Dossier erwachsenenbildung.at - Kritische Medienkompetenz und Community Medien
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Dossier erwachsenenbildung.at Kritische Medienkompetenz und Community Medien Helmut Peissl, Andrea Sedlaczek, Barbara Eppensteiner und Carla Stenitzer Oktober 2018
Dossier erwachsenenbildung.at Kritische Medienkompetenz und Community Medien AutorInnen: Helmut Peissl, Andrea Sedlaczek, Barbara Eppensteiner und Carla Stenitzer Oktober 2018 Online verfügbar unter: https://erwachsenenbildung.at/themen/kritische-medienkompetenz Zitierhinweis: Text: CC BY Helmut Peissl, Andrea Sedlaczek, Barbara Eppensteiner und Carla Stenitzer (2018)
Inhaltsverzeichnis 01 Einleitung 01 Kritische Medienkompetenz 03 02 Helmut Peissl Medien und Sprachen - Medien in der mehrsprachigen Gesellschaft 22 03 Andrea Sedlaczek Der nichtkommerzielle Rundfunk als Lernraum 30 04 Helmut Peissl Zugang und Praxis: Der offene Zugang zur Mediengestaltung im Nichtkommerziellen 40 Rundfunk - am Beispiel der Radiofabrik in Salzburg und des Community-Fernsehens 05 Okto in Wien Carla Stenitzer, Barbara Eppensteiner Community Education - Beispiele gelungener Bildungskooperationen 48 06 Helmut Peissl 07 Adressen von Freien Radios, Community TVs und Medienwerkstätten in Österreich 52 08 Literatur und weiterführende Links 54 https://erwachsenenbildung.at/themen/kritische-medienkompetenz
Einleitung Kritische Medienkompetenz und Community Medien Medienkompetenz in der Erwachsenenbildung ist ein Thema, das in den vergangenen Jahren weitgehend vernachlässigt wurde. Angesichts der Rolle, die Medien für Lernende heute als Quelle von Informationen, als Mittel für soziale Interaktion und als wichtige Grundlage zur politischen Meinungsbildung einnehmen, ist dies nicht leicht verständlich. Mit der Diskussion um Effekte wie Filterblasen, die enorme Verbreitung von Falsch- meldungen und von Hasssprache hat Medienkompetenz - oft unter den Begriffen der digitalen Kompetenz oder der Medien- und Informations- kompetenz - vermehrt Beachtung in der bildungspolitischen Auseinander- setzung gewonnen. Nach wie vor liegt der Fokus in der Auseinandersetzung mit Medienkompetenz oder Medienbildung vornehmlich auf Bildungsan- geboten für Kinder und Jugendliche. Dies bestätigte 2016 die EU-weite Analyse von Praktiken und Maßnahmen zur Förderung der Medienkom- petenz der audiovisuellen Beobachtungsstelle des Europarates. Die Auto- rInnen kamen zum Schluss, dass nur in sehr wenigen Ländern Medienkompetenzangebote zu finden sind, die sich an Erwachsene richten. Diese Lücke in der Auseinandersetzung zu schlie- auf Medien - hier die RezipientInnen, dort die Pro- ßen, bedarf längerfristiger Anstrengungen vieler duzentInnen - spätestens seit den Studien in den AkteurInnen in der Erwachsenenbildung. Dieses 1970er-Jahren zur aktiven Rolle der RezipientInnen Themendossier soll helfen, die Diskussion zu inten- bei der Interpretation von Inhalten unangebracht sivieren und die Breite der Thematik bewusst zu ma- sind. Mit der raschen Verbreitung von Smartphones chen. Wir sprechen in diesem Dossier bewusst von und der Möglichkeit, nahezu immer und überall kritischer Medienkompetenz, um den politischen Inhalte empfangen und senden zu können, wurde Aspekt herauszustreichen, der einer konsequenten Medienhandeln nicht nur interaktiv, sondern Auseinandersetzung mit Medien und ihren Rollen für auch enorm beschleunigt. Allerdings kann mit dem unser gesellschaftliches Zusammenleben innewohnt. Entstehen der populären, kommerziellen Social Medienverhältnisse sind immer auch Machtverhält- Media-Plattformen noch lange nicht von einer De- nisse und die Möglichkeiten zum Gestalten von Me- mokratisierung der Medienverhältnisse gesprochen dieninhalten ändern sich in Abhängigkeit davon, bei werden - eher schon von einer Kommerzialisierung welchem Medium jemand aktiv ist oder aktiv sein der Partizipation. Die problematischen Begleiter- kann - ist das der öffentlich-rechtliche ORF, eine scheinungen bleiben meist ausgeblendet oder finden Boulevardzeitung oder ein Freies Radio? Wir reden nur in Fällen von grobem Datenmissbrauch, etwa im Zuge dieses Dossiers weniger von Rezeption als im Fall von Cambridge Analytics, Eingang in die von Medienhandeln, da eine passive Rolle in Bezug öffentliche Diskussion. 01
Ausgangspunkt dieses Themendossiers bildet die mit Organisationen der Erwachsenenbildung kann Auseinandersetzung mit der Mediatisierung der All- gezeigt werden, wie die Sender zur eigenständigen tagswelt und den Aspekten, mit denen sich kritische Regionalentwicklung und zu Community Develop- Medienkompetenz heute auseinandersetzen muss. ment beitragen und welche neuen Perspektiven sich In der Folge setzen wir uns mit einigen zentralen aus solchen Kooperationen auch für traditionelle Problemen, Auswirkungen und Herausforderungen Bildungsanbieter ergeben. Auch wenn sich viele auseinander, die sich aufgrund des Medienwandels Beispiele in diesem Dossier auf die Situation in Ös- ergeben. Wir wollen ermuntern, sich in Lehr-/Lern- terreich bzw. im deutschsprachigen Raum beziehen, situationen vermehrt mit Fragen wie Filterblasen, haben wir uns bemüht, an vielen Stellen auch die Hasssprache, „Fake News“ und der Bedeutung von europäische und internationale Auseinandersetzung Privatsphäre auseinanderzusetzen. einzubeziehen. In einem eigenen Kapitel setzen wir uns mit Mit diesem Themendossier soll ein erster Einblick Sprachen in den Medien und einem Gegensatz darin gegeben werden, mit welchen Themen- auseinander: Medien sind vorwiegend einsprachig schwerpunkten sich Bildungsangebote der Er- gestaltet, obwohl die Gesellschaft zunehmend von wachsenenbildung aus der Perspektive kritischer Mehrsprachigkeit gekennzeichnet ist. Medienkompetenz heute vordringlich befassen soll- ten. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich Die nichtkommerziellen Freien Radios und Commu- der Medienwandel heute vollzieht, sind es immer nity TV-Sender bilden niederschwellige Lernräume, wieder andere Anwendungen und Plattformen, die in denen sich Menschen weit mehr als Medien- für bestimmte soziale Gruppen Bedeutung haben. kompetenz aneignen können. Wie der Zugang zur Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Programmgestaltung und zu Workshopangeboten zentrale Fragen bei der kritischen Auseinanderset- funktioniert, legen wir anhand der Praxis der zung mit Medien auch im digitalen Zeitalter ähnlich Radiofabrik in Salzburg und des Community TV- jenen sind, die sich auch schon vor der Entstehung Senders Okto in Wien dar. Am Beispiel einiger Ko- des Internets gestellt haben. operationsprojekte von nichtkommerziellen Radios 02
