ERBE EINER DIKTATUR // - 40 Jahre nach dem Putsch in Chile - JAHRGANG DER CHILE-NACHRICHTEN - Lateinamerika Nachrichten

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LN-Dossier 8 // Juli/August 2013

41. JAHRGANG DER CHILE-NACHRICHTEN

ERBE EINER DIKTATUR //
40 Jahre nach dem Putsch in Chile
40 Jahre                                          Solidarität und Widerstand
Lateinamerika Nachrichten                  Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika

    // IMPRESSUM
    HERAUSGEBER: LATEINAMERIKA NACHRICHTEN

    Erscheint als Dossier Nr. 8 innerhalb der LN 469/470 (Juli/August 2013) sowie als separate Themenbroschüre.
    Redaktion: Redaktionskollektiv der Lateinamerika Nachrichten
    V.i.S.d.P. Maja Dimitroff, Laura Haber, Tobias Lambert, Elena von Ohlen, David Rojas-Kienzle, Patricia Schulze

    Gefördert von ENGAGEMENT GLOBAL im Auftrag des

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    LATEINAMERIKA NACHRICHTEN

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       Titelfoto: José Giribás // Demonstration für das NEIN bei
       Pinochets Referendum, Santiago, 01. Oktober 1988.
ERBE EINER DIKTATUR
40 JAHRE NACH DEM PUTSCH IN CHILE

4    Das schwierige Erbe der Diktatur // Ein           31   Solidarische Stimmen // Eine kleine, nicht-re-
     Dossier über Chile 40 Jahre nach dem Putsch            präsentative Bilanz der Chile-Solidaritätsbewe-
                                                            gung
9    Autoritäre Experimente // Wie der Neolibera-
     lismus in Chile seinen Siegeszug antrat           34   Ein offenes Kapitel // Die Colonia Dignidad
                                                            und die bundesdeutsche Solidaritätsbewegung
13   Von Gesundheitsbrigaden zu privaten
     Dienstleistern // Das chilenische Gesundheits-    37   Vom Putschisten zum Langzeitdiktator //
     system vor und nach dem Militärputsch von 1973         Wie sich Pinochet 17 Jahre lang an der Macht
                                                            halten konnte
16   Die Wahl der Qual // Das chilenische Wahlsys-
     tem ist ein Erbe der Diktatur                     40   „Ich bin ein Weltmensch“ // Interview mit Eva
                                                            Tichauer Moritz über ihr Exil in der BRD
18   Widersprüchlich und machtlos // Chilenische
     Gewerkschaften sind kaum in der Lage, gegen       42   „Ich bin stolz, ein ausländischer Ossi zu
     schlechte Arbeitsbedingungen anzukämpfen               sein“ // Interview mit Mario Fuentes Delgado
                                                            über sein Exil in der DDR
20   Mord und Schlagstock // Im neoliberalen
     Musterland Chile hat Repression viele Gesichter   44   Die dunklen Schatten der Geschichte // Un-
                                                            terschiedliche Aufarbeitung der Vergangenheit
24   Eine mutige Generation // Mehr als zwei Jahr-
                                                            in Argentinien und Chile
     zehnte nach Ende der Militärherrschaft erobert
     die chilenische Jugend die Straßen zurück         48   Grauzonen, dunkle Flecken, schwarze
                                                            Löcher // Das Gespenst der Diktatur im zeitge-
28   Landraub in Wallmapu // Der Konflikt zwi-
                                                            nössischen chilenischen Roman
     schen chilenischem Staat und den Mapuche
     reicht bis in die Kolonialzeit zurück             51   Tipps zum Weiterlesen
DAS SCHWIERIGE
      ERBE DER DIKTATUR
      EIN DOSSIER ÜBER CHILE 40 JAHRE NACH DEM PUTSCH

4   LN-Dossier 8
Chile spielt auf der politischen Weltkarte eine
überwiegend zu vernachlässigende Rolle. Das 17
Millionen-Einwohner_innenland, das sich im äu-
ßersten Südwesten der Amerikas auf einer Länge
von 4.300 Kilometern eingeengt zwischen den
Anden und dem Pazifik befindet, taucht in den eu-
ropäischen Medien nur selten auf. Selbst der Be-
such des chilenischen Präsidenten in Deutschland
ist kaum eine Nachricht wert. Das war allerdings
nicht immer so. In der Geschichte der Linken in
Deutschland war Chile einer von vielen Bezugs-
punkten, an dem sich nach der Wahl von Salva-
dor Allende 1970 Revolutionsträume von einem
demokratischen Sozialismus orientierten. Doch
die vielen unter der Regierung der Unidad Popular
begonnenen Projekte fanden ein jähes Ende. Der
Militärputsch am 11. September 1973 begrub den
Traum eines gerechteren Chiles. Der Regierungs-
palast La Moneda wurde von Kampfflugzeugen
der chilenischen Streitkräfte bombardiert, Sal-
vador Allende kam ums Leben – ob durch Mord
oder Selbstmord ist bis heute strittig. Tausende
Chilen_innen wurden in den folgenden Tagen und
Wochen inhaftiert, gefoltert und ermordet, am
Ende der Militärdiktatur sollten es mehr als 3.000
Tote und Verschwundene sowie zehntausende
Gefolterte sein. Während dieser 17 Jahre waren
die Menschenrechtsverletzungen der Regierung,
nicht zuletzt wegen der vielen Exilierten, auch in
der deutschen Linken ein wichtiges Thema. Ins-
gesamt 500.000 Chilen_innen verließen ihr Hei-
matland. Während Pinochet auf die freundliche
Unterstützung von deutschen Politiker_innen wie
Franz-Josef Strauß zählen konnte, wurde von Be-
wegungsseite die chilenische Militärregierung kri-
tisiert und die Opposition unterstützt.
Die damalige Solidarität mit der vorangegange-
nen Unidad Popular-Regierung führte unter an-
derem zur Gründung der Lateinamerika Nachrich-
ten. Am 28. Juni 1973 erschien unter dem Namen
Chile-Nachrichten die erste Ausgabe. Etwa 15 bis
20 Personen, die in Chile zuvor Faszination und

    Demonstration gegen die Diktatur
Santiago, 01. Oktober 1988: Ein Demons-
trant zeigt ein Foto des Gemäldes „Der
vierte Stand“ von Giuseppe Pellizza da
Volpedo. In Chile ist es ein Symbol für
den Kampf der Minenarbeiter nach der
Ermordung von circa 2.000 Menschen
bei einem Streik in der Mine Santa Maria
in Iquique 1907.

