DU BIST NICHT ALLEIN 1/20 - Schader Stiftung

 
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DU BIST NICHT ALLEIN 1/20 - Schader Stiftung
SCHADER-
D IALOG
Magazin der Schader-Stiftung
Dialog zwischen Gesellschafts-
                                 1 /2 0
wissenschaften und Praxis

DU BIST
NICHT ALLEIN
                                      1
DU BIST NICHT ALLEIN 1/20 - Schader Stiftung
SEITE 3                    SEITE 18

E D I TO R I A L           PROJEKTE
                           2019

SEITE 4

ÖFFENTLICHER               SEITE 22               Titelbild: „DU BIST NICHT
                                                  ALLEIN. Öffentlicher Raum
R AU M I M D I A LO G      N AC H R I C H T E N   im Dialog“ war das Thema
                                                  des siebten Großen Kon-
                                                  vents der Schader-Stiftung
                                                  im November 2019. Was
                                                  aber, wenn sich der öffent-
SEITE 7                    SEITE 23               liche Raum in den Welt-
                                                  raum ausdehnt? Der Work-
D I A LO G - CA F É S      TERMINE                shop „Moon Village“ für
                                                  junge Wissenschaftlerinnen
                                                  und Wissenschaftler der
                                                  Publizistik-, Medien- und
SEITE 14                   SEITE 26               Kommunikationswissenschaft
                                                  in Kooperation mit der
S T R AT E G I E N F Ü R   SCHADER-PREIS          European Space Agency
                                                  (ESA) setzte auf agile Mode-
LEDER 2035                 2020                   rationsmethoden, um exem-
                                                  plarisch anhand der Kom-
                                                  munikation zwischen Robo-
                                                  tern, Astronautinnen und
                                                  Ground Control nutzerzen-
SEITE 16                   SEITE 27               trierte Lösungen zu ent-
                                                  wickeln. Unser Titelbild
„ E I N FAC H N U R        IMPRESSUM              zeigt eine Astronautin vor
                                                  ihrem Habitat. Mehr auf
ICH SEIN“                                         Seite 20.
DU BIST NICHT ALLEIN 1/20 - Schader Stiftung
E D I TO R I A L
                                                             IMPRESSUM
Ist es nun eine Drohung? Ein Trost? Ein Appell? DU BIST NICHT ALLEIN, dieser auf den
                                                             Das Magazin S C H A D E R - D I A L O G
ersten Blick abgedroschene Schlagertitel eröffnete als Konventsthema
                                                             erscheint zweimal     2019     eine enor-
                                                                                       jährlich.

me Weite und Tiefe der Auseinandersetzung mit dem Öffentlichen
                                                             S C H A D E RRaum  - D I A L OimG 1Dialog
                                                                                                  /2 0  , so
                                                             Magazin der Schader-Stiftung
der Untertitel. Die Suche nach Räumen für den Diskurs und nach
                                                             Dialogräumlichen                Bezügen,
                                                                        zwischen Gesellschafts-
                                                             wissenschaften und Praxis
tief in der Geschichte und im Selbstverständnis der Stiftung verankert, hat im vergange-
nen Jahr Projekte und Perspektiven geprägt. Aber wir kümmern H E R A Uuns   S G Ederzeit
                                                                                  BER            auch in-
                                                             Schader-Stiftung,
tensiv und ganz praktisch um jene Räume, die wir als Angebot       für
                                                             v. i. S. d. P.:den    Dialog
                                                                             Alexander           zur Verfü-
                                                                                          Gemeinhardt

gung stellen.                                                AU TO R E N U N D AU TO R I N N E N
                                                           Michèle Bernhard, Nicole Deitelhoff,
                                                           Saskia Flegler, Alexander Gemeinhardt,
In diesem Frühsommer 2020 schauen wir auf zehn Jahre Schader-Forum
                                                           Michael Göring, Karenzurück    – ein
                                                                                   Lehmann,  Peter
                                                           Lonitz, Kirsten Mensch, Luca Müller,
etablierter, vitaler Ort der Begegnung und des Austauschs. Aber    im laufenden
                                                           Laura Pauli,                Jahr
                                                                         Tobias Robischon,    wird
                                                                                           Canan
                                                           Topçu, Anna-Lena Treitz, Dennis Weis
auch das gegenüberliegende Haus Schader ganz für die Stiftungsarbeit zugänglich
                                                              R E DA K T I O N
sein: vom Stifter für seine Familie errichtet, Anfang der 1990er  als Berghäuser,
                                                              Monika  Ausstellungsgebäude
                                                                                  Alexander
                                                              Gemeinhardt, Peter Lonitz
neu konzipiert, wird das Anwesen derzeit barrierearm umgebaut.
                                                                         G E S TA LT U N G
                                                                         Büro Schramm für Gestaltung GmbH,
Die Schader-Stiftung und ihre Kooperationspartnerinnen                  und   -partner können dort
                                                                         bueroschramm.de

nicht nur weitere Tagungs- und Gesprächsräume bespielen, sondern
                                                            D R U C K auch die seit Jahren
                                                            Ph. Reinheimer, Darmstadt
eingeführte Schader-Galerie im Untergeschoss sowie eine Wohnung,      für die ein Scientist-/
Artist-/Journalist-in-Residence-Programm entwickelt wird. Zusammen mit dem
                                                            © 2020 Schader-Stiftung,      Gar-
                                                                                     Darmstadt
                                                            © der abgebildeten Werke:
ten des Hauses Schader und dem Schader-Forum wird damitDavid   ab Ausserhofer,
                                                                   Spätsommer          2020
                                                                                Christoph Rau, der
                                                            Schader-Stiftung
Schader-Campus in seiner Gesamtheit dem Stiftungszweck dienen, dem Dialog zwi-
                                                            ISSN 2199-5044
schen Gesellschaftswissenschaften und Praxis. Wir sind froh, dass Alois M. Schader auch
diesen Umbau selbst konzipieren konnte und aktiv mit dem Team der Stiftung begleitet.

Wir schaffen also viel Raum für das Konventsthema 2020: Das Erleben der Anderen.

ALEXANDER
G E M E I N H A R DT

Vorstand der
Schader-Stiftung

                                                                                                             3
DU BIST NICHT ALLEIN 1/20 - Schader Stiftung
HERZRHYTHMUS-
STÖ R U N G E N

„Dissens führt dazu, dass wir besser denken“, so Nicole Deitelhoff in ihrer Keynote zum
Großen Konvent. Als Direktorin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens-
und Konfliktforschung ist das ihr Metier und als Mitglied des Senats der Schader-Stiftung
reflektiert sie auch deren Rolle.

    Gegenwärtig beklagen viele zwei Verfallsformen der Aus-    In der Auseinandersetzung über strittige Normen und Institu-
einandersetzung im öffentlichen Raum: die Einnischung          tionen erkennt man sich erst als Teil eines demokratischen
und die Verrohung. Obgleich diese Verfallsformen auf den       Ganzen. Allerdings ist es keineswegs ausgemacht, dass dieses
ersten Blick in gegensätzliche Richtungen weisen, haben        Modell funktioniert: Je mehr sich nämlich die öffentliche
sie einen ähnlichen Effekt: sie führen zur Erlahmung öffent-   Kommunikation von der Face-to-Face-Interaktion im Sinne
licher Auseinandersetzung mit potenziell gefährlichen Fol-     von Versammlungsöffentlichkeiten entfernt, desto schwie-
gen für die Demokratie. Der öffentliche Raum ist so etwas      riger wird es, sich aktiv in den öffentlichen Raum einzuschal-
wie die Herzkammer der Demokratie – ein durchaus kom-          ten. Die Bürgerinnen und Bürger werden zu passiven
plexer Raum, er hat Vorhöfe, die wir auch schwache Öffent-     Konsumenten.
lichkeiten nennen, und starke Öffentlichkeiten (also die
Hauptkammer), Parlamente etwa. Während erstere Meinungen           Was sind nun die Symptome der demokratischen Herz-
und Positionen produzieren und verstärken, sind letztere       rhythmusstörungen, die sich gegenwärtig beobachten lassen?
für deren Umwandlung in politischen Willen verantwortlich.     Eine Erlahmung öffentlicher Auseinandersetzung durch
                                                               Entfremdung, durch Abwendung und durch Zersetzung.
    Es ist von großer Bedeutung, dass möglichst viele Mei-
nungen und Positionen Zugang erhalten, denn nur dann               Ein erklecklicher Anteil der Bevölkerung schaltet sich
finden sich die Bürgerinnen und Bürger eines demokratischen    nicht mehr in die allgemeine öffentliche Auseinandersetzung
Gemeinwesens in diesem, das heißt in den gemeinsamen           ein. Zwei mögliche Ursachen: Medial transportierte und
Normen und Institutionen wieder. „Du bist nicht allein“, ist   verstärkte globale Krisenerscheinungen haben bei vielen Bür-
das Programm des öffentlichen Raums in der Demokratie:         gerinnen und Bürgern ein Gefühl elementarer Verunsiche-

