Ein Bundesrat im Landgasthof Esther Hilfiker im Interview An App a day keeps the doctor away?
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Das Magazin der Nr. 3 Aerztegesellschaft des Juni 2018 Kantons Bern Themen dieser Ausgabe Ein Bundesrat im Landgasthof Esther Hilfiker im Interview An App a day keeps the doctor away? doc.be 03/2018 Editorial 1
Technologischer Fortschritt und freie Berufe – ein Widerspruch? Patientinnen und Patienten haben längst damit begonnen, ihren Gesundheitszustand mit mobilen Apps selber zu überwachen. Den Arzt braucht es scheinbar nur noch, damit die bereits beschlossene Behand- lung durchgeführt und anschliessend mit der Krankenkasse abgerechnet werden kann. Oder für eine sogenannte second opinion. Welche Konsequenzen hat der technologische Fortschritt demnach für die freie ärztliche Berufsausübung? Tatsächlich wird die Digitalisierung teilweise neue G eschäftsmodelle hervorbringen, welche das klassische Berufsverständnis aller freien Berufe verändern. Um die Digitalisierung erfolgreich zu bewältigen, genügt aber nicht alleine eine Automatisierung. Es muss gelingen, die Patienten unter Zuhilfenahme moderner Kommunikationsmittel besser abzuholen, direkter anzusprechen und so zusammen mit ihnen einen neuen Standard der Kollaboration zu entwickeln. Näher zur Patientin zu gehen bedeutet, dass neue Werbe- und Begeg- nungsformen ermöglicht werden. Mit entsprechenden Veranstaltungen könnten neue Patienten mit den Erfahrungen und positiven Meinungen von bestehenden Patienten konfrontiert werden. «Put yourself in the client’s shoes» würde hier vielleicht bedeuten, dass die H ausärztin für bestehende und potentielle neue Patienten eine sogenannte Meetup- Serie, also regelmässige kurze Informationsveranstaltungen zu aktuel len Gesundheitsthemen, durchführt. Verzeihen Sie mir, dass ich ausnahmsweise den Fokus nicht auf die rechtliche Zulässigkeit solcher Veranstaltungen lege – denn solche oder ähnliche Entwicklungen werden nicht aufzuhalten sein. Wichtig ist nun aber Folgendes: Das Kerngeschäft der notwendigen ärztlichen Fachkompetenz, welche nicht nur auf theoretischem Wissen, sondern vor allem auch auf Empathie und viel Lebenserfahrung beruht, wird von den erwähnten Entwicklungen gar nicht oder nur am Rande tangiert. Insoweit sind technologischer Fortschritt und Industrialisierung reproduzierbarer Vorgänge zwar ein notwendiges Übel. Diese Not wendigkeit ist aber bei richtiger Betrachtung dem administrativen Bereich zuzuordnen und stellt demzufolge keine Gefahr für die freien Berufe und die weiterhin freie ärztliche Berufsausübung nach bestem Wissen und Gewissen dar. Dr. iur. Thomas Eichenberger Sekretär Aerztegesellschaft des Kantons Bern 2 doc.be 03/2018 Editorial
Inhalt DOCUPASS- Vorsorgedossier 4 Die Politik riskiert zu zer stören, was gut funktioniert Mit dem DOCUPASS-Vorsorgedossier bietet Pro Senectute eine anerkannte Pro Senectute steht Ihnen beim Verfas- sen Ihrer Wünsche, beim Ausfüllen der Die neue BEKAG-Präsidentin Esther Gesamtlösung für alle persönlichen Vor- Formulare sowie bei Fragen gerne zur Hilfiker will den Dialog fördern. sorgedokumente von der Patientenverfü- Seite. gung bis zum Testament. Im DOCUPASS 7 Ein Bundesrat im Landgasthof Sein Einstieg in die nationale Politik halten Sie alle Ihre persönlichen Anliegen, Bedürfnisse und Wünsche im Zusam- T 031 924 11 00 info@be.prosenectute.ch geschah zufällig – und heute ist Ignazio menhang mit Krankheit, Pflege, Sterben www.be.prosenectute.ch Cassis Aussenminister der Schweiz. und Tod individuell fest. Nutzen auch Sie Als Arzt wie auch als Politiker gehe es diese Gelegenheit und sorgen Sie recht- darum, Erwartungen und Stimmungs zeitig vor! Mehr über den DOCUPASS er- lagen wahrzunehmen. fahren Sie im beigelegten Flyer oder auf www.docupass.ch. 9 Der Countdown läuft – 2020 soll das EPD stehen Den DOCUPASS erhalten Sie für CHF 19.– 2018 ist ein entscheidendes Jahr bei allen Beratungsstellen von Pro für die Einführung des elektronischen Senectute im Kanton Bern persönlich Patientendossiers: Es geht an die am Schalter oder via Bestellung per Mail, konkrete Umsetzung in den Stamm Telefon oder im Webshop. gemeinschaften. 11 Weitere Präzisierungen für das EPD Beispiele erzielter Verbesserungen zur Strategie eHealth Schweiz. 12 Süsser Verführer Zucker Wir essen viel zu viel Zucker. Das macht uns krank. Verschiedene Akteure wollen den Zuckerkonsum senken – doch wie? 16 An App a day keeps the doctor away? Die Anzahl Gesundheits-Apps steigt täglich. Wo liegen Gefahren, wo Chancen Impressum dieser Entwicklung? doc.be, Organ der Aerztegesellschaft des Kantons 18 Eine Auszeichnung für die Begeisterung Bern; Herausgeber: Aerztegesellschaft des Kantons Bern, Postgasse 19, 3000 Bern 8 / erscheint Die Pathologin Dr. Yara Banz ist Teacher 6 × jährlich; Verantwortlich für den Inhalt: of the Year 2018. Vorstandsausschuss der Aerztegesellschaft des Kantons Bern; Redaktion: Marco Tackenberg, 21 Dem dritten Lebensabschnitt gelassen entgegenblicken Simone Keller und Markus Gubler, Presse- und Informationsdienst BEKAG, Postgasse 19, Die Pro Medico Stiftung bietet selbstän 3000 Bern 8, T 031 310 20 99, F 031 310 20 82; dig erwerbenden Ärztinnen und tackenberg@forumpr.ch, keller@forumpr.ch, Ärzten bedarfsgerechte und attraktive gubler@forumpr.ch; Inserate: Simone Keller, Vorsorgelösungen. keller@forumpr.ch; Gestaltung / Layout: Definitiv Design, Bern; Druck: Druckerei Hofer Bümpliz AG, 3018 Bern; Titelbild: Martin Bichsel doc.be 03/2018 Neuigkeiten 3
Die Politik riskiert zu zerstören, was gut funktioniert Seit bald 100 Tagen ist Esther Hilfiker Präsidentin der Aerztegesellschaft des Kantons Bern. Sie will Strukturen, in denen sich Frauen engagieren können, und eine gesundheitspolitische Diskussion, die den Nutzen nicht vergisst. Interview: Marco Tackenberg und Simone Keller, habe ich bereits als Vize-Präsidentin mitgewirkt. Presse- und Informationsdienst Neu ist, dass ich den Lead habe; ich konnte aber Bild: Martin Bichsel im Vorfeld einigermassen gut abschätzen, was das bedeutet. Womit ich nicht gerechnet hätte, ist, dass doc.be: Sie sind seit März dieses Jahres viele Arbeitsgruppen erwarten, dass die BEKAG Präsidentin der BEKAG. Was hat Sie zu immer durch die Präsidentin vertreten wird. Ich diesem Engagement bewogen? versuche dieser Tendenz entgegen zu halten, die Esther Hilfiker: Der Reiz dieser Aufgabe besteht Präsidentschaft ist kein Vollzeitamt. Im Vorstand für mich darin, etwas bewegen zu können. Der sind wir ein Team. Wir arbeiten zusammen und das standespolitische