                                           LN-Dossier 8   5
Probleme des sozialistisch-demokratischen Auf-       Federführung der sogenannten Chicago Boys, in
      bruchs miterlebt hatten, hatten in Deutschland       den USA ausgebildeten Wirtschaftwissenschaft-
      zunächst das Komitee Solidarität mit Chile ins       ler_innen, das Experimentierfeld für neoliberale
      Leben gerufen. Anfangs sollten für die Kommuni-      Politiken.
      kation innerhalb des Komitees alle zwei Wochen       Die in der Militärdiktatur umgesetzten Reformen,
      aktuelle Informationen über die sich zuspitzende     die die sozialen Errungenschaften ihrer Vorgän-
      politische Lage zusammengetragen werden, die         gerregierungen zunichte machten, sind bis heute
      erste Nummer bestand aus acht eng bedruckten         maßgeblich für das politische und wirtschaftliche
      Seiten. Insgesamt 50 Exemplare davon wurden          Leben in Chile. Die Privatisierungen im Gesund-
      von Matrizen gezogen und an einige Freund_in-        heits- und Bildungssektor, die Rücknahme der
      nen geschickt. Nach dem Putsch stieg das zuvor       Landreformen, die Arbeitsgesetze, die strafrecht-
      geringe Interesse an Chile innerhalb der west-       lichen Mechanismen, das Wahlrecht, dies und
      deutschen Linken sprunghaft an, die Solidari-        vieles mehr sind auch heute, 23 Jahre nach dem
      tätsbewegung erhielt enormen Zulauf. In vielen       Ende der Diktatur, Eckpfeiler chilenischer Insti-
      Städten der BRD gründeten sich Chile-Komitees,       tutionalität. Denn entgegen vieler Erwartungen
      die unter anderem Demonstrationen, Proteste          hat das linke Parteienbündnis Concertación, dem
      und Hilfsaktionen für exilierte Chilen_innen or-     auch Salvador Allendes Sozialistische Partei ange-
      ganisierten. Ende 1973 betrug die Auflage der         hört, in 20 Jahren Regierungsverantwortung von
      Chile-Nachrichten bereits 6.000 Stück, später er-    1990 bis 2010 das neoliberale Modell und die von
      reichte sie zeitweise bis zu 8.000 Exemplare. Der    der Pinochet-Administration 1980 verabschiedete
      Umfang der einzelnen Ausgaben stieg rasch auf        Verfassung nicht angetastet. Ähnlich steht es um
      60 Seiten, die Zeitschrift erschien fortan monat-    die Vergangenheitsbewältigung. Die juristische
      lich. Um die vielen angesammelten Dokumente          Aufarbeitung der Verbrechen verläuft bruchstück-
      zu archivieren und der Öffentlichkeit zugänglich     haft und nur wenige Mörder und Folterer muss-
      zu machen, wurde 1974 das Forschungs- und            ten bisher in Haft.
      Dokumentationszentrum          Chile-Lateinamerika   Die Kontinuitäten zwischen Militärdiktatur und
      (FDCL) gegründet, das mit den LN bis heute eng       der aktuellen Politik wurden lange Zeit unwider-
      kooperiert.                                          sprochen hingenommen. Nicht zuletzt aus Angst
      Thematisch drehte sich zunächst fast alles um        vor dem übermächtigen Militär, dem auch heute
      Chile. Mit der Zeit gerieten mehr und mehr Nach-     noch zehn Prozent der Einnahmen des riesigen
      barländer Chiles in den Fokus, in denen ebenfalls    chilenischen Staatskonzerns Codelco zustehen.
      das Militär regierte und ganz ähnliche politische    Gerade in der Anfangszeit der neuen Demokratie
      Bedingungen herrschten. Spätestens nach dem          stellte die Armee ihre Macht zur Schau. In Erinne-
      Putsch in Argentinien am 24. März 1976 wurde         rung geblieben ist hierbei vor allem der Boinazo,
      die Berichterstattung der Chile-Nachrichten zu-      bei dem Augusto Pinochet Ermittlungen wegen
      nehmend breiter und der Anteil an Chile-Artikeln     Korruption gegen sich und seinen Sohn dadurch
      kleiner. Als Konsequenz erschien die Zeitschrift     verhinderte, dass er am 28. Mai 1993 bewaffnete
      ab der Nummer 51 im September 1977 unter             Spezialeinheiten 200 Meter vom Regierungssitz
      dem bis heute bestehenden Namen Lateiname-           auflaufen ließ. Aber auch nachdem die Bedrohung
      rika Nachrichten, zunächst mit dem Zusatz „5.        durch das Militär nicht mehr so virulent war, zeig-
      Jahrgang der Chile-Nachrichten“. Elf Jahre später    ten die gewählten Regierungen keine Bestrebun-
      verschwand der alte Name auch aus dem Unter-         gen, etwas an der Situation Chiles zu verändern,
      titel.                                               was auch lange ohne großen Widerstand der Be-
      2013 jährt sich der Putsch zum 40. Mal, genauso      völkerung funktionierte.
      wie das Bestehen der Lateinamerika Nachrich-         Neben den Mapuche, die sich immer in Konflikt
      ten. Grund genug, einen etwas genaueren Blick        mit dem chilenischen Staat befanden, waren es
      auf Chile zu werfen. 40 Jahre Putsch in Chile        die Schüler_innen, die sich mit moderaten For-
      bedeuten auch 40 Jahre neoliberale Reformen.         derungen gegen die neoliberale Bildungspolitk
      Während in Europa beim Stichwort Neoliberalis-       richteten. Sie waren die ersten, die, wenn auch
      mus die Namen Thatcher, Reagan und vielleicht        erfolglos, auf die vielen Widersprüche im neolibe-
      auch Schröder und Blair fallen, war Chile unter      ralen Musterland Chile hinwiesen.

6   LN-Dossier 8
Während Tomás Hirsch, Präsidentschaftskandidat        Mobilisierung arrangieren. Dieses Arrangieren
für die Wahlen 2009 im Interview mit den LN zu        geschieht allerdings weniger mit dem Versuch,
den sozialen Bewegungen noch sagte, in Chile          die Forderungen zu integrieren und die Proteste
gäbe es „immer weniger solcher Organisationen         zu befrieden. Vielmehr wird die Repression über
und sie bluten aus“, hat sich die Lage vier Jahre     die versuchte Verabschiedung neuer Gesetze ver-
später dramatisch verändert. Nachdem im April         schärft. Allerdings zeichnet sich bis jetzt nicht ab,
2011 erstmals groß gegen HidroAysén, ein Me-          dass die vielfältigen neuen sozialen Bewegungen
gastaudammprojekt im Süden Chiles, demons-            sich von der Repression einschüchtern lassen.
triert wurde, etablierte sich kaum einen Monat        Mit dem vorliegenden Dossier möchte die Redak-
später die auch in den LN viel diskutierte Studie-    tion der Lateinamerika Nachrichten die Hintergrün-
renden- und Schüler_innenbewegung, die sich           de der heutigen Situation beleuchten. Zunächst

  Kundgebung vor dem Präsidentenpalast Santiago, 29. Juni 1973, nach gescheitertem Putschversuch (Tanquetazo)

zunächst auf Bildungsthemen beschränkte, mit-         zeigt LN-Mitbegründer Urs Müller-Plantenberg
tlerweile aber eine gänzliche Abkehr vom neolibe-     die Kontinuitäten des unter der Militärdiktatur
ralen System fordert.                                 eingeführten neoliberalen Wirtschaftssystems
Das Aufkommen dieser Bewegung weckte die              auf. Markus Thulin beleuchtet in seinem Beitrag
chilenische Zivilgesellschaft aus der Jahre wäh-      exemplarisch die konkreten Folgen des Neolibe-
renden Apathie. Mittlerweile regt sich an allen       ralismus für das chilenische Gesundheitssystem.
Ecken und Enden Widerstand gegen die Regie-           Anschließend beschreibt Oliver Niedhöfer einige
rungspolitiken. Im nördlich gelegenen Freirina        Absurditäten des ebenfalls noch aus Diktatur-
wurde so eine riesige Schweinemastfarm verhin-        zeiten stammenden binominalen Wahlsystems.
dert, die Bewohner_innen der abgelegenen Pro-         Über die schwache Position der Gewerkschaften
vinz Aysén erkämpften sich Zugeständnisse von         schreibt Nicolás Véliz Rojas. Auch wenn sich die
der Regierung, und selbst wenn das Bildungssys-       Menschenrechtslage im Vergleich zur Diktatur
tem in Chile immer noch kaum verändert besteht,       deutlich gebessert hat, reagiert der chilenische
müssen sich die Herrschenden mit konstanter           Staat auf Proteste mit Repression, wie David

                                                                                                 LN-Dossier 8   7
Festnahme einer Frau
                                                                                      Santiago,
                                                                                      16. September1988

      Rojas Kienzle in seinem Beitrag aufzeigt. Insbe-     Macht halten konnte. Interviews mit einer Exilchi-
      sondere trifft die Repression die Studierendenbe-    lenin, die in die BRD kam und einem Exilchilenen,
      wegung, die Steve Kenner vorstellt und die indi-     den es in die DDR verschlug, geben Einblicke in
      genen Mapuche im Süden des Landes. Über die          das Leben im Exil. Dass sich Chile mit der Auf-
      Hintergründe des Mapuche-Konliktes berichtet         arbeitung der Vergangenheit noch immer schwer
      Llanquiray Painemal.                                 tut, während das Nachbarland Argentinien bedeu-
      Dass es die LN ohne die Solidarität mit Chile gar    tende Fortschritte zu verzeichnen hat, beschreibt
      nicht gäbe, liegt auf der Hand. Was aber hat die     Maja Dimitroff. Schließlich wirft Leonor Abujatum
      internationale Solidaritätsbewegung mit Chile        einen Blick auf chilenische Literatur, in der die Ver-
      sonst gebracht? Das haben wir verschiedene Pro-      gangenheit deutlich besser aufgearbeitet wird als
      tagonist_innen der damaligen Zeit aus Chile und      auf politischer ebene in Chile.
      Deutschland gefragt. Bei einem Thema, zu dem         Bei der Fülle möglicher Themen kann kein An-
      Teile der Solibewegung in der BRD gearbeitet ha-     spruch auf Vollständigkeit bestehen.Wir hoffen,
      ben, gab es einen direkten Bezug zu Deutschland.     inhaltliche Lücken durch eine kontinuierliche Be-
      Über die abstoßende Sektensiedlung Colonia           richterstattung zukünftig ausfüllen zu können. Mit
      Dignidad, die der deutsche Kinderschänder Paul       diesem Dossier starten wir in den 41.Jahrgang
      Schäfer 1961 gegründet hatte, schreibt Friedrich     der einstigen Chile-Nachrichten. Viele weitere der
      Paul Heller. Dieter Maier geht anschließend der      LN werden folgen.
      Frage nach, warum sich Pinochet so lange an der                                                     // LN