4                        S C H A D E R - D I A LO G            DU BIST NICHT ALLEIN
DU BIST NICHT ALLEIN 1/20 - Schader Stiftung
rung hervorgerufen. Globalisierung hat zwar einige profitieren       Um das ganz deutlich zu sagen: es gibt keinen Anspruch
lassen, für andere hat sie aber zum Wegfall von Möglich-         auf widerspruchsfreie Meinungsäußerung, aber es gibt na-
keiten und sozialem Abstieg geführt. Auch reduziert die Trans-   türlich einen Unterschied, ob Widerspruch sich ernsthaft mit
nationalisierung von sozialen Handlungszusammenhängen            einer Position und ihrem Kontext auseinandersetzt oder
die Wirkmächtigkeit politischer Entscheidungen auf der natio-    nicht. Beide Phänomene, die Entmutigung wie auch die Ver-
nalen Ebene. Entfremdung und Misstrauen sind die ver-            weigerung, zersetzen die Grundlagen öffentlicher Ausein-
breiteten Folgen.                                                andersetzungen. Nur wenn wir diese Probleme effektiv lösen
                                                                 können, können wir Demokratie sichern.
    Erlahmung durch Abwendung beschreibt eine Bewegung
von der Beteiligung an gesamtgesellschaftlichen öffentli-             Der Text dokumentiert in gekürzter Form die Keynote von
chen Auseinandersetzungen zur Auseinandersetzung in kleinen      Prof. Dr. Nicole Deitelhoff anlässlich des Großen Konvents
digitalen Affinity Groups. Diese digitalen Räume lassen          am 8. November 2019. Der Vortrag ist in voller Länge Bestand-
sich durchaus als emanzipatorisch beschreiben, indem sie Bür-    teil der Dokumentation des Großen Konvents der Schader-
gerinnen und Bürgern eine Chance geben, die Erfahrung            Stiftung 2019. Ein Video des Vortrags findet sich unter:
von Austausch zu machen. Aber diese virtuellen Räume wei-
sen kaum mehr Verbindung zu den allgemeinen öffentlichen                      W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / G R KO 1 9
Räumen auf. Ein neuerlicher, diesmal digitaler Strukturwan-
del der Öffentlichkeit.

                                                                                                                P R O F. D R . N I C O L E
    Schließlich Erlahmung durch Zersetzung. Viele Bürge-                                                        DEITELHOFF
rinnen und Bürger sind nicht mehr bereit, sich in öffentliche                                                   Direktorin des Leibniz-
Auseinandersetzungen zu begeben, weil sie es als unange-                                                        Instituts Hessische
                                                                                                                Stiftung Friedens- und
nehm empfinden, weil sie befürchten, für ihre Haltungen und                                                     Konfliktforschung
Positionen direkt verunglimpft zu werden oder aber der
Meinung sind, schon zu wissen, welche Positionen im öffent-
lichen Raum akzeptabel seien und eben auch nicht mehr
akzeptabel seien.

STIF TUNGEN:
CHANGE MAKER IM
ÖFFENTLICHEN RAUM
In seiner Keynote fordert Michael Göring, Vor-                        Der öffentliche Raum ist ein kostbares Gut. Er ist nicht
                                                                 ungefährlich und er ist nicht ungefährdet. Eine zunehmend
sitzender der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd
                                                                 illiberale Haltung gegenüber Andersdenkenden bedroht ihn.
Bucerius: „Sehen wir Stiftungen als Motor der                    Gemeinnützige Stiftungen sind Teil des öffentlichen Raums.
Veränderung, als Change Maker im öffentli-                       Auch wenn sie von einem privaten Bürger, einer Bürgerin
                                                                 errichtet werden, gehören Stiftungen eindeutig zur res publica.
chen Raum.“ Von 2014 bis 2018 stand er dem                       Das Stiftungskapital ist mit der Gründung der Stiftung
Bundesverband Deutscher Stiftungen vor.                          nicht mehr im Privatbesitz, sondern im Besitz einer Institution.

                                                                              Ö F F E N T L I C H E R R AU M I M D I A LO G                  5
DU BIST NICHT ALLEIN 1/20 - Schader Stiftung
gerufen haben. Stiftungen müssen sich aus Gemeinwohl-
                                                               verpflichtung heraus für den gesellschaftlichen Zusammen-
                                                               halt stark machen, wir alle brauchen die Mitte!

                                                                   Die Gesellschaft unterliegt mit der Digitalisierung einem
                                                               gewaltigen Veränderungsprozess. Werden wir eines Tages
                                                               komplett gelenkt, manipuliert? Wie verhält es sich mit der Wür-
                                                               de des Menschen, mit seiner Selbstbestimmung? Diese
                                                               Fragen müssen von uns, der Zivilgesellschaft, gestellt werden,
                                                               das müssen wir in den öffentlichen Raum tragen!

                                                                   Und letztens: Die ökologische Transformation unserer
                         Klaus-Dieter Altmeppen und Caroline
                         Robertson-von Trotha, Moderation,     Gesellschaft. Da hat uns eine 16-Jährige sehr zu Recht die
                         mit den Keynote-Sprechern Nicole      Dringlichkeit dieses Anliegens vor Augen geführt. Die klima-
                         Deitelhoff und Michael Göring         tischen Veränderungen sind nicht zu leugnen, auch nicht
                                                               die Tatsache, dass wir Menschen zu dieser extremen Verän-
Ihr Wirkungsfeld ist der öffentliche Raum! Alles öffentliche   derung des öffentlichen Raums erheblich beitragen.
Tun muss Antwort geben können, warum man etwas tut.
Schauen wir uns das einmal konkret an. Die Pflicht zur             „Du bist nicht allein“, so heißt das übergeordnete Motto
Antwort, die Verantwortung, ist konstitutives Element des      dieses Konvents. Nein, wir sind nicht allein, aber da wir
öffentlichen Dialogs, des Verständnisses über Ziele und        nicht allein sind, tragen wir Verantwortung für mehr als nur
Ergebnisse sowie über Rechte und Pflichten aller öffentlich    für uns. Wir müssen uns der Verantwortung stellen, das
tätigen Akteure. Gemeinnütziges Wirken unterliegt den          heißt, irgendwann werden uns unsere Enkel oder Urenkel
jeweils gegebenen gesellschaftlichen Herausforderungen. Ich    fragen, was wir denn getan haben für den öffentlichen Raum,
möchte vier nennen, derer wir uns in der ZEIT-Stiftung         für die Gemeinschaft der Menschen. Daher mein Plädoyer:
verstärkt annehmen.                                            Wir sind Teil des öffentlichen Raums. Nutzen wir ihn!
                                                               Analog wie virtuell: nutzen wir ihn als Plattform wie als Ak-
    Der Bereich Integration und Migration: Der öffentliche     tionsraum. Wir Stiftungen können dem einzelnen Bürger
Raum ist heute wesentlich geprägt durch eine internationale,   aktive Teilhabe an Veränderungsprozessen anbieten! Aus dem
bunte Gesellschaft. Wenn wir da das Leitmotiv unseres          Konvent wird dann ein Aktionsraum!
Konvents, das „Du bist nicht allein“ ernst nehmen, wissen
wir, wie wichtig gerade die von Stiftungen getroffenen Maß-        Der Text dokumentiert in gekürzter Form die Keynote von
nahmen zur Integration von Neu-Ankommenden, von Min-           Prof. Dr. Michael Göring anlässlich des Großen Konvents am
derheiten sind!                                                8. November 2019. Der Vortrag ist in voller Länge Bestandteil
                                                               der Dokumentation des Großen Konvents der Schader-Stiftung
    Die Gefahren, die gegenwärtig der Demokratie drohen:       2019. Ein Video des Vortrags findet sich unter:
Wir Stiftungen verdanken das enorme Stiftungswachstum
der Tatsache, dass wir seit 1945 in einem demokratischen                    W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / G R KO 1 9
Land leben auf der Basis eines Rechtsstaates mit Gewalten-
teilung. Wir beruhen auf einer freiheitlichen Gesellschafts-
ordnung mit der sozialen Marktwirtschaft als ökonomischer
Grundlage, eingebunden in multilaterale Verantwortung mit
einem Grundgesetz, das auf der Verpflichtung des „Nie
                                                                                                            P R O F. D R .
wieder“ fußt. Rechtsnationales Gedankengut hat schon ein-                                                   MICHAEL GÖRING
mal für gut 60 Millionen Menschen zwischen 1933 und                                                         Vorsitzender des Vor-
1945 den Tod bedeutet. Antisemitismus hat keinen Platz mehr                                                 stands der ZEIT-Stiftung
                                                                                                            Ebelin und Gerd Bucerius
in diesem Land. Aber halten wir auch mit unseren Erfah-
rungen von Sozialismus und Kommunismus nicht hinter den
Berg. Da haben 17 Millionen Deutsche 40 Jahre lang in
Unfreiheit gelebt, bis sie vor 30 Jahren „Wir sind das Volk“