Aspekt ist ein wichtiger, nicht- wollen wir so nach aussen tragen. fachlicher Bestandteil unserer Arbeit. Und er wird immer bedeutsamer, weil wir Ärztinnen und Ärzte Ebenfalls überraschend war für mich die Kurz- immer mehr in den Fokus der Politik rücken. Ich fristigkeit: Teilweise ohne Ankündigung sollen denke da an unterschiedliche Vorlagen auf natio- komplexe Themen diskutiert und sofort Lösungen naler wie auf kantonaler Ebene. In jeder Session präsentiert werden. Das finde ich nicht richtig und werden gesundheitspolitische Vorstösse diskutiert, nicht seriös. Positiv überrascht war ich von den in die wir uns vielschichtig einbringen und somit vielen guten und ermutigenden Feedbacks, die ich etwas bewegen können. Jüngstes Beispiel ist das nach meiner Wahl erhalten habe. Ich merke, dass Praxisassistenz-P rogramm. Solche Erfolge können man mir wohlwollend gegenübersteht; das bestärkt wir nur als Verband, als Team erreichen. und motiviert mich. Und persönlich? Persönlich haben mich zwei Aspekte motiviert: «Der Solidaritätsgedanke Erstens lerne ich an jeder Sitzung etwas Neues – geht in der Politik das ist eine riesige Bereicherung und erweitert meinen Horizont. Zweitens steckt in mir sportli- zunehmend verloren.» cher Ehrgeiz. Ich möchte mir beweisen, dass ich so etwas kann. Wie gehen Sie das Amt als BEKAG- Sie sind seit bald 100 Tagen im Amt. Präsidentin an? Wo setzen Sie Akzente? Wie haben Sie diese Anfangszeit erlebt? Die Leitlinie für mein Handeln ist das Wohl der Für mich ist dieses neue Amt sehr aufregend – und Patientinnen und Patienten, das steht für mich dementsprechend bin ich auch aufgeregt. Vieles an erster Stelle. Darum richte ich ein besonderes habe ich so erwartet. Bei den meisten Dossiers Augenmerk auf eine hohe Versorgungsqualität mit 4 doc.be 03/2018 Interview
Esther Hilfiker ist keine einer starken Grundversorgung, aber auch mit spe- fachlichen Tätigkeit ausgeübt werden können. Das Einzelkämpferin: «Ich stehe zialisierter und universitärer Medizin – dort, wo sie geht nur, wenn standespolitisches Engagement fair zwar an der Spitze des nötig ist. Ich bin Präsidentin von allen Ärztinnen vergütet wird. Für die Rekrutierung neuer Vor- Verbands, aber ich habe ein und Ärzten im Kanton Bern; von den Spezialisten standsmitglieder stehen für mich aber nach wie vor gutes und motiviertes Team genauso wie von den Grundversorgern. die Qualifikation und das Interesse an der Sache hinter mir. Im Vorstand im Vordergrund, nicht das Geschlecht. arbeiten wir zusammen.» Bringen Sie das unter einen Hut? Ich bin mir bewusst, dass ich mich in einem Span- nungsfeld befinde und mich beide Seiten kritisch «Bei Diskussionen, die begutachten. Ich erhoffe mir einen kleinen Vorteil nicht zielführend sind, davon, dass ich selber Spezialistin bin und ein gu- tes Netzwerk habe. Trotzdem ist das keine einfache muss man auch mal einen Aufgabe. Schlussstrich ziehen.» Was wollen Sie in der BEKAG verändern? Ich möchte eine grössere Solidarität unter Ärzten Wo sehen Sie Ihre Stärken, die Sie in erreichen. Ich sehe mich selber als Brückenbauerin, ieses Amt einbringen können? d die den Dialog sucht und fördert: zwischen Grund- Ich bringe eine neue, eine weibliche Optik ein. versorgern und Spezialisten ebenso wie zwischen Frauen ticken anders, gehen anders mit Menschen jungen Medizinern am Anfang ihrer Laufbahn um und hinterfragen sich selber öfter. Sie sind und älteren Ärztinnen und Ärzten. «gschpüriger», insbesondere wenn etwas im Argen liegt. Eine weitere Stärke ist, dass ich sehr fokus- Ihrem Vorgänger Beat Gafner war siert bin. Ich mag keine endlosen Debatten, bei de- die Frauenförderung ein grosses Anliegen. nen man sich im Kreis dreht. Bei Diskussionen, die Setzen Sie sich auch dafür ein? nicht zielführend sind, muss man auch mal einen Die Feminisierung der Medizin ist ein Fakt; bei Schlussstrich ziehen. Das kann ich. den Studienabgängern sind die Frauen bereits in der Überzahl. Ich gehe davon aus, dass wir diesen Welches sind Ihrer Meinung nach aktuelle Trend auch in der Standespolitik spüren werden. gesundheitspolitische Herausforderungen Es ist wichtig, dass die Frauen im Berufsverband im Kanton Bern? vertreten sind. Wir müssen unsere Strukturen so Der Solidaritätsgedanke geht in der Politik zuneh- anpassen, dass Frauen sich engagieren können. mend verloren. Der Kanton Bern hat sich auf eine Standespolitik soll nicht immer eine zusätzli- Sparpolitik versteift, die vor allem der gesunden che Aufgabe sein, sondern teilweise anstelle der Mehrheit zu Gute kommt. Auch die Diskussion doc.be 03/2018 Interview 5
Esther Hilfiker ist die erste um Qualität und Nutzen geht manchmal verges- Das klingt nach einer Einzelkämpferin. Frau an der Verbandsspitze in sen. Die Politik riskiert etwas zu zerstören, was Das könnte man meinen, aber ich arbeite gerne der über 200-jährigen gut funktioniert. Denn unsere Patienten sind sehr und gut im Team. Früher habe ich Volleyball ge- G eschichte der BEKAG. zufrieden mit dem Gesundheitswesen. Es ist zwar spielt. Doch als Medizinerin mit unregelmässigen teurer als früher, aber es geht uns auch besser. Die Arbeitszeiten und fixen Dienstplänen wird man Menschen werden immer älter. An einem Herz irgendwann zur Einzelkämpferin. infarkt stirbt heutzutage fast niemand mehr. In der Gesundheitsstrategie des Kantons sind diese medi- zinischen Errungenschaften nicht abgebildet. Aber vor dem medizinischen Fortschritt können wir uns Neue Vorstandsmitglieder nicht verschliessen! An der Delegiertenversammlung vom 15. März 2018 wurden einstimmig zwei neue Mitglieder in den Vorstand der Aerzte- gesellschaft des Kantons Bern gewählt. «Das Gesundheitswesen ist zwar teurer als früher, Dr. med. François Moll ist neuer Vizepräsident der BEKAG. Er hat einen Facharzttitel in Psychiatrie und Psychotherapie. aber es geht uns auch Moll betreibt eine Privatpraxis in Biel und engagiert sich besser!» seit 2008 als Vorstand des (ärztlichen) Bezirksvereins Biel- Seeland. Seit 2012 ist er Vertreter des Bezirksvereins Seeland im Vorstand der BEKAG. Sie sind neben Ihrem standespolitischen Engagement als Radiologin tätig. Bleibt da Dr. med. Doris Zundel-Maurhofer war bisher als Vertreterin noch Zeit für Privates? des Vereins Berner Haus- und Kinderärzte VBHK im Vor- Zeit für Privates nehme ich mir, weil ich das will stand der BEKAG (ohne Stimmrecht). Neu ist sie gewählte und weil ich es brauche. Am wichtigsten sind mir Vertreterin des ABV Emmental. Sie ist Fachärztin Allgemeine gemeinsame Aktivitäten mit meinem Partner und Innere Medizin. Zundel-Maurhofer betreibt eine Gemein- Sport. Ich bin eine leidenschaftliche Joggerin. schaftspraxis in Bätterkinden und ist L ehrbeauftragte für Meine Joggingschuhe habe ich immer dabei, auch Hausarztmedizin an der Universität Bern. auf Reisen. Beim Joggen kann ich abschalten und schöpfe Kraft. Das Gute daran: Joggen kann ich alleine und dann, wann es mir gerade passt. 6 doc.be 03/2018 Interview