      FOTOS IN DIESEM DOSSIER
      Eine Fotostrecke von José Giribás bebildert dieses Dossier. Der chilenische Fotojournalist musste Chi-
      le nach dem Putsch verlassen und kam dank eines Stipendiums der Freien Universität Berlin schließlich
      nach Deutschland (siehe auch sein Beitrag auf Seite 32). Heute lebt und arbeitet er als freier Fotograf
      in Berlin. Die Fotos stammen aus den Jahren 1973, 1986 und 1988. Sie erzählen von der Repression
      während der Diktatur, aber auch dem Widerstand dagegen, der in der letztlich erfolgreichen Kampagne
      zur Zulassung mehrerer Kandidat_innen 1988 gipfelte. Weitere Infos:www.giriphoto.com/

8   LN-Dossier 8
AUTORITÄRE EXPERIMENTE
WIE DER NEOLIBERALISMUS IN CHILE SEINEN SIEGESZUG ANTRAT

    Bis heute ist die neoliberale Wirtschaftside-         allgemeine Ansicht, dass die Lage schwierig sei.
    ologie in Chile dominant wie nirgends sonst           Seit Ende 1972 hatten einige hohe Marineoffizie-
    in Lateinamerika. Unter der Militärdikta-             re Kontakte zu einer Gruppe von Ökonomen her-
    tur avancierte das Land zur Spielwiese von            gestellt, die heimlich an der Vorbereitung eines
    Ökonomen, auf der sie ihre neuen Rezepte              alternativen Regierungsplans arbeiteten. Am Tag
    erstmalig am lebenden Objekt ausprobieren             des Militärputsches war dieser Plan fertig und
    konnten.                                              schon an Offiziere der drei Teilstreitkräfte verteilt.
                                                          Die neuen Machthaber bevorzugten jedoch im
    Wenn heute vom 11. September gesprochen               Wunsch nach internationaler Anerkennung Perso-
    wird, so verbindet man damit meistens den Ter-        nen, denen sie ein höheres Prestige zuschrieben,
    roranschlag auf die Türme des World Trade Cen-        weil diese schon unter dem christdemokratischen
    ters in New York 2001, ohne an den Putsch der         Präsidenten Eduardo Frei höchste Posten beklei-
    chilenischen Militärs in Chile 1973 zu denken.        det hatten.
    Und wenn heute vom Siegeszug des Neolibe-             Sehr bald aber wurde klar, dass die Militärjunta
    ralismus gesprochen wird, so stehen meistens          politisch mehr wollte als nur eine Wiederherstel-
    die Namen von Margaret Thatcher und Ronald            lung der Situation, wie sie vor der Wahl Allendes
    Reagan für den Beginn dieses Siegeszuges. Da-         geherrscht hatte. Hernán Cubillos von der Ge-
    bei ist nicht präsent, dass schon Jahre vorher        schäftsleitung der Tageszeitung El Mercurio, des
    in Chile neoliberale Konzepte mit aller Macht         Zentralorgans der chilenischen Großbourgeoisie,
    durchgesetzt wurden. Wenn schließlich von der         empfahl den Admirälen dann wärmstens jene
    Durchsetzung des Neoliberalismus in Chile die         Gruppe von Ökonomen, deren Mehrheit von der
    Rede ist, so wird häufig genug davon ausgegan-         Katholischen Universität kam und die insgeheim
    gen, dass diese Durchsetzung das erklärte Ziel        seit 1972 einen Plan für die Destabilisierung und
    der putschenden Militärs gewesen sei. Nichts          den Sturz der linken Regierung ausgearbeitet hat-
    falscher als das.                                     te, der außerdem auch ein Regierungsprogramm
    Als die Generäle 1973 in Chile die Macht über-        für diesen Fall enthielt. Eine Untersuchungskom-
    nahmen, gab es zwar schon einen fertigen Plan         mission des Senats der USA hat später bekannt
    für eine neoliberale Transformation der Wirtschaft,   gemacht, dass die Gelder für die Aktivitäten die-
    aber er war den Militärs nicht bekannt. Pinochet      ser Mannschaft von der CIA über Kanäle bereitge-
    und seine Kollegen hatten kein klar ausgearbei-       stellt wurden, die unter Beteiligung chilenischer
    tetes Regierungsprojekt. Die Streitkräfte hatten      Unternehmerorganisationen hergestellt worden
    keinerlei Regierungserfahrung und ihr Putsch war      waren.
    zunächst nicht mehr als eine Reaktion auf die         Jene stetig wachsende Reihe chilenischer Öko-
    Allende-Regierung und auf die Radikalisierung         nomen – die so genannten Chicago Boys, da
    der politischen und sozialen Situation, die sie als   sie eng mit den neoliberalen Vordenkern der
    schwere Bedrohung der nationalen Sicherheit und       Chicagoer Schule um Milton Friedman verbun-
    der Existenz ihrer eigenen Institution empfanden.     den waren – wurde entscheidend für die neo-
    Ihr Hauptprojekt war ein politisches: die „Ausmer-    liberale Transformation. Rolf Lüders, prominen-
    zung des marxistischen Krebsgeschwürs“, wie es        tes Mitglied der Chicago Boys, beschrieb diese
    der Luftwaffengeneral Gustavo Leigh nannte.           „Phantomexperten“ auf folgende Weise: „Um
    Die Marine, die zu Beginn die Verantwortung für       die Mitte der fünfziger Jahre hatte die Univer-
    die Wirtschaft übernommen hatte, teilte nur die       sität von Chicago ein Programm des akademi-

                                                                                                     LN-Dossier 8   9
Polizeieinsatz in Stadtzentrum Santiago, 12. Dezember 1989

      schen Austauschs mit der Katholischen Univer-          der Allende-Regierung entstandenen Ungleich-
      sität begonnen. (...) Bis 1972 traten viele dieser     gewichte. Die mit der Wirtschaft beauftragten
      Ökonomen – zurück in Chile – als Vollzeit-Pro-         Militärs widmeten folglich ihre Hauptanstren-
      fessoren in die Universitäten ein. Andere über-        gungen dem Ausgleich des Staatshaushalts
      nahmen öffentliche Ämter, besonders während            und der Verminderung der Inflation. Auch das
      der Regierung Frei. Die Übrigen gingen in die          erste vornehmlich von Zivilisten gestellte Wirt-
      wichtigsten Unternehmen des Landes; aber               schaftsteam bekräftigte die Absicht, die Inflation
      alle bildeten eine Gemeinschaft, die sich jedes        durch gemäßigte Schnitte im Staatshaushalt zu
      Jahr um die Generation neuer Ökonomen, die             vermindern, weil man fürchtete, dass drastische
      aus den chilenischen Universitäten kamen, er-          Lösungen katastrophale Ergebnisse zeitigen
      weiterte, eine Gemeinschaft, die sowohl eine           würden.
      technische Sprache und einen rationalistischen         Solche katastrophalen Ergebnisse wurden tat-
      Problemlösungsansatz als auch den Wunsch               sächlich mit der “Schockbehandlung” erreicht,
      gemeinsam hatte, mit ihren Kräften zu einer            die im April 1975 eingeleitet wurde. Gleichzeitig
      blühenden, gerechten und freien Gesellschaft           damit ergab sich die Vorherrschaft der Chicago-
      beizutragen. Die Mehrheit dieser Ökonomen ist          Boys. Die „schrittweise“ Inflationsbekämpfung
      heute, ob es ihnen gefällt oder nicht, bekannt         wurde verworfen und die Kürzung des Staats-
      als Chicago Boys.“                                     haushalts drastisch verstärkt. Diese Maßnah-
      Bis Anfang 1975 hatte die Gruppe aus Chicago           men stürzten die Wirtschaft in eine tiefe Rezes-
      aber schwer um die Kontrolle der Wirtschafts-          sion, während derer das Bruttoinlandsprodukt
      politik zu kämpfen. Während dieser ersten an-          (BIP) um 12,9 Prozent sank. Zwischen 1973 und
      derthalb Jahre nach dem Militärputsch zielte           1980 wurden buchstäblich alle Kontrollen der
      sie hauptsächlich auf die Korrektur der während        Regierung über die Einzelhandelspreise abge-