6                        S C H A D E R - D I A LO G            DU BIST NICHT ALLEIN
DU BIST NICHT ALLEIN 1/20 - Schader Stiftung
G R O S S E R KO N V E N T 2 0 1 9                  Du bist nicht allein

D I A LO G - CA F É S
Der Große Konvent der Schader-Stiftung bietet in jedem Jahr Persönlichkeiten aus den Gesell-
schaftswissenschaften und der Praxis die Möglichkeit, den Status quo und die Perspektiven des
Dialogs zwischen Gesellschaftswissenschaften und Praxis zu diskutieren. Ziel ist es, aktuelle so-
wie kommende Herausforderungen zu formulieren und daraus Themen und Bedarfe für zukünftige
Aufgaben der Gesellschaftswissenschaften, aber auch für die konkrete Arbeit der Schader-Stiftung
zu explorieren.

Der Große Konvent findet zu einem großen Anteil im offenen Format statt. In drei Gesprächsrunden
in Dialog-Cafés, die an Projekte der Stiftung anknüpfen, konnten die gut 180 Teilnehmenden des
Großen Konvents Erfahrungen und Ideen, Anregungen und Erkenntnisse austauschen. Im Zentrum
standen dabei die Aufgaben und Herausforderungen der Gesellschaftswissenschaften in der Dis-
kussion um das Konventsthema „DU BIST NICHT ALLEIN. Öffentlicher Raum im Dialog“.

                                                           D I A LO G - CA F É S                      7
DU BIST NICHT ALLEIN 1/20 - Schader Stiftung
SICHERHEIT

Wir alle tragen Verantwortung für Sicherheit.                     aus Probleme, die sich im Westen als zunehmend belastend
Als Nutzende von technischen Geräten stehen                       herausstellen – wie Kriminalität im Internet. Gleichwohl
                                                                  ist erschreckend, was in China passiert, es macht auch nach-
wir in einer gewissen Verantwortung für deren                     denklich, was in Deutschland in Sachen Überwachung be-
Sicherheit. Als Bürgerinnen und Bürger sollten                    reits üblich ist und nur nicht wahrgenommen wird.
wir politische Debatten einfordern: zur Daten-
                                                                      Die dritte Runde des Dialog-Cafés befasst sich abermals
sicherheit, zum Ausmaß staatlicher Überwachung,                   mit der virtuellen Realität. Wer trägt die Verantwortung,
zur Rolle von IT-Unternehmen. Zugleich sind                       hier für Sicherheit zu sorgen? Staaten ringen im Cyberspace
wir gefordert, uns für Rechtsstaatlichkeit und                    um ihre Einflussmöglichkeiten. Im digitalen Bereich agie-
                                                                  ren Akteure wie Facebook und Amazon global. Braucht es
Gewaltenteilung einzusetzen, um nicht in „chi-                    eine zwischenstaatliche Instanz, die diese Unternehmen
nesische Verhältnisse“ abzugleiten.                               kontrolliert? Oder hat letztlich jeder selbst für seine Geräte
                                                                  und deren Sicherheit zu sorgen? Alle drei Runden zeigen,
                                                                  dass es auch in der eigenen Verantwortung von Personen und
    Was gilt als Maßstab für die Sicherheit im öffentlichen       Institutionen liegt, sich mit dem Thema Sicherheit und sei-
Raum – die gefühlte Sicherheit in der Bevölkerung oder eine       nen Facetten zu befassen.
„objektive“ Sicherheit, die sich mit Zahlen und Statistiken
belegen lässt? Für die Fachleute aus der Stadtplanung scheint
es offenkundig zu sein: Bei Fragen der Stadtgestaltung geht
es um die gefühlte Sicherheit und dabei vorrangig um die
Wahrnehmung der schwächsten Nutzergruppen. So sollten
beispielsweise Angstgefühle beim Durchqueren des öffentlichen
Raums möglichst minimiert werden. Etwa durch Sichtach-
sen, Beleuchtung und Ausrichtung von Fenstern können öf-
fentliche Flächen so gestaltet sein, dass sie belebt und auch
beobachtbar sind. Die so entstehende soziale Kontrolle könn-
te die umstrittene Videoüberwachung unnötig machen.
Keine Ecke mehr in der Stadt, in der man nicht unter Beob-
achtung steht? Führt das nicht zum „China-Modell“?                             A N TO N I A H M A I D I      DR.-ING.
                                                                               Wissenschaftliche Mitar-      JULIAN PETRIN
                                                                               beiterin an der Universität   Gründungsgesellschafter
    Genau dieses wird gleich darauf diskutiert. Die chinesische                Duisburg-Essen                von urbanista, Hamburg
Regierung überwacht nicht nur den analogen, sondern auch
den digitalen öffentlichen Raum. Die verpflichtende Abgabe
der Fingerabdrücke, die Datenbank zur Gesichtserkennung
von 1,4 Milliarden Menschen, dazu 170 Millionen Überwa-
chungskameras, das alles gekoppelt mit nur einem zugelas-
senen Messenger- und Bezahldienst, nutzbar ausschließlich
mit Klarnamen und Selbstidentifikation. Eine aus westli-
cher Sicht drastische Entwicklung.

    Doch ist es in westlichen Gesellschaften wirklich anders?
                                                                               THOMAS REINHOLD               P R O F. D R .
Ist das chinesische System nicht sogar transparenter, da                       Wissenschaftlicher Mitar-     S T E FA N S E L K E
der Staat Daten sammelt und speichert, und nicht private                       beiter an der Technischen     Professor an der Hoch-
Unternehmen? Zudem bekämpft ein solches System durch-                          Universität Darmstadt         schule Furtwangen

8                         S C H A D E R - D I A LO G              DU BIST NICHT ALLEIN
DU BIST NICHT ALLEIN 1/20 - Schader Stiftung
GRENZEN