Ein Bundesrat im Landgasthof Im März leitete Beat Gafner seine letzte Vorstandssitzung. Zu diesem speziellen Moment lud er Bundesrat Ignazio Cassis ein. Text: Marco Tackenberg und Sandra Küttel, Medizin.» Der heutige Aussenminister verzichte- P resse- und Informationsdienst te in jener Zeit auf eine Weiterbildungsstelle an Bild: Martin Bichsel einer HNO-Klinik in Zürich. Er entschied sich für eine Stelle am Institut für Sozial- und Prä- An Selbstbewusstsein fehlt es der Aerztegesell- ventivmedizin der Universität Lausanne, wo er schaft des Kantons Bern nicht. Da kommt man promovierte. schon mal auf die Idee, einen Bundesrat an eine Vorstandssitzung in den Landgasthof Schönbühl Kantonsarzt im Tessin einzuladen. Vor mehr als einem Jahrzehnt getraute Im Alter von 35 Jahren ergab sich eine neue be- sich der damalige Innenminister Pascal Couchepin rufliche Herausforderung: Ignazio Cassis bewarb in die Höhle der Bären. An der heurigen März-Sit- sich für die Stelle des Kantonsarztes in B ellinzona. zung folgte Bundesrat Ignazio Cassis der Einla- Er war der einzige Kandidat im Kanton, der über dung unseres Präsidenten. Für den A ussenminister die notwendigen Weiterbildungen verfügte. Er war war es freilich ein Heimspiel. Die Sympathien be- auch der Einzige ohne politische Unterstützung. ruhen seit vielen Jahren auf Gegenseitigkeit. Der Aus diesen Gründen wurde er gewählt – trotz heutige Bundesrat nahm in der Vergangenheit wenig beruflicher Erfahrung. Elf Jahre lang öfters an Klausurtagungen der BEKAG teil. 2009 war Ignazio Cassis Kantonsarzt im Tessin. Eine erwies uns der damalige Nationalrat an der Feier in Herausforderung, denn «es gibt kein Lehrbuch für Burgdorf zum 200-Jahre-Jubiläum unserer Gesell- Kantonsärzte», wie der Bundesrat es ausdrückt. schaft die Ehre. Die BEKAG-Präsidenten Schlup Frisch von der Uni, war der junge Akademiker es und Gafner tauschten sich in all den Jahren regel- sich gewohnt, evidenzbasiert zu arbeiten. Doch mässig mit Ignazio Cassis aus. fand er sich als Kantonsarzt in einer Welt wieder, die komplett anders funktionierte. Er musste sein Bundesrat Cassis, begleitet von seiner persönli- Denken umstellen. chen Mitarbeiterin Anna Fazioli und seinem Fah- rer, berichtete im Landgasthof von seinem Weg in Der Einstieg in die nationale Politik geschah zufäl- die Politik. 1987 schloss er sein Medizinstudium lig: Der Parteipräsident der kantonalen FDP rief mit dem Staatsexamen in Zürich ab. Ende der ihn an und sagte frank und frei, die anderen Par- 1980er-Jahre begann er, Aids-Patienten zu betreu- teien hätten Ärzte auf ihren Nationalratslisten, die en. Er führte in Lugano eine HIV-Sprechstunde FDP brauche jetzt auch einen. Cassis ahnungslos, und sah, wie wichtig die soziale Dimension der wie ein Wahlkampf zu führen sei, sagte zu. Er wur- Medizin ist: «Die Patienten waren zwar klinisch de 2003 zwar nicht gewählt, erreichte aber den ers- krank, brauchten Medikamente, aber für die man- ten Ersatzplatz und rückte 2007 in den Nationalrat nigfaltigen Schwierigkeiten im Leben gab es keine nach. Zehn Jahre später wählte in die Vereinigte doc.be 03/2018 Vorstandssitzung März 2018 7
Bundesrat Ignazio Cassis: Bundesversammlung in die Landesregierung. Sei- igentliche Ursachenbekämpfung. Und in beiden e «Wir müssen uns von der Idee ne berufliche Karriere nahm damit eine andere Berufen gehe es darum, Erwartungen und Stim- verabschieden, dass jemand Wendung. mungslagen wahrzunehmen. für uns die Probleme löst. Das müssen wir schon selber Viel weniger Freiraum Ratschläge machen.» Inwiefern unterscheidet sich Ignazio Cassis’ heu- Welche Ratschläge kann Bundesrat Ignazio Cassis tiges Amt von der standespolitischen Tätigkeit ei- standespolitisch engagierten Ärztinnen und Ärz- nes Milizlers? Als Bundesrat und Aussenminister ten geben, er, der die Welt der Milizorganisationen besitze er viel weniger Freiräume, sagt er. «Früher, wie der hochprofessionalisierten Politik kennt? als Milizparlamentarier, konnte ich verschiedene Wie verhilft man seinen Anliegen zum Durch- Funktionen gleichzeitig ausüben. Als Lehrbeauf- bruch? tragter an der Universität, Verbandsfunktionär und Fraktionspräsident war ich mit dem Ruck- Für den Aussenminister ist die politische Arbeit sack unterwegs und arbeitete im Zug. Die ganze der ärztlichen Tätigkeit in einem Punkt ähnlich: Schweiz war mein Büro!» Auch als Aussenminis- Am Anfang steht eine präzise Analyse des Prob- ter widme er sich aber innenpolitischen Themen lems. Im ärztlichen Alltag folgt ja auch die Diagno- wie den Gesundheitskosten und der Revision des se auf die Anamnese. Dann folgt die erste Frage: Tarmed. Jeder Bundesrat, so Cassis, müsse sich an Wer ist wirklich zuständig? Die zweite Frage lau- den wöchentlichen Sitzungen mit allen Themen der tet: Wie bringen wir uns in den Umsetzungsprozess Regierung befassen. ein? Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass jemand für uns die Probleme löst. Das müs- Einem Placebo komme in der Politik bisweilen sen wir schon selber machen. Wir brauchen aktive genauso eine Funktion zu wie in der Medizin, und fähige Leute für die verschiedenen Gremien. glaubt der Bundesrat. Eine Massnahme könne Die dritte Frage, die wir uns stellen müssen, lautet vermeintlich noch so wirkungslos sein, wenn sie darum: Wer ist geeignet, den operativen Prozess glaubwürdig daherkomme, könne sie eine positive mitzugestalten? Dazu braucht es fähige Kollegen – Wirkung entfalten. Bundesräte wie Ärzte hätten Menschen, die unser tägliches Business kennen Erwartungen zu erfüllen. Sie sollen Probleme lö- und keine Funktionäre. Last, but not least, müssen sen und Beschwerden beseitigen – mit Pillen res- die Prozesse koordiniert und überwacht werden. pektive Gesetzen. Die Prävention sei bei beiden Berufen zentral: Es gelte Probleme zu verhindern, bevor sie auftauchten. Doch Präventionsarbeit sei undankbar. Die Verabreichung einer Pille werde, so Bundesrat Cassis, oft mehr gewürdigt als die 8 doc.be 03/2018 Vorstandssitzung März 2018