10   LN-Dossier 8
schafft; nur die Löhne, also die Preise für die      den Ökonomen“ offen gefeiert. Man bekannte
Ware Arbeitskraft, blieben streng kontrolliert.      sich zum politischen Autoritarismus als notwen-
Der Prozess der „Marktöffnung“ für ausländi-         diger Bedingung für das Wirtschaftsmodell und
sche Operationen verlief ebenso schnell. Die         war sich mit den Militärs darüber einig, dass es
durchschnittlichen Einfuhrzölle wurden Schritt       darum gehe, die Bedeutung der Politik in der Ge-
für Schritt von 92 auf 10 Prozent gesenkt. Gleich-   sellschaft zu vermindern.
zeitig mit der Senkung der Zolltarife wurden         Die Schockbehandlung und die Einschränkung
auch alle Einfuhrbeschränkungen beseitigt. En-       des Staatsapparates hatten verheerende Aus-
de 1976 zog sich Chile aus dem Andenpakt (und        wirkungen auf die Mittelklasse und ihre Ent-
damit der regionalen Integration, Anm. der Red.)     wicklungsaussichten; gleichzeitig war die Ar-
zurück.                                              beitslosigkeit auf bis dahin unbekannte Höhen
Bezüglich der Reduzierung und Neuorientierung        von weit über 30 Prozent gestiegen. Sozialen
der Teilhabe des Staates an der Wirtschaft gab es    Kosten dieser Größenordnung hätte man unter
drei Hauptbestrebungen: die Verkleinerung des        demokratischen Verhältnissen nicht entgegen-
öffentlichen Sektors, die Minimierung des regulie-   treten können. Der Autoritarismus war also für
renden Einflusses der Regierung in der Wirtschaft     die neoliberale „Revolution“ ein lebenswichtiges
und die Beseitigung der Rolle, die die Regierung     Element.
in der direkten Produktion und als Organismus        Kritische Stellungnahmen von Verbänden, poli-
bei der Entwicklungsförderung spielte. Zwischen      tischen Führern und Kirchenführern wurden als
1973 und 1979 gingen die Regierungsausgaben          unqualifizierte Behauptungen von Leuten abge-
von 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 26      tan, die einer der Wissenschaft fremden, vormo-
Prozent zurück. Diese Reduzierungen, die auf ei-     dernen Welt verhaftet seien. Durch die Tages-
ne Verminderung des Haushaltsdefizits und der         zeitung El Mercurio erfolgte eine systematische
Inflation zielten, wurden auch beibehalten, nach-     Indoktrination in einem Stil, wie man ihn für die
dem das Defizit beseitigt war. Die Beschäftigung      Verbreitung eines Dogmas benutzt. Was Bertolt
im Staatsapparat sank in weniger als vier Jahren     Brecht in seinem Gedicht „Lob des Kommunis-
um fast 20 Prozent.                                  mus“ über den Kommunismus gesagt hat, war
Nach der Ausführung der eben beschriebenen           die Quintessenz dessen, was El Mercurio über
Wirtschaftsmaßnahmen konzentrierten die Chi-         den Neoliberalismus schrieb: „Er ist vernünftig,
cago Boys ihre Anstrengungen darauf, die Lo-         jeder versteht ihn. Er ist leicht. … Er ist nicht das
gik des Marktes auf die Gesamtheit der gesell-       Chaos, sondern die Ordnung. Er ist das Einfache,
schaftlichen Beziehungen auszudehnen. Die so         das schwer zu machen ist.“
genannten „Modernisierungen“ bedeuteten die          Von der Klassenneutralität, derer sich der
Privatisierung der grundlegenden sozialen Diens-     „wissenschaftliche“ Neoliberalismus so sehr
te im Gesundheitswesen, im Bildungswesen und         rühmte, konnte dabei keine Rede sein. Das
in der Sozialversicherung, die Ausarbeitung eines    Zerstörungswerk war nämlich verbunden mit
Arbeitsplanes (Plan Laboral), der dazu bestimmt      einer ebenfalls beispiellosen Umverteilung von
war, mittels der Repression der existierenden        Einkommen und Vermögen zu Ungunsten der
Gewerkschaften „eine freie Gewerkschaftsbe-          ärmeren Schichten der Bevölkerung. Jahrelan-
wegung“ zu entwickeln. Alle diese Maßnahmen          ge extrem hohe Arbeitslosigkeit und gewalt-
zielten gleichzeitig auf die Reduzierung der Macht   sam gedrückte Löhne sorgten dafür, dass die-
des Staates und auf die Atomisierung der zivilen     se Schichten, als nach 1986 wieder Wachstum
Gesellschaft.                                        möglich wurde, einen noch kleineren Anteil an
Trotz der massiven Verfolgung von Demokrat_in-       dem geschrumpften Kuchen hatten. So ist Chi-
nen und Sozialist_innen, trotz der Ermordung von     le heute eins der Länder in der Welt, in denen
Tausenden Regimegegnern blieb die Loyalität          Einkommen und Vermögen am ungleichsten
der Gruppe gegenüber dem Diktator Pinochet           verteilt sind. Und während die neoliberale Ideo-
unerschütterlich und ihr Einfluss auf den Diskurs     logie behauptet, dass die Entfernung der Politik
der regierenden Militärmannschaft wurde immer        aus dem Wirtschaftsleben die sicherste Garan-
offenkundiger. In El Mercurio wurde das Projekt      tie gegen Diskriminierungen und Korruption
„eines Bündnisses zwischen den Militärs und          biete, hat die neoliberale Politik bei der Organi-

                                                                                               LN-Dossier 8   11
sation des Rückzugs des Staates aus der Wirt-        und Sozialist_innen geführt hat, hat an diesem
      schaft durch Knebelung der Gewerkschaften            Zustand nichts Wesentliches geändert. Hatten
      und Verschleuderung der Staatsunternehmen            die Ökonomen aus diesen demokratischen Par-
      große Teile der Bevölkerung bewusst diskrimi-        teien noch bis 1989 die neoliberale Theorie und
      niert und der Korruption solchen Vorschub ge-        Praxis aufs Heftigste kritisiert, so liefen sie nun
      leistet, dass die Militärs sich sogar gezwungen      mit fliegenden Fahnen über, um das seit 1986
      sahen, einzelne der Chicago Boys in ein – sehr       existierende steile Wirtschaftswachstum nicht zu
      komfortables – Gefängnis zu stecken.                 gefährden. Seither wird jede Abweichung vom
      Das bleibende Ergebnis der neoliberalen „Re-         Pfad der neoliberalen Tugend als „populistische“
      volution“ besteht aber vor allem darin, dass die     Verblendung gebrandmarkt.
      so genannten „Modernisierungen“ in fast allen        Wesentlichen Veränderungen in der Wirtschafts-
      Bereichen des gesellschaftlichen Lebens eine         und Gesellschaftspolitik sind ohnehin durch die
      Atomisierung der Gesellschaft hervorgebracht         von Diktator Pinochet durchgesetzte Verfassung
      haben, wie sie in Chile viele Jahrzehnte lang        von 1980 enge Schranken gesetzt. Sie ist so ge-
      nicht bekannt gewesen war. Die Menschen sind         strickt, dass grundsätzliche oder weit reichende
      mit aller Macht dazu gebracht worden, nur noch       Veränderungen praktisch nur im Konsens mit der
      das eigene persönliche Wohlergehen zum Maß-          Minderheit möglich sind, die sich der Erbschaft
      stab aller Dinge zu machen. Solidarität, wie sie     verpflichtet fühlt, die die Militärs und die Chicago
      in Chile vor 1973 sehr verbreitet war, ist nicht     Boys hinterlassen haben. Von einer Demokratie,
      mehr gefragt.                                        in der die Mehrheit die Chance hätte, das Schick-
      Die Demokratisierung, die 1990 zum Ende der          sal des Landes in eine andere Richtung zu lenken,
      Militärdiktatur und zur Wahl einer demokratisch      ist Chile deshalb vorerst noch entfernt.
      orientierten Regierung aus Christdemokrat_innen                             // Urs Müller-Plantenberg

         Demonstration für das NEIN im Referendum gegen Pinochet Santiago, 01. Oktober 1988

12   LN-Dossier 8
VON GESUNDHEITSBRIGADEN ZU
PRIVATEN DIENSTLEISTERN
DAS CHILENISCHE GESUNDHEITSSYSTEM VOR UND NACH DEM MILITÄRPUTSCH VON 1973

