ERBE EINER DIKTATUR // - 40 Jahre nach dem Putsch in Chile - JAHRGANG DER CHILE-NACHRICHTEN - Lateinamerika Nachrichten
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LN-Dossier 8 // Juli/August 2013 41. JAHRGANG DER CHILE-NACHRICHTEN ERBE EINER DIKTATUR // 40 Jahre nach dem Putsch in Chile
40 Jahre Solidarität und Widerstand Lateinamerika Nachrichten Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika // IMPRESSUM HERAUSGEBER: LATEINAMERIKA NACHRICHTEN Erscheint als Dossier Nr. 8 innerhalb der LN 469/470 (Juli/August 2013) sowie als separate Themenbroschüre. Redaktion: Redaktionskollektiv der Lateinamerika Nachrichten V.i.S.d.P. Maja Dimitroff, Laura Haber, Tobias Lambert, Elena von Ohlen, David Rojas-Kienzle, Patricia Schulze Gefördert von ENGAGEMENT GLOBAL im Auftrag des Der Herausgeber ist für den Inhalt allein verantwortlich // KONTAKT LATEINAMERIKA NACHRICHTEN Gneisenaustr. 2a, D – 10961 Berlin Tel: 030 / 694 61 00, Fax: 030 / 692 65 90 www.lateinamerika-nachrichten.de LN-Redaktion: redaktion@LN-Berlin.de Bestellungen und Informationen zum LN-Abo: abo@LN-Berlin.de Titelfoto: José Giribás // Demonstration für das NEIN bei Pinochets Referendum, Santiago, 01. Oktober 1988.
ERBE EINER DIKTATUR 40 JAHRE NACH DEM PUTSCH IN CHILE 4 Das schwierige Erbe der Diktatur // Ein 31 Solidarische Stimmen // Eine kleine, nicht-re- Dossier über Chile 40 Jahre nach dem Putsch präsentative Bilanz der Chile-Solidaritätsbewe- gung 9 Autoritäre Experimente // Wie der Neolibera- lismus in Chile seinen Siegeszug antrat 34 Ein offenes Kapitel // Die Colonia Dignidad und die bundesdeutsche Solidaritätsbewegung 13 Von Gesundheitsbrigaden zu privaten Dienstleistern // Das chilenische Gesundheits- 37 Vom Putschisten zum Langzeitdiktator // system vor und nach dem Militärputsch von 1973 Wie sich Pinochet 17 Jahre lang an der Macht halten konnte 16 Die Wahl der Qual // Das chilenische Wahlsys- tem ist ein Erbe der Diktatur 40 „Ich bin ein Weltmensch“ // Interview mit Eva Tichauer Moritz über ihr Exil in der BRD 18 Widersprüchlich und machtlos // Chilenische Gewerkschaften sind kaum in der Lage, gegen 42 „Ich bin stolz, ein ausländischer Ossi zu schlechte Arbeitsbedingungen anzukämpfen sein“ // Interview mit Mario Fuentes Delgado über sein Exil in der DDR 20 Mord und Schlagstock // Im neoliberalen Musterland Chile hat Repression viele Gesichter 44 Die dunklen Schatten der Geschichte // Un- terschiedliche Aufarbeitung der Vergangenheit 24 Eine mutige Generation // Mehr als zwei Jahr- in Argentinien und Chile zehnte nach Ende der Militärherrschaft erobert die chilenische Jugend die Straßen zurück 48 Grauzonen, dunkle Flecken, schwarze Löcher // Das Gespenst der Diktatur im zeitge- 28 Landraub in Wallmapu // Der Konflikt zwi- nössischen chilenischen Roman schen chilenischem Staat und den Mapuche reicht bis in die Kolonialzeit zurück 51 Tipps zum Weiterlesen
DAS SCHWIERIGE ERBE DER DIKTATUR EIN DOSSIER ÜBER CHILE 40 JAHRE NACH DEM PUTSCH 4 LN-Dossier 8
Chile spielt auf der politischen Weltkarte eine überwiegend zu vernachlässigende Rolle. Das 17 Millionen-Einwohner_innenland, das sich im äu- ßersten Südwesten der Amerikas auf einer Länge von 4.300 Kilometern eingeengt zwischen den Anden und dem Pazifik befindet, taucht in den eu- ropäischen Medien nur selten auf. Selbst der Be- such des chilenischen Präsidenten in Deutschland ist kaum eine Nachricht wert. Das war allerdings nicht immer so. In der Geschichte der Linken in Deutschland war Chile einer von vielen Bezugs- punkten, an dem sich nach der Wahl von Salva- dor Allende 1970 Revolutionsträume von einem demokratischen Sozialismus orientierten. Doch die vielen unter der Regierung der Unidad Popular begonnenen Projekte fanden ein jähes Ende. Der Militärputsch am 11. September 1973 begrub den Traum eines gerechteren Chiles. Der Regierungs- palast La Moneda wurde von Kampfflugzeugen der chilenischen Streitkräfte bombardiert, Sal- vador Allende kam ums Leben – ob durch Mord oder Selbstmord ist bis heute strittig. Tausende Chilen_innen wurden in den folgenden Tagen und Wochen inhaftiert, gefoltert und ermordet, am Ende der Militärdiktatur sollten es mehr als 3.000 Tote und Verschwundene sowie zehntausende Gefolterte sein. Während dieser 17 Jahre waren die Menschenrechtsverletzungen der Regierung, nicht zuletzt wegen der vielen Exilierten, auch in der deutschen Linken ein wichtiges Thema. Ins- gesamt 500.000 Chilen_innen verließen ihr Hei- matland. Während Pinochet auf die freundliche Unterstützung von deutschen Politiker_innen wie Franz-Josef Strauß zählen konnte, wurde von Be- wegungsseite die chilenische Militärregierung kri- tisiert und die Opposition unterstützt. Die damalige Solidarität mit der vorangegange- nen Unidad Popular-Regierung führte unter an- derem zur Gründung der Lateinamerika Nachrich- ten. Am 28. Juni 1973 erschien unter dem Namen Chile-Nachrichten die erste Ausgabe. Etwa 15 bis 20 Personen, die in Chile zuvor Faszination und Demonstration gegen die Diktatur Santiago, 01. Oktober 1988: Ein Demons- trant zeigt ein Foto des Gemäldes „Der vierte Stand“ von Giuseppe Pellizza da Volpedo. In Chile ist es ein Symbol für den Kampf der Minenarbeiter nach der Ermordung von circa 2.000 Menschen bei einem Streik in der Mine Santa Maria in Iquique 1907. LN-Dossier 8 5