Der Countdown läuft – 2020 soll das EPD stehen Am Swiss eHealth Forum in Bern diskutierte die Gesundheitsbranche den Stand der Dinge in der Umsetzung des EPDG bis 2020. Es wird konkreter. Text: Benjamin Fröhlich, Presse- und wichtig, dass alle Beteiligten an das System ange- Informationsdienst schlossen sind. Alle Spitäler der Region sowie die Bild: zVg meisten Pflegeheime sind mittlerweile Mitglied von eHealth Südost. Im ambulanten Bereich hinge- 2018 ist ein entscheidendes Jahr für die Einfüh- gen sind erst wenige beigetreten. Um die Stammge- rung des elektronischen Patientendossiers (EPD). meinschaft auch für die Ärzte attraktiv zu machen, Denn nun geht es an die konkrete Umsetzung in ist nun eine Mitgliedschaft ohne Verpflichtung den Stammgemeinschaften. Im Jahr 2015 verab- zum EPD möglich. schiedeten die eidgenössischen Parlamentarier das Bundesgesetz über das elektronische Patienten- Eine Umfrage bei den Mitgliedern ergab näm- dossier (EPDG). Spitäler und Pflegeheime sind lich, dass für viele das EPD nicht der wichtigste dadurch verpflichtet, EPD zu führen; ambulant eHealth-P rozess ist. Viel wichtiger erschien den behandelnde Ärztinnen und Ärzte sowie Patien- Teilnehmenden der Umfrage der eBerichtsversand ten hingegen sind noch frei, ob sie zum EPD wech- und -empfang, gefolgt von der eZuweisung und seln möchten. eÜberweisung. Erst an dritter Stelle folgt das EPD. Die EPD-Netzwerke werden nicht national, son- Bei der Einführung von eHealth Südost konzent- dern in Regionen organisiert. Dies stösst bisher riert man sich deshalb auf sogenannte B2B-Prozesse auf breite Akzeptanz. Jede Region bildet so ein fö- (business to business), also Prozesse zwischen den derales Labor und gute Modelle können von einer verschiedenen Anbietern. Erst mit zweiter Priorität Region in eine andere exportiert werden. wird das EPD eingeführt. Dadurch hofft man, den Austausch langsam zu verbessern und die ambu- Bündner Ärzte sind kritischer als lant tätigen Ärzte für die Stammgemeinschaft zu ihre Spitäler gewinnen. Doch viele Hausärzte sind kritisch und Wie ein Spitalverbund dem EPDG nachkommt und sehen keinen Mehrwert für sich, sondern nur mehr bis 2020 ein EPD-System auf die Beine gestellt hat, Aufwand. zeigte Richard Patt aus dem Kanton Graubünden am eHealth Forum in Bern. Genfer Patienten sind langsamer als ihre Region Patt ist mit dem Aufbau der Stammgemeinschaft Wie wichtig der Aufbau der eHealth-Regionen ist, eHealth Südost betraut. Diese Region umfasst die unterstreicht Adrian Schmid, Leiter der Geschäfts- Kantone Glarus und Graubünden und zeichnet stelle eHealth Suisse. Für ihn ist die Organisation sich durch ein weit verzweigtes Netz kleiner (Tal-) innerhalb von Regionen essentiell. Momentan sind Spitäler aus. Gerade in einer solchen Struktur ist es elf Stammgemeinschaften bekannt; der Bund hat doc.be 03/2018 Elektronisches Patientendossier 9
Die treibenden Kräfte hinter zehn Gesuche für Finanzhilfe erhalten. Die bis- Unnötige Behandlungen verhindern, dem EPD sind die Kantone, herigen Vorbereitungen ergaben, dass in vielen Notfälle sichern am kritischsten sind die Ärzte. Regionen technische Verbesserungen nötig sind. Lukas Golder von gfs.bern kann bestätigen, dass Diese fürchten unabsehbare Wichtig ist, dass die Regionen jetzt mit den inter- das Wissen in der Bevölkerung um das EPD genau Folgen und Kosten. nen Arbeiten beginnen. Am besten solle man mit so klein ist wie eh und je. Das belegen die Umfra- der Zertifizierung beginnen; das Ausführungs- gen von Anfang 2018. Allerdings nimmt die Be- recht hingegen soll erst später angepasst werden. reitschaft zu, ein elektronisches Patientendossier zu eröffnen. Die Studie identifiziert übrigens die Was man laut Schmid nicht erwarten könne, sei zahlreichen Gesundheits-Apps als Grund für eine rasche Einbindung der Patienten ins eHealth- eine grössere Aufgeschlossenheit gegenüber dem System. Genf hat seine Stammgemeinschaft be- EPD. Ihre Inhalte möchten die Patienten aber reits 2014 lanciert. 2017 hatte die Gemeinschaft nicht mit jedem teilen, sondern primär mit ihrem 31 600 Patientinnen und Patienten an Bord. Das Arzt oder ihrer Ärztin. Dafür haben sie auch kla- entspricht zwar 800 Neueintritten pro Monat, auf re Anspruchshaltungen wie beispielsweise eine den Kanton betrachtet ist das aber nur ein klei- Online-Terminkartei. ner Teil der Bevölkerung (knapp 16 Prozent der 500 000 Einwohner). Das hängt primär damit zu- Die Umfrage von gfs.bern zeigt auch, was im sammen, so Schmid, dass die Leute meist durch doc.be bereits mehrfach erwähnt wurde: Die trei- eine Behandlungssituation vom EPD erfahren, benden Kräfte sind die Kantone, am kritischsten hingegen in der Gesellschaft sonst kaum darüber sind die Ärzte. Diese fürchten unabsehbare Folgen gesprochen wird. Da es keine Vorgaben gibt, wie und Kosten. Sowohl Ärztinnen als auch Patienten weit die Patienten bis 2020 in die Gemeinschaften sind sich allerdings einig in den Nutzungserwar- eingebunden sein sollen, stellt die langsam voran- tungen: Unnötige Behandlungen sollen vermieden schreitende Einbindung der Patienten allerdings werden und im Notfall soll die nötige Information kein Problem dar. und Infrastruktur bereitstehen. Genf, fügt Schmid an, hat zudem erhoben, was die Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Koopera- Patienten bewegt, der Gemeinschaft beizutreten. tion des doc.be und dem Swiss Dental Journal SSO. Der Hauptgrund war der Zugang zu den eigenen Daten, gefolgt von der Erwartung einer besseren Koordination der Behandlungsanbieter. 10 doc.be 03/2018 Elektronisches Patientendossier
Weitere Präzisierungen für das EPD Wie in der letzten Ausgabe (doc.be 2/2018) angekündigt, finden Sie nachstehend weitere Beispiele erzielter Verbesserungen oder Präzisierungen im Beirat eHealth Suisse zum Bericht «Strategie eHealth Schweiz 2.0, 2018–2022». Text: Beat Gafner, Vorstand BEKAG Erhalten auch Hilfspersonen wie Nachher: «Bund und Kantone sorgen im und Beirat eHealth Suisse medizinische Praxis- oder Pharma Rahmen ihrer Zuständigkeiten und in Ab- assistentinnen Zugriff auf die stimmung mit den verantwortlichen Bil- Wie werden Gesundheitsfach Inhalte des EPD? dungsorganisationen dafür, dass eHealth personen für ihre Aufwände mit dem Vorher: «Ja. Gesundheitsfachpersonen kön- und die je nach Berufsgruppe relevanten EPD entschädigt? nen solche Hilfspersonen einsetzen, um Anwendungsfragen im Umgang mit digita- Vorher: «… Auch diese Aufwände können Daten und Dokumente im EPD bearbeiten len Gesundheitsdaten in die Ausbildungs- nicht zulasten der OKP weiterverrechnet zu können.» gänge aller Gesundheitsberufe aufgenom- werden, sondern müssen der Patientin oder Nachher: «Ja. Gesundheitsfachpersonen men sowie im Rahmen von Weiter- und