    In Chile hat das Gesundheitssystem von               gruppen herauszubilden, die auch heute noch
    der Regierung Allende an bis heute einen             die professionelle medizinische Versorgung der
    starken Wandel durchgemacht. Von einer               Bevölkerung gewährleisten. Und auch hier war
    positiven Entwicklung kann jedoch kaum               Chile ein Vorreiterland. In einer Zeit, in der es in
    die Rede sein. Besonders die Pflegeberufe             Deutschland noch keine einheitliche Krankenpfle-
    haben während der Diktatur eine starke Ab-           geausbildung gab, erreichte man in Chile mit der
    wertung erfahren, die bis heute anhält. Die          Einrichtung eines Pflegestudiengangs schon 1929
    viel gepriesene lateinamerikanische Vor-             das bis heute höchste Niveau der pflegerischen
    bildfunktion stellt sich somit als weiterer          Professionalisierung. Zu Beginn der Präsident-
    Mythos heraus.                                       schaft Salvador Allendes arbeitete in den chileni-
                                                         schen Gesundheitszentren (ländliche Regionen)
    Am 12. September 1978 wurde auf der Konfe-           und Krankenhäusern ausschließlich weibliches
    renz von Alma Ata (heute Almaty, Kasachstan)         Pflegepersonal, weswegen die Bezeichnung
    eine Garantie der medizinischen Grundversor-         „Krankenschwester“ als Berufsbezeichnung tat-
    gung aller Menschen dieser Erde gefordert.           sächlich zutrifft.
    Das Konzept einer „sozialen Medizin“, wie es in       Der deutsche Arzt, Archäologe und Politiker Ru-
    der Abschlusserklärung der Vertreter_innen aus       dolf Virchow (1821-1902) hat einmal gesagt, „die
    134 Mitgliedsländern der WHO und 67 UN- und          Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die
    Nichtregierungsorganisationen formuliert wurde,      Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen.“
    war jedoch nicht neu. Die gesundheitspolitischen     Allende hatte nicht erst ab 1970, sondern schon
    Maßnahmen ausgewählter Länder dienten den            während seiner Amtszeit als Gesundheitsminister
    Konferenzteilnehmer_innen als Vorbild. Eines         unter der Präsidentschaft Pedro Aguirre Cerdas
    dieser Länder mit Vorbildfunktion war Chile. Dort    (1838-1941) versucht, diese Maxime in dem Mo-
    war 1952 die erste für die gesamte Bevölkerung       dell einer gerechteren medizinischen Versorgung
    konzipierte Gesundheitsversorgung Lateiname-         der chilenischen Bevölkerung umzusetzen. Doch
    rikas eingerichtet worden. Einen bedeutenden         erst während der eigenen Präsidentschaft (1970-
    Anteil daran hatte der Arzt und Politiker Salvador   1973) konnte er die Umsetzung einer kostenlo-
    Allende. 1978, als die erste internationale Ge-      sen Gesundheitsversorgung sowie deren Zen-
    sundheitskonferenz in der Hauptstadt der dama-       tralisierung und Demokratisierung vorantreiben.
    ligen Kasachischen SSR abgehalten wurde, war         So genannte „Gesundheitsbrigaden“, gebildet
    der ehemalige chilenische Präsident bereits seit     aus Ärzten, Krankenschwestern und Pflegehel-
    fünf Jahren tot. Ironischerweise stand die von       fern, sollten sich ohne Rücksicht auf die finanzi-
    ihm geschaffene Basis einer für jede_n Bürger_in     elle Situation um das gesundheitliche Wohl aller
    bezahlbaren Gesundheitsversorgung in seinem          Menschen kümmern. Dieses Vorhaben führte
    Heimatland kurz vor der Auflösung.                    jedoch zu scharfen Protesten eines Großteils der
    In den vorangegangenen Jahrzehnten, das heißt        Ärzteschaft, die wiederum dazu beitrugen, dass
    im Zeitraum zwischen 1900 und 1960, kann             Allendes Reformen im Gesundheitswesen nicht
    man von einer Weiterentwicklung und Ausdiffe-        flächendeckend umgesetzt werden konnten.
    renzierung des Gesundheitswesens nicht nur in        Die Gesundheitsreformen der Militärregierung
    Chile, sondern in vielen Ländern Lateinamerikas      von General Augusto Pinochet stoppten die Ent-
    sprechen. Erst damals begannen sich die Berufs-      wicklung einer chilenischen sozialen Medizin und

                                                                                                  LN-Dossier 8   13
gingen in eine völlig andere Richtung. Der zen-       nicht, oder nur sehr rudimentär, auf die politi-
      tralistisch organisierte Wohlfahrtsstaat Allendes     schen Hintergründe einer Epoche ein, in der die
      wurde der neoliberalen Ausrichtung der Wirt-          Professionalisierung sowie die materielle und die
      schafts-, Sozial und Gesundheitspolitik unterwor-     ideelle Entwicklung des Krankenpflegeberufs in
      fen. Zwischen 1974 und 1989 wurden die staat-         Chile vollkommen zum Stillstand kam. Während
      lichen Ausgaben für die Gesundheitsversorgung         die Ärzteschaft den Status autonomer Selbst-
      der Bevölkerung um mehr als die Hälfte reduziert      verwaltung erhalten konnte, drohte anderen

         Aktion der Bewegung gegen Folter Sebastian Acevedo vor dem Dom Santiago, 04. Oktober 1988

      (von 17,5% auf 6,9% im Jahr). Mit der Liberalisie-    Berufsgruppen des Gesundheitswesens durch
      rung des Krankenversicherungsmarktes 1981 trat        umfangreiche Budget-Kürzungen, Abschaffung
      die weitreichendste Reform in Kraft. Die chileni-     von Ausbildungsprogrammen, politische Ein-
      schen Bürger_innen können seitdem sowohl der          flussnahme auf die gewerkschaftliche Organi-
      öffentlichen Krankenkasse FONASA (Nationaler          sation und Verlust der Weisungsbefugnis die
      Gesundheitsfonds) als auch einer privaten Kran-       Möglichkeit zur Professionalisierung und Inter-
      kenversicherung, den sogenannten ISAPREs,             essenvertretung. Alle Krankenschwestern waren
      beitreten. Der Arbeitnehmerbeitrag als Versiche-      bis 1980 in einer nationalen Pflegekammer, dem
      rungsbeitrag wurde beibehalten, den Arbeitgebe-       Colegio de Enfermeras de Chile (CECh), organi-
      ranteil schafften die Reformer der Militärjunta ab.   siert. Die verpflichtende Mitgliedschaft in dieser
      Viele wissenschaftliche Abhandlungen gehen            Körperschaft öffentlichen Rechts wurde per Ge-

