine Bücher ja nicht bei einem großen systeme einen Haken: Die Regeln, nach Internetportal kaufen, sondern kann auch in die Foto: Felix Schmitt, felixschmitt.com, shutterstock.com / BAIVECTOR denen künftige Entscheidungen getroffen Buchhandlung um die Ecke gehen. Staatliche Ent- werden, sind in einer Struktur festgehalten, scheidungen sind hingegen de facto immer mono- einem künstlichen neuronalen Netz beispiels- polisiert. Deshalb sollte in diesem Bereich hierzulande weise, das für den Menschen nicht oder nur der Einsatz automatisierter Entscheidungssysteme schlecht nachvollziehbar ist. In welchem Verhältnis weitgehend ausgeschlossen werden. eine mit einem solchen System gefundene Lösung zur Die gesellschaftliche, teilweise sogar über das optimalen Lösung steht, entzieht sich dem mensch- Feuilleton geführte Diskussion über Algorithmen lichen Urteilsvermögen. Genau das kann zum Pro- hat Zweig zufolge einen positiven Nebeneffekt: Die blem werden, wenn auf maschinellem Lernen deutsche Industrie könnte ihre ohnehin ausgeprägte basierende Systeme Entscheidungen treffen, die einen Stärke bei den eingebetteten Systemen ausbauen. gravierenden Einfluss auf das Schicksal eines Men- Denn für Expertinnen wie sie gilt als ausgemacht, schen haben. Entscheidungen wie: Wird der Immo- dass es sicherer ist, seine Daten bei sich zu behalten bilienkredit einer Familie bewilligt? Kann ein und auf vertrauenswürdigen Chips zu rechnen, Strafgefangener früher aus der Haft entlassen werden? als dies in der Cloud zu tun. AMPERE 2.2019
24 REPORT Chinesen organisieren ihren kompletten Alltag mit dem Smart- phone. Die Apps, die sie dafür nutzen, stammen ausschließlich von chinesischen Anbietern. Dass der rasche Wandel zu einer Digitalökonomie auch Schattenseiten hat, kümmert die meisten Nutzer wenig. Text: Christiane Kühl Autorin Christiane Online-Shops einkaufen. Jede Garküche, jeder Markt- Kühl an einem stand ist mit zwei QR-Codes ausgestattet: Grün steht Marktstand in Peking: für WeChat, blau für Alipay, den zweiten großen Mo- Bezahlt wird per bil-Bezahldienst Chinas. Der QR-Code wird gescannt, Smartphone, das und schon ist alles bezahlt. Erste Restaurants nehmen dafür einen QR-Code (Bildmitte unten) schon kein Bargeld mehr an. scannt. Meine Freunde fragen niemanden mehr nach der Telefonnummer, sondern nur nach dem WeChat- Kontakt. Per Smartphone scannt man den persön- lichen WeChat-QR-Code des anderen ein – und schon ist man miteinander verbunden. Ich habe Dutzende von Kontakten, die ich ausschließlich in der WeChat- App anrufen kann, mit oder ohne Video. Manchmal nehme ich mir vor, sie nach einer Handynummer oder E-Mail-Adresse zu fragen, aber letztlich: Warum? Selbst im Geschäftsleben dominiert WeChat die Kom- E twas mehr als ein Jahr ist es her, dass ich erst- munikation. E-Mails wirken auf viele Chinesen fast so mals ganz ohne Portemonnaie und Bargeld steinzeitlich wie Faxgeräte. unterwegs war. Eher aus Versehen; den Geld- China treibt die Digitalisierung des Alltags mit beutel samt Bankkarten hatte ich zuhause hohem Tempo voran. Und die Menschen machen dies vergessen. Nach kurzem Schreck war klar: Alles kein begeistert mit. Digitalisierung bedeutet für die meis- Problem. Erst zahlte ich das Taxi mit dem Smart- ten mehr Bequemlichkeit, bessere Kommunikation, phone. Später setzte ich mich zum Arbeiten in ein mehr Spaß. Auf WeChat sind Tausende „Sticker“ ge- Café – wieder alles mit dem Smartphone bezahlt. nannte Gifs im Umlauf, die anstelle einfacher Emojis Desgleichen im Japan-Laden nebenan, der getrockne- verschickt werden, um