dem Patienten selbst oder der Stammge- können andere Personen einsetzen, um Fortbildungen thematisiert werden.» meinschaft der Patientin oder des P atienten Daten und Dokumente im EPD bearbeiten in Rechnung gestellt werden.» zu können. Sie werden gemäss Art. 101 OR Vorher: «Bund und Kantone setzen sich im Nachher: Idem! Immerhin kann aber die als ‹Hilfspersonen› b ezeichnet.» Rahmen ihrer Zuständigkeiten dafür ein, Frage um die Anreizbildung im Beirat dass mehr Fachpersonen mit vertieften eHealth Suisse des BAG tabulos diskutiert Wie verbindlich sind die zukünftig Kenntnissen in Medizininformatik ausge werden. Dabei wird auf die KPMG-Studie im Anhang 4 der EPDV-EDI bildet werden (z. B. Masterlehrgang für «Mögliche Organisations- und Finanzie- festgelegten Austauschformate? Medizininformatik).» rungsmodelle von Gemeinschaften und Die Frage betrifft bereits entwickelte Aus- Nachher: «Bund und Kantone setzen sich Stammgemeinschaften – Empfehlung an tauschformate, die auf der jetzt ausgearbei- im R ahmen ihrer Zuständigkeiten dafür die öffentliche Hand – Schaffung von ge- teten Vorlage beruhen. ein, dass die für die Umsetzung des elekt- eigneter Anreizstruktur im ambulanten «Von den national empfohlenen und den zu- ronischen Patientendossiers notwendigen Bereich» hingewiesen. künftigen Austauschformaten fl iessen die Fachpersonen ausgebildet werden.» behandlungsrelevanten Typen schrittweise Braucht es eine gesetzliche Grund in das Ausführungsrecht zum Bundesgesetz Die Beispiele mögen Ihnen zeigen, auf lage für die Sekundärnutzung der über das elektronische Patientendossier ein welchen Ebenen und mit welchen kom- Daten aus dem elektronischen (Anhang 4). Eine von eHealth Suisse geführ- plexen Fragen sich die Interessierten, d. h. Patientendossier (z. B. anonymisierte te Arbeitsgruppe ‹AG Austauschformate› die Kantone und ihre KÄGs, GDK, BAG, Auswertung zur Steuerung des erarbeitet die zugrundeliegende Strategie BFS, EDI, eHealth Suisse, IT-und Soft- Gesundheitssystems)? und setzt sich auch mit Austauschformaten, warefirmen, Betriebsgesellschaften und Vorher: «Ja, da die Sekundärnutzung der die nicht Teil des EPD sind, auseinander.» Anbieter von Plattformen wie die POST, Daten des elektronischen Patientendossiers Swisscom Health AG, AD Swiss / Health im EPDG nicht geregelt ist.» Weitere Beispiele Info Net etc., wenn möglich untereinander Nachher: Idem! Immerhin werden gemäss Vorher: «Bund und Kantone sorgen im koordiniert auseinandersetzen müssen. BAG die Voraussetzungen bezüglich Se- Rahmen ihrer Zuständigkeiten dafür, dass kundärnutzung nochmals detailliert ange- eHealth und die Grundlagen der medizini- schaut. schen Informatik in die Ausbildungsgänge aller Gesundheitsberufe aufgenommen so- wie im Rahmen von Weiterbildungen ver- mittelt werden.» doc.be 03/2018 Elektronisches Patientendossier 11
Süsser Verführer Zucker Zucker schadet der Gesundheit. Steigendes Übergewicht in der Bevölkerung veranlasst immer mehr Länder zu Massnahmen, die den Zucker konsum senken. Public Health Schweiz hat am 26. April 2018 ein Symposium organisiert, um solche Massnahmen zu diskutieren. Text: Rahel Brönnimann, Presse- und setzen sie auf Aufklärung, um die Ernährungs- Informationsdienst kompetenzen der Bevölkerung zu stärken. Sie wol- Bild: iStockphoto len aber auch die Rahmenbedingungen verbessern und die gesunde Wahl vereinfachen, zum Beispiel Egal, mit welchen verfügbaren Zahlen wir schät- mit gesundem Essen in Kantinen. zen oder rechnen – das Resultat bleibt: Wir essen viel zu viel Zucker. Die Weltgesundheitsorgani- Weniger versteckte Zucker sation WHO empfiehlt, der Gesundheit zuliebe Die Schweiz setzt bei den Bemühungen zur Zucker nicht mehr als fünf Prozent der täglich benötigten reduktion vor allem auf freiwillige Vereinbarungen Energiemenge mit Zucker zu decken. Das wären mit der Industrie. Zum Beispiel lässt sich die kon- für eine erwachsene Person, die tagsüber viel sitzt, sumierte Menge Zucker senken, indem man die rund 25 Gramm Zucker. Durchschnittlich konsu- Zusammensetzung von Lebensmitteln verändert. mieren wir aber das Vierfache davon: Das Bundes Mit der Erklärung von Mailand im Jahr 2015 ha- amt für Lebensmittelsicherheit und Veterinär ben sich verschiedene Firmen in der Schweiz bereit wesen BLV schätzt den Schweizer Zuckerkonsum erklärt, den Zuckergehalt in Joghurt und Müsli auf 110 Gramm pro Person und Tag. Diese hohe zu senken. Mit erstem Erfolg: Bei 461 untersuch- Zuckerdosis macht krank: Karies, Übergewicht, ten Joghurts ist der Anteil an zugesetztem Zucker Diabetes, Gicht, Bluthochdruck oder Herz- und im Schnitt um drei Prozent auf 16.2 Gramm pro Gefässerkrankungen hängen mit zu hohem Zu- Becher gesunken. Das entspricht immer noch der ckerkonsum zusammen. Ziel von Gesundheits Menge von durchschnittlich über vier zugefügten organisationen, aber auch vom BLV ist deshalb, Zuckerwürfeln pro Becher, einige 180-grämmige den Zuckerkonsum der Bevölkerung zu senken. Joghurts enthalten sogar über acht zugefügte Zu- Das ist allerdings alles andere als einfach. Denn ckerwürfel. Mehrere neu lancierte Joghurts weisen die Zuckerproduktion ist auch in der Schweiz ein jedoch einen geringeren Zuckergehalt auf als der beachtlicher Wirtschaftszweig und die Lebens Durchschnitt – aus Sicht der Gesundheitsförde- mittelindustrie hat kein Interesse, weniger Zucker rung zwar ein kleiner Schritt, aber in die richtige zu verarbeiten und zu verkaufen. Zudem ist Zucker Richtung. eine Währung der Zuneigung, damit belohnen und beschenken wir uns. Ob Geburtstagskuchen, Doch wie finden die Konsumenten in den langen, Weihnachtsguetzli oder Schoggi-Osterhase – es mit Joghurt gefüllten Regalen im Supermarkt gibt kaum eine Feierlichkeit, bei der Zucker nicht jene, die wenig Zucker haben? Selbst wenn sich eine wesentliche Rolle spielt. Was also unterneh- jemand die Zeit nehmen würde, die Deklarati- men Staaten und Akteure im Gesundheitswesen, onen auf den Joghurts zu vergleichen – er müss- um den Zuckerkonsum zu senken? Zum einen te auch «versteckte» Zucker erkennen. Einige 12 doc.be 03/2018 Symposium Zuckerkonsum