Probleme des sozialistisch-demokratischen Auf- Federführung der sogenannten Chicago Boys, in bruchs miterlebt hatten, hatten in Deutschland den USA ausgebildeten Wirtschaftwissenschaft- zunächst das Komitee Solidarität mit Chile ins ler_innen, das Experimentierfeld für neoliberale Leben gerufen. Anfangs sollten für die Kommuni- Politiken. kation innerhalb des Komitees alle zwei Wochen Die in der Militärdiktatur umgesetzten Reformen, aktuelle Informationen über die sich zuspitzende die die sozialen Errungenschaften ihrer Vorgän- politische Lage zusammengetragen werden, die gerregierungen zunichte machten, sind bis heute erste Nummer bestand aus acht eng bedruckten maßgeblich für das politische und wirtschaftliche Seiten. Insgesamt 50 Exemplare davon wurden Leben in Chile. Die Privatisierungen im Gesund- von Matrizen gezogen und an einige Freund_in- heits- und Bildungssektor, die Rücknahme der nen geschickt. Nach dem Putsch stieg das zuvor Landreformen, die Arbeitsgesetze, die strafrecht- geringe Interesse an Chile innerhalb der west- lichen Mechanismen, das Wahlrecht, dies und deutschen Linken sprunghaft an, die Solidari- vieles mehr sind auch heute, 23 Jahre nach dem tätsbewegung erhielt enormen Zulauf. In vielen Ende der Diktatur, Eckpfeiler chilenischer Insti- Städten der BRD gründeten sich Chile-Komitees, tutionalität. Denn entgegen vieler Erwartungen die unter anderem Demonstrationen, Proteste hat das linke Parteienbündnis Concertación, dem und Hilfsaktionen für exilierte Chilen_innen or- auch Salvador Allendes Sozialistische Partei ange- ganisierten. Ende 1973 betrug die Auflage der hört, in 20 Jahren Regierungsverantwortung von Chile-Nachrichten bereits 6.000 Stück, später er- 1990 bis 2010 das neoliberale Modell und die von reichte sie zeitweise bis zu 8.000 Exemplare. Der der Pinochet-Administration 1980 verabschiedete Umfang der einzelnen Ausgaben stieg rasch auf Verfassung nicht angetastet. Ähnlich steht es um 60 Seiten, die Zeitschrift erschien fortan monat- die Vergangenheitsbewältigung. Die juristische lich. Um die vielen angesammelten Dokumente Aufarbeitung der Verbrechen verläuft bruchstück- zu archivieren und der Öffentlichkeit zugänglich haft und nur wenige Mörder und Folterer muss- zu machen, wurde 1974 das Forschungs- und ten bisher in Haft. Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika Die Kontinuitäten zwischen Militärdiktatur und (FDCL) gegründet, das mit den LN bis heute eng der aktuellen Politik wurden lange Zeit unwider- kooperiert. sprochen hingenommen. Nicht zuletzt aus Angst Thematisch drehte sich zunächst fast alles um vor dem übermächtigen Militär, dem auch heute Chile. Mit der Zeit gerieten mehr und mehr Nach- noch zehn Prozent der Einnahmen des riesigen barländer Chiles in den Fokus, in denen ebenfalls chilenischen Staatskonzerns Codelco zustehen. das Militär regierte und ganz ähnliche politische Gerade in der Anfangszeit der neuen Demokratie Bedingungen herrschten. Spätestens nach dem stellte die Armee ihre Macht zur Schau. In Erinne- Putsch in Argentinien am 24. März 1976 wurde rung geblieben ist hierbei vor allem der Boinazo, die Berichterstattung der Chile-Nachrichten zu- bei dem Augusto Pinochet Ermittlungen wegen nehmend breiter und der Anteil an Chile-Artikeln Korruption gegen sich und seinen Sohn dadurch kleiner. Als Konsequenz erschien die Zeitschrift verhinderte, dass er am 28. Mai 1993 bewaffnete ab der Nummer 51 im September 1977 unter Spezialeinheiten 200 Meter vom Regierungssitz dem bis heute bestehenden Namen Lateiname- auflaufen ließ. Aber auch nachdem die Bedrohung rika Nachrichten, zunächst mit dem Zusatz „5. durch das Militär nicht mehr so virulent war, zeig- Jahrgang der Chile-Nachrichten“. Elf Jahre später ten die gewählten Regierungen keine Bestrebun- verschwand der alte Name auch aus dem Unter- gen, etwas an der Situation Chiles zu verändern, titel. was auch lange ohne großen Widerstand der Be- 2013 jährt sich der Putsch zum 40. Mal, genauso völkerung funktionierte. wie das Bestehen der Lateinamerika Nachrich- Neben den Mapuche, die sich immer in Konflikt ten. Grund genug, einen etwas genaueren Blick mit dem chilenischen Staat befanden, waren es auf Chile zu werfen. 40 Jahre Putsch in Chile die Schüler_innen, die sich mit moderaten For- bedeuten auch 40 Jahre neoliberale Reformen. derungen gegen die neoliberale Bildungspolitk Während in Europa beim Stichwort Neoliberalis- richteten. Sie waren die ersten, die, wenn auch mus die Namen Thatcher, Reagan und vielleicht erfolglos, auf die vielen Widersprüche im neolibe- auch Schröder und Blair fallen, war Chile unter ralen Musterland Chile hinwiesen. 6 LN-Dossier 8
Während Tomás Hirsch, Präsidentschaftskandidat Mobilisierung arrangieren. Dieses Arrangieren für die Wahlen 2009 im Interview mit den LN zu geschieht allerdings weniger mit dem Versuch, den sozialen Bewegungen noch sagte, in Chile die Forderungen zu integrieren und die Proteste gäbe es „immer weniger solcher Organisationen zu befrieden. Vielmehr wird die Repression über und sie bluten aus“, hat sich die Lage vier Jahre die versuchte Verabschiedung neuer Gesetze ver- später dramatisch verändert. Nachdem im April schärft. Allerdings zeichnet sich bis jetzt nicht ab, 2011 erstmals groß gegen HidroAysén, ein Me- dass die vielfältigen neuen sozialen Bewegungen gastaudammprojekt im Süden Chiles, demons- sich von der Repression einschüchtern lassen. triert wurde, etablierte sich kaum einen Monat Mit dem vorliegenden Dossier möchte die Redak- später die auch in den LN viel diskutierte Studie- tion der Lateinamerika Nachrichten die Hintergrün- renden- und Schüler_innenbewegung, die sich de der heutigen Situation beleuchten. Zunächst Kundgebung vor dem Präsidentenpalast Santiago, 29. Juni 1973, nach gescheitertem Putschversuch (Tanquetazo) zunächst auf Bildungsthemen beschränkte, mit- zeigt LN-Mitbegründer Urs Müller-Plantenberg tlerweile aber eine gänzliche Abkehr vom neolibe- die Kontinuitäten des unter der Militärdiktatur ralen System fordert. eingeführten neoliberalen Wirtschaftssystems Das Aufkommen dieser Bewegung weckte die auf. Markus Thulin beleuchtet in seinem Beitrag