Kritische Medienkompetenz Helmut Peissl Die Fähigkeit zum kritischen Medienhandeln gewinnt grundsätzlich an Bedeutung für Lernen, Demokratieverständnis und Gemeinschaftsentwick- lung. Die Erwachsenenbildung ist gefordert, sich mit den Auswirkungen und Herausforderungen des Medienwandels infolge der Digitalisierung auseinanderzusetzen. Dieser Abschnitt bietet einen Überblick über zentrale Herausforderungen, die sich aufgrund des Medienwandels ergeben. Kon- zepte der Medienkompetenz werden ebenso vorgestellt wie aktuelle Phänomene, die im digitalen Zeitalter vermehrt auftreten. Die Audiovisuelle Beobachtungsstelle des Europarates wird, ist Vorsicht angebracht. Technik ist nie neutral, hat 2016 mit einer EU-weit durchgeführten Studie zu sondern immer auch mit Ideologien oder wirtschaft- Media Literacy-Projekten in Europa aufgezeigt, dass lichen Interessen verbunden. Bürger sind zunehmend sich Bildungsangebote zum Thema Medienkompetenz von Geräten und Anwendungen umgeben, die laufend in fast allen Ländern fast nur an Kinder und Jugendli- Daten sammeln - meist mit dem Versprechen, Prozesse che wenden und sich nur in wenigen Fällen auch an oder Angebote für die einzelnen NutzerInnen zu opti- Erwachsene richten. Das muss irritieren, da heute alle mieren. Hinter Begriffen wie Big Data und Internet of Generationen von Medienwandel und Mediatisierung Things verbergen sich sehr rentable Geschäftsmodelle. bzw. den Auswirkungen dieser Entwicklungen auf Daten sind der Rohstoff von morgen, meint etwa die demokratischen Gesellschaften betroffen sind Jan Albrecht, der als Abgeordneter im EU-Parlaments und gerade von Erwachsenen erwartet wird, dass sie Berichterstatter für Datenschutz war und damit für selbst verantwortungsvoll handeln und Kinder und Ju- wesentliche Grundlagen verantwortlich war, die 2016 gendliche dabei unterstützen, Medien kompetent zu zur Datenschutzgrundverordnung führten. Damit nutzen. Angesichts der aktuellen Auswirkungen von sich BürgerInnen nicht nur der Möglichkeiten, son- Phänomenen wie Filterblasen, „Fake News“, Hassspra- dern auch der Gefahren und Widersprüchlichkeiten che oder der technisch generierten Meinungsmache dieser Entwicklungen bewusst sind und überhaupt durch sogenannte BOTS und wie sich diese auf das erst kompetent und fundiert entscheiden können, Funktionieren unserer Gesellschaft auswirken, ist es welche Angebote und Möglichkeiten sie wahrneh- dringend an der Zeit, kritische Medienkompetenz men wollen und welche sie ablehnen, bedarf es einer in der Erwachsenenbildung als Schlüsselkompetenz breiten Auseinandersetzung mit Fragen der Daten- zu begreifen und die Basis für eine grundlegende souveränität und der Bedeutung der Privatsphäre. Auseinandersetzung mit den Auswirkungen und He- In diesem Themenfeld geht es um grundlegende rausforderungen der Mediatisierung in der Erwach- demokratiepolitisch weitreichende Entwicklungen, senenbildung zu legen. Wenn technisch Mögliches mit denen sich die Erwachsenenbildung kritisch aus- als unvermeidlich oder wünschenswert kommuniziert einandersetzen muss. 03
Kritische Medienkompetenz - Mediatisierung Herausforderungen vor dem Hintergrund der Mediatisierung Unter dem Begriff Mediatisierung werden jene Veränderungen von Kultur und Gesellschaft dis- Vor dem Hintergrund der Mediatisierung bildet kutiert, die durch den Medienwandel entstehen die Fähigkeit zu kritischem Medienhandeln heute oder verstärkt werden. Mediatisierung ist damit nicht nur eine wichtige Voraussetzung für die ein historischer Metaprozess, vergleichbar mit Handlungsermächtigung und die gesellschaftliche Globalisierung, Individualisierung oder Kommer- Teilhabe, sondern gewinnt zunehmend auch an zialisierung. Als frühere Formen der Mediatisie- grundsätzlicher Bedeutung für Lernen, Demokra- rung können die Einführung des Buchdrucks, die tieverständnis und Gemeinschaftsentwicklung. Me- Erfindung der Dampfmaschine oder die Elektrifi- dienhandeln meint hier den absichtsvollen Umgang zierung verstanden werden. Mit der Einführung von Menschen mit Medien und ihren Inhalten im des Internets basiert diese Entwicklung auf der Sinne von Rezipieren, Analysieren und Gestalten Digitalisierung, Miniaturisierung und Vernetzung. der Inhalte auf persönlich-individueller Ebene, so- Die enorme Verbreitung mobiler und konvergen- zialer Ebene und kulturell-gesellschaftlicher Ebene ter Endgeräte (z.B. Smartphones, Tablets u.ä.), (Wagner 2011). Der britische Medienwissenschaftler die Funktionen vormals unterschiedlicher Geräte Roger Silverstone (2008, S. 274) betont dabei den vereinen und zudem ortsunabhängig und mobil politischen Aspekt von Medienkompetenz, wenn nutzbar machen, hat diese Entwicklung noch er meint: wesentlich beschleunigt. Grundlage der aktuellen Diskussion zur Mediatisierung ist so die Entgren- „... In diesem Zusammenhang wird die Herausbildung zung der Medien in mehrfacher Hinsicht: in Bezug von Medienkompetenz zu einem politischen Projekt: auf Zeit, Raum, soziale Beziehungen, permanente Die mediale ‚Alphabetisierung‘ der Bürger ist eine Vo- und ortsunabhängige Verfügbarkeit, die Zunahme raussetzung ihrer Partizipation an der Mediapolis, also der spätmodernen Gesellschaft überhaupt. Die Medien medienbezogener Kommunikationsformen, Kon- bilden den Rahmen unserer Alltagskultur, wer an die- nektivität sowie in Bezug auf eine Veränderung ser partizipieren, das heißt auch über sie mitentschei- der Wahrnehmung. Medienvermittelte und me- den will, muss zur kritischen Analyse und Beurteilung dienbezogene Kommunikation erzeugt mediati- der sozialen Dynamik und Bedeutung der Medien fähig sierte Lebens- und Gesellschaftszusammenhänge. sein. Er muss also vor allem über das wissen was die Diese Medienkultur (Hepp 2011) ist damit auch Medien verschweigen, was in ihnen nicht transparent gemacht wird, was ihnen stillschweigend zugrunde Grundlage für die Herausbildung neuer Gewohn- liegt und welche Folgen diese Bedingungen in mo- heiten, Normen, Werte und Erwartungen in der ralischer Hinsicht haben. Er muss also mediale Ver- Gesellschaft. Karmasin (2016, S. 13) hält dazu fest, mittlungsprozesse als soziale und politische Prozesse dass die Zunahme der medienvermittelten Formen durchschauen können. Staatsbürgerliche Bildung setzt der Wahrnehmung von Wirklichkeit weitreichende im Medienzeitalter Medienkompetenz voraus.“ Folgen hat. Wirklichkeit wird zwar nicht völlig beliebig konstruierbar, aber je nach politischen, Aus der Perspektive emanzipatorischer Erwachsenen- sozialen und ethischen Standards der NutzerInnen bildungsarbeit gewinnt somit das Erkennen, Analysie- dehnbar oder elastisch. ren und Reflektieren von individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Mediatisierung Im deutschsprachigen Raum haben sich besonders auf unsere Lebenswelten grundlegende Relevanz. Ler- Friedrich Krotz (2015) und Andreas Hepp (2011) mit nende sollten befähigt werden, als aktive BürgerInnen dem Konzept der Mediatisierung auseinandergesetzt, ihre Interessen, Möglichkeiten sowie ihre Verantwor- wobei es ihnen besonders darum geht, wie vor dem Hin- tung zu erkennen, die sich aus der Mediatisierung er- tergrund des Medienwandels zivilgesellschaftliche Pro- geben, und gut informierte Entscheidungen in ihrem zesse im Sinne von Active Citizenship und Partizipation Medienhandeln treffen zu können. Diese Perspektive gestärkt werden können. Medienwandel sollte nicht zu macht die kritische Reflexion zur Voraussetzung, um einer Funktionalisierung menschlicher Kommunikation verantwortungsvoll auch funktionales Anwendungs- zu Datenmengen führen - sei es im Sinne kommerzieller wissen an Lernende vermitteln zu können. Interessen oder staatlicher Überwachbarkeit. 04