Ob Geburtstag, Ostern oder Produzenten umschreiben das Wort «Zucker» eine Fruchtportion durch zwei Deziliter Fruchtsaft Weihnachten – wird gefeiert, durch Unterkategorien wie «Saccharose» oder zu ersetzen. dann kommt ordentlich « Glukose» oder listen Zutaten wie Ahornsirup Zucker auf den Tisch. oder Apfelsaftkonzentrat auf, die grösstenteils aus Von der Lebensmittelindustrie verlangen mehre- Zucker bestehen. Barbara Pfenninger vom Konsu- re Symposiums-Teilnehmer insbesondere Mass- mentenverband der Romandie FRC fordert für den nahmen, um Kinder besser zu schützen. Nathalie Zuckergehalt deshalb eine klare, farbliche Kenn- Farpour-Lambert fordert unter anderem ein ver- zeichnung von Produkten. nünftiges Marketing und den Verzicht auf u nwahre Werbeversprechen: Stark zuckerhaltige Lebens- Füssige Zuckerbomben mittel dürfen nicht als gesund verkauft werden. Einen sehr hohen Zuckergehalt weisen Süss Zudem sollten solche Produkte im Laden nicht auf getränke auf. Der Konsum von Süssgetränken und Augenhöhe der Kinder platziert werden. die Zunahme des Körpergewichts hängen eng zu- sammen – das zeigen 97 Prozent von 30 Studien, die in den letzten drei Jahren zum Thema durchge- führt worden sind. Einige Länder, Regionen oder Städte versuchen nun den Zuckerkonsum durch Besteuerung von Süssgetränken einzudämmen. Wo bereits längere Zeit eine solche Steuer erhoben wird, zeigen sich Effekte: In Mexiko, Berkeley und Philadelphia hat sich das Konsummuster verändert. Die Bevölkerung trinkt weniger Süssgetränke und mehr Wasser. Seit Februar 2017 haben Katalonien, Portugal, San Francisco, Seattle, Irland und Süd- afrika eine Zuckersteuer eingeführt. Die Ärztin Nathalie Farpour-Lambert vom Universitätsspi- tal Genf weist auf den hohen Fruchtsaftkonsum in e inigen Ländern hin. Fruchtsaft gilt als gesun- des Getränk, strotzt aber vor Zucker: Ein halber Liter Apfelsaft enthält 14 Würfelzucker. Wenn also weniger Süssgetränke aber mehr Fruchtsaft getrunken wird, ist das Problem nicht vom Tisch. Das Getränk der Wahl ist Wasser. Gesundheits- organisationen empfehlen, pro Tag nicht mehr als doc.be 03/2018 Symposium Zuckerkonsum 13
Die Auswirkungen Schwierig ist allerdings zu erkennen, wo überhaupt überall Zucker drinsteckt. Während Süssigkeiten, des Zuckers Süssgetränke oder süsse Backwaren offensichtlich auf unseren Körper Zucker enthalten, erwarten wir das nicht unbe- dingt in Fertigsaucen und Tiefkühlpizzas. Schwie- Bild: zVg rigkeiten bereiten auch die vielen verschiedenen Namen, hinter welchen sich Zucker verbergen. Die Nachgefragt bei PD Dr. Bettina Wölnerhanssen, sogenannten «versteckten» Zucker lassen sich am Leiterin ad interim, St. Clara Forschung AG, besten vermeiden, wenn man die Mahlzeiten mög- St. Claraspital Basel. lichst selber zubereitet. Das ist zwar zeitaufwendig, aber man weiss am Ende, was man isst. Braucht unser Körper Zucker aus der Nahrung? Spielt es für unseren Körper eine Rolle, Tatsächlich braucht unser Körper Zucker. Die welche Art von Zucker wir konsumieren? roten Blutkörperchen (= Erythrozyten) beispiels- Ist beispielsweise Fruktose für unseren weise können ohne Glukose (= Traubenzucker) Körper gesünder als Saccharose? nicht funktionieren. Allerdings brauchen wir in Der Zweifachzucker Saccharose wird im Körper der Nahrung keinen Zucker. Glukose können wir relativ rasch zu den Bestandteilen Fruktose und glücklicherweise aus verschiedenen Nahrungssub- Glukose abgebaut und so w eiterverarbeitet. Bei straten wie zum Beispiel Stärke, Fett oder Protein akutem Konsum von Fruktose wird der Blutzucker im Körper selber herstellen. Den modernen Men- spiegel nicht erhöht, im Gegensatz zur Glukose. schen (Homo sapiens) gibt es seit 100 000 Jahren Dafür steigen bei der Fruktose die Blutfette an und die Spezies hat sich ohne Zucker prächtig und Fruktose hat im Gegensatz zu Glukose kaum entwickelt. Zucker ist erst seit 150–200 Jahren einen sättigenden Effekt. Gewisse Studien liefern Bestandteil unserer täglichen Nahrung. Er ist ein Hinweise, dass Fruktose sogar den Appetit stimu- reines Luxusprodukt, auf das wir nicht angewiesen liert. Bei regelmässigem, übermässigem Konsum sind. wirken sowohl die beiden Einfachzucker Glukose und Fruktose als auch der Zweifachzucker Saccha- Ist Zuckerkonsum eine Kopfsache? rose schädlich auf diverse Organsysteme. Es macht Können wir unseren Appetit auf Zucker keinen Sinn, den einen Zucker dem anderen vor- durch Selbstkontrolle steuern? zuziehen. Grundsätzlich sollten alle reduziert wer- Im Körper ist der Appetit und die Sättigung kom- den. Die gegenwärtige Tendenz, Saccharose durch plex reguliert. Das ist wichtig, denn der Körper ist Fruktose zu ersetzen, ist allerdings keine gute Idee, immer um ein Gleichgewicht bestrebt: nicht zu viel denn Fruktose erweist sich als besonders unvorteil- Energie, nicht zu wenig. Der Blutzuckerspiegel haft. muss ebenfalls in einem engen Rahmen bleiben. Die meisten Prozesse laufen hier unbewusst ab. Sind alternative Süssstoffe eine Option? Nur ein kleiner Teil geht über das Bewusstsein Oder: Ist Cola Zero für unseren Körper und kann so gezielt kontrolliert werden. Das be- besser als Cola? deutet aber nicht, dass man den Zuckerkonsum Der Zuckerkonsum sollte zweifellos reduziert wer- nicht bewusst einschränken kann. Das ist am den. Der Ersatz durch andere süssschmeckenden A nfang schwer, wird dann aber einfacher. Die Ge- Substanzen, die weniger schädlich sind, ist eine schmacksknospen auf der Zunge gewöhnen sich Möglichkeit, diesem Ziel näher zu kommen. Aller bei hohem Konsum an die süsse Nahrung und dings werfen gewisse Studien mit künstlichen stumpfen ab. Wenn man den Zucker reduziert oder Süssstoffen Fragen auf. Ein chronischer Konsum sogar einige Zeit ganz darauf verzichtet, stellt man grösserer Mengen sollte zumindest kritisch be- fest, dass süsse Speisen plötzlich viel süsser emp- trachtet werden. Möglicherweise wäre es günstiger, funden werden. So bekommt man schneller genug eine breite Palette an verschiedenen Süssungs und der Verzicht fällt einem leichter. mitteln zu verwenden und auch vermehrt auf 14 doc.be 03/2018 Symposium Zuckerkonsum