chilenische Zivilgesellschaft aus der Jahre wäh- exemplarisch die konkreten Folgen des Neolibe- renden Apathie. Mittlerweile regt sich an allen ralismus für das chilenische Gesundheitssystem. Ecken und Enden Widerstand gegen die Regie- Anschließend beschreibt Oliver Niedhöfer einige rungspolitiken. Im nördlich gelegenen Freirina Absurditäten des ebenfalls noch aus Diktatur- wurde so eine riesige Schweinemastfarm verhin- zeiten stammenden binominalen Wahlsystems. dert, die Bewohner_innen der abgelegenen Pro- Über die schwache Position der Gewerkschaften vinz Aysén erkämpften sich Zugeständnisse von schreibt Nicolás Véliz Rojas. Auch wenn sich die der Regierung, und selbst wenn das Bildungssys- Menschenrechtslage im Vergleich zur Diktatur tem in Chile immer noch kaum verändert besteht, deutlich gebessert hat, reagiert der chilenische müssen sich die Herrschenden mit konstanter Staat auf Proteste mit Repression, wie David LN-Dossier 8 7
Festnahme einer Frau Santiago, 16. September1988 Rojas Kienzle in seinem Beitrag aufzeigt. Insbe- Macht halten konnte. Interviews mit einer Exilchi- sondere trifft die Repression die Studierendenbe- lenin, die in die BRD kam und einem Exilchilenen, wegung, die Steve Kenner vorstellt und die indi- den es in die DDR verschlug, geben Einblicke in genen Mapuche im Süden des Landes. Über die das Leben im Exil. Dass sich Chile mit der Auf- Hintergründe des Mapuche-Konliktes berichtet arbeitung der Vergangenheit noch immer schwer Llanquiray Painemal. tut, während das Nachbarland Argentinien bedeu- Dass es die LN ohne die Solidarität mit Chile gar tende Fortschritte zu verzeichnen hat, beschreibt nicht gäbe, liegt auf der Hand. Was aber hat die Maja Dimitroff. Schließlich wirft Leonor Abujatum internationale Solidaritätsbewegung mit Chile einen Blick auf chilenische Literatur, in der die Ver- sonst gebracht? Das haben wir verschiedene Pro- gangenheit deutlich besser aufgearbeitet wird als tagonist_innen der damaligen Zeit aus Chile und auf politischer ebene in Chile. Deutschland gefragt. Bei einem Thema, zu dem Bei der Fülle möglicher Themen kann kein An- Teile der Solibewegung in der BRD gearbeitet ha- spruch auf Vollständigkeit bestehen.Wir hoffen, ben, gab es einen direkten Bezug zu Deutschland. inhaltliche Lücken durch eine kontinuierliche Be- Über die abstoßende Sektensiedlung Colonia richterstattung zukünftig ausfüllen zu können. Mit Dignidad, die der deutsche Kinderschänder Paul diesem Dossier starten wir in den 41.Jahrgang Schäfer 1961 gegründet hatte, schreibt Friedrich der einstigen Chile-Nachrichten. Viele weitere der Paul Heller. Dieter Maier geht anschließend der LN werden folgen. Frage nach, warum sich Pinochet so lange an der // LN FOTOS IN DIESEM DOSSIER Eine Fotostrecke von José Giribás bebildert dieses Dossier. Der chilenische Fotojournalist musste Chi- le nach dem Putsch verlassen und kam dank eines Stipendiums der Freien Universität Berlin schließlich nach Deutschland (siehe auch sein Beitrag auf Seite 32). Heute lebt und arbeitet er als freier Fotograf in Berlin. Die Fotos stammen aus den Jahren 1973, 1986 und 1988. Sie erzählen von der Repression während der Diktatur, aber auch dem Widerstand dagegen, der in der letztlich erfolgreichen Kampagne zur Zulassung mehrerer Kandidat_innen 1988 gipfelte. Weitere Infos:www.giriphoto.com/ 8 LN-Dossier 8
AUTORITÄRE EXPERIMENTE WIE DER NEOLIBERALISMUS IN CHILE SEINEN SIEGESZUG ANTRAT Bis heute ist die neoliberale Wirtschaftside- allgemeine Ansicht, dass die Lage schwierig sei. ologie in Chile dominant wie nirgends sonst Seit Ende 1972 hatten einige hohe Marineoffizie- in Lateinamerika. Unter der Militärdikta- re Kontakte zu einer Gruppe von Ökonomen her- tur avancierte das Land zur Spielwiese von gestellt, die heimlich an der Vorbereitung eines Ökonomen, auf der sie ihre neuen Rezepte alternativen Regierungsplans arbeiteten. Am Tag erstmalig am lebenden Objekt ausprobieren des Militärputsches war dieser Plan fertig und konnten. schon an Offiziere der drei Teilstreitkräfte verteilt. Die neuen Machthaber bevorzugten jedoch im Wenn heute vom 11. September gesprochen Wunsch nach internationaler Anerkennung Perso- wird, so verbindet man damit meistens den Ter- nen, denen sie ein höheres Prestige zuschrieben, roranschlag auf die Türme des World Trade Cen- weil diese schon unter dem christdemokratischen ters in New York 2001, ohne an den Putsch der Präsidenten Eduardo Frei höchste Posten beklei- chilenischen Militärs in Chile 1973 zu denken. det hatten. Und wenn heute vom Siegeszug des Neolibe- Sehr bald aber wurde klar, dass die Militärjunta ralismus gesprochen wird, so stehen meistens politisch mehr wollte als nur eine Wiederherstel- die Namen von Margaret Thatcher und Ronald lung der Situation, wie sie vor der Wahl Allendes Reagan für den Beginn dieses Siegeszuges. Da- geherrscht hatte. Hernán Cubillos von der Ge- bei ist nicht präsent, dass schon Jahre vorher schäftsleitung der Tageszeitung El Mercurio, des in Chile neoliberale Konzepte mit aller Macht Zentralorgans der chilenischen Großbourgeoisie, durchgesetzt wurden. Wenn schließlich von der empfahl den Admirälen dann wärmstens jene Durchsetzung des Neoliberalismus in Chile die Gruppe von Ökonomen, deren Mehrheit von der Rede ist, so wird häufig genug davon ausgegan- Katholischen Universität kam und die insgeheim gen, dass diese Durchsetzung das erklärte Ziel seit 1972 einen Plan für die Destabilisierung und der putschenden Militärs gewesen sei. Nichts den Sturz der linken Regierung ausgearbeitet hat- falscher als das. te, der außerdem auch ein Regierungsprogramm Als die Generäle 1973 in Chile die Macht über- für diesen Fall enthielt. Eine Untersuchungskom- nahmen, gab es zwar schon einen fertigen