Kritische Medienkompetenz in der Erwachse- teilhaben zu können (Kellner 2005, S. 283). Mit nenbildung der Möglichkeit, Medieninhalte selbst zu gestalten und diese über das populäre Medium Radio oder Paolo Freire betonte bereits die Bedeutung von TV zu verbreiten, wächst das Potenzial für die dialogischem Lernen als emanzipatorische Me- Entstehung von kritischen (Gegen-)Diskursen und thode, die die Hierarchie zwischen LehrerInnen die Befähigung der BürgerInnen zu weiterreichen- und SchülerInnen auflösen soll. Einem ausgegliche- der demokratischer Beteiligung. Kellner verweist nen Verhältnis zwischen Reflexion und Aktion und dabei explizit auf die Rolle kritischer Medienpäd- der lebensweltlichen Anbindung kam dabei eine agogik, die BürgerInnen dazu ermächtigen kann, besondere Rolle zu: „In der problemformulierenden Botschaften, Ideologien und Werte in medialen Bildung entwickeln die Menschen die Kraft, kritisch Texten zu entschlüsseln, so der Manipulation zu die Weise zu begreifen, in der sie in der Welt exis- entgehen und eigene Formen des Widerstandes tieren, mit der und in der sie sich selbst vorfinden. zu entwickeln. Nach Kellner sollte eine kritische Sie lernen die Welt nicht als statische Wirklichkeit, Medienpädagogik „politisch engagierten Medien- sondern als eine Wirklichkeit im Prozess (zu; Anm.) aktivismus initiieren und fördern, um alternative sehen, in der Umwandlung.“ (Freire 1991, S. 67) Formen von Kultur und Gegenöffentlichkeiten hervorzubringen, die von entscheidender Bedeu- Giroux und McLaren (1995) aktualisierten Freires tung für eine lebendige Demokratie sind“ (Kellner Konzept und unterstrichen die wachsende Bedeu- 1995, zitiert nach Winter 2006, S. 36). In Bezug tung und Notwendigkeit kritischer Pädagogik in auf interkulturelle Medienbildung hebt Moser einer Zeit des ungebremsten Neoliberalismus, der (2006, S. 62 f.) die Bedeutung von Medieninhalten alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche der Logik in den Sprachen der Migrationsgruppen hervor, des Marktes und der Verwertbarkeit unterordnet. welche die lokale Kultur vermitteln, mitprägen Sie plädieren dafür, Lernformen zu finden und und weiterentwickeln. zu fördern, die besonders geeignet sind, margi- nalisierte Gruppen zu unterstützen. Gerade in Medienkompetenz in der Bildungswissenschaft der mehrsprachigen, von Migration geprägten Gesellschaft sollten Menschen verstehen lernen, Im deutschsprachigen Raum war es vor allem der wie sich konflikthafte soziale Beziehungen in ihren Erziehungswissenschaftler Dieter Baake (1997), der Habitus eingeschrieben haben. Es geht ihnen dabei die Bedeutung der handlungsorientierten Medien- um das Finden und Stärken eines Selbstbewusst- pädagogik bei der Vermittlung von Medienkom- seins, das ein Erkennen der eigenen Subjektivität petenz thematisiert hat. Er streicht dabei sowohl in der kapitalistischen Gesellschaft erst ermöglicht die Bedeutung der aktiven Mediengestaltung und so zur Voraussetzung für die Erweiterung der als auch die Rolle der sozialen Rahmung bei der Handlungsfähigkeit (agency) wird (Winter 2004, S. Aneignung von Medienkompetenz heraus. Baake 9). Der Erziehungswissenschaftler Heinz Moser be- betrachtet Medienkompetenz als einen Bestandteil zieht sich in einem ähnlichen Sinn auf Freire, wenn einer grundsätzlichen kommunikativen Kompe- er partizipative Videoarbeit als Medienpädagogik tenz, die sich in vier Dimensionen gliedern lässt: zur Alphabetisierung sieht, die es den beteiligten Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Personen ermöglicht, Bilderwelten kritisch zu de- Mediengestaltung. konstruieren (Moser 2000, S. 225). Einen anderen Zugang zum Verständnis von Community Medien Medienkritik: als Lernorte in mehrsprachigen Gesellschaften öff- net Douglas Kellner mit seinem Konzept einer kri- „Kritisieren“ bedeutet ursprünglich „unterschei- tischen Medienpädagogik. Kellner verweist dabei den“ und zielt darauf, vorhandenes Wissen und mit dem Begriff „multiple literacies“ auf die vielen Erfahrungen immer wieder reflektierend zu hin- verschiedenen Kompetenzen, die in den heutigen terfragen. Baake meint mit Medienkritik, dass das Kulturen und Gesellschaften gebraucht werden, vorhandene Wissen über Medien stets hinterfragt, um Zugang zu gesellschaftlicher Öffentlichkeit reflektiert und erweitert werden sollte. Um die zu haben und um interpretieren, kritisieren und Medienlandschaft zu analysieren, brauche es 05
dazu etwa das Hintergrundwissen, dass private rezeptiv-wahrnehmend die Welt zu erfahren, son- Programme weitgehend werbefinanziert sind und dern auch interaktiv tätig zu sein. dies auch Auswirkungen auf die Programminhalte haben kann. Nur mit dem nötigen Wissen können Mediengestaltung: problematische Medienentwicklungen, wie die Medienkonzentration oder das Vernachlässigen Hiermit ist gemeint, dass Medien sich ständig ver- bestimmter Themen, kritisch und differenziert ändern, dies aber nicht nur in technischer Hinsicht betrachtet werden. Jeder Mensch sollte dabei sein (die neuen Welten von Cyberspace), sondern auch Wissen auch auf sich selbst beziehen können und inhaltlich, indem die Software die Möglichkeit sein eigenes Medienhandeln kritisch reflektieren. bietet, neue Inhalte gestaltend einzubringen etc. Die Analyse der Medienentwicklungen und der re- Auch hier gibt es zwei Unterdimensionen: 1. die flexive Rückbezug auf das eigene Handeln können innovative (Veränderungen, Weiterentwicklung schließlich auch daraufhin abgestimmt werden, des Mediensystems innerhalb der angelegten Logik) ob sie sozial verantwortlich sind. So erhält die und 2. die kreative (Betonung ästhetischer Vari- Medienkritik auch eine ethische Dimension. anten, das „Über-die-Grenzen-der-Kommunikati- onsroutine-hinaus-Gehen“, neue Gestaltungs- und Medienkunde: Thematisierungsdimensionen). Hier kommt auch der Gedanke der Partizipationskompetenz zum Damit ist das Wissen über heutige Medien und Tragen: Wollen wir die so vielfach ausdifferen- Mediensysteme gemeint, das vor allem zwei As- zierte Medienkompetenz (Medienkritik, Medien- pekte umfasst: kunde, Mediennutzung, Mediengestaltung) nicht Der informative Aspekt umfasst klassisches Wissen, subjektiv-individualistisch verkürzen, müssten wie: Was ist ein duales - bzw. triales - Rundfunksys- wir ein Gestaltungsziel auf überindividueller, eher tem? Wie arbeiten Journalisten? Welche Programm- gesellschaftlicher Ebene anvisieren, nämlich den genres gibt es? Nach welchen Grundsätzen wähle Diskurs der Informationsgesellschaft. Ein solcher ich meine Programmvorlieben aus? Wie kann ich Diskurs würde alle wirtschaftlichen, technischen, einen Computer für meine Zwecke effektiv nutzen? sozialen, kulturellen, ethischen und ästhetischen Die instrumentell-qualifi katorischen Aspekte Probleme umfassen, um so die „Medienkompetenz“ umfassen die Fähigkeit, die neuen Geräte auch weiterzuentwickeln und integrativ auf das gesell- bedienen zu können, dazu gehört etwa