14   LN-Dossier 8
setz abgeschafft und damit die wichtigste Inter-    starken Anstieg der Wirtschaftsleistung und der
essenvertretung der Pflegenden demontiert. Da        Armutsverringerung nach dem Ende der Pino-
dem öffentlichen Gesundheitssektor die finanzi-      chetdiktatur. Doch sind die Erfolge bei der flä-
elle Förderung entzogen wurde, sanken die Ge-       chendeckenden medizinischen Versorgung der
hälter der Krankenschwestern. Viele wanderten       Bevölkerung nicht auf die von der Militärjunta
zu privaten Dienstleistern ab, die jedoch nur von   eingeführte Wahlfreiheit zwischen staatlicher
vermögenden Bürger_innen in Anspruch genom-         und privater Krankenversicherung zurückzufüh-
men werden konnten. Die Konsequenz dieser           ren. 80% der Krankenversicherten nehmen heute
Reformen ist noch heute in vielen chilenischen      den staatlichen Versicherungsschutz in Anspruch.
Krankenhäusern sichtbar. Dort gibt es generell      So obliegt zum Beispiel die Versorgung der drei
einen hohen Qualitätsunterschied zwischen der       Millionen mittellosen Bürger_innen im chileni-
privaten und der öffentlichen Gesundheitsver-       schen Kassenwettbewerb allein der öffentlichen
sorgung.                                            Krankenversicherung. Nur der öffentlichen Hand
Ebenfalls im Jahr 1980 leitete die Neuregelung      ist es darum zu verdanken, dass Chile eines der
der universitären Ausbildung durch eine Nicht-      wenigen Entwicklungs- oder Schwellenländer ist,
Erwähnung des Pflegeberufs faktisch einen            in dem die gesamte Bevölkerung gegen Krank-
Ausschluss der Krankenpflege aus dem univer-         heitsfolgen abgesichert ist. Doch ist die Qualität
sitären Lehrbetrieb ein. Direkte Folge dieser       der medizinischen Grundversorgung der meisten
Maßnahme war die Abwertung des Pflegebe-             Chilen_innen nur ausreichend, stellenweise sogar
rufs. Den Krankenschwestern war es nun nicht        mangelhaft.
mehr erlaubt, administrative Aufgaben zu über-      Unter dem vielversprechenden Namen AUGE
nehmen, zum Beispiel Gesundheitszentren zu          – Acceso Universal con Garantías Explícitas (Um-
leiten, oder über die therapeutischen Maßnah-       fassender Zugang mit ausdrücklichen Garantien)
men mitzuentscheiden. Der damals allgemein          hat die Regierung des sozialistischen Präsidenten
niedere Status der Frauen in der chilenischen       Ricardo Lagos im Jahr 2005 eine flächendecken-
Gesellschaft wurde nach einer langen Periode        de Reformierung des Gesundheitswesens in Kraft
der beruflichen Gleichberechtigung nun auch für      treten lassen, um drängende Probleme wie lange
die Pflegenden zementiert. Die Ärzteschaft, die      Wartezeiten und explodierende Zuzahlungen im
sich in großen Teilen massiv gegen die Gesund-      öffentlichen Sektor zu begrenzen. Die Erfolge
heitspolitik Allendes gewehrt hatte, errang die     sind aufgrund der weiter steigenden Kosten für
Federführung in der Gesundheitsversorgung, die      die medizinischen Leistungen begrenzt. Die chi-
Krankenschwestern wurden zu Weisungsemp-            lenischen Bürger_innen leiden zum Beispiel unter
fängerinnen degradiert.                             materiell schlecht ausgestatteten Gesundheits-
Die Gesetzesvorhaben zur Dezentralisierung der      zentren und unfreundlichem Klinikpersonal – eine
Selbstverwaltung der Pflegenden und zur Be-          Kritik, die sich auch gegen die Krankenschwestern
schränkung ihres Ausbildungsstandards führten       richtet und von deren Warte aus auch berechtigt
zu zahlreichen öffentlichen Beschwerden der An-     ist. Der seit den 1960er Jahren bestehende Pfle-
gehörigen des CECh beim Gesundheitsministe-         gekräftemangel ist in den 1980er Jahren durch
rium. Solche Interventionen auf zentraler Ebene     die Kürzungen im Gesundheitswesen weiter
blieben erfolglos. Es gelang den Krankenschwes-     verschärft worden und die wissenschaftliche Aus-
tern in Zusammenarbeit mit den Universitäten,       und Weiterbildung kam fast völlig zum Erliegen.
jedoch, bis 1990 den akademischen Lehrbetrieb       Von einer aus medizinischer wie sozialer Perspek-
an einigen Orten wieder aufzunehmen. Erfolg         tive heraus vertretbaren Gesundheitsversorgung
hatten auch die lokal begrenzten Initiativen des    ist Chile 40 Jahre nach Beginn der neoliberalen
CECh, deren Ziel es war, ein gewisses Maß an        Reformen weiter entfernt als zum Zeitpunkt der
autonomer Arbeitsplanung beizubehalten oder         Deklaration von Alma Ata oder der Präsident-
wiederzuerlangen.                                   schaft ihres Vordenkers Salvador Allende. So wie
Trotz der Änderungen kann das chilenische Ge-       diesseits des Atlantik wird in Chile Gesundheit zu
sundheitssystem sich heutzutage nicht nur im        einer Ware, die sich immer weniger Menschen
südamerikanischen, sondern auch im weltweiten       leisten können.
Vergleich behaupten. Das erklärt sich aus dem                                        // Markus Thulin

                                                                                           LN-Dossier 8   15
DIE WAHL DER QUAL
      DAS CHILENISCHE WAHLSYSTEM IST EIN ERBE DER DIKTATUR

      Am 17. November werden in Chile ein Präsi-            Diese Konstellation bewirkt, dass bei annähern-
      dent oder eine Präsidentin sowie ein neues            der Stimmengleichheit zwischen zwei Parteien
      Parlament gewählt. Themen im Wahlkampf                oder Koalitionen die beiden stärksten Kandi-
      sind vor allem Reformen des Bildungs- und             dat_innen – gemäß des Wählerwunsches – als
      des Gesundheitssystems sowie das Energie-             Sieger_in aus der Wahl hervorgehen. Doch es
      problem. Zur Debatte steht jedoch auch das            hat auch zur Folge, dass in einem Wahlkreis mit
      Wahlsystem selber.                                    einer sehr starken Kandidatin, die knapp weniger
                                                            als zwei Drittel der Stimmen auf sich vereint, der
      Noch ist es eine Weile hin, doch die Vorzeichen       zweitplatzierte Kandidat, der dann nur sehr weni-
      sind deutlich: Ex-Präsidentin Michelle Bachelet       ge Stimmen erhalten hat, ebenfalls in die jeweili-
      von der Sozialistischen Partei ist die aussichts-     ge Kammer einzieht. Bestes Beispiel ist der Wahl-
      reichste Bewerberin bei den Präsidentschaftswah-      kreis La Florida. Dort hat Carlos Montes von der
      len in Chile am 17. November. Bei den Vorwahlen       sozialistischen Partei 2009 über 50 Prozent der
      des Oppositionsbündnisses Nueva Mayoría (ehe-         Stimmen erhalten. Dennoch ist auch der zweit-
      mals Concertación) konnte sie sich Ende Juni klar     stärkste Kandidat in diesem Wahlkreis, Gustavo
      durchsetzen. Für das rechte Bündnis Alianza por       Hasbún von der rechtskonservativen UDI vom
      Chile tritt Pablo Longueira von der Unabhängigen      Parteienbündnis Allianz für Chile in das Parlament
      Demokratischen Union (UDI) an. Seine Karriere be-     eingezogen, obwohl er nur wenig mehr als ein
      gann er unter Pinochet, unter dem aktuellen Prä-      Viertel der Stimmen erzielt hat. Theoretisch könn-
      sidenten Sebastián Piñera war er bis vor kurzem       te die zweitstärkste Koalition mit weitaus weni-
      Wirtschaftsminister. Piñera ist der erste Präsident   ger Stimmen die gleiche Anzahl an Sitzen im Par-
      seit der Rückkehr zur Demokratie 1989, der nicht      lament erhalten wie die stärkste Koalition.
      der Concertación, einem Bündnis von Mitte-links-      Eine Folge dieses Systems ist eine starke Bipola-
      Parteien, entstammte. Andere Kandidat_innen           risierung. Die großen Parteienbündnisse Concer-
      werden kaum eine bedeutende Rolle spielen.            tación sowie die rechtsgerichtete Allianz für Chile
      Auch bei den zeitgleich stattfindenden Parla-          dominieren die politische Szene seit 1989. Beide
      mentswahlen werden neben der Nueva Mayoría            Koalitionen sind immer etwa gleichstark, bis 2009
      und der RN andere Parteien unter ferner liefen fir-    hatte die Concertación leichte Mehrheiten, seit
      mieren. Das in Chile geltende Wahlsystem führt        2009 die Allianz. Somit herrscht ein institutiona-
      dazu, dass im Parlament strukturell zwei ähnlich      lisiertes „ständiges Unentschieden“, so der Jour-
      große Blöcke dominieren. Chile ist eines von we-      nalist Libio Pérez. Auch im Wahlausschuss Servel,
      nigen Ländern, in denen die Parlamentarier_innen      der die Durchführung der Wahlen organisiert und
      beider Kammern nach dem binominalen Wahl-             überwacht, zeigt sich dieses ausgeglichene Stär-
      recht gewählt werden. Dabei werden in jedem           keverhältnis durch paritätische Besetzung mit
      Wahlkreis zwei Mandate vergeben. Derjenige            jeweils zwei Mitgliedern aus jedem der beiden
      Kandidat, der die meisten Stimmen auf sich verei-     großen Blöcke.
      nen kann, zieht in die jeweilige Kammer ein. Falls    Dass eine Koalition beide Mandate eines Wahl-
      dieser Kandidat mindestens zwei Drittel der Stim-     kreises erhält, ist nahezu ausgeschlossen. Bei der
      men erhält (doblaje), bekommt seine Koalition         Wahl 2009 hat kein Parlamentarier die für eine
      auch das zweite Mandat, andernfalls wird dieses       doblaje erforderlichen zwei Drittel der Stimmen
      automatisch an den_die bestplatzierten Kandidat_      sammeln können. Da es somit sehr wahrschein-
      in der zweitstärksten Koalition vergeben.             lich ist, dass für jeden Block nur der Erstplatzierte