Plan mission des Senats der USA hat später bekannt für eine neoliberale Transformation der Wirtschaft, gemacht, dass die Gelder für die Aktivitäten die- aber er war den Militärs nicht bekannt. Pinochet ser Mannschaft von der CIA über Kanäle bereitge- und seine Kollegen hatten kein klar ausgearbei- stellt wurden, die unter Beteiligung chilenischer tetes Regierungsprojekt. Die Streitkräfte hatten Unternehmerorganisationen hergestellt worden keinerlei Regierungserfahrung und ihr Putsch war waren. zunächst nicht mehr als eine Reaktion auf die Jene stetig wachsende Reihe chilenischer Öko- Allende-Regierung und auf die Radikalisierung nomen – die so genannten Chicago Boys, da der politischen und sozialen Situation, die sie als sie eng mit den neoliberalen Vordenkern der schwere Bedrohung der nationalen Sicherheit und Chicagoer Schule um Milton Friedman verbun- der Existenz ihrer eigenen Institution empfanden. den waren – wurde entscheidend für die neo- Ihr Hauptprojekt war ein politisches: die „Ausmer- liberale Transformation. Rolf Lüders, prominen- zung des marxistischen Krebsgeschwürs“, wie es tes Mitglied der Chicago Boys, beschrieb diese der Luftwaffengeneral Gustavo Leigh nannte. „Phantomexperten“ auf folgende Weise: „Um Die Marine, die zu Beginn die Verantwortung für die Mitte der fünfziger Jahre hatte die Univer- die Wirtschaft übernommen hatte, teilte nur die sität von Chicago ein Programm des akademi- LN-Dossier 8 9
Polizeieinsatz in Stadtzentrum Santiago, 12. Dezember 1989 schen Austauschs mit der Katholischen Univer- der Allende-Regierung entstandenen Ungleich- sität begonnen. (...) Bis 1972 traten viele dieser gewichte. Die mit der Wirtschaft beauftragten Ökonomen – zurück in Chile – als Vollzeit-Pro- Militärs widmeten folglich ihre Hauptanstren- fessoren in die Universitäten ein. Andere über- gungen dem Ausgleich des Staatshaushalts nahmen öffentliche Ämter, besonders während und der Verminderung der Inflation. Auch das der Regierung Frei. Die Übrigen gingen in die erste vornehmlich von Zivilisten gestellte Wirt- wichtigsten Unternehmen des Landes; aber schaftsteam bekräftigte die Absicht, die Inflation alle bildeten eine Gemeinschaft, die sich jedes durch gemäßigte Schnitte im Staatshaushalt zu Jahr um die Generation neuer Ökonomen, die vermindern, weil man fürchtete, dass drastische aus den chilenischen Universitäten kamen, er- Lösungen katastrophale Ergebnisse zeitigen weiterte, eine Gemeinschaft, die sowohl eine würden. technische Sprache und einen rationalistischen Solche katastrophalen Ergebnisse wurden tat- Problemlösungsansatz als auch den Wunsch sächlich mit der “Schockbehandlung” erreicht, gemeinsam hatte, mit ihren Kräften zu einer die im April 1975 eingeleitet wurde. Gleichzeitig blühenden, gerechten und freien Gesellschaft damit ergab sich die Vorherrschaft der Chicago- beizutragen. Die Mehrheit dieser Ökonomen ist Boys. Die „schrittweise“ Inflationsbekämpfung heute, ob es ihnen gefällt oder nicht, bekannt wurde verworfen und die Kürzung des Staats- als Chicago Boys.“ haushalts drastisch verstärkt. Diese Maßnah- Bis Anfang 1975 hatte die Gruppe aus Chicago men stürzten die Wirtschaft in eine tiefe Rezes- aber schwer um die Kontrolle der Wirtschafts- sion, während derer das Bruttoinlandsprodukt politik zu kämpfen. Während dieser ersten an- (BIP) um 12,9 Prozent sank. Zwischen 1973 und derthalb Jahre nach dem Militärputsch zielte 1980 wurden buchstäblich alle Kontrollen der sie hauptsächlich auf die Korrektur der während Regierung über die Einzelhandelspreise abge- 10 LN-Dossier 8
schafft; nur die Löhne, also die Preise für die den Ökonomen“ offen gefeiert. Man bekannte Ware Arbeitskraft, blieben streng kontrolliert. sich zum politischen Autoritarismus als notwen- Der Prozess der „Marktöffnung“ für ausländi- diger Bedingung für das Wirtschaftsmodell und sche Operationen verlief ebenso schnell. Die war sich mit den Militärs darüber einig, dass es durchschnittlichen Einfuhrzölle wurden Schritt darum gehe, die Bedeutung der Politik in der Ge- für Schritt von 92 auf 10 Prozent gesenkt. Gleich- sellschaft zu vermindern. zeitig mit der Senkung der Zolltarife wurden Die Schockbehandlung und die Einschränkung auch alle Einfuhrbeschränkungen beseitigt. En- des Staatsapparates hatten verheerende Aus- de 1976 zog sich Chile aus dem Andenpakt (und wirkungen auf die Mittelklasse und ihre Ent- damit der regionalen Integration, Anm. der Red.) wicklungsaussichten; gleichzeitig war die Ar- zurück. beitslosigkeit auf bis dahin unbekannte Höhen Bezüglich der Reduzierung und Neuorientierung von weit über 30 Prozent gestiegen. Sozialen der Teilhabe des Staates an der Wirtschaft gab es Kosten dieser Größenordnung hätte man unter drei Hauptbestrebungen: die Verkleinerung des demokratischen Verhältnissen nicht entgegen- öffentlichen Sektors, die Minimierung des regulie- treten können. Der Autoritarismus war also für renden Einflusses der Regierung in der Wirtschaft die neoliberale „Revolution“ ein lebenswichtiges und die Beseitigung der Rolle, die die Regierung Element. in der direkten Produktion und als Organismus Kritische Stellungnahmen von Verbänden, poli- bei der Entwicklungsförderung spielte. Zwischen tischen Führern und Kirchenführern wurden als 1973 und 1979 gingen die Regierungsausgaben unqualifizierte Behauptungen von Leuten abge- von 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 26 tan, die einer der Wissenschaft fremden, vormo- Prozent zurück. Diese Reduzierungen, die auf ei- dernen Welt verhaftet seien. Durch die Tages- ne Verminderung des Haushaltsdefizits und der zeitung El Mercurio erfolgte eine systematische Inflation zielten, wurden auch beibehalten, nach- Indoktrination in einem Stil, wie man ihn für die dem das Defizit beseitigt war. Die Beschäftigung Verbreitung eines Dogmas benutzt. Was Bertolt im Staatsapparat sank in weniger als vier Jahren Brecht in seinem Gedicht „Lob des Kommunis- um fast 20 Prozent. mus“ über den Kommunismus gesagt hat, war Nach der Ausführung der eben beschriebenen die Quintessenz dessen, was El Mercurio über Wirtschaftsmaßnahmen konzentrierten die Chi- den Neoliberalismus schrieb: „Er ist vernünftig, cago Boys ihre Anstrengungen darauf, die Lo- jeder versteht ihn. Er ist leicht. … Er ist nicht das gik des Marktes auf die Gesamtheit der gesell- Chaos, sondern die Ordnung. Er ist das Einfache, schaftlichen Beziehungen auszudehnen. Die so das schwer zu machen ist.