Der Begriff „öffentlicher Raum“ suggeriert Er-                          Unsichtbare Grenzen erschweren die Situation. Hierzu
reichbarkeit, Nutzungsrechte und freien Zu-                         zählen soziale Hierarchien und Abhängigkeiten, die das
                                                                    Verhalten des Individuums prägen, eine unterschiedlich aus-
gang für jedes Mitglied einer Gemeinschaft. Tat-                    geprägte Privilegiertheit erzeugen und damit die gelebte
sächlich aber ist öffentlicher Raum mit Gren-                       Inanspruchnahme des öffentlichen Raums und die Identitäten-
zen verbunden – sie sind mal mehr, mal weniger                      bildung zu „Wir“ und „die Anderen“ maßgeblich beein-
                                                                    flussen. Beispielhaft steht hier die Gruppe der muslimischen
sichtbar und betreffen unterschiedliche ge-                         Frauen, deren Zugang zum öffentlichen Raum von deren
sellschaftliche Gruppen. Mit welchen Fragen                         eigener Definition des Raums abhängt, aber auch von den
rund um die Teilhabe am öffentlichen Raum se-                       möglicherweise selbst gesetzten Grenzen oder gelebten
                                                                    Mechanismen der Selbstexklusion, um dem Wunsch nach
hen wir uns jetzt und in Zukunft auf der Erde,                      Sicherheit und Souveränität Rechnung zu tragen.
aber auch im Weltraum konfrontiert?
                                                                        Neben der Anerkennung, dass Grenzen für sich genom-
                                                                    men normal sind und sie Zugehörigkeiten im besten Sinne
     Öffentlicher Raum ist Ort der Aushandlung gesellschaft-        schaffen, erzeugt eine frühe Einbeziehung aller Gruppen in
licher Fragen. Allerdings hat dieser auch Grenzen, die mit-         den Gestaltungsprozess des öffentlichen Raums ein gemein-
unter den Zugang erschweren. Ausschlussmechanismen, wie             sames Gefühl der Verantwortung für diesen Raum und sollte
sie für freiheitliche Gesellschaften charakteristisch sind, be-     in dieser Form auch von der Politik aufgegriffen werden.
gegnen uns in sozialer, aber auch in materieller Gestalt. Bar-
rieren können aber durchaus additiv wirken: Materialität                Als letzter Raum ohne Grenzen, als idealisierter öffentli-
strukturiert den öffentlichen Raum und die damit verbunde-          cher Raum – ohne Ausdehnung der staatlichen Souveränität,
nen Möglichkeiten des Austauschs. Sie limitiert aber unter          ohne völkerrechtliche Einbindung – mit den damit verbun-
Umständen zugleich die Zugänglichkeit und verstärkt damit           denen Chancen und Risiken präsentiert sich derzeit (noch)
bereits existierende soziale Ausschlusskriterien. Dabei ist         der Weltraum. Staatliche und private Akteure betreiben je-
es doch gerade Ziel des öffentlichen Raums, ein potenzielles        doch die zunehmende Kommerzialisierung des Weltraums
Miteinander zu ermöglichen, um Orte des Dialogs zu bie-             und lassen damit eine politische Diskussion um die Frage
ten und auch Orte der Kontroverse zu schaffen. Letztendlich         „Wie entstehen Normen im staatenfreien Raum?“ unumgäng-
müssen Menschen vor allen Dingen die Chance bekom-                  lich werden, um diesen grenzenlosen Raum zu schützen
men, gemeinsam öffentliche Räume zu gestalten und dabei             und zu bewahren.
auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.

                          ANDREA BARTL               P R O F. D R . N A I M E     DR. ANNA-LISA                 R A D A P O P O VA
                          Kaufmännische Geschäfts-   Ç A K I R - M AT T N E R     MÜLLER                        Wissenschaftliche Mitar-
                          führerin der Stiftung      Professorin an der Justus-   Wissenschaftliche Mitar-      beiterin an der Universität
                          Lesen, Mainz               Liebig-Universität Gießen    beiterin an der Universität   zu Köln
                                                                                  Osnabrück

                                                                                  D I A LO G - CA F É S                                  9
DU BIST NICHT ALLEIN 1/20 - Schader Stiftung
PLANUNG

Zwei Drittel aller Menschen werden 2050 in                               Es erscheint zentral, Planung transparenter, prozessualer,
Städten leben – wie können sie mit unterschied-                      öffentlicher, demokratischer, politischer und damit konsens-
                                                                     fähiger werden zu lassen. Im Hinblick auf das Nutzungsver-
lichen kulturellen, religiösen oder ethnischen                       halten wäre eine Art Knigge für die Zuständigkeiten und
Hintergründen friedlich koexistieren? Welche                         den Umgang im öffentlichen Raum ein Ansatz zur Schlich-
Beziehung besteht zwischen urbanem Planen                            tung vieler Nutzungskonflikte. Beispielsweise hat der Um-
                                                                     bau der autogerechten zur menschengerechten Stadt begonnen,
und städtischen Lebensbedingungen. Wie kann                          doch die Raumansprüche der verschiedenen Mobilitäts-
eine offene Stadt aussehen, die geprägt ist                          gruppen stehen weiterhin in Konkurrenz zueinander, auch
von Vielfalt und Veränderung – und deren Be-                         der Wachstumstrend der Automobilindustrie und die Größe
                                                                     moderner Autos zeigen in eine andere Richtung.
wohner und Bewohnerinnen Fähigkeiten im
Umgang mit Unsicherheiten entwickeln?                                    Nutzungskonflikte innerhalb der Bevölkerung können
                                                                     auch auf die Unterscheidung von privatem und öffentlichem
    Leitbilder haben für Stadtplaner eine ganz besondere Be-         Raum zurückgeführt werden. Dabei stehen Öffentlichkeit
deutung. Es gehört zur Profession der Planerin und des               und Privatheit nicht in einem Gegensatz zueinander, sie be-
Planers, mit normativen Beschreibungen der Zukunft zu ar-            dingen sich vielmehr wechselseitig. Ohne Öffentlichkeit
beiten. Der öffentliche Raum ist eng mit dem Leitbild der            gibt es keine Privatheit, denn die Sphäre der Öffentlichkeit
europäischen Stadt verknüpft. Die politische und ökonomische         hat dazu geführt, dass sich parallel Privatheit ausbilden
Emanzipation der Bürgerinnen und Bürger ist maßgebli-                konnte. Wie der Soziologe Hans Paul Bahrdt bereits in den
cher Charakterzug der europäischen Stadt, deren Freiheits-           50er Jahren zum Ausdruck brachte, eröffnen Städte so die
versprechen der öffentlichen Raum deutscher Städte heute             Möglichkeit zur „unvollständigen Integration“: Nicht in jeder
mehr denn je erfüllt: durchgesetzte Demokratie, offene Märkte,       Beziehung in eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe in-
Individualisierung und soziale Integration ohne Negierung            tegriert zu sein ermöglicht, an unterschiedlichen Gruppie-
von Differenz. Indessen hat sich die Funktion des öffentlichen       rungen teilzuhaben, aber sich aus diesen auch wieder zu-
Raums im historischen Kontext gewandelt – das Öffentliche            rückzuziehen. Der Rückzug in die Privatheit ist die Basis für
hat sich ins Internet erweitert, dennoch sind es weiterhin die       den erneuten Eintritt in unterschiedliche Gruppen und
zentralen Plätze, man denke an den Neumarkt in Dresden               damit in die Öffentlichkeit. Diese Differenz von Öffentlichkeit
oder den Taksim-Platz in Istanbul, die als Orte der politischen      und Privatheit wird als entscheidende Grundlage städtischer
Auseinandersetzung genutzt werden.                                   Kultur angesehen.

R E I N E R N AG E L      P R O F. D R . CA R O L I N E   P R O F. D R .          DR.-ING. ELENA
Vorstandsvorsitzender     Y. R O B E R T S O N -          WOLFGANG SONNE          W I E ZO R E K
der Bundesstiftung        VO N T R OT H A                 Professor an der        Hauptgeschäftsführerin
Baukultur, Potsdam        Gründungsdirektorin             Technischen             der Architektenkammer
                          des Zentrums für Ange-          Universität Dortmund    Rheinland-Pfalz, Mainz
                          wandte Kulturwissen-
                          schaft und Studium
                          Generale am Karlsruher
                          Institut für Technologie

10                        S C H A D E R - D I A LO G                 DU BIST NICHT ALLEIN
A M B I VA L E N Z E N

Das „Öffentliche“ hat viele Bedeutungssphären,                  Dialog-Café war es, öffentliche Räume wie Straßen, Plätze
von Straßen und Plätzen über digitale Medien                    und Parks als Übungsobjekte für Toleranz und Integration
                                                                zu nutzen.
bis hin zu konkreten Arenen des demokratischen
Diskurses. Sein Wesen ist ambivalent, das Ver-                       Öffentlichkeit beschreibt auch den Artikulationsraum für
hältnis des Öffentlichen zum Privaten vielfach                  Bedürfnisse und Anliegen, die früher durch die Presse, Par-
                                                                teien und andere Akteure gefiltert, aggregiert und in den po-
dialektisch. Das Öffentliche ist ein instabiles,                litischen Prozess eingespeist wurden. Die neuen Medien
voraussetzungsreiches und von Ungleichzeitig-                   tragen zu stärkerer Beteiligung aller an den Austauschprozes-
keiten geprägtes Konstrukt.                                     sen bei, doch die enorme Menge an Kommunikation kann
                                                                heute nicht mehr aggregiert werden. Die neue Sichtbarkeit
                                                                individueller Meinungen verstärkt bereits vorhandene Plu-
    Die Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit ist ein      ralität und deren weitere Ausdifferenzierung. Dies ist demo-
Phänomen der Moderne. Die Prinzipien des Allgemeinen und        kratiepolitisch nicht negativ, es fehlen aber Möglichkeiten,
Gleichen sind historisch der Gegenentwurf zu einer Gesell-      die neue Vielfalt kompromiss- und konsensfähig zu machen.
schaftsordnung als Aggregat privater Privilegien. Das Öffent-
liche in der Demokratie besteht so im privilegienfreien, dis-
kursiven Aushandeln der Lösung gemeinschaftlicher Aufgaben,
die nicht allein privaten Entscheidungen und der Markt-
koordination überlassen werden können.