16   LN-Dossier 8
ins Parlament einzieht, gehen jeder Wahl harte
innerkoalitionäre Auseinandersetzungen voraus.
Vernachlässigt wird dadurch der Diskurs mit dem
politischen Gegner über grundlegende Richtungs-
entscheidungen für das Land. So konnten weder
von der Concertación noch von der Allianz über-
zeugende Vorschläge zur Reform des Bildungs-
systems vorgelegt werden.
Ein weiteres Ergebnis des binominalen Wahlsys-
tems ist, dass kleinere Parteien oder Koalitionen
kaum die Möglichkeit haben, Wahlerfolge zu er-
zielen. Bei der Parlamentswahl 2009 konnte die
Kommunistische Partei erstmals seit 1973 wie-
der mit drei Abgeordneten ins Parlament einzie-
hen – allerdings erst, nachdem sie sich mit der
Concertación verbündet hatte. Dieser Schritt war
stark umstritten und hat zu vielen Parteiaustritten
geführt. Seit der Rückkehr zur Demokratie gab es
19 Versuche zur Änderung des entsprechenden
Gesetzes. Die Mehrzahl wurde von Parlamenta-
rier_innen der Concertación vorgeschlagen. Alle
                                                        Festnahme während eine Demonstration
sind, wie Pérez schreibt, „an der unüberwindba-       Santiago, 02. Oktober 1988
ren Mauer der politischen Rechten“ abgeprallt.
Erst im Januar 2013 ist eine erneute Initiative zur
Änderung des Wahlsystems im Senat am Wider-           die der Universidad Central kommt zu dem Ergeb-
stand der UDI und der RN gescheitert. Dabei wur-      nis, dass die Nichtausübung des Wahlrechts ins-
de die Änderung von Senator_innen dieser bei-         besondere in den Stadtteilen Santiagos verbreitet
den Parteien mit ausgearbeitet. Lediglich durch       ist, die hauptsächlich von unteren Einkommensni-
die Enthaltung von zwei Senator_innen wurde die       veaus und sozialen Problemen geprägt sind.
nötige Zweidrittel-Mehrheit bei der Abstimmung        Doch obwohl sich die etablierten Koalitionen
verfehlt. Tatsächlich ist das ausgeglichene Kräfte-   weiterhin schwer tun, das binominale System zu
verhältnis im Parlament dafür verantwortlich, dass    ändern, gibt es Erfolge: Die ebenfalls seit Jahren
die in der Verfassung von 1980 festgeschriebenen      diskutierte Einführung der automatischen Wähler-
zwei Drittel der Stimmen bei derartigen Abstim-       registrierung und das freiwillige Wahlrecht wurde
mungen nie erreicht wurden. Dennoch wäre es           bei den Kommunalwahlen 2012 erstmals ange-
falsch zu behaupten, dass lediglich die rechten       wandt. Zuvor musste man sich erst registrieren
Parteien Nutzen aus dem binominalen System            lassen, um wählen gehen zu können. Einmal re-
ziehen würden. Bei den sechs Parlamentswahlen         gistriert, fiel man unter die Wahlpflicht und muss-
seit der Rückkehr zur Demokratie 1989 konnten         te empfindliche Geldbußen zahlen, wenn man
die Concertación und das Rechtsbündnis jeweils        dieser nicht folgte. Diese Reform hat zwar nicht
dreimal davon profitieren.                             zu höherer Wahlbeteiligung beigetragen, war aber
Eine direkte Auswirkung dieses Systems ist das        dennoch ein wichtiger Schritt in Richtung einer
wachsende Desinteresse an der Politik. Die Kan-       Demokratisierung des Wahlsystems.
didat_innen und deren politische Programme in-        Die Opposition gegen eine Reform des binomina-
nerhalb der Blöcke sind kaum voneinander zu un-       len Systems zeigt sich indes nicht geschlossen.
terscheiden. Intransparenz, Dominanz durch die        So stimmte die Senatorin Lily Pérez von der RN
Parteieliten sowie „Zuschachern“ von politischen      im Januar 2013 für eine Änderung: „Das binomi-
Posten innerhalb der großen Blöcke gelten als un-     nale System hat unser Land extrem polarisiert,
mittelbare Folge des Wahlsystems. Bei den Kom-        indem es sämtliche Unterschiede in den Koaliti-
munalwahlen 2012 beteiligten sich beispielsweise      onen erstickt“.
nur etwa 40 Prozent der Wähler_innen. Eine Stu-                                     // Oliver Niedhöfer

                                                                                             LN-Dossier 8   17
WIDERSPRÜCHLICH UND
MACHTLOS
CHILENISCHE GEWERKSCHAFTEN SIND KAUM IN DER LAGE, GEGEN SCHLECHTE ARBEITS-
BEDINGUNGEN ANZUKÄMPFEN

      Stabilität, Wachstum und Entwicklung sind            lich organisierten Journalist_innen und Grafi-
      nur einige der Stärken, die Chile wirtschaft-        ker_innen der lokalen Tageszeitung El Mercurio
      lich zugeschrieben werden. Die prekäre Situ-         de Valparaíso, die im Mai und Juni dieses Jah-
      ation der chilenischen Bevölkerung, die unter        res mehr als 20 Tage lang für eine Gehaltser-
      oftmals unwürdigen Bedingungen arbeitet,             höhung gestreikt haben, entlassen und durch
      wird meist wenig beachtet. Gewerkschaften            neue ersetzt. Die Zeitung erschien in dieser
      scheitern oft am Desinteresse der Politik und        Zeit weiterhin jeden Tag. Auf diese Weise ver-
      interner Korruption.                                 lieren viele Arbeiter_innen das Vertrauen in ihre
                                                           Gewerkschaften, die häufig die Interessen des
      Milton Friedman bezeichnete Chile seinerzeit         Betriebs über das Wohl der Angestellten stellen.
      als Labor des Neoliberalismus, geeignet für          Dieser Widerspruch ist in Chile weit verbreitet,
      die Experimente der Chicago Boys. Dass jenes         wird jedoch häufig nicht als ein solcher angese-
      Wirtschaftssystem sich auch im Rahmen der De-        hen, da nur wenige Gewerkschaften tatsächlich
      mokratisierung nur unwesentlich verändert hat,       dem Schutz und der Interessenvertretung ihrer
      macht sich vor allem in der Arbeitswelt bemerk-      Mitglieder dienen.
      bar. Chile verfügt über eine Gewerkschaftsland-      In den Worten des Finanzministers Felipe Larraín
      schaft, die zwar vielseitig, jedoch wenig einfluss-   befindet sich der chilenische Arbeitsmarkt „an-
      reich ist. Die Arbeitsbedingungen eines großen       nähernd in einer Situation der Vollbeschäftigung“.
      Teils der Bevölkerung sind nicht zuletzt deswegen    Es ist jedoch fraglich, ob diese Beschäftigungs-
      alarmierend. So sind heute weniger als 10 Prozent    verhältnisse den Ansprüchen der Arbeiter_innen
      der chilenischen Beschäftigten gewerkschaftlich      genügen. Eine Befragung des Nationalen Sta-
      organisiert (im Vergleich dazu in Deutschland et-    tistikinstitutes INE erhält den Mythos aufrecht.
      wa 20 Prozent), von diesen erringt wiederum          „Die Daten sind gerade ausreichend, um das Bild
      nur ein geringer Teil Verhandlungserfolge mit den    eines Landes zu schaffen, das produktiv ist und
      meist privaten Unternehmen. Somit hat die gro-       Arbeit für alle garantiert”, so die Fundación Sol, ei-
      ße Mehrheit der arbeitenden Chilen_innen keine       ne Stiftung, die sich mit Arbeitsbedingungen und
      Möglichkeit, ihre Arbeitsbedingungen mithilfe        Arbeitsrecht beschäftigt.
      einer Gewerkschaft zu verbessern. Oftmals wird       Zudem erhöhen chilenische Unternehmen stän-
      sogar der Entstehungsprozess solcher Organisa-       dig ihre Flexibilität. So gilt beispielsweise der
      tionen von Unternehmen behindert, die ihre Pro-      Vertrag eines_r Schichtarbeiter_in meist lediglich
      fitrate gefährdet sehen.                              für die Dauer einer einzelnen Schicht. Durch das
      Der chilenische Staat stellt keine Schutzmaß-        Fehlen eines stabilen Vertrags geht der Anspruch
      nahmen für seine arbeitende Bevölkerung zur          auf staatliche finanzielle Hilfe verloren, wie zum
      Verfügung. Die Arbeitsgesetze stammen aus            Beispiel auf Wohungszuschüsse. Renteneinzah-
      den Zeiten der Diktatur, ein Streikrecht existiert   lungen können kaum geleistet werden. Auch die
      nicht. Unternehmen haben bei Verstößen gegen         Möglichkeit, einen Kredit aufzunehmen, besteht
      das Streikverbot das Recht, die involvierten Ar-     auf dieser Vertragsbasis nicht, was wiederum den
      beiter_innen umgehend zu entlassen. So wurde         Zugang zu Universitäten aufgrund der hohen Stu-
      beispielsweise die Mehrheit der gewerkschaft-        diengebühren erschwert.