Emotionen auszudrücken. te Früchte, Sonnenbrillen und günstige Kopfhörer Manche meiner Chatgruppen sind gespickt mit verkauft. Und genauso beim Abendessen mit einer lachenden Captain Picards, tanzenden Partygruppen, Freundin. Möglich macht dies die chinesische Alles- futternden Garfields oder glotzenden Lamas. WeChat könner-App WeChat. Gestartet 2011 als Chat-Platt- wird den Daten des Marktforschungsdienstes eMarke- form plus Timeline für Freunde im Facebook-Stil, hat ter zufolge von 83 Prozent aller Smartphone-Besitzer WeChat heute Hunderte von Funktionen, mit der in China genutzt; in den großen Metropolen sind Chinesen ihren halben Alltag organisieren: Gas und es gar 92 Prozent. Die App hat rund eine Milliarde Wasser bezahlen, Flugtickets reservieren, in kleinen aktive User, fast alle in China. Generell ist Chinas AMPERE 2.2019
REP ORT 25 Digitalsphäre mit ganz anderen Akteuren besetzt als sen einzelner Nutzer und stellt ihnen nur der Rest der Welt. Facebook, Google oder WhatsApp Videos in den Feed, die sie interessieren. Douyin ge- sind seit Jahren blockiert und nur durch sogenannte hört der Firma Bytedance, die auch die App Toutiao VPN-Tunnel erreichbar, deren Server im Ausland ste- betreibt – zu Deutsch „Schlagzeile“ –, die Usern mit- hen. Und so nutzen die Chinesen WeChat, die Such- hilfe künstlicher Intelligenz Nachrichten zu Themen maschine Baidu, den Microblog Weibo und zahllose zuspielt, an denen sie durch ihre ersten Klicks in der weitere lokale Smartphone-Apps. App Interesse gezeigt haben, von Politik zum Koch- Eine der größten ist Meituan. Mit der App können rezept. Auch diese App lernt sehr schnell. sich Städter Mahlzeiten liefern lassen, Tische in Res- Digitalisierung spielt auch für die Mobilität eine taurants reservieren, Kinokarten kaufen, die nächste immense Rolle. Viele Chinesen fahren mit den hierzu- Autowaschanlage finden, Räume zum Singen in Kara- lande sehr günstigen Taxis. Früher konnten wir in oke-Bars buchen oder Hochzeitsfotos arrangieren. Peking oder Shanghai an jeder Straßenecke Taxis an- Eigentlich alles, was zur Freizeit gehört. „Wir wollen, halten – länger als ein paar Minuten wartete man nie. dass die Menschen nach der Arbeit so viel Zeit wie Das ist heute schwierig, denn die meisten Taxis wer- möglich auf unserer Plattform verbringen“, erklärt den über Apps bestellt, deren größte, Didi Chuxing, Millionen aktive Teng Cheng, PR-Direktor von Meituan in Peking. eine ganze Reihe an Mobilitätsdiensten anbietet. Und Nutzer hat der Meituan hat 380 Millionen aktive Nutzer, die pro Tag so stehe ich wieder einmal mit dem Smartphone an Liefer- und Service- dienst Meituan, der 19 Millionen Transaktionen über die Plattform abwi- der Straße und schaue, wie sich auf dem Bildschirm täglich 19 Millionen ckeln. Um Spaß geht es auch bei Douyin, einer 2016 das von mir bestellte Auto langsam auf mich zubewegt. Transaktionen gestarteten App für Kurzvideos, die im Ausland Tiktok Je nach Bedarf ordere ich ein normales Taxi, einen abwickelt. heißt und nach eigenen Angaben weltweit bereits seit Express oder sogar ein Premium-Mobil, bei dem der Mitte 2018 gut 500 Millionen Nutzer hat. Der Algo- Fahrer Anzug trägt, der Rückraum mehr Beinfreiheit rithmus der App erkennt extrem schnell die Interes- hat und es eine Flasche Wasser für die Fahrt gibt – Eine kleine Spende? Um diesen Gitarren- spieler in einer Pekinger U-Bahn- Passage zu beschen- ken, kann man auch den QR-Code und sein Smartphone nutzen. Fotos: privat, AFP / JUN YASUKAWA / YOMIURI / THE YOMIURI SHIMBUN AMPERE 2.2019
Sie können auch lesen