“ genannten „Modernisierungen“ bedeuteten die Von der Klassenneutralität, derer sich der Privatisierung der grundlegenden sozialen Diens- „wissenschaftliche“ Neoliberalismus so sehr te im Gesundheitswesen, im Bildungswesen und rühmte, konnte dabei keine Rede sein. Das in der Sozialversicherung, die Ausarbeitung eines Zerstörungswerk war nämlich verbunden mit Arbeitsplanes (Plan Laboral), der dazu bestimmt einer ebenfalls beispiellosen Umverteilung von war, mittels der Repression der existierenden Einkommen und Vermögen zu Ungunsten der Gewerkschaften „eine freie Gewerkschaftsbe- ärmeren Schichten der Bevölkerung. Jahrelan- wegung“ zu entwickeln. Alle diese Maßnahmen ge extrem hohe Arbeitslosigkeit und gewalt- zielten gleichzeitig auf die Reduzierung der Macht sam gedrückte Löhne sorgten dafür, dass die- des Staates und auf die Atomisierung der zivilen se Schichten, als nach 1986 wieder Wachstum Gesellschaft. möglich wurde, einen noch kleineren Anteil an Trotz der massiven Verfolgung von Demokrat_in- dem geschrumpften Kuchen hatten. So ist Chi- nen und Sozialist_innen, trotz der Ermordung von le heute eins der Länder in der Welt, in denen Tausenden Regimegegnern blieb die Loyalität Einkommen und Vermögen am ungleichsten der Gruppe gegenüber dem Diktator Pinochet verteilt sind. Und während die neoliberale Ideo- unerschütterlich und ihr Einfluss auf den Diskurs logie behauptet, dass die Entfernung der Politik der regierenden Militärmannschaft wurde immer aus dem Wirtschaftsleben die sicherste Garan- offenkundiger. In El Mercurio wurde das Projekt tie gegen Diskriminierungen und Korruption „eines Bündnisses zwischen den Militärs und biete, hat die neoliberale Politik bei der Organi- LN-Dossier 8 11
sation des Rückzugs des Staates aus der Wirt- und Sozialist_innen geführt hat, hat an diesem schaft durch Knebelung der Gewerkschaften Zustand nichts Wesentliches geändert. Hatten und Verschleuderung der Staatsunternehmen die Ökonomen aus diesen demokratischen Par- große Teile der Bevölkerung bewusst diskrimi- teien noch bis 1989 die neoliberale Theorie und niert und der Korruption solchen Vorschub ge- Praxis aufs Heftigste kritisiert, so liefen sie nun leistet, dass die Militärs sich sogar gezwungen mit fliegenden Fahnen über, um das seit 1986 sahen, einzelne der Chicago Boys in ein – sehr existierende steile Wirtschaftswachstum nicht zu komfortables – Gefängnis zu stecken. gefährden. Seither wird jede Abweichung vom Das bleibende Ergebnis der neoliberalen „Re- Pfad der neoliberalen Tugend als „populistische“ volution“ besteht aber vor allem darin, dass die Verblendung gebrandmarkt. so genannten „Modernisierungen“ in fast allen Wesentlichen Veränderungen in der Wirtschafts- Bereichen des gesellschaftlichen Lebens eine und Gesellschaftspolitik sind ohnehin durch die Atomisierung der Gesellschaft hervorgebracht von Diktator Pinochet durchgesetzte Verfassung haben, wie sie in Chile viele Jahrzehnte lang von 1980 enge Schranken gesetzt. Sie ist so ge- nicht bekannt gewesen war. Die Menschen sind strickt, dass grundsätzliche oder weit reichende mit aller Macht dazu gebracht worden, nur noch Veränderungen praktisch nur im Konsens mit der das eigene persönliche Wohlergehen zum Maß- Minderheit möglich sind, die sich der Erbschaft stab aller Dinge zu machen. Solidarität, wie sie verpflichtet fühlt, die die Militärs und die Chicago in Chile vor 1973 sehr verbreitet war, ist nicht Boys hinterlassen haben. Von einer Demokratie, mehr gefragt. in der die Mehrheit die Chance hätte, das Schick- Die Demokratisierung, die 1990 zum Ende der sal des Landes in eine andere Richtung zu lenken, Militärdiktatur und zur Wahl einer demokratisch ist Chile deshalb vorerst noch entfernt. orientierten Regierung aus Christdemokrat_innen // Urs Müller-Plantenberg Demonstration für das NEIN im Referendum gegen Pinochet Santiago, 01. Oktober 1988 12 LN-Dossier 8
VON GESUNDHEITSBRIGADEN ZU PRIVATEN DIENSTLEISTERN DAS CHILENISCHE GESUNDHEITSSYSTEM VOR UND NACH DEM MILITÄRPUTSCH VON 1973 In Chile hat das Gesundheitssystem von gruppen herauszubilden, die auch heute noch der Regierung Allende an bis heute einen die professionelle medizinische Versorgung der starken Wandel durchgemacht. Von einer Bevölkerung gewährleisten. Und auch hier war positiven Entwicklung kann jedoch kaum Chile ein Vorreiterland. In einer Zeit, in der es in die Rede sein. Besonders die Pflegeberufe Deutschland noch keine einheitliche Krankenpfle- haben während der Diktatur eine starke Ab- geausbildung gab, erreichte man in Chile mit der wertung erfahren, die bis heute anhält. Die Einrichtung eines Pflegestudiengangs schon 1929 viel gepriesene lateinamerikanische Vor- das bis heute höchste Niveau der pflegerischen bildfunktion stellt sich somit als weiterer Professionalisierung. Zu Beginn der Präsident- Mythos heraus. schaft Salvador Allendes arbeitete in den chileni- schen Gesundheitszentren (ländliche Regionen) Am 12. September 1978 wurde auf der Konfe- und Krankenhäusern ausschließlich weibliches renz von Alma Ata (heute Almaty, Kasachstan) Pflegepersonal, weswegen die Bezeichnung eine Garantie der medizinischen Grundversor- „Krankenschwester“ als Berufsbezeichnung tat- gung aller Menschen dieser Erde gefordert. sächlich zutrifft. Das Konzept einer „sozialen Medizin“, wie es in Der deutsche Arzt, Archäologe und Politiker Ru- der Abschlusserklärung der Vertreter_innen aus dolf Virchow (1821-1902) hat einmal gesagt, „die 134 Mitgliedsländern der WHO und 67 UN- und Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Nichtregierungsorganisationen formuliert wurde, Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen.“ war jedoch nicht neu. Die gesundheitspolitischen Allende hatte nicht erst ab 1970, sondern schon Maßnahmen ausgewählter Länder dienten den während seiner Amtszeit als Gesundheitsminister Konferenzteilnehmer_innen als Vorbild. Eines unter der Präsidentschaft Pedro Aguirre Cerdas dieser Länder mit Vorbildfunktion war Chile. Dort (1838-1941) versucht, diese Maxime in dem Mo- war 1952 die erste für die gesamte Bevölkerung dell einer gerechteren medizinischen Versorgung konzipierte Gesundheitsversorgung Lateiname- der chilenischen Bevölkerung umzusetzen. Doch rikas eingerichtet worden. Einen bedeutenden erst während der eigenen Präsidentschaft (1970- Anteil daran hatte der Arzt und Politiker Salvador 1973) konnte er die Umsetzung einer kostenlo- Allende. 1978, als die erste internationale Ge- sen Gesundheitsversorgung sowie deren Zen- sundheitskonferenz in der Hauptstadt der dama- tralisierung und Demokratisierung vorantreiben. ligen Kasachischen SSR abgehalten wurde, war So genannte „Gesundheitsbrigaden“, gebildet der ehemalige chilenische Präsident bereits seit aus Ärzten, Krankenschwestern und Pflegehel- fünf Jahren tot. Ironischerweise stand die von fern, sollten sich ohne Rücksicht auf die finanzi- ihm geschaffene Basis einer für jede_n Bürger_in elle Situation um das gesundheitliche Wohl aller bezahlbaren Gesundheitsversorgung in seinem Menschen kümmern. Dieses Vorhaben führte Heimatland kurz vor der Auflösung. jedoch zu scharfen Protesten eines Großteils der In den vorangegangenen Jahrzehnten, das heißt Ärzteschaft, die wiederum dazu beitrugen, dass im Zeitraum zwischen 1900 und 1960, kann Allendes Reformen im Gesundheitswesen nicht man von einer Weiterentwicklung und Ausdiffe- flächendeckend umgesetzt werden konnten. renzierung des Gesundheitswesens nicht nur in Die Gesundheitsreformen der Militärregierung Chile, sondern in vielen Ländern Lateinamerikas von General Augusto Pinochet stoppten die Ent- sprechen. Erst damals begannen sich die Berufs- wicklung einer chilenischen sozialen Medizin und LN-Dossier 8 13
gingen in eine völlig andere Richtung. Der zen- nicht, oder nur sehr rudimentär, auf die politi- tralistisch organisierte Wohlfahrtsstaat Allendes schen Hintergründe einer Epoche ein, in der die wurde der neoliberalen Ausrichtung der Wirt- Professionalisierung sowie die materielle und die schafts-, Sozial und Gesundheitspolitik unterwor- ideelle Entwicklung des Krankenpflegeberufs in fen. Zwischen 1974 und 1989 wurden die staat- Chile vollkommen zum Stillstand kam. Während lichen Ausgaben für die Gesundheitsversorgung die Ärzteschaft den Status autonomer Selbst- der Bevölkerung um mehr als die Hälfte reduziert verwaltung erhalten konnte, drohte anderen Aktion der Bewegung gegen Folter Sebastian Acevedo vor dem Dom Santiago, 04. Oktober 1988 (von 17,5% auf 6,9% im Jahr). Mit der Liberalisie- Berufsgruppen des Gesundheitswesens durch rung des Krankenversicherungsmarktes 1981 trat umfangreiche Budget-Kürzungen, Abschaffung die weitreichendste Reform in Kraft. Die chileni- von Ausbildungsprogrammen, politische Ein- schen Bürger_innen können seitdem sowohl der flussnahme auf die gewerkschaftliche Organi- öffentlichen Krankenkasse FONASA (Nationaler sation und Verlust der Weisungsbefugnis die Gesundheitsfonds) als auch einer privaten Kran- Möglichkeit zur Professionalisierung und Inter- kenversicherung, den sogenannten ISAPREs, essenvertretung. Alle Krankenschwestern waren beitreten. Der Arbeitnehmerbeitrag als Versiche- bis 1980 in einer nationalen Pflegekammer, dem rungsbeitrag wurde beibehalten, den Arbeitgebe- Colegio de Enfermeras de Chile (CECh), organi- ranteil schafften die Reformer der Militärjunta ab. siert. Die verpflichtende Mitgliedschaft in dieser Viele wissenschaftliche Abhandlungen gehen Körperschaft öffentlichen Rechts wurde per Ge- 14 LN-Dossier 8
setz abgeschafft und damit die wichtigste Inter- starken Anstieg der Wirtschaftsleistung und der essenvertretung der Pflegenden demontiert. Da Armutsverringerung nach dem Ende der Pino- dem öffentlichen Gesundheitssektor die finanzi- chetdiktatur. Doch sind die Erfolge bei der flä- elle Förderung entzogen wurde, sanken die Ge- chendeckenden medizinischen Versorgung der hälter der Krankenschwestern. Viele wanderten Bevölkerung nicht auf die von der Militärjunta zu privaten Dienstleistern ab, die jedoch nur von eingeführte Wahlfreiheit zwischen staatlicher vermögenden Bürger_innen in Anspruch genom- und privater Krankenversicherung zurückzufüh- men werden konnten. Die Konsequenz dieser ren. 80% der Krankenversicherten nehmen heute Reformen ist noch heute in vielen chilenischen den staatlichen Versicherungsschutz in Anspruch. Krankenhäusern sichtbar. Dort gibt es generell So obliegt zum Beispiel die Versorgung der drei einen hohen Qualitätsunterschied zwischen der Millionen mittellosen Bürger_innen im chileni- privaten und der öffentlichen Gesundheitsver- schen Kassenwettbewerb allein der öffentlichen sorgung. Krankenversicherung. Nur der öffentlichen Hand Ebenfalls im Jahr 1980 leitete die Neuregelung ist es darum zu verdanken, dass Chile eines der