das Sich- schaftliche Leben zu beziehen. Einarbeiten in die Handhabung einer Computer- Software, das Sich-Einloggen-Können in ein Netz, Allgemein hält Baake fest, dass sich aufgrund des die Bedienung des Videorekorders und vieles mehr. raschen technologischen Wandels Medienkompe- tenz nicht mit festgelegten Curricula und strikten Mediennutzung: didaktisch-methodischen Vorgaben umsetzen lässt, sondern am besten über Projektarbeit vermittelt Auch dieses kann in doppelter Weise ausdifferen- werden kann (Baake 1997, S. 45 f.). Er stellt sein ziert werden: Es gibt eine rezeptiv-anwendende medienpädagogisches Konzept unter den Leitge- Unterdimension (Programm-Nutzungskompetenz). danken der Handlungsorientierung und betont die Auch Fernsehen ist eine Tätigkeit, weil das Ge- Bedeutung einer lebensweltlichen Ausrichtung. sehene verarbeitet werden muss und oft in das Projektarbeit soll dabei den pädagogischen Frei- Bildungs- und Bilderrepertoire eingeht. Nicht nur raum öffnen, der es ermöglicht, auf die Realitäten das Lesen von Texten, auch das Sehen von Filmen und Herausforderungen der Lernenden einzugehen fordert heute Rezeptionskompetenz. Hinzu kommt (Baake 1997, S. 67). als zweite Unterdimension der Bereich des auffor- dernden Anbietens, des interaktiven Handelns: Medienkompetenz weitergedacht Vom Telebanking bis zum Teleshopping oder zum Telediskurs; vom Fotografieren bis zum Erstellen Baake entwickelte sein Konzept von Medienkompe- eines Videofilms in der Gruppe gibt es heute eine tenz in den 1980er- und 1990er-Jahren. Aus heuti- Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten, nicht nur ger Perspektive muss aufgrund der Auswirkung der 06
Digitalisierung und Kommerzialisierung sowie der Bei der dominant-hegemonialen Lesart werden veränderten Nutzungsformen und der zentralen Medieninhalte von den NutzerInnen so interpre- Rolle, die Intermediäre wie Facebook und Google tiert, wie es von den ProduzentInnen der Inhalte einnehmen, sein Modell ergänzt werden. Fragen der gewünscht ist. Bei der oppositionellen Lesart Privatsphäre, Datensouveränität, Glaubwürdigkeit werden Inhalte grundsätzlich widerspenstig oder und Autorenschaft werden immer wichtiger, wie eigensinnig interpretiert, z.B. weil sich die Nut- dies z.B. Paus-Hasebrink (2018) unterstreicht. Sie zerInnen der grundsätzlich anderen Position der betont dabei auch, dass sich die Auseinanderset- ProduzentInnen bewusst sind. Als Zwischenform zung nicht auf Kinder und Jugendliche beschränken nennt Hall die ausgehandelte Lesart, bei der die darf, sondern alle Generationen ansprechen muss. Interpretation der NutzerInnen zwischen der Die Verbindung von selbstständiger, reflektierter dominant-hegemonialen und der oppositionellen Mediengestaltung und kritischer Analyse von Me- Lesart liegt. Krotz (2009, S. 215) übernimmt Halls dien sehen auch die HerausgeberInnen des Interna- Überlegungen und deren Auswirkungen für sein tionalen Handbuchs zu Media Literacy Education Verständnis von Kommunikation, wenn er meint: (De Abreu et al. 2017) als größte Herausforderung. Dieser Zugang soll von den lebensweltlichen Erfah- „Will man kommunizieren, ganz gleich, ob als Indi- rungen der Lernenden ausgehen und sie anleiten viduum, Rundfunkveranstalterin bzw. veranstalter oder Filmproduzierender, ganz gleich, ob man sich ihr eigenes Medienhandeln kritisch zu reflektieren. mit Worten oder Gesten ausdrückt oder beispielswei- se als Rundfunkveranstalter auf technische Systeme Vermittlung von Medienkompetenz als generatio- zurückgreift, so muss man, was man ausdrücken will, nenübergreifende Herausforderung zu betrachten codieren, also in einen Zeichencode und nach dessen wird mittlerweile auch auf Europäischer Ebene Regeln verpacken. Und wer Kommunikation verstehen erkannt und etwa in der Empfehlung des Euro- will, muss die Zeichen, die sie oder er als sinnvoll und gemeint versteht, decodieren, also in die selbst ge- parates zu „media pluralism and media owner- wählten und akzeptierten Kontexte setzen, und kann ship transparency“ (Europarat 2018a) deutlich sie sich nur so aneignen, wie die folgende Abbildung unterstrichen. des Encoding/Decoding-Modells zeigt“ Das Encoding/Decoding-Modell als Zugang zu kritischem Medienverständnis In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der lebensweltlichen Aneignung von Medienin- halten und der aktiven Rolle der NutzerInnen bei der Rezeption kommt Stuart Hall eine besondere Bedeutung zu. Mit seinem Kommunikationsmodell Encoding/Decoding (siehe Abbildung 1) öffnete er Abbildung 1: Encoding/Decoding-Modell nach Hall (Quelle: Krotz 2009, S. 216) einen neuen Zugang zum Verständnis von Medien- kommunikation (vgl. Krotz 2009). Hall stellte bereits in den 1970er-Jahren die Auch wenn Hall sein Modell in einer Zeit vor vorherrschenden Modelle der Massenkommu- dem Internet entwickelt hat, ermöglicht es auf nikation infrage und betonte die aktive Rolle einfache Weise, die Bedeutung eigenständiger der NutzerInnen und ihr Potenzial, idente Me- Medienproduktion als wichtige Voraussetzung dieninhalte durchaus unterschiedlich zu lesen. für die Vermittlung von Medienkompetenz zu Sowohl beim Codieren, also dem Erstellen von erklären. Zum kritischen Lesen oder Interpretie- Medieninhalten, als auch beim Decodieren dieser ren von Medieninhalten ist die Kenntnis über die Medieninhalte spielen der Wissensrahmen, die jeweiligen Produktionsverhältnisse, unter denen Machtverhältnisse und die technischen Möglich- sie entstehen, von großer Bedeutung. Menschen, keiten eine große Rolle. Hall unterscheidet dabei die sich nicht speziell mit den Bedingungen von drei Lesarten: Medienproduktion und ihren Kontexten auseinan- 07
dersetzen, fällt es vermutlich schwer, den Einfluss Vom Monopol zum trialen Mediensystem der Produktionsverhältnisse auf das Programm zu verstehen. Die ökonomischen Voraussetzungen und die Interessen der ProduzentInnen haben Einfluss auf die einzelnen Durch die Einnahme der Rolle als ProduzentInnen Inhalte, aber auch auf die generelle Ausrichtung von von Inhalten (z.B. im Freien Radio oder Community Medien. Auch wenn sich Interessen von Medienunter- TV) öffnen sich den AkteurInnen neue Zugänge, nehmen selten ganz trennscharf unterscheiden lassen, ist um diese Bedingtheit der Inhalte zu erkennen und zum Verständnis der ökonomischen und konstituierenden kritisch hinterfragen zu können - eine wichtige Voraussetzungen von Medien die Unterscheidung nach Grundlage für kritische Medienkompetenz und kommerziell strukturierten Medien, öffentlich-rechtlich eigenständige Meinungsbildung. Auch hier muss orientierten und nicht-kommerziell konstituierten Me- betont werden, dass selbstständige Medienproduk- dien hilfreich. Am deutlichsten lässt sich das anhand tion stets mit kritischer Reflexion Hand in Hand des Rundfunksystems darstellen. Johanna Dorer (2004) gehen sollte. hat dazu folgende Matrix erarbeitet (siehe Abbildung 2). Kommerzieller Rundfunk Öffentlich-rechtlicher Nichtkommerzieller Rundfunk Rundfunk Normensystem Ökonomie Publizistik Zivilgesellschaftliche Kultur und Publizistik Eigentum Privat