natürlich vorkommende Substanzen wie Inulin Wieso sind Kinder besonders oder Birkenzucker und Erythrit zurückzugreifen. schutzbedürftig? Grundsätzlich sollte man den Anteil an süssschme- Kinder sind uns ausgeliefert und essen das, was wir ckenden Nahrungsmitteln reduzieren und nicht ihnen anbieten. Sie vertragen weniger Zucker als versuchen Zucker 1:1 zu ersetzen. Erwachsene, weil ihr Körpervolumen viel geringer ist und sie zudem durch die Wachstumshormone Ein Glas Wasser wäre also sowohl Cola Zero als besonders empfindlich auf Zucker reagieren. auch Cola vorzuziehen. Vor die Wahl Cola oder Gleichzeitig sind sie sehr empfänglich für W erbung, Cola Zero gestellt, würde ich Cola Zero wählen. was auch rege genutzt wird: Sie werden als Ziel Denn über die schädlichen Effekte von Zucker be- publikum von allen Seiten umworben. Gewisse stehen keine Zweifel. Schäden, die durch den Zuckerkonsum entstehen – wie beispielsweise Karies oder AGEs – begleiten Was ist der «Verzuckerungsgrad» (AGE), sie ein Leben lang. Wir haben hier eine grosse was sagt der Wert aus? Verantwortung und müssen mehr dafür tun, die Wenn Proteine in Zucker gebadet werden, dann Kinder zu schützen. legen sich spontan Zuckergruppen an das Protein und formen stabile Komplexe, die man AGE nennt Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Koopera- (für «Advanced g lycation endproducts»). Diese tion des doc.be und dem Swiss Dental Journal SSO. Zuckergruppen können das Protein in seiner Funk- tion einschränken. Unser Körper ist aus P roteinen aufgebaut und diese werden regelmässig in Zu- cker gebadet, dem Blutzucker. Die Entstehung von AGE ist an sich ein gewöhnlicher Alterungs prozess. Ist allerdings der Blutzuckerspiegel oft erhöht, dann entstehen mehr AGEs und reichern sich im Körper an, und das gilt es zu vermeiden. Insbesondere das Kollagen, das für die Elastizität beispielsweise der Haut und der Gefässe wichtig ist, wird durch die Zuckergruppen geschädigt. Wer also über einen längeren Zeitraum öfter einen er- höhten Blutzuckerspiegel hat, bezahlt dies mit vor- zeitiger Alterung der Haut und der Gefässwände. Ist Zucker eine Droge? Zucker ist eine psychoaktive Substanz, die einige Eigenschaften mit anderen D rogen teilt. So werden PD Dr. Bettina Wölnerhanssen im Gehirn Dopamin- Rezeptoren stimuliert, ge- Seit 2016 betreibt PD Dr. Bettina Wölnerhanssen klinische nau wie bei anderen Drogen. Weiter kommt es zu Forschung am St. Claraspital Basel. Sie hat Medizin an der Entzugssymptomen, wenn jemand, der vorgängig Universität Basel studiert und 2010 ihren Facharzttitel in regelmässig viel Zucker konsumiert hat, plötzlich Chirurgie erlangt. Ihre Schwerpunkte sind die Erforschung ganz auf Zucker verzichtet. Auch sind Verschie- von Appetit- und Sättigungsmechanismen, Übergewicht und bungen von Süchten beschrieben: Alkoholiker, die die Erforschung von den Effekten der gewichtsreduzieren- beispielsweise auf Zucker ausweichen. Während den (bariatrischen) Chirurgie sowie von Zucker und Zucker der Prohibition stieg der Zuckerkonsum in den ersatzstoffen. USA stark an. Im Gegensatz zu anderen Drogen sind allerdings keine direkten Wirkungen sichtbar: Man bekommt keinen offensichtlichen Rausch zustand. doc.be 03/2018 Symposium Zuckerkonsum 15
An App a day keeps the doctor away? Viele Menschen benutzen heutzutage Gesund- heits-Apps. Was bedeutet das? Von Chancen und Gefahren. Text: Benjamin Fröhlich, Presse- und Noch delikater wird es, wenn die Frage nach dem Informationsdienst Finanzierungsmodell der App gestellt wird. Viele Bild: iStockphoto Apps sind «gratis»; was bedeutet das für die Ver- lässlichkeit einer Anwendung? Diese Apps werden Vor ungefähr zehn Jahren kam das erste Smart über Werbung bezahlt oder durch Firmen gespon- phone auf den Markt. Das Mobiltelefon und vor sert. Welche Interessen verbergen sich hinter einem allem dessen Gebrauch haben sich dadurch stark scheinbar neutralen Programm? gewandelt. Eine der zahlreichen Änderungen ist die App. Schätzungsweise gegen vier Millionen Regulierung muss sein Apps gibt es heute, Tendenz stark steigend. Von Es sind Fragen, die sich nicht so einfach beantwor- 2014 bis 2015 nahm die weltweite App-Nutzung ten lassen. In Sachen Regulierung besteht Hand- um mehr als 60 Prozent zu. Viele dieser Apps dre- lungsbedarf. Die Benutzerin muss wissen können, hen sich um Gesundheit. Allein im App-Store von ob eine App verlässlich ist. Die weitverbreitete Apple gibt es mehr als 100 000 Apps, die sich mit App-Bewertung mit Sternchen ist es jedenfalls Lebensqualität, Fitness und Gesundheit beschäfti- nicht; diese Sternchen lassen sich nämlich kaufen. gen. Es gibt Diät-Apps, Diabetes-Apps oder Herz- Es gibt zwar gewisse staatliche Regulierungen, rhythmus-Apps. aber mit der schnelllebigen Welt der Apps kön- nen diese kaum mithalten. Die Bundesrepublik Gefahren und Probleme Deutschland versuchte es mit der Vergabe von Solche Apps sind noch vergleichsweise einfach zu Siegeln. Das hat aber nicht funktioniert; weder bedienen. Andere entsprechen mittlerweile kom- die Nutzer noch die Hersteller kennen diese Sie- plexen Programmen der Diagnostik und Therapie. gel. Zudem hat sich gezeigt, dass auch solche Siegel Das ist nicht unproblematisch. Schnell stellt sich nicht wirklich verlässlich sind. die Frage: Wie verlässlich sind diese Apps? Die klassischen Qualitätsprüfungen greifen also Eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Klar ist ein- nicht. Eher bräuchte es eine Struktur, die der Dy- zig, dass zahlreiche Gefahren existieren. Es beginnt namik des Marktes angepasst ist. Möglich wäre damit, dass die App möglichweise nicht macht, was etwa eine Sensibilisierung der Nutzer durch Auf- sie soll: Technische, inhaltliche oder programmier- klärung. Achten sich die Nutzer mehr auf die Ge- technische Schwächen können auftreten, aber auch fahren und Probleme solcher Apps, liesse sich die falsche Handhabung durch den Benutzer. Es kann Qualitätskritik und -sicherung intrinsisch realisie- auch sein, dass eine App mehr macht, als sie soll; ren. Die Sensibilisierung müsste aber auch bei den zum Beispiel, dass sie Daten weitergibt und damit Herstellern und Stakeholdern greifen. gegen die Persönlichkeitsrechte verstösst. 16 doc.be 03/2018 Swiss eHealth Forum
Ärztinnen und Ärzte können What’s App, doctor? Soll die Ärzteschaft sich also mit Apps beschäfti- wichtige Orientierungs- Spätestens an diesem Punkt wird klar: Medizi- gen und versuchen, die Spreu vom Weizen zu tren- hilfe bei der Beurteilung von nische Fachpersonen können sich nicht aus der nen? Es ist zumindest wahrscheinlich, dass ihre Gesundheits-Apps leisten. Debatte raushalten. Eine Ärztin muss heute da- Stimme gehört würde. Denn sie ist für Patienten mit rechnen, dass ihr Patient Gesundheits-Apps in Hinblick auf Gesundheit erste Anlaufstelle und verwendet. Für die ärztliche Behandlung könnten Vertrauensperson. Eine Ärztegesellschaft könnte Apps unter Umständen eine sinnvolle Ergänzung Leitkriterien für Apps festlegen, welche Zweckmäs- darstellen – vorausgesetzt, der genutzte Dienst sigkeit, Rechtskonformität, ethische Unbedenk funktioniert korrekt und sinnvoll. Bereits heu- lichkeit, Transparenz usw. grob definieren. Ob dies te verwenden laut Studien knapp 80 Prozent der viel Licht in den Wildwuchs des App-Dschungels US-Ärzte regelmässig Apps für den Berufsalltag. bringt, bleibt jedoch fraglich. Ein Beispiel hierfür ist die App zu Arzneimit- telsicherheit während der Schwangerschaft und Dieser