18   LN-Dossier 8
Im Mai bezeichnete die christdemokratische Se-          der arbeitenden Bevölkerung selbst ausgehen und
natorin Soledad Alvear die Arbeitskonditionen der       von unten heraus institutionalisiert werden müsse:
Schichtarbeiter_innen in Call Centern als Sklave-       „Wir müssen uns unseren eigenen Weg vorgeben.
rei: „Die Bedingungen sind unmenschlich, bei            Die traditionellen Strukturen wie Parteien und Re-
jedem Gang zur Toilette setzt das Gehalt aus.”          gierungen interessieren sich nicht für uns, nur auf
Verstöße gegen das Arbeitsgesetz seien an der           unser Aufbegehren reagieren sie mit Repression.“
Tagesordnung. „Schwangere und Mütter mit Kin-           Eine ähnliche Sichtweise vertritt Jorge Peña, Vor-
dern unter zwei Jahren müssen Nachtschichten            sitzender der Gewerkschaft des staatlichen Kup-
übernehmen“, kritisiert Alvear.                         ferunternehmens Codelco: „Es liegt in unseren
Für viele Arbeiter_innen ist der gewerkschaftli-        Händen, unsere eigene Arbeitsrealität zu verbes-
che Dachverband (CUT) mitverantwortlich für die         sern. Die Umfragen bestätigen eine sehr hohe
schlechten Bedingungen. Barbara Figueroa, Pro-          Unterstützung seitens der chilenischen Bevölke-
fessorin für Philosophie, Mitglied der Kommunis-        rung für soziale Bewegungen wie die Studieren-
tischen Partei und Präsidentin des CUT sieht das        den oder die Beschäftigten der Kupferminen.” Um
grundlegende Problem in der Ungleichheit der            wirklich etwas verändern zu können, müssten die
Gehälter: „Wir benötigen neue Arbeitsgesetze, die       Gewerkschaften sich laut Peña zentraler organi-
von den Arbeiter_innen selbst mitbestimmt wer-          sieren und gleichzeitig auf spezielle Bedürfnisse
den müssen, um die Klassenteilung der Arbeits-          eingehen, wie zum Beispiel denen derjenigen
welt aufzuheben.“ Für Figeroa ist dieses Wahljahr       Arbeitnehmer_innen, die mit dem System der
ausschlaggebend: „Mit den Kandidat_innen der            Leiharbeit zu kämpfen haben. Zudem, so Peña,
Concertación (Bündnis von Mitte-Links-Parteien;         müsse man dafür sorgen, dass mehr Menschen
Anm. der Red.) haben wir uns bereits getroffen.         die Möglichkeit bekommen, sich gewerkschaftlich
Wir sind uns einig, dass das Symbol der Ungleich-       zu organisieren und sich auf diese Weise Gehör
heit das Gesicht des Arbeiters ist, und dass sich       zu verschaffen: „Wir müssen unsere Ziele in einer
das ändern muss.“ José Agurto hingegen, Spre-           einzigen Bewegung formulieren, die von der Re-
cher der Unión Portuaria del Biobío, dem Dach-          gierung nicht ignoriert werden kann.“
verband der Hafengewerkschaften Südchiles, ist                                      // Nicolás Véliz Rojas
der Meinung, dass ein grundlegender Wandel von                           Übersetzung: Elena von Ohlen

  Clotario Blest Riffo, Gründer der CUT) In seiner Wohnung, Santiago, 10. Februar 1986
MORD UND SCHLAGSTOCK
IM NEOLIBERALEN MUSTERLAND CHILE HAT REPRESSION VIELE GESICHTER

      Die Unterdrückung oppositioneller Strö-                 Mittlerweile hat sich die Bewegung in ihren For-
      mungen geht in Chile auch 23 Jahre nach                 derungen radikalisiert und fordert neben einer
      Ende der Militärdiktatur weiter. Mit der 2011           Wiederverstaatlichung der Bergbauressourcen
      entstandenen Studierendenbewegung ist                   im Land eine generelle Abkehr vom neoliberalen
      jedoch ein neuer Faktor ins Spiel gekom-                Modell in Chile, nicht nur in der Bildung. Dieses
      men, der unterschiedliche Richtungen zu                 Ziel strebt die Bewegung über die Einberufung
      integrieren versucht und auf eine neue und              einer Verfassunggebenden Versammlung an, um
      demokratischere Verfassung hinarbeitet.                 die heutige Verfassung durch eine Neue zu erset-
                                                              zen .
      Das letzte Opfer war ein 16-jähriger Schüler. Manu-     Neben meist nicht genehmigten Demonstratio-
      el Gutiérrez war im August 2011 auf dem Weg zu          nen gehören Besetzungen zum Standardinventar
      einer Demonstration, als ihn ein Polizist erschoss.     der Bildungsproteste. Im Laufe des vergangenen
      Im oft als „ökonomischen Musterland Lateiname-          Jahres war zwischenzeitlich fast der gesamte
      rikas“ bezeichneten Chile ist dies allerdings bei       staatliche Universitätsbetrieb wegen Besetzun-
      weitem kein Einzelfall. Seit dem Ende der Militär-      gen zum Stillstand gekommen und im ganzen
      diktatur 1990 wurden mehr als 70 politische Akti-       Land waren mehr als 400 Schulen besetzt. Die
      vist_innen von der chilenischen Polizei ermordet.       Regierung reagierte, indem sie die juristischen
      Auch wenn die Häufigkeit dieser Morde in den             Daumenschrauben anzog – so zum Beispiel in-
      letzten Jahren abgenommen hat, funktioniert der         dem sie das sogenannte „Hinzpeter-Gesetz“ in
      Repressionsapparat in Chile weiterhin mit großer        die Parlamente einbrachte – benannt nach dem
      Brutalität. Tränengasgranaten, Wasserwerfer und         Innenminister und konservativen Hardliner Rod-
      „Zorrillos“ – Stinktier – genannte Fahrzeuge mit        rigo Hinzpeter. Die Gesetzesvorlage sieht unter
      Tränengasdüsen auf dem Dach gehören neben               anderem ein Vermummungsverbot auf Demons-
      Schlagstöcken und Gummigeschossen zu den                trationen vor sowie „die Störung des öffentlichen
      Waffen, die auf fast jeder Demonstration zum Ein-       Friedens“ – also etwa Besetzungen – zu einer
      satz kommen. Aber auch abseits von physischer           Straftat zu machen, um sie nun mit bis zu fünf
      Gewalt findet in Chile starke Repression statt           Jahren Haft anstatt wie bisher mit Geldbußen zu
      Diese richtet sich im Moment vor allem gegen die        ahnden. Sollte das Gesetz verabschiedet wer-
      neu entstandene Studierendenbewegung. Mit ei-           den, könnten diese Strafen auch auf die Organi-
      ner ersten Demonstration im April 2011 begann           sator_innen von Demonstrationen ausgeweitet
      eine in der jüngeren Geschichte Chiles beispiel-        werden.
      lose Mobilisierung von Studierenden und Schü-           Eine weitere, 2013 lancierte Gesetzesinitiative
      ler_innen. Die anfänglich schwach besuchten De-         ist das sogenannte „Ley mi Cabo“ („Mein Ge-
      monstrationen gewannen schnell an Größe und             freiter-Gesetz“). Damit soll das Beleidigen und
      schon im August desselben Jahres fand mit ei-           Schubsen von Polizist_innen unter härter bestraft
      ner Million Demonstrant_innen die bis zu diesem         werden. Diese Vergehen könnten dann mit bis
      Zeitpunkt größte Demonstration seit dem Ende            zu 60 Tagen Freiheitsstrafe und Geldstrafen bis
      der Militärdiktatur statt. Die seither konstant fort-   zu umgerechnet 455 Euro sanktioniert werden.
      laufenden Proteste richten sich gegen das enorm         Problematisch dabei ist vor allem, dass es durch
      teure und ungerechte Bildungssystem in Chile,           dieses Gesetz „möglich sein wird, jede Person
      das ebenso wie die 1981 in Kraft getretene Ver-         festzunehmen, ohne irgendeinen Beweis gegen
      fassung ein Erbe der Pinochetdiktatur ist.              sie zu haben“, so Andrés Fielbaum, Präsident der

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