Öffentlich-rechtlich Gemeinnützig, genossenschaft- lich Organisationszweck Gewinnmaximierung Erfüllung einer öffentlichen Partizipation, Emanzipation Aufgabe und Empowerment durch offenen Zugang für alle Normative Zielsetzung Individuelle Nutzenmaximie- Gesellschaftliche Nutzenmaxi- Gesellschaftliche Nutzenmaxi- rung bei KonsumentInnen; mierung mierung durch Partizipation Gewinnmaximierung beim (z.B. Qualifizierung im und Empowerment marginali- Anbieter Meinungsbildungsprozess) sierter sozialer Gruppen Versorgungsgrad Begrenzt durch einzelwirt- Theoretisch: Vollversorgung als Begrenzt durch Bevorzugung schaftliche Rentabilitätskalküle Teil der öffentlichen Aufgabe; sozial benachteiligter Gruppen Praktisch: Vernachlässigung und progressiver Subkulturen bestimmter Publikumssegmente (i.S. Rolf Schwendters) Wirtschaftsverständnis Liberale Marktwirtschaft Soziale Marktwirtschaft, Alternative Ökonomie Wohlfahrtsstaat Finanzierung Markt (Werbung) Kollektivform (Gebühren) und Mischfinanzierung ohne Markt (Werbung) Werbung (staatliche Subventio- nen, Radiofonds, freiwillige Gebühren, „Selbstausbeutung“ u.a.) AdressatInnen KonsumentInnen BürgerInnen, KonsumentInnen Zivilgesellschaft und BürgerIn- nen Programm Reichweiten- und werbemarkt- Reichweiten- und werbe-markt- Minderheitenorientiert; für orientiert orientiert; „Programm für alle“, gesellschaftlich marginalisierte gesetzlicher Bildungs-, Kultur-, Gruppen, lokale Communities, Informations- und Unterhal- MigrantInnen und „Nicht“- tungsauftrag StaatsbürgerInnen Vielfaltssicherung Außenpluralismus Binnenpluralismus Außen- und Binnenpluralismus Demokratieverständnis Liberale Demokratie Repräsentative Demokratie Direkte/radikale Demokratie vermitteltes Gesellschaftsbild Hegemoniale Darstellung/ Hegemoniale Darstellung/ Gegenhegemoniale Darstellung/ Konstruktion von Konsum-und Konstruktion von Welt und Konstruktion von Welt Leistungsgesellschaft Nation(en) gesamtgesellschaftliche Ökonomisierung aller Beitrag zur Produktion von Kritik- und Frühwarnsystem für Auswirkung Lebensbereiche gesellschaftlichem Konsens (i.S. soziale gesellschaftliche Stuart Halls, Noam Chomskys) Probleme gesellschaftlicher Nutzen Gering; größere Programmmög- Öffentliche Aufgabe und Publizistische Ergänzungs-funk- lichkeit für werblich interessan- Grundversorgung für weite tion für nicht erfüllten te Zielgruppe Teile der Bevölkerung öffentlich-rechtlichen Auftrag d. öffentlich-rechtlichen Rundfunks Abbildung 2: Typen von Medienorganisation des trialen Rundfunksystems nach Dorer (Grafik: CONEDU 2018, auf https://erwachsenenbildung.at, auf Basis von Dorer 2004, S. 12) 08
Anhand dieser Matrix ist leicht zu erkennen, dass die bei. Damit verbunden ist auch ihre Rolle als Räume Form der Finanzierung einen wesentlichen Einfluss der Begegnung und des Lernens, die soziale Integ- auf die gesellschaftliche Funktion des jeweiligen ration und interkulturellen Dialog fördern. Diese Mediensektors hat. In fast allen Ländern Europas Bedeutung wird unter anderem in Dokumenten des sind diese unterschiedlichen - hier idealtypisch Europarates mehrfach unterstrichen (Europarat dargestellten - Sektoren zu finden. Die öffentlichen 2009; 2018a). Sender nahmen meist in den 1920er-Jahren ihren Betrieb auf, sind öffentlich finanziert, wenden sich Gerade diese Aspekte machen den Unterschied zu an ein breites Publikum und sind mit der Vorstel- den heute omnipräsenten kommerziell orientierten lung „informierter BürgerInnen“ vor allem einem „Mitmachmedien“ wie Facebook oder YouTube deut- repräsentativen Demokratiemodell verpflichtet. lich. Angesichts der an anderer Stelle diskutierten Kommerzielle Sender starteten vor allem ab den Effekte und Herausforderungen wie Filterblasen, späten 1970er-Jahren (in Österreich erst ab 1995) Echokammern, Hate Speech und der Verbreitung mit dem Anliegen, Rundfunk als gewinnbringendes böswilliger oder erfundener Inhalte sind Kompeten- Geschäft zu betreiben. Die bisher aufwändige Pro- zen, wie sie sich Beteiligte in Community Medien grammproduktion bei öffentlich-rechtlichen Sen- aneignen können, immer wichtiger. Diese Kompe- dern wich im kommerziellen Kontext eher leicht und tenzen decken sich auch weitgehend mit jenen, billig zu produzierenden Formaten. Aus anfänglich die Bernhard Pörksen (2018) einfordert, wenn er lokalen oder regionalen Sendern wurden meist rasch seine Vorstellung einer redaktionellen Gesellschaft Senderketten, die niedrige Produktionskosten mit diskutiert. der Erreichung möglichst vieler NutzerInnen verbin- den sollten. Das entspricht dem nachvollziehbaren Von der Medienrezeption zum Medienhandeln Anliegen, Werbezeiten möglichst teuer verkaufen zu können. Auch öffentlich-rechtliche Sender, die Auch mit dem Begriff „Medienhandeln“ wird die sich teilweise aus Werbung finanzieren, können sich aktive Rolle der MediennutzerInnen betont, die dieser Logik nur schwer entziehen. ihnen heute aber nicht nur als RezipientInnen, sondern stets auch als ProduzentInnen zukommt Nichtkommerzielle Sender oder Community Medien (Wagner 2011). Medienhandeln legt den Fokus auf entstanden ab Anfang der 1980er-Jahre, vorerst mit die Kommunikationspraktiken im Alltag und wird als dem Ziel, „Gegenöffentlichkeiten“ zu konstituieren. Teil lebensweltlicher Routinen und Zeitstrukturen Die meist lokal orientierten Community Radio- und des Alltags, eingebunden in soziale und kollektive TV-Sender hatten fast immer die Beteiligung der Prozesse, verstanden. Medien sind Gegenstände des lokalen BürgerInnen an der Medienproduktion und täglichen Gebrauchs, sie vermitteln Sichtweisen damit am öffentlichen Diskurs zum Ziel. Damit be- und Orientierungen, sie ermöglichen es, sich zu dienen sie die Bedürfnisse von Menschen mit einem anderen in Beziehung zu setzen und sie ermöglichen partizipativen Verständnis von Demokratie, wie dies individuelles und kollektives Handeln. etwa Beaufort und Seethaler (2016, S. 56) in ihrer Aus der Sicht der Medienpädagogik werden die Auseinandersetzung mit den aktuellen Anforderun- Auswirkungen des aktuellen Wandels der Medien- gen an den Rundfunkjournalismus hervorherben. konvergenz, welcher zu einer zunehmenden Media- Neben dem Angebot zur aktiven Mediengestaltung tisierung der Lebenswelt führt, auf die Sozialisation bieten Community Sender auch Aus- und Weiter- von Heranwachsenden und deren Handlungs- und bildung und einen organisatorisch-redaktionellen Partizipationsmöglichkeiten in der Gesellschaft Rahmen im lokalen Kontext, angebunden an die betrachtet. Medienhandeln wird dabei als soziales Lebenswelt der Beteiligten. Die Beteiligten sollen Handeln gesehen, das auf drei Ebenen der Auseinan- auch in den Organisations- und Entscheidungsstruk- dersetzung des Subjekts mit seiner Umwelt verankert turen vertreten sein. Mit dem Anliegen, unterreprä- ist: der persönlich-individuellen Ebene, der sozialen sentierten Gruppen Zugang zur Öffentlichkeit zu Ebene und der kulturell-gesellschaftlichen Ebene. ermöglichen und die gesellschaftliche Vielfalt z.B. hinsichtlich Sprache, Kultur und sozialer Stellung Medienhandeln eröffnet für die Menschen unter- abzubilden, tragen sie wesentlich zur Medienvielfalt schiedliche Räume (Wagner 2011, S. 68): 09