Artikel stützt sich in grossen Teilen auf den Stillzeit. Apps können Vorteile für die ärztliche Vortrag «Apps & Co: Patientennutzen, Kommerz, Behandlung bringen. Sie helfen bei der digitalen Kontrolle» von PD Dr. med. Urs-Vito Albrecht, Transformation des Gesundheitswesens, sind für Medizinische Hochschule Hannover, anlässlich Patienten niederschwellig zugänglich und bieten des Swiss eHealth Forum am 08.03.2018 in Bern. handfeste Vorteile, vor allem in Hinblick auf die Der Artikel entstand im Rahmen einer Kooperati- Mobilität und zeitliche Verfügbarkeit. on des doc.be und dem Swiss Dental Journal SSO. Fragen Sie Ihren Arzt … Gesundheitspersonal und nicht zuletzt auch Ärzte verwenden also Apps oder sind mit dem Gebrauch von Apps durch Patienten konfrontiert. Das be- deutet auch, dass Ärzte früher oder später zumin- dest in die Situation kommen, dass sie von einer App abraten müssen. Möglicherweise kann ein Arzt aber sogar eine App empfehlen. Hierbei ist allerdings Vorsicht geboten. Es liegt in seiner Ver- antwortung, korrekte Mittel anzuwenden. Wenn durch die Anwendung einer nicht geeigneten App Schäden entstehen, haftet er. doc.be 03/2018 Swiss eHealth Forum 17
Eine Aus zeichnung für die Begeisterung Dr. Yara Banz ist Pathologin aus Leidenschaft – und genau das will sie auch den Studierenden mit auf den Weg geben. Text: Simone Keller, Presse- und weil ich vieles gemacht habe, was für den Titel Informationsdienst nicht angerechnet wurde.» Ausschlaggebend war Bild: zVg schliesslich ein Interview, welches sie für die Stu- dentenzeitschrift mit dem damaligen Chefarzt für «Meine erste Reaktion? Pure Überraschung! Es Pathologie geführt hatte. Ob sie denn nicht Patho- gibt so viele gute Dozierende hier an der Univer- login werden wolle, fragte er sie. Wieso eigentlich sität Bern», sagt die Pathologin Dr. Yara Banz. Sie nicht, dachte sich Yara Banz. wurde 2018 von den Studierenden als «Teacher of the Year» ausgezeichnet. Die Fachschaft Medizin Im stillen Kämmerlein vergibt diesen Titel seit 1987 jedes Jahr. Sie begrün- Bis heute hat sie ihren Entscheid nicht bereut. Das det den Entscheid damit, dass Yara Banz komplexe Mikroskopieren fasziniert sie. Dieser visuelle As- Themen verständlich präsentiert und dass bei ihr pekt der Arbeit sei schon sehr spezifisch und nicht eine grosse Begeisterung für ihr Fachgebiet spür- jedem gegeben: «Pathologie ist ein Randfach. Die bar ist. meisten studieren Medizin, um am Patienten zu ar- beiten.» Sie denkt kurz nach, lacht: «Viele haben ein falsches Bild von uns. Sie denken, dass Patho- «Viele denken, dass Patho logen irgendwie komisch sind – eine Art von Au- logen irgendwie komisch tisten, die den ganzen Tag im stillen Kämmerlein hinter dem Mikroskop sitzen». Yara Banz ist der sind – eine Art von Autisten, Beweis dafür, dass dieses Vorurteil nicht stimmt. die den ganzen Tag im Auch ihr fehlt zuweilen der Patientenkontakt, da- stillen Kämmerlein hinter für geniesst sie den Austausch mit Studierenden dem Mikroskop sitzen». und Assistierenden umso mehr. Da ist es wieder, dieses Funkeln in den Augen, wenn sie von ihrer Lehrtätigkeit erzählt. «Der Kontakt mit den Stu- Diese Begeisterung – ja, sie ist zu spüren, auch dierenden ist nicht nur eine willkommene Ab- wenn Yara Banz gerade nicht vor ihren Studie- wechslung im Alltag, sondern eine Bereicherung. renden steht. Sie ist lebhaft, auf Fragen antwortet Noch kein Semester ist vergangen, in dem ich nicht sie rasch und ohne Umschweife. Dass sie ihren etwas Neues gelernt habe. Immer wieder kommen Facharzttitel in Pathologie gemacht hat, war eher Fragen, die ich so nicht erwartet und mir bisher Zufall als von langer Hand geplant. Lange wusste nicht gestellt habe. Das schätze ich sehr». sie nicht, welche Richtung sie einschlagen wollte: «Viele scheuen sich davor, Umwege zu gehen. Ich habe zehn Jahre gebraucht bis zum Facharzttitel, 18 doc.be 03/2018 Teacher of the Year 2018
Alles unter einem Hut Den Medizinstudierenden rät die Pathologin, sich für eine Fachrichtung zu entscheiden, die sie fas- ziniert. Ohne Begeisterung sei es kaum möglich, die hohe Arbeitsbelastung auszuhalten. Auch die Pathologie ist längst kein typischer 9-to-5-Job mehr. Die Arbeitsmenge ist angestiegen, viele Zu- satzuntersuchungen fordern Fachwissen aus der Pathologie. Den administrativen Aufwand erledigt Yara Banz, die Mutter von zwei Kindern ist und 80 Prozent arbeitet, oft abends, wenn die Kleinen im Bett sind. «Der Spagat zwischen Arbeits- und P rivatleben gelingt mir nicht immer gleich gut. Es gibt Tage, an denen ich erst heimkomme, wenn meine Kinder schon schlafen. Das ist für sie und für mich nicht einfach.» Trotzdem: Ein Wechsel Yara Banz an eine Privatpathologie mit geregelteren Arbeits Nach abgeschlossenem Zweitstudium mit Erwerb eines zeiten ist für sie keine Alternative; zu sehr würde MD PhD an der Universität Bern und einem Postdoc an der ihr die Vielschichtigkeit eines Unispitals fehlen. Harvard Universität in Boston schloss Yara Banz ihre Patho logieweiterbildung in Bern und Aarau ab. Sie betreut die Wahrscheinlich ist es genau das, was Yara Banz Ausbildung der Medizinstudierenden in den Fachgebieten so viel Energie gibt: Die Interaktivität, die Ab- der kardiovaskulären Pathologie und Hämatopathologie an wechslung im Arbeitsalltag. In ihrem Blick ist der Universität Bern. Seit 2011 leitet sie hauptverantwort- von Müdigkeit oder Überlastung keine Spur. Yara lich die kardiovaskuläre Pathologie und Hämatopathologie Banz legt Wert auf ihre Work-Life-Balance: «Auch in Bern und betreut Forschungsprojekte in Kollaboration mit wir Mediziner haben ein Leben neben der Arbeit. nationalen und internationalen Partnern. Wir sind nur gut, wenn wir eine gewisse Menge an Schlaf und Erholung haben». Dass sie sich für die- se Balance einsetzen, das erwartet die Pathologin auch von ihren Studierenden. Dennoch dürften sie zuweilen etwas mehr Durchhaltevermögen und Leidensbereitschaft an den Tag legen: «Es ist nicht schlimm, wenn etwas nicht beim ersten Anlauf Ausgezeichnet klappt. Dann muss man sich halt reinbeissen – und Alljährlich prämiert die BEKAG die besten Abschlüsse an der wenn man diese Phase übersteht, lernt man etwas Medizinischen Fakultät in Bern mit je 1500 Franken. In der dazu. Und zwar viel mehr, als wenn immer alles Clinical Skills-Prüfung 2017 brillierte Elias Auer. Die beste rund läuft». Multiple Choice-Prüfung legte Ursula Patricia Hebeisen ab. Herzliche Gratulation zu dieser Leistung! doc.be 03/2018 Teacher of the Year 2018 19
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