der universitären Ausbildung durch eine Nicht- wenigen Entwicklungs- oder Schwellenländer ist, Erwähnung des Pflegeberufs faktisch einen in dem die gesamte Bevölkerung gegen Krank- Ausschluss der Krankenpflege aus dem univer- heitsfolgen abgesichert ist. Doch ist die Qualität sitären Lehrbetrieb ein. Direkte Folge dieser der medizinischen Grundversorgung der meisten Maßnahme war die Abwertung des Pflegebe- Chilen_innen nur ausreichend, stellenweise sogar rufs. Den Krankenschwestern war es nun nicht mangelhaft. mehr erlaubt, administrative Aufgaben zu über- Unter dem vielversprechenden Namen AUGE nehmen, zum Beispiel Gesundheitszentren zu – Acceso Universal con Garantías Explícitas (Um- leiten, oder über die therapeutischen Maßnah- fassender Zugang mit ausdrücklichen Garantien) men mitzuentscheiden. Der damals allgemein hat die Regierung des sozialistischen Präsidenten niedere Status der Frauen in der chilenischen Ricardo Lagos im Jahr 2005 eine flächendecken- Gesellschaft wurde nach einer langen Periode de Reformierung des Gesundheitswesens in Kraft der beruflichen Gleichberechtigung nun auch für treten lassen, um drängende Probleme wie lange die Pflegenden zementiert. Die Ärzteschaft, die Wartezeiten und explodierende Zuzahlungen im sich in großen Teilen massiv gegen die Gesund- öffentlichen Sektor zu begrenzen. Die Erfolge heitspolitik Allendes gewehrt hatte, errang die sind aufgrund der weiter steigenden Kosten für Federführung in der Gesundheitsversorgung, die die medizinischen Leistungen begrenzt. Die chi- Krankenschwestern wurden zu Weisungsemp- lenischen Bürger_innen leiden zum Beispiel unter fängerinnen degradiert. materiell schlecht ausgestatteten Gesundheits- Die Gesetzesvorhaben zur Dezentralisierung der zentren und unfreundlichem Klinikpersonal – eine Selbstverwaltung der Pflegenden und zur Be- Kritik, die sich auch gegen die Krankenschwestern schränkung ihres Ausbildungsstandards führten richtet und von deren Warte aus auch berechtigt zu zahlreichen öffentlichen Beschwerden der An- ist. Der seit den 1960er Jahren bestehende Pfle- gehörigen des CECh beim Gesundheitsministe- gekräftemangel ist in den 1980er Jahren durch rium. Solche Interventionen auf zentraler Ebene die Kürzungen im Gesundheitswesen weiter blieben erfolglos. Es gelang den Krankenschwes- verschärft worden und die wissenschaftliche Aus- tern in Zusammenarbeit mit den Universitäten, und Weiterbildung kam fast völlig zum Erliegen. jedoch, bis 1990 den akademischen Lehrbetrieb Von einer aus medizinischer wie sozialer Perspek- an einigen Orten wieder aufzunehmen. Erfolg tive heraus vertretbaren Gesundheitsversorgung hatten auch die lokal begrenzten Initiativen des ist Chile 40 Jahre nach Beginn der neoliberalen CECh, deren Ziel es war, ein gewisses Maß an Reformen weiter entfernt als zum Zeitpunkt der autonomer Arbeitsplanung beizubehalten oder Deklaration von Alma Ata oder der Präsident- wiederzuerlangen. schaft ihres Vordenkers Salvador Allende. So wie Trotz der Änderungen kann das chilenische Ge- diesseits des Atlantik wird in Chile Gesundheit zu sundheitssystem sich heutzutage nicht nur im einer Ware, die sich immer weniger Menschen südamerikanischen, sondern auch im weltweiten leisten können. Vergleich behaupten. Das erklärt sich aus dem // Markus Thulin LN-Dossier 8 15
DIE WAHL DER QUAL DAS CHILENISCHE WAHLSYSTEM IST EIN ERBE DER DIKTATUR Am 17. November werden in Chile ein Präsi- Diese Konstellation bewirkt, dass bei annähern- dent oder eine Präsidentin sowie ein neues der Stimmengleichheit zwischen zwei Parteien Parlament gewählt. Themen im Wahlkampf oder Koalitionen die beiden stärksten Kandi- sind vor allem Reformen des Bildungs- und dat_innen – gemäß des Wählerwunsches – als des Gesundheitssystems sowie das Energie- Sieger_in aus der Wahl hervorgehen. Doch es problem. Zur Debatte steht jedoch auch das hat auch zur Folge, dass in einem Wahlkreis mit Wahlsystem selber. einer sehr starken Kandidatin, die knapp weniger als zwei Drittel der Stimmen auf sich vereint, der Noch ist es eine Weile hin, doch die Vorzeichen zweitplatzierte Kandidat, der dann nur sehr weni- sind deutlich: Ex-Präsidentin Michelle Bachelet ge Stimmen erhalten hat, ebenfalls in die jeweili- von der Sozialistischen Partei ist die aussichts- ge Kammer einzieht. Bestes Beispiel ist der Wahl- reichste Bewerberin bei den Präsidentschaftswah- kreis La Florida. Dort hat Carlos Montes von der len in Chile am 17. November. Bei den Vorwahlen sozialistischen Partei 2009 über 50 Prozent der des Oppositionsbündnisses Nueva Mayoría (ehe- Stimmen erhalten. Dennoch ist auch der zweit- mals Concertación) konnte sie sich Ende Juni klar stärkste Kandidat in diesem Wahlkreis, Gustavo durchsetzen. Für das rechte Bündnis Alianza por Hasbún von der rechtskonservativen UDI vom Chile tritt Pablo Longueira von der Unabhängigen Parteienbündnis Allianz für Chile in das Parlament Demokratischen Union (UDI) an. Seine Karriere be- eingezogen, obwohl er nur wenig mehr als ein gann er unter Pinochet, unter dem aktuellen Prä- Viertel der Stimmen erzielt hat. Theoretisch könn- sidenten Sebastián Piñera war er bis vor kurzem te die zweitstärkste Koalition mit weitaus weni- Wirtschaftsminister. Piñera ist der erste Präsident ger Stimmen die gleiche Anzahl an Sitzen im Par- seit der Rückkehr zur Demokratie 1989, der nicht lament erhalten wie die stärkste Koalition. der Concertación, einem Bündnis von Mitte-links- Eine Folge dieses Systems ist eine starke Bipola- Parteien, entstammte. Andere Kandidat_innen risierung. Die großen Parteienbündnisse Concer- werden kaum eine bedeutende Rolle spielen. tación sowie die rechtsgerichtete Allianz für Chile Auch bei den zeitgleich stattfindenden Parla- dominieren die