„- [...] „persönliche“ Räume entstehen, z. B. über pa- ist dabei von vier grundlegenden Formen bzw. rasoziale Interaktion bei der Aneignung von Inhalten. Bedürfnissen, Medien zu nutzen: 1. ungerichtete - Thematische Räume bieten Platz für die Auseinander- Informationsbedürfnisse, 2. thematische Interessen, setzung mit den eigenen Interessen, sei es mit Sport 3. gruppenbezogene Bedürfnisse und 4. konkrete oder politischen Themen oder mit medialen Vorlieben Problemlösungsbedürfnisse (siehe Abbildung 3). wie Computerspielen oder Filmen. - Soziale Räume entstehen vor allem über die Interakti- on mit der Peergroup, z. B. in Communitys. - Kulturelle und gesellschaftliche Räume werden eben- so gestaltet, z. B. wenn über kulturelle Symbole die ei- gene Herkunft thematisiert wird oder wenn in Gruppen politische Themen diskutiert werden.“ Diese Räume sind nicht trennscharf voneinander abzugrenzen, sie verändern ihren Charakter je nach Kontext und den involvierten Individuen. Um sich online selbstständig bewegen und orientieren zu können, kommt der Interpretation medialer Symbol- welten heute eine noch größere Rolle zu als zu den Zeiten massenmedialer Kommunikation, in denen Abbildung 3: Ebenen von Informationsbedürfnissen (Grafik: CONEDU 2018, auf https://erwachsenenbildung.at, auf Basis massenmediale Inhalte von den Nutzenden selbst von Hasebrink/Domeyer 2010) nur sehr beschränkt produziert, weiterverarbeitet und weiterverbreitet werden konnten. Medienrepertoires Stand bis zu den 1980er-Jahren noch ein eher all- gemeines, ungerichtetes Informationsbedürfnis im Der Einfluss unterschiedlicher Medien wurde seit den Vordergrund, orientierte sich in den 1990er-Jahren 1950er-Jahren, getrieben durch die kommerziellen das Interesse der NutzerInnen verstärkt an spezifi- Interessen der Werbeindustrie und der Medienun- schen Themen. Heute wird die Nutzung vor allem ternehmen, über Reichweitenerhebungen gemessen. von Bedürfnissen individueller und gruppenspe- Diese Messungen, wie sie für Zeitungen, Radio- oder zifischer Problemlösungen bestimmt. Gleichzeitig Fernsehprogramme regelmäßig durchgeführt wer- hat zum einen die Unterhaltungsorientierung den, bilden über den „Tausenderkontaktpreis“ die weiter zugenommen und ist die gesellschaftliche Grundlage der Preisgestaltung für Anzeigen und Anerkennung traditioneller Medien eher gesunken, Werbepreise. Diese Erhebungen haben aber immer zum anderen steigen die Ansprüche an Partizipa- weniger Aussagekraft darüber, wie viel Einfluss tionsmöglichkeiten, was sich etwa im enormen einzelne Medien auf die Meinungsbildung oder gar Erfolg von Plattformen wie Facebook oder Twitter das politische Handeln der Menschen haben. Die manifestiert. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass je Qualität der Nutzung kann kaum erhoben werden. größer und vielfältiger das Medienmenü (das heißt, die unterschiedlichen, individuell genutzten Medien Medienwissenschaftler wie Uwe Hasebrink (Ha- eines Menschen) ist, desto eher sich ein Bürger oder sebrink/Schmidt 2013; Hasebrink 2014) vertreten eine Bürgerin in politische Debatten im Internet die Position, dass heute die Reichweiten einzelner einbringt, und je vertrauter die Person mit dem Netz Medien und damit die Frage: „wie viele (und welche) ist, desto eher engagiert sie sich dort auch politisch. Nutzer erreicht ein bestimmtes Medienangebot?“ nur mehr wenig Aussagekraft darüber haben, wie Kompetenz zur kritischen Medienanalyse Menschen Medien im Sinne der Meinungsbildung nutzen. Mit der Frage nach dem Medienrepertoire Medienpädagogen und Kommunikationswissen- stellt er das Zusammenspiel unterschiedlicher schaftler wie Len Masterman (1985), Dieter Baake Medienangebote in Hinblick auf unterschiedli- (1997) oder Douglas Kellner und Jeff Share (2007) che Bedürfnisse in den Mittelpunkt. Auszugehen plädieren seit langem für die Verankerung von kri- 10
tischer Medienkompetenz in Bildungsangeboten für dien-)Ökonomie mit ihren großen Plattformen wie Menschen aller Altersstufen. Eine Forderung, die Facebook, YouTube, Twitter u.a. konfrontiert sind. der Europarat 2018 in einer bereits oben erwähn- Mit der fortschreitenden Konvergenz von Medien- ten Resolution (Europarat 2018a) erneuert hat. Auf inhalten und -plattformen und besonders mit der globaler Ebene vertritt die UNESCO (2013, S. 17) das Zunahme der Nutzung von kommerziell motivierten Konzept der Media and Information Literacy (MIL) Social Media-Plattformen kommt den Bereichen mit dem Anspruch dass: Privacy, Datenbewusstsein und Datensouveränität immer größere Bedeutung zu. Die Mediatisierung „A media- and information-literate person must not stellt Verantwortliche in der Erwachsenenbildung only be a consumer of information and media content, vor neue Herausforderungen bei der Vermittlung but also a responsible information seeker, knowledge kritischer Medienkompetenz, die sich aus dieser creator and innovator, who is able to take advantage of a diverse range of information and communication Entwicklung ergeben. Medienwandel ist heute vor tools and media. MIL is defined as a set of competen- allem verbunden mit steter Veränderung und Wi- cies that empowers citizens to access, retrieve, under- dersprüchlichkeiten, zwischen neuen Chancen und stand, evaluate and use, create, as well as share infor- Möglichkeiten für aktive NutzerInnen aber auch mation and media content in all formats, using various neuen Risiken der sozialen Kontrolle, Überwachung tools, in a critical, ethical and effective way, in order to und ökonomischen Ausbeutung in der digitalen participate and engage in personal, professional and societal activities.“ Ökonomie. Auch wenn heute aufgrund der allgegenwärtigen Herausforderungen für Auswirkungen der Digitalisierung - nicht nur im Informationsvielfalt, Meinungsbildung Medienbereich - oft über „digitale Kompetenzen“ und gesellschaftlicher Teilhabe gesprochen wird, ist es wichtig im Blick zu behalten, dass sich zentrale Fragen bei der Analyse von Me- Im Folgenden sollen einige aktuelle Phänomene wie dien nicht verändert haben. Robert Ferguson (2008) Filterblasen, „Fake News“, Hasssprache oder Big schlägt in Anlehnung an die „Lasswellformel“ (who Data definiert und diskutiert werden. Zur Frage wie says what in which channel with what intended sich diese Aspekte auf Prozesse der Meinungsbildung effect) folgende Fragen vor: und damit das Funktionieren unserer Demokratie auswirken gibt es teilweise widersprüchliche Ein- • Who? - a person, an organization, a party, a schätzungen und Befunde. business? • Says what? - is it a message of love, of hate, of Filterblase conciliation, of commercial import, of authority or what? Der Begriff Filterblase wurde 2011 vom Internetak- • In which semiotic register? - are we being cajoled, tivisten Eli Pariser (2011) mit seinem gleichnamigen seduced, harangued, harassed, rationally enga- Buch „Filter Bubble. Wie wir im Internet entmündigt ged, patronized, or what? werden“ geprägt. Er argumentiert darin, dass durch • In