    Dieses diskursive Aushandeln ist allerdings komplex und
nicht trivial organisierbar, so dass die Tendenz besteht, Re-
geln aus der Markt- und Privatheitssphäre auf die Öffentlich-
keit zu übertragen. Das jedoch kann den pluralistischen
und diskursiven Charakter des Öffentlichen konterkarieren.                   P R O F. D R .               ALEXANDER
Das Öffentliche benötigt genau wie die Koordination des                      OT F R I E D JA R R E N      KRAHMER
                                                                             Professor an der             Wissenschaftlicher
Privaten Regeln, aber diese Regeln haben einen anderen                       Universität Zürich           Mitarbeiter am Helmholtz-
Charakter. Es ist deshalb problematisch, wenn Privatunter-                                                Zentrum für Umwelt-
nehmungen die Regeln des Öffentlichen bestimmen.                                                          forschung, Leipzig

    Weder im kommunikativen noch im physischen Sinne
kann ohne Weiteres eine klare Trennungslinie zwischen Öffent-
lichkeit und Privatheit gezogen werden. Die öffentliche und
politische Kommunikation ist schon lange geprägt von privat-
wirtschaftlich organisierten Medien und Sendeanstalten,
und deren Unabhängigkeit und Staatsferne gilt als Grund-
element demokratischer Öffentlichkeit. Flächendeckend
mit Sensoren ausgestattete Smart Cities stellen in Frage, was
noch als privat verstanden wird und worin eine kollektive                    P R O F. D R . G I S E L A   P R O F. D R .
Aushandelbarkeit des öffentlichen Raumes besteht. Wie privat                 KUBON-GILKE                  RICHARD STURN
                                                                             Professorin an der           Professor an der
handeln reiche Bürger, die gemeinsam den Marktplatz in                       Evangelischen Hoch-          Karl-Franzens-
ihrer Stadt gestalten, wie öffentlich agiert ein Anlagefonds,                schule Darmstadt             Universität Graz
dem große Teile der Innenstadt gehören? Eine Vision im

                                                                            D I A LO G - CA F É S                                11
N A C H H A LT I G E
ENTWICKLUNG

Der öffentliche Raum spielt in Aushandlungs-
prozessen für eine nachhaltigere Entwicklung
in verschiedenen Lebensbereichen eine ele-
mentare Rolle. Wie können wir diesen Raum für
nachhaltige Entwicklung nutzbar machen?
Wo sind die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit?
Wie kommen wir ins Handeln?                                                   P R O F. D R .              DR. CHRISTINE
                                                                              GABRIELE ABELS              HEYBL
                                                                              Professorin an der          Autorin und Lehrbeauf-
                                                                              Eberhard Karls              tragte an der Leuphana
    Mit dem Begriff des Anthropozäns verstärkt sich die                       Universität                 Universität Lüneburg
Erkenntnis, dass die planetare Leistungsfähigkeit überstrapa-
ziert wird. Es braucht eine Umstellung zu einer nachhalti-
geren Wirtschafts- und Lebensweise. Dem öffentlichen Raum
kommt dabei eine entscheidende Rolle bei der Aushand-
lung konträrer Interessen und dem Austesten von Lösungs-
möglichkeiten zu.

     Anhand einer Strategie der Interessenaushandlung im
öffentlichen Raum zeigt sich, wie Ideen für eine nachhaltige
Entwicklung bei der Umverteilung städtischer Verkehrs-
                                                                              D R . J O N AT H A N        B R I T TA R Ö S E N E R
räume, einem potenziell konfliktreichen Thema, anschluss-                     KROPF                       Wissenschaftliche
fähig sind. Das vorgestellte Modell der Prozessgestaltung                     Wissenschaftlicher Mitar-   Mitarbeiterin an der
findet großen Anklang, fraglich bleibt, wo der beschriebene                   beiter an der Universität   Rheinisch-Westfälischen
                                                                              Kassel                      Technischen Hochschule
Weg zur Konsensfindung seine Grenzen findet. Ist ein par-                                                 Aachen
tizipativer Ansatz geeignet, die nötige Breitenwirkung in einem
relativ begrenzten Zeithorizont zu entfalten?

    Was kann der und die Einzelne angesichts des Klimawan-        getroffen werden? Führt die Diktion des Klimadiskurses zu
dels bewirken? Häufig wird an die individuelle Verantwor-         Scham und Angst – und damit zur Abwendung vom Thema?
tung appelliert. Das setzt aber infrastrukturelle Bedingungen     Positive Zukunftsvisionen und gewaltfreie Sprache moti-
voraus, die eine nachhaltig-kompetente Verantwortungs-            vieren, so eine Sichtweise. Althergebrachtes Verhalten, ob im
übernahme möglich machen. Diese fehlen oftmals in den             Privaten oder gesamtgesellschaftlich, hat enormes Behar-
Arenen des öffentlichen Raums, digital und analog. Der öf-        rungsvermögen, nur dystopische Zukunftsbilder vermögen
fentliche Raum des Digitalen wird zudem durch private             die Bequemlichkeit der Verbrauchsgesellschaft zu durch-
Akteure unter den Zwängen der Aufmerksamkeitsökonomie             brechen, so das Gegenargument.
gestaltet. Ohne Anreize oder Druck ist eine wirksame Selbst-
verpflichtung dieser Akteure zur Unterstützung nachhaltigen           Eine Mischung aus top-down gesteuertem Vorgehen und
Verhaltens unwahrscheinlich.                                      konsensorientierten Experimentierräumen scheint notwen-
                                                                  dig, um eine nachhaltige Transformation unter Wahrung des
    Wie steht es um die moralische Pflicht zum Handeln und        erforderlichen gesamtgesellschaftlichen Rückhalts zu be-
deren kommunikative Vermittlung im öffentlichen Raum?             wirken. Denn für einen Wandel zur einer nachhaltigeren Wirt-
Liegt es an der Art der Kommunikation, dass notwendige Maß-       schaft und Gesellschaft bleibt nicht mehr viel Zeit.
nahmen auf institutioneller und individueller Ebene nicht

12                        S C H A D E R - D I A LO G              DU BIST NICHT ALLEIN
V I E L F A LT

Der öffentliche Raum bietet als Sphäre ver-                                Wie geht die Erzählung anschließend weiter? Was ge-
meintlich gleichberechtigter Zugänglichkeit                            schieht, wenn Zugewanderte bleiben? Thema der zweiten
                                                                       Session „Bleiben“ sind Veränderungen in städtischen wie
Gelegenheit für Begegnungen. Kulturelle Um-                            ländlichen Räumen, wo Mehrheiten zunehmend zu Minder-
gebungen werden durch Migration vielfältiger                           heiten werden. Aus diesen demographischen Veränderungen
und können grundlegende Aushandlungspro-                               kann gesellschaftliche Polarisierung resultieren. Die Bildung
                                                                       neuer Identitäten zieht diese Entwicklung jedenfalls sicher
zesse anstoßen. Wird dieser vielfältige öffentli-                      nach sich. Als eine Konsequenz gewinnt das Lokale an Be-
che Raum von den verschiedenen urbanen                                 deutung. Dort, im Greifbaren, beginnt die Auseinander-
Gruppen überhaupt angenommen?                                          setzung mit der eigenen Identität.