which channel? - and who owns it? die Optimierung der Algorithmen der großen Inter- • With which specific discourse? - can we recognize netfirmen auf die jeweiligen persönlichen Vorlieben a discourse when we see one, and are we aware der NutzerInnen Filterblasen entstehen und die that discourses do not only describe topics, they NutzerInnen nicht mehr mit Informationen kon- also structure them? frontiert werden, die ihre Weltsicht herausfordern • With what intended effect? - and how would we oder erweitern könnten. Dieser Effekt wirkt sich bei know? And what are we, as citizens of a demo- der Nutzung unterschiedlicher Dienste aus - seien cracy, going to do about? es über Facebook vermittelte Nachrichten oder von Google angezeigte Suchresultate - die jeweils auf Diese Fragestellungen lassen sich weitgehend auch persönliche Vorlieben hin angepasst werden. Laut auf die Herausforderungen übertragen, mit denen Pariser entstehe die Filterblase, weil Suchmaschi- wir als aktive BürgerInnen in der digitalen (Me- nen wie Google mit der personalisierten Suche ab 11
2009 oder Social Media Plattformen wie Facebook die Form der Anzeige zu vergleichen. Suchmaschinen versuchen, algorithmisch vorauszusagen, welche wie StartPage oder DuckDuckGo greifen auch auf Informationen einzelne BenutzerInnen jeweils Google zurück, verhindern aber, dass persönliche auffi nden möchten. Diese automatisierten Aus- Daten und damit auch die eigene Suchgeschichte wahlentscheidungen basieren auf den verfügbaren an Google übermittelt werden. Zudem werden zu persönlichen Informationen über die BenutzerInnen den Suchergebnissen direkte Links zu den jeweiligen und umfassen Daten zum Standort (über IP-Adresse), Inhalten angezeigt und nicht „Google-Links“, die zum verwendeten Gerät, zum verwendeten Browser, bei jeder Nutzung nochmals Userdaten an Google zur Suchgeschichte und zum Klickverhalten. Daraus liefern. resultiert laut Pariser eine Isolation gegenüber Infor- mationen, die nicht dem Standpunkt des Benutzers Echokammer-Effekt oder der Benutzerin entsprechen. Pariser analysiert anhand seines eigenen Nutzungsverhaltens, dass es Dass Menschen gerne Medien und Inhalte nutzen, den NutzerInnen auf Social Media-Plattformen wie die sie in ihrer Meinung bestätigen, ist nicht neu. Facebook schwer gemacht wird, an Informationen Durch die Vermittlung von Inhalten über „Interme- zu kommen, die nicht zu den persönlichen Vorlieben diäre“ wie Facebook, Twitter und Google (Plattfor- passen. Dafür sorgen zuverlässig die Auswahlalgo- men, die keine eigenen Inhalte erstellen, heute aber rithmen der jeweiligen Plattform. zentrale Vermittler von Inhalten an die UserInnen sind) gewinnt diese Logik aber eine beunruhigende Wie viel Einfluss dieser Effekt tatsächlich hat, wird Beschleunigung und Ausweitung. Aus ihrem ökono- in Fachkreisen kontrovers diskutiert, er ist aber mischen Interesse haben die Algorithmen der Platt- nicht zu verleugnen. Verstärkt wird diese Einengung formen die Aufgabe, primär Inhalte anzuzeigen, die durch das häufig zu beobachtende Suchverhalten, für möglichst viele Interaktionen (Clicks) sorgen. Es bei dem sich die NutzerInnen mit den jeweils ist also auch der kommerzielle Charakter der Inter- ersten Suchergebnissen zufriedengeben. Um dem mediären, der den Echokammer-Effekt verstärkt und entgegenzuwirken, sollten UserInnen einerseits Nachrichten innerhalb jener Gruppen, die ohnehin die wichtigsten Rechercheregeln beherrschen und einer bestimmten Meinung oder politischen Rich- andererseits imstande sein zu erkennen, was „echte“ tung anhängen, kursieren lässt. Inhalte mit kontro- und was „gekaufte“ Ergebnisse sind. Denn es gibt versen Positionen zum selben Thema erreichen die sowohl bei Suchmaschinen als auch bei Social UserInnen kaum und wenn, werden sie von ihnen Media-Plattformen Anzeigen, für deren bevorzugte kaum oder gar nicht mehr wahrgenommen. Das Platzierung die Seitenbetreiber bezahlen. Sie sind wiederum hat mit psychologischen Aspekten zu tun, also eigentlich Werbung. Sich dieser oft gut ver- die Zygmunt Bauman (2017) in der aktuellen Tendenz steckten Werbeformen bewusst zu sein und Inhalte zur Tribalisierung begründet sieht. Als Reaktion auf dementsprechend einzuschätzen, kann dabei helfen, die soziale Verunsicherung, die aufgrund der Globa- derartige Verzerrungen zu verringern. lisierung und zunehmenden Undurchschaubarkeit der Welt durch die Auswirkungen der neoliberalen Die UNESCO (2018) spricht im Rahmen ihres Berichts Ideologie entsteht, wird Sicherheit wieder vermehrt World Trends in Freedom of Expression and Media in vertrauten Strukturen gesucht. Als Konsequenz Development 2017 von „polarisierter Vielfalt“ (pola- dessen sind immer weniger Menschen bereit, sich rized pluralism), weil einerseits die Menge verfügba- mit divergierenden Meinungen zu konfrontieren rer Informationen enorm wächst, aber andererseits oder auseinanderzusetzen. Baumann (2017, S. 67) die Menschen abhängig von ihren Interessen und sieht darin auch ein ganz grundsätzliches gesell- Gruppenzugehörigkeiten nur auf eine spezifische schaftliches Problem: „Sobald die Aufteilung in „uns“ Auswahl zugreifen. und „sie“ einmal in dieser Form vorgenommen ist, kann es bei einer Begegnung mit dem Antagonisten Zur Auseinandersetzung mit der Auswirkung der nicht mehr um Verständigung, sondern nur noch Algorithmen von Suchmaschinen ist es für Lernende darum gehen, neue Beweise dafür zu entdecken oder sinnvoll sich mit unterschiedlichen Suchmaschinen zu erfinden, dass ein Verständigungsversuch jeder Ver- auseinanderzusetzen und die Ergebnisse, aber auch nunft widerspricht und keinesfalls in Frage kommt.“ 12
Jennifer Edmond, die zu Digital Humanities forscht, kein neues Phänomen und schöpft sein Potential sieht auch einen Zusammenhang zwischen der heute meist aus dem gesellschaftlichen und politischen oft zwanghaften Vorstellung, alles Wahrnehmbare Klima und Umgang untereinander. Die Dynamik in digitale Informationen zu verwandeln, und der der digitalen Kommunikation beschleunigt und abnehmenden Fähigkeit zum Dialog. In einem In- verdichtet die Verbreitung. terview in Der Standard (Pumhösel 2018) meint sie: So stellte etwa schon der Sprachwissenschaftler Vic- „Als Menschen haben wir viele Arten, unsere Welt zu tor Klemperer (2010, S. 26), der das Naziregime nur erschließen: durch Riechen, durch Berühren, durch mit Hilfe von Freunden überlebte, in seiner Schrift Hören. Wenn immer mehr in digitale Information „LTI - Lingua Tertii Imperii - Sprache des ‚Dritten gepresst wird, lassen diese Fähigkeiten nach. Ma- Reiches‘“ fest: „Worte können sein wie winzige schinelle Übersetzungen lassen einen kulturellen Arsendosen. Sie werden unbemerkt verschluckt, sie Aspekt von Sprache verlorengehen. Mark Zucker- scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger berg glaubt, dass Kommunikation von Sprache Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ zurückgehalten wird. Ich glaube, Sprache ist die Seele der Kommunikation.