                                                                           Die dritte Runde des Dialog-Cafés geht der Vielfalt von
     Sind wir dazu bereit, gesellschaftspolitische Errungen-           Bewegungen nach. Räumliche Mobilität hat sich für einen
schaften wie Teilhabe und Zugang zu öffentlichen Räumen                Großteil, vor allem hochqualifizierter Migrantinnen und Mi-
und Entscheidungsprozessen mit Ankommenden zu teilen?                  granten, zu einer Selbstverständlichkeit entwickelt. Über
Und zwar Ankommende jeglicher Couleur und somit völlig                 das Kommen und Bleiben richtet sich der Blick in der letzten
heterogene Gruppen, deren eigene Ressourcen stark vari-                Runde des Dialog-Cafés auf das „Gehen“. Ortsbindungen
ieren und die Angebote politischer und gesellschaftlicher Par-         verlieren tendenziell an Bedeutung, es entwickeln sich statt-
tizipation unterschiedlich wahrnehmen. Eine Fragestellung,             dessen mehr flüchtige und mobile Identitäten. Doch anders
die ebenfalls soziale Leistungen, etwa Angebote der Gesund-            als zu erwarten wäre, bleiben Räume durchaus von Bedeu-
heitsversorgung oder Bildung, betrifft. Und die eine grund-            tung. Ankommende wählen ihren Aufenthaltsort anhand
sätzliche Auseinandersetzung mit der eigenen Bereitschaft              jener Kriterien, die in Einklang mit der eigenen Identität ste-
eröffnet, Anderen Freiraum und Teilhabe zu gewähren.                   hen, auch wenn diese sich aus multilokalen Ortsbezügen
                                                                       speist.
    Drei Perspektiven rücken im Verlauf des Dialog-Cafés in
den Fokus. Unter dem Titel „Kommen“ widmet sich die                        Wie die einzelnen Sessions verdeutlichen, bedarf es einer
Runde Ankommenden, die sich in unseren Alltag und damit                erhöhten Aufmerksamkeit auf Prozesse, die Zugehörigkeit
ins öffentliche Leben begeben. Ihnen Partizipation zu er-              und Identitätsentwicklung für verschiedene Formen der Mi-
möglichen nimmt auch jene in die Pflicht, die bereits im öf-           gration – Arbeitsmigration, Fluchtmigration – ermöglichen
fentlichen Raum agieren. Es bleibt elementar, dass beide               können, auch aus Perspektive der Ankunftsgesellschaft.
Seiten aufeinander zugehen.

P R O F. D R . K L A U S -     P R O F. D R .             DR. SEBASTIAN             P R O F. D R .
D I E T E R A LT M E P P E N   M A R G I T FA U S E R     K U RT E N B AC H         A N D R E A S P OT T
Professor an der Ka-           Professorin an der Hoch-   Vertretungsprofessor      Professor an der Universi-
tholischen Universität         schule Darmstadt           an der Fachhochschule     tät Osnabrück
Eichstätt-Ingolstadt                                      Münster

                                                                                    D I A LO G - CA F É S                           13
K L A S S E S TAT T
M A S S E – S T R AT E G I E N
FÜR LEDER 2035

Wie kann die globale Lieferkette für Leder bis                   Lederlieferkette leisten können, waren 2019 ins Schader-
2035 nachhaltiger gestaltet werden? Im Rahmen                    Forum eingeladen. Sie stellten sich der Aufgabe, verschiedene
                                                                 Zukunftsvisionen, sogenannte Szenarien, zu erarbeiten. Ein
des Projekts „Systeminnovation für Nachhalti-                    erster Schritt auf Seiten der Beteiligten war, zunächst eine
ge Entwicklung (s:ne)“ wurden erste Strategien                   gemeinsame Perspektive einzunehmen, um auf die beste-
gemeinsam mit Akteuren aus der Wirtschaft,                       henden Herausforderungen zu schauen und diese einordnen
                                                                 zu können – und die Frage zu beantworten: An welchen
dem öffentlichen Sektor, der Wissenschaft und                    Stellschrauben muss gedreht und welche Weichen müssen
der Zivilgesellschaft erarbeitet.                                gestellt werden, um im Jahr 2035 deutliche Verbesserungen
                                                                 in der globalen Lederlieferkette zu erwirken? An insgesamt
                                                                 drei Terminen identifizierten die Beteiligten unter anderem
                                                                 verschiedene Einflussfaktoren, etwa das Verbraucherverhalten
   Die Schader-Stiftung ist Partnerin im Projekt „System-
                                                                 und die Produktionskosten. Nicht zu unterschätzen war,
innovation für Nachhaltige Entwicklung (s:ne)“ der Hoch-
                                                                 wie stark sich diese Faktoren gegenseitig beeinflussen und je
schule Darmstadt. Ziel ist es, die Transferstrategie der Hoch-
                                                                 nach Konstellation unterschiedlich starkes Gewicht haben.
schule weiterzuentwickeln und in unterschiedlichen The-
menfeldern zu erproben – etwa im Bereich der Stadtentwick-
                                                                     Die Praxisakteure und das Projektteam der Hochschule
lung oder des Chemikalienmanagements am Beispiel der
                                                                 formulierten im Rahmen des Szenarioprozesses zwei „Er-
Lederlieferkette.
                                                                 gebnis-Geschichten“, also zwei mögliche Visionen für die Zu-
                                                                 kunft der Lederbranche. Eines dieser Szenarien zeichnete
     E I N S Z E N A R I O P R OZ E S S A L S                    für das Jahr 2035 ein besonders positives Bild, so durch die
     AUSGANGSPUNKT                                               Schaffung von Transparenz bezüglich der Rückverfolgbar-
                                                                 keit von Chemikalien und durch eine Verbesserung der Ar-
    Vertreterinnen und Vertreter aus Wirtschaft, aus dem öf-     beitsbedingungen. Die Teilnehmenden verständigten sich
fentlichen Sektor, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft,   auf dieses Szenario als Basis der Weiterarbeit.
die einen Beitrag zu einer nachhaltigeren Gestaltung der

14                        S C H A D E R - D I A LO G             DU BIST NICHT ALLEIN
D E R S T R AT E G I E W O R K S H O P                            Abgesehen von der Beschäftigung mit globalen Liefer-
   LEDER 2035                                                    ketten wird das Projekt s:ne weitere Handlungsfelder, die ei-
                                                                 nen Beitrag zu einer nachhaltigeren Entwicklung leisten
    Der anschließende Strategieworkshop widmete sich Fra-        können, thematisieren. So werden Fragen der Verkehrswende
gen zur Weiterführung des Szenarioprozesses: Was muss            in Stadt und Region wie auch der Aspekt alternativer Liefer-
jetzt, was in sechs Monaten, in fünf Jahren und darüber hin-     verkehre, etwa mittels Hybrid-Lastenrädern, in den Fokus
aus getan werden – und von wem, um dieses Szenario zu            rücken, ebenso die Problematik der energetischen Versor-
realisieren? „Uns war es wichtig, konkrete Handlungsschritte     gung von Bestandsimmobilien. Gespiegelt werden diese
abzuleiten, die nicht allein durch die Wissenschaft entwi-       Themen immer wieder durch das „Bürgerpanel“ im Projekt
ckelt werden, sondern gemeinsam mit denjenigen, die es auch      s:ne, bei dem unter der Regie des Fachbereichs Umwelt-
umsetzen”, so Julian Schenten, Wissenschaftlicher Mitar-         psychologie an der Hochschule Darmstadt in regelmäßigen
beiter an der Hochschule Darmstadt und Leiter des s:ne-          Abständen die Darmstädter Bürgerinnen und Einwohner
Umsetzungsvorhaben „Herausforderungen entlang globaler           aus der Region befragt werden. Zuletzt standen hierbei regi-
Lieferketten“.                                                   onale Mobilität und Pendlerverkehr im Blickpunkt.

    Auch Teilnehmende des vorausgegangenen Szenariopro-                      W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / S N E
zesses engagierten sich im Strategieworkshop, dazu weitere
zentrale Akteure. Im Ergebnis entstanden Roadmaps mit kon-
kreten Handlungsanweisungen, um die avisierten Entwick-             Das Projekt wird im Rahmen des Bund-Länder-Programms
lungen in Gang zu setzen. „Ich habe mich sehr gefreut an            „Innovative Hochschule“ gefördert von:
diesem Prozess teilzunehmen, direkt mit der Wissenschaft
zusammenzuarbeiten und mit anderen Praktikern in einem
neutralen Umfeld zu diskutieren”, so Ekkehard Werner,
Mitarbeiter der Gerberei HELLER-LEDER und dort zustän-
dig für Nachhaltigkeit, Umweltschutz und Sicherheit. Aus
Sicht der Schader-Stiftung demonstriert der Projektablauf                   Gemeinsame
beispielhaft, wie das Konzept angewandter transformativer                   Wissenschaftskonferenz
                                                                            GWK
Forschung eine intensive und produktive Zusammenarbeit
zwischen Wissenschaft und Praxis ermöglicht.

   AUSBLICK
    Wie kann die Hochschule Darmstadt, die sich im Rahmen
des Projekts s:ne noch mindestens bis Ende 2022 mit dieser
Thematik befasst, am effektivsten den Prozess „Leder 2035“
weiterführen? Dazu sind erste Konzeptpapiere entstanden,
etwa zu nachhaltigeren Lederchemikalien oder zu „Trace-
ability“, der Nachverfolgbarkeit der einzelnen Schritte. Ak-                  DR. MICHÈLE                        KAREN LEHMANN
tuell wird auch darüber nachgedacht, an bestehende Initiativen                BERNHARD                           Politikwissenschaftlerin
im Bereich Chemikalienmanagement in globalen Liefer-                          Soziologin und Wissen-             und Wissenschaftliche
                                                                              schaftliche Referentin             Referentin der Schader-
ketten anzudocken, um Synergien zu schaffen.                                  der Schader-Stiftung               Stiftung

                                                                                                         L A U R A PA U L I
                                                                                                         Politikwissenschaftlerin,
   Ein Projekt von                                                                                       Persönliche Referentin
                                                                                                         des Vorstands und Wissen-
                                                                                                         schaftliche Mitarbeiterin
                                                                                                         der Schader-Stiftung

                                                                             S T R AT E G I E N F Ü R L E D E R 2 0 3 5                     15
„ E I N FAC H N U R
ICH SEIN“

Eine pluralistische Gesellschaft stellt hohe                   mit Themen rund um das Leben in der pluralen Gesellschaft
Ansprüche und Erwartungen an Frauen und Mäd-                   sehr viel Energie raubt. Vor allem natürlich deshalb, weil
                                                               ich persönlich involviert bin.
chen mit Migrationsbiographie. Unter dem
Titel „Konfusion und Konstruktion. Autorinnen                      Bei den vielen Begegnungen auf meiner Reise erlebte ich
zu Identität in der Migrationsgesellschaft“ ver-               meine Herkunft anders, sie war nicht von Belang. Niemand
                                                               fragte, woher ich „eigentlich“ komme. Ich hingegen – so sehr
anstalteten die Hochschule Darmstadt und die                   daran gewöhnt, Auskunft darüber zu geben – erwähnte auch
Schader-Stiftung eine Gesprächsreihe mit                       ungefragt, dass ich aus der Türkei stamme. Das blieb jedoch
Lesungen, die Canan Topçu moderierte. Sie be-                  unkommentiert. Wie mich das irritierte! Meine Herkunft
                                                               war anscheinend bedeutungslos, was ich gleichzeitig als wohl-
richtet hier von ihren persönlichen Erfahrun-                  tuend empfand. Ich bin 54 Jahre alt, lebe seit 1973 in Deutsch-
gen mit Herkunft und Zugehörigkeit und zeichnet                land und kann mich nicht daran erinnern, dass es hierzu-
die Vorgeschichte der Veranstaltungsreihe nach.                lande jemals so war. Auch in privaten Begegnungen kläre ich
                                                               wildfremde Leute darüber auf, dass ich aus der Türkei bin,
                                                               um dann Fragen über Türken im Allgemeinen und Türkinnen
    Im vergangenen Jahr nahm ich mir eine Auszeit und          im Besonderen zu beantworten.
tourte zwei Monate lang im Camper durch Tasmanien. Die
Fernreise sollte mir dabei helfen, einen klareren Kopf zu          Meine Migrationsbiographie hat sich auf meinen Werde-
bekommen und herauszufinden, ob ich mich beruflich weiter-     gang ausgewirkt: Ich war Hauptschülerin, schaffte durch
hin mit den Themen beschäftigen möchte, auf die ich mich       glückliche Zufälle den Wechsel auf die Realschule, dann aufs
im Laufe meines Berufslebens – eher unfreiwillig – speziali-   Gymnasium, machte Abitur und studierte. Immerzu wollte
siert habe: Migration und Integration, Islam und Muslime.      ich allen beweisen, ich habe trotz meiner Herkunft „was auf
Mit dem Älterwerden, genauer seit ich die 50 überschritten     dem Kasten“. Wie belastend und ermüdend das ist, nehme
habe, bemerke ich, dass die professionelle Beschäftigung       ich mit dem Älterwerden wahr. Wer hätte ich sein können,

16                       S C H A D E R - D I A LO G            DU BIST NICHT ALLEIN
wenn mir nicht immer wieder meine Herkunft in die Quere            von Vorurteilen, Ausgrenzungen und Rassismus zu leben
gekommen wäre? Wie wäre ich, wenn ich einfach nur ich              haben. Damit die Studierenden Räume des öffentlichen Dis-
sein könnte? Also ohne immer wieder auf den Migrations-            kurses entdecken, initiierte ich eine Kooperation mit der
hintergrund festgenagelt zu werden und ohne auf die mir            Schader-Stiftung, die ich privat und beruflich als einen Ort
deswegen zugeschriebenen Eigenschaften zu reagieren – mal          des Austausches von Wissenschaft und Gesellschaft schätze.
diese bestätigend, mal sie mit großem Kraftaufwand ab-
weisend.                                                               Drei Autorinnen hatten wir zu Gast: Dilek Güngör, Lena
                                                                   Gorelik und Alice Hasters. Journalistinnen, die zudem Bü-
   Fragen nach Zugehörigkeit und Identität beschäftigen            cher geschrieben haben – Bücher, in denen sie sich auf unter-
auch viele andere Frauen mit tatsächlicher oder vermeintlicher     schiedliche Weise mit ihrer Herkunft und ihrem Leben in
Migrationsgeschichte. Auf eine sehr eindringliche Weise be-        diesem Land beschäftigen, die Facetten ihrer Identität be-
schreibt Dilek Güngör in ihrem Buch „Ich bin Özlem“ die            schreiben und diese in Zusammenhang mit den Bedingungen
Suche nach sich selbst. Die Autorin – wie ich Tochter türki-       bringen, denen sie ausgesetzt waren und sind. Die Resonanz
scher Arbeitsmigranten – verarbeitet in ihrem Roman eigene         auf die Veranstaltungsreihe war überwältigend. Das Kon-
Erfahrungen. Die Protagonistin Özlem lässt daran teilha-           zept – Lesung, Gespräch auf dem Podium und Diskussion
ben, wie sehr die Fremdzuschreibungen als „Türkin“ sie             mit dem Auditorium – hat funktioniert: Es entwickelte sich
prägten und einschränkten, wie sehr die Außenwahrneh-              ein reger und teilweise sehr persönlicher Austausch zwischen
mungen ihr Verhalten bestimmten. „Ich bin Özlem“ las ich           den Autorinnen und dem Publikum.
zum Ende meiner Auszeit in Tasmanien.
                                                                       Die Veranstaltungsreihe hat einmal mehr meine Ansicht
    Die Idee für die Veranstaltungsreihe „Konfusion und Kon-       bestätigt, wie sehr das öffentliche Sprechen über die (Aus-)
struktion. Autorinnen zu Identität in der Migrationsgesell-        Wirkungen von Ausgrenzung und Diskriminierung erforder-
schaft“ ist nach dieser Lektüre entstanden. Wie ich festgestellt   lich ist, und sie hat denen, die von diesen Erfahrungen
habe, wird dem Thema Fremdzuschreibungen und deren                 nicht betroffen sind, einen Perspektivwechsel ermöglicht. Das
Auswirkungen auf Zugehörigkeit und Identitätsbildung nicht         wiederum kann Empathie wecken – ein Gefühl, das zumin-
genug Aufmerksamkeit gewidmet. Es kommt in Debatten                dest verhindern kann, andere auszugrenzen, abzustempeln
über gleichberechtigtes Zusammenleben zu kurz. Ausgrenzung         und zu verletzen.
und Abschottung, Zuschreibungen und Zugehörigkeit be-
dingen sich, Begegnungen auf Augenhöhe und als Individu-                       W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E /
en sind ein Mittel, das eigene Schubladen-Denken zu re-                        I D E N T I TA E T E N
flektieren und zu überwinden.