“ Und sie vergleicht das Zur Definition von Hate Speech hält Sailer-Wlasits Informationsmenü mit der Idee ausgewogener ge- (2016) fest: „Hasssprache bezieht sich auf mitein- sunder Ernährung: „Auch bei Informationen braucht ander verknüpfte Bedeutungsräume und umfasst es eine ausgewogene Versorgung. Wir müssen nicht auch solche sprachlichen Äußerungen, die ethnische, nur unseren eigenen Bias verstehen, sondern auch religiöse bzw. gesellschaftliche Minderheiten betref- den Bias der Plattform, die wir nutzen. Wenn wir in fen und von diesen als kränkend bzw. diffamierend unserem Newsfeed nur Meinungen haben, die uns aufgefasst werden können bzw. den Tatbestand der bestätigen, bekommen wir das gute Gefühl, dass Verhetzung erfüllen.“ Auch Sailer-Wlasits betont den wir mit der Welt übereinstimmen. Die Grenzen der Zusammenhang von heute gängigen Begriffen mit Filterblasen zu überwinden ist ein menschlicher, solchen aus der NS-Sprache, etwa wenn aus dem kein technologischer Prozess.“ Ausdruck „gesundes Volksempfinden“ heute der „ge- sunde Menschenverstand“ geworden ist. Aber auch Bisher gibt es zu diesen Effekten nur wenige aussa- für den Begriff „Überfremdung“ sieht er einen klaren gekräftige empirische Studien - eine Tatsache, die Bezug zum rassistischen Vokabular des Faschismus. auch darin begründet ist, dass die Algorithmen von Eine andere Ausprägung von Hasssprache ist die den Intermediären als Betriebsgeheimnisse gehütet sprachliche Aufrüstung in Politik und Medien, wenn werden. Das Massachusetts Institut of Technology aus dem „Schutz für Flüchtende“ der „Schutz vor (MIT) veröffentlichte 2018 die Ergebnisse einer groß- Flüchtenden“ und in der Folge „Schutzmaßnahmen angelegten Untersuchung (vgl. Meyer 2018), bei der gegen Flüchtlinge“ werden. die Verbreitung und Wahrnehmung von 126.000 Geschichten von drei Millionen Twitter-NutzerInnen Diese winzigen Arsendosen, wie Klemperer sie nennt, im Zeitraum von 10 Jahren analysiert wurden. Auf haben den politisch-gesellschaftlichen Diskurs an Grundlage der ausgewerteten Interaktionsmuster vielen Orten auch schon vor dem Entstehen von und Intensität kam das Forschungsteam zum Ergeb- Social Media-Plattformen durchdrungen. So hat nis, dass sich Falschmeldungen wesentlich rascher etwa in Kärnten die Hetze gegen die slowenische und weiter ausbreiteten als korrekte Inhalte. Die Sprachminderheit auch nach 1945 angehalten und Richtigstellung oder Aufdeckung der Falschmel- in spezifischen Kontexten nie aufgehört. dungen hatte hingegen nur wenig Einfluss auf die Bereitschaft der Nutzer, ihre Meinung zu ändern. Der Sprachwissenschaftler Bernd Matouschek beschäftigte sich 1999 in seiner Publikation „Böse Hate Speech Worte?“ mit Sprache und Diskriminierung (Matou- schek 1999). Herausgegeben wurde der Band von Die Begriffe Hate Speech oder Hasssprache werden Terezija Stoisits, die hier auch persönliche Erfah- heute meist mit aggressiver und diffamierender rungen einbringen konnte. War sie doch als Abge- Sprache im Internet verbunden. Hasssprache ist aber ordnete der Grünen laufend der Hasssprache - vor 13
allem von Seiten der FPÖ-Abgeordneten ausgesetzt. als wenig wirksame Kosmetik identifiziert werden, Judith Butler veröffentlichte 1997 „Hass spricht. lebt doch ihr Geschäftsmodell von der Maximierung Zur Politik des Performativen“, das erst 2006 auf der Interaktionen. Deutsch übersetzt wurde (Butler 2006). Hasssprache ist kein neues Phänomen. Die neuen Kommunika- Im Kampf gegen dieses Phänomen ist es auch wichtig tionsmöglichkeiten, einfach zugängliche Foren zu wissen, aus welchen Motivationen heraus hass- oder Social Media-Plattformen, beschleunigen und erfüllte Inhalte ins Netz gestellt werden. Brodnig erleichtern die Verbreitung von Hasssprache und (2016, S. 75) unterscheidet etwa zwischen „Trollen“ das Thema erfährt so auch eine stärkere Präsenz in und „Glaubenskriegern“ (siehe Abbildung 4) und der Öffentlichen Wahrnehmung. betont, dass diesen jeweils unterschiedlich zu begegnen wäre. Denn auch wenn beide Gruppen Mit den Besonderheiten und Auswirkungen von mit rationalen Argumenten kaum zu erreichen sind, Hass im Netz hat sich in Österreich vor allem die können Trolle immerhin ausgebremst werden, indem Journalistin Ingrid Brodnig (2016) intensiv beschäf- man ihnen die Aufmerksamkeit entzieht und ihre tigt. Sie weist dabei unter anderem auf den Hass Provokationen ignoriert. Online-Enthemmungs-Effekt (nach John Suler) hin, der besagt, dass Anonymität und Unsichtbarkeit Trolle Glaubenskrieger im digitalen Raum dazu führen, dass sich Akteu- Empathie: Niedrig Niedrig rInnen sicherer und enthemmter fühlen als in anderen Kommunikationssituationen. Viele gehen Motivation: Schadenfreude Gefühlte Bedrohung auch davon aus, dass sie nicht identifizierbar sind. Sieht sich Intellektuell Heldenhaft Ein weiterer Aspekt ist die Asynchronität, in der selbst als… überlegen die Kommunikationsakte geschehen, ist es doch Ideologie: Nichts ist heilig Unbeirrbare Überzeu- problemlos möglich, einen hasserfüllten Kommentar gung abzugeben, ohne die Reaktionen darauf erleben zu müssen. Brodnig nennt das „emotionale Fahrer- Ziel: Menschen Menschen "wachrüt- flucht“ (Brodnig 2016, S. 14). manipulieren teln" Vorrangige Provokation Panikmache Die Enthemmtheit in der Kommunikation hat auch Methode: damit zu tun, dass das Gegenüber selten persönlich Angriffs- Frustriert, wenn sich Genau betrachtet nicht punkt: Gegenüber nicht zur differenzierten bekannt ist. Das führt zu Phantasievorstellungen, provozieren lässt Diskussion bereit in denen alle Projektionen von Gegnerschaft oder unangenehmen Eigenschaften Platz haben. Die Abbildung 4: Trolle und Glaubenskrieger nach Brodnig (Gra- Trennung zwischen Online- und Offline-Charakter fik: CONEDU 2018, auf https://erwachsenenbildung.at, auf Basis von Brodnig 2016, S. 76) verleitet dazu, die Online-Kommunikation als Spiel ohne Konsequenz zu betrachten. Nicht zuletzt fehlt in Foren oder „sozialen Netzwerken“ oft eine Autorität in Form einer Moderation und hassvollen Meinungsfreiheit vs. Schutz vor Hate Speech Äußerungen wird selten vehement begegnet. Die Zunahme von Hass im Netz auf Facebook, Twitter Die rasante Verbreitung von emotionalisierenden und anderen Plattformen führte zu teilweise hefti- Postings wird zudem durch die Logik sozialer gen Diskussion um die Frage, welche Verantwortung Netzwerke verstärkt. Denn Postings mit mehr In- die Intermediären für die Inhalte ihrer UserInnen ha- teraktionen werden höher gereiht und bei mehr ben. Wann sollten Inhalte gelöscht oder UserInnen UserInnen angezeigt. Dadurch bekommen polari- blockiert werden? Besonders in Deutschland wurde sierende Postings - etwa von populistischen Poli- diese Debatte sehr vehement geführt, weil dort die tikerInnen - viel leichter mehr Aufmerksamkeit als Intermediäre 2017 gesetzlich verpflichtet wurden, sachliche Meldungen. Dass Facebook oder Google betroffene Inhalte zu löschen. Auch wenn diese neuerdings bereit sind, Projekte zu unterstützen, Regelung auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, die dem Hass im Netz entgegentreten, muss leider steht sie im Widerspruch zum verfassungsrechtlich 14
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