    Die Hochschule Darmstadt ist mein Wirkungsfeld. An der            Im Rahmen des Projekts „Integrationspotenziale finden
Hochschule bin ich seit 2014 im Fachbereich Gesellschafts-            Stadt“ der Schader-Stiftung gefördert durch:
wissenschaften als Lehrbeauftragte tätig. Dort biete ich seit
einigen Jahren Seminare an, in denen unterschiedliche As-
pekte der Migrationsgesellschaft thematisiert werden. Dabei
entstand der Gedanke, im Rahmen der Lehre Studierende
mit Autorinnen zusammenzubringen, die tatsächlich mit Mi-
grationsbiographie leben oder denen eine solche zugeschrie-
ben wird. Die gemeinsame Lektüre ihrer Bücher und der di-
rekte Austausch mit den Autorinnen sollten Einblick in
das Innenleben jener gewähren, die mit den Auswirkungen
                                                                                                           CA N A N TO P Ç U
                                                                                                           Journalistin und Dozentin
                                                                                                           an der Hochschule Darm-
                                                                                                           stadt und der Hochschule
                                                                                                           für Polizei und Verwaltung

                                                                               E I N FA C H N U R I C H S E I N                         17
I N F O R M AT I O N schader-stiftung.de

P R OJ E KT E
2019
Die Schader-Stiftung fördert seit 30 Jahren die   G LO BA L C H A L L E N G E S :
Gesellschaftswissenschaften. Ihr Anliegen ist     C H A N C E N U N D F O R M AT E F Ü R
es dabei, den Praxisbezug der Gesellschaftswis-   INTERDISZIPLINÄRE LEHRE
senschaften und deren Dialog mit der Praxis
zu stärken. Zu diesem Zweck stellt die Schader-        Bereits seit zehn Jahren wird an der Technischen Univer-
                                                  sität Darmstadt die Ringvorlesungsreihe „Global Challenges“
Stiftung das Schader-Forum in Darmstadt zur
                                                  im Rahmen der interdisziplinären Studienschwerpunkte
Verfügung.                                        (iSP), einer Plattform zu Themenstellungen der Nachhaltigen
                                                  Entwicklung und gesellschaftlichen Verantwortung, ange-
                                                  boten. Anlässlich der Auszeichnung der Vorlesungsreihe mit
Schwerpunkte der Förderung setzen jeweils
                                                  dem „Athene-Sonderpreis für Interdisziplinäre Lehre“ lud
die Themen des Großen Konvents der Schader-       die Plattform iSP in Kooperation mit der Schader-Stiftung
Stiftung: „DU BIST NICHT ALLEIN. Öffentlicher     am 20. November 2019 zu einer „Kennenlern-Feier“ ins
                                                  Schader-Forum ein, um den Erfolg der iSP zu würdigen und
Raum im Dialog“ im Jahr 2019 und „Das Er-
                                                  sich dabei über neue Inhalte sowie künftige Aktivitäten aus-
leben der Anderen“ als Konventsthema 2020.        zutauschen.
Hierzu sind Anregungen und Anträge beson-
ders willkommen.

Ausführliche Dokumentationen der hier in
Auswahl vorgestellten Veranstaltungen finden
sich unter www.schader-stiftung.de

                                                      Die neu gewählte Präsidentin der Technischen Universität
                                                  Darmstadt (TUD), Tanja Brühl, veranschaulichte Inter-
                                                  disziplinarität als einen „360 Grad-Blick“, dem für die erfolg-
                                                  reiche Arbeitsmarktbefähigung von Studierenden zentrale
                                                  Bedeutung zukommt, und brachte ihre Erwartungen an die
                                                  weitere Kooperation zum Ausdruck: „Dazu leisten die Stu-
                                                  dienschwerpunkte einen großen Beitrag, dazu leistet aber
                                                  auch die Schader-Stiftung einen wichtigen Beitrag.“ An-
                                                  hand des Lichtenbergzitats „Wer nichts als Chemie versteht,

18                 S C H A D E R - D I A LO G     DU BIST NICHT ALLEIN
versteht auch die nicht recht“, charakterisierte Jens Soentgen      „Nachhaltige Helden, heldenhafte Nachhaltigkeit“. Ort der
von der Universität Augsburg in seinem Festvortrag Inter-           Gespräche sind jeweils die Kammerspiele des Staatstheaters
disziplinarität als Vielsprachigkeit.                               Darmstadt. In der Konzeption der einzelnen Gespräche
                                                                    engagierten sich Persönlichkeiten aus dem Staatstheater, der
     In drei Gesprächsrunden der restlos ausgebuchten Veran-        European Space Agency, der Hochschule Darmstadt und
staltung wurde über die einzelnen Schwerpunkte der iSP –            der Technischen Universität Darmstadt.
Umweltwissenschaften, Technologie- und internationale Ent-
wicklung, Wissenschafts- und Technikforschung – aus Sicht                        W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E /
der Studierenden und der Praxisakteure in Bezug auf Rele-                        DA R M S TA E D T E R G E S P R A E C H
vanz und Erwartungen interdisziplinärer Lehre diskutiert.
Ralph Bruder, scheidender Vizepräsident für Studium, Lehre          GEWERBEIMMOBILIEN IM
und wissenschaftlichen Nachwuchs der TUD, fasste die
Schlaglichter aus den Gesprächsrunden zusammen und hielt            S T R U K T U R WA N D E L VO N W I R T-
dabei fest, wie die iSP auch in Zukunft einen Raum für die          SCHAFT UND GESELLSCHAFT
Entwicklung einer aktiven Kommunikationskultur zwischen
den Disziplinen darstellen sollen.
                                                                        Großunternehmen und Immobilienbranche erwarten in
             W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / I S P   den nächsten zehn Jahren gewaltige Umbrüche im Bereich
                                                                    der Gewerbeimmobilien. Massive Veränderungen von Ge-
DA R M S TÄ D T E R G E S P R ÄC H                                  schäftsmodellen, Arbeitsabläufen und Produkten werden
                                                                    die Immobiliennachfrage der Unternehmen verändern: 50%
#HELDENREISE                                                        der betrieblich genutzten Immobilien in Deutschland sollen
                                                                    in den 2020er Jahren an die Zukunftsbedarfe der Unterneh-
    Die Darmstädter Gespräche sind eine traditionsreiche            men angepasst werden. Zwei Drittel der Großunternehmen
Form öffentlicher Wissenschaft und der Diskussion von „Fra-         rechnen damit, stark von einer immobilienwirtschaftlichen
gen unserer Zeit“, die seit den 1950er Jahren in unterschied-       Transformation betroffen zu sein. Damit zeichnen sich auch
lichen Konstellationen in Darmstadt stattfinden. Das erste          große Herausforderungen für die Stadtentwicklungsplanung
Darmstädter Gespräch widmete sich 1950 dem Thema „Das               und die regionale Raumordnungspolitik ab.
Menschenbild unserer Zeit“.
                                                                        Die Folgen von Digitalisierung, globalem Wettbewerbs-
     Ab Herbst 2019 werden die Darmstädter Gespräche in             druck und gesellschaftlichem Wandel für die Immobilien-
Kooperation des Staatstheaters Darmstadt, der Schader-              nutzung durch Unternehmen standen im Mittelpunkt der
Stiftung und des Runden Tischs Wissenschaftsstadt Darm-             Fachkonferenz „Gewerbeimmobilien im Strukturwandel
stadt in neu konzipierter Form fortgesetzt. Die Themen              von Wirtschaft und Gesellschaft“, die die Schader-Stiftung
der Gespräche orientieren sich am Spielzeitmotto 2019/20            gemeinsam mit dem Fachgebiet Immobilienwirtschaft und
des Staatstheaters Darmstadt „Abschied von den Helden“,             Baubetriebswirtschaftslehre (Real Estate) der Technischen
welches die Auseinandersetzung mit Heldenerzählungen in             Universität Darmstadt am 20. November 2019 durchführte.
Theater und Gesellschaft sucht. Die Gesprächsreihe will tra-        Die Tagung fand in Kooperation mit dem Zentralen Immo-
ditionelle wie moderne Heroismen identifizieren und gleich-         bilienausschuss ZIA sowie CoreNet Global – The Global
zeitig die Frage nach einer postheroischen Zukunft stellen.         Association for Corporate Real Estate statt. Die Teilnehmenden
                                                                    stammten aus dem Corporate Real Estate Management
    Woher rührt unsere Faszination für Heldenfiguren und            (CREM), Immobilienwirtschaft, Investment und Finanzie-
deren Geschichten? Das erste Darmstädter Gespräch am                rung sowie aus Stadtentwicklungspolitik, Wirtschaftsförde-
27. Oktober 2019 ging den Strukturen des Heldentums auf             rung, Planung und Stadtforschung.
den Grund. Das zweite Gespräch am 15. Dezember „Ab-
schied von den Weltraumhelden“ fragte, ob in Zukunft Hel-                        W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E /
denmaschinen die menschlichen Heroen ersetzen. Machen                            GEWERBEIMMOBILIEN
erst Heldenfiguren die Raumfahrt möglich? Am 16. Februar
2020 standen „Helden in der digitalen Welt“ zur Debatte.
Die Gesprächsreihe schließt am 5. April und thematisiert

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