politische Szene seit 1989. Beide mentswahlen werden neben der Nueva Mayoría Koalitionen sind immer etwa gleichstark, bis 2009 und der RN andere Parteien unter ferner liefen fir- hatte die Concertación leichte Mehrheiten, seit mieren. Das in Chile geltende Wahlsystem führt 2009 die Allianz. Somit herrscht ein institutiona- dazu, dass im Parlament strukturell zwei ähnlich lisiertes „ständiges Unentschieden“, so der Jour- große Blöcke dominieren. Chile ist eines von we- nalist Libio Pérez. Auch im Wahlausschuss Servel, nigen Ländern, in denen die Parlamentarier_innen der die Durchführung der Wahlen organisiert und beider Kammern nach dem binominalen Wahl- überwacht, zeigt sich dieses ausgeglichene Stär- recht gewählt werden. Dabei werden in jedem keverhältnis durch paritätische Besetzung mit Wahlkreis zwei Mandate vergeben. Derjenige jeweils zwei Mitgliedern aus jedem der beiden Kandidat, der die meisten Stimmen auf sich verei- großen Blöcke. nen kann, zieht in die jeweilige Kammer ein. Falls Dass eine Koalition beide Mandate eines Wahl- dieser Kandidat mindestens zwei Drittel der Stim- kreises erhält, ist nahezu ausgeschlossen. Bei der men erhält (doblaje), bekommt seine Koalition Wahl 2009 hat kein Parlamentarier die für eine auch das zweite Mandat, andernfalls wird dieses doblaje erforderlichen zwei Drittel der Stimmen automatisch an den_die bestplatzierten Kandidat_ sammeln können. Da es somit sehr wahrschein- in der zweitstärksten Koalition vergeben. lich ist, dass für jeden Block nur der Erstplatzierte 16 LN-Dossier 8
ins Parlament einzieht, gehen jeder Wahl harte innerkoalitionäre Auseinandersetzungen voraus. Vernachlässigt wird dadurch der Diskurs mit dem politischen Gegner über grundlegende Richtungs- entscheidungen für das Land. So konnten weder von der Concertación noch von der Allianz über- zeugende Vorschläge zur Reform des Bildungs- systems vorgelegt werden. Ein weiteres Ergebnis des binominalen Wahlsys- tems ist, dass kleinere Parteien oder Koalitionen kaum die Möglichkeit haben, Wahlerfolge zu er- zielen. Bei der Parlamentswahl 2009 konnte die Kommunistische Partei erstmals seit 1973 wie- der mit drei Abgeordneten ins Parlament einzie- hen – allerdings erst, nachdem sie sich mit der Concertación verbündet hatte. Dieser Schritt war stark umstritten und hat zu vielen Parteiaustritten geführt. Seit der Rückkehr zur Demokratie gab es 19 Versuche zur Änderung des entsprechenden Gesetzes. Die Mehrzahl wurde von Parlamenta- rier_innen der Concertación vorgeschlagen. Alle Festnahme während eine Demonstration sind, wie Pérez schreibt, „an der unüberwindba- Santiago, 02. Oktober 1988 ren Mauer der politischen Rechten“ abgeprallt. Erst im Januar 2013 ist eine erneute Initiative zur Änderung des Wahlsystems im Senat am Wider- die der Universidad Central kommt zu dem Ergeb- stand der UDI und der RN gescheitert. Dabei wur- nis, dass die Nichtausübung des Wahlrechts ins- de die Änderung von Senator_innen dieser bei- besondere in den Stadtteilen Santiagos verbreitet den Parteien mit ausgearbeitet. Lediglich durch ist, die hauptsächlich von unteren Einkommensni- die Enthaltung von zwei Senator_innen wurde die veaus und sozialen Problemen geprägt sind. nötige Zweidrittel-Mehrheit bei der Abstimmung Doch obwohl sich die etablierten Koalitionen verfehlt. Tatsächlich ist das ausgeglichene Kräfte- weiterhin schwer tun, das binominale System zu verhältnis im Parlament dafür verantwortlich, dass ändern, gibt es Erfolge: Die ebenfalls seit Jahren die in der Verfassung von 1980 festgeschriebenen diskutierte Einführung der automatischen Wähler- zwei Drittel der Stimmen bei derartigen Abstim- registrierung und das freiwillige Wahlrecht wurde mungen nie erreicht wurden. Dennoch wäre es bei den Kommunalwahlen 2012 erstmals ange- falsch zu behaupten, dass lediglich die rechten wandt. Zuvor musste man sich erst registrieren Parteien Nutzen aus dem binominalen System lassen, um wählen gehen zu können. Einmal re- ziehen würden. Bei den sechs Parlamentswahlen gistriert, fiel man unter die Wahlpflicht und muss- seit der Rückkehr zur Demokratie 1989 konnten te empfindliche Geldbußen zahlen, wenn man die Concertación und das Rechtsbündnis jeweils dieser nicht folgte. Diese Reform hat zwar nicht dreimal davon profitieren. zu höherer Wahlbeteiligung beigetragen, war aber Eine direkte Auswirkung dieses Systems ist das dennoch ein wichtiger Schritt in Richtung einer wachsende Desinteresse an der Politik. Die Kan- Demokratisierung des Wahlsystems. didat_innen und deren politische Programme in- Die Opposition gegen eine Reform des binomina- nerhalb der Blöcke sind kaum voneinander zu un- len Systems zeigt sich indes nicht geschlossen. terscheiden. Intransparenz, Dominanz durch die So stimmte die Senatorin Lily Pérez von der RN Parteieliten sowie „Zuschachern“ von politischen im Januar 2013 für eine Änderung: „Das binomi- Posten innerhalb der großen Blöcke gelten als un- nale System hat unser Land extrem polarisiert, mittelbare Folge des Wahlsystems. Bei den Kom- indem es sämtliche Unterschiede in den Koaliti- munalwahlen 2012 beteiligten sich beispielsweise onen erstickt“. nur etwa 40 Prozent der Wähler_innen. Eine Stu- // Oliver Niedhöfer LN-Dossier 8 17
WIDERSPRÜCHLICH UND MACHTLOS CHILENISCHE GEWERKSCHAFTEN SIND KAUM IN DER LAGE, GEGEN SCHLECHTE ARBEITS- BEDINGUNGEN ANZUKÄMPFEN Stabilität, Wachstum und Entwicklung sind lich organisierten Journalist_innen und Grafi- nur einige der Stärken, die Chile wirtschaft- ker_innen der lokalen Tageszeitung El Mercurio lich zugeschrieben werden. Die prekäre Situ- de Valparaíso, die im Mai und Juni dieses Jah- ation der chilenischen Bevölkerung, die unter res mehr als 20 Tage lang für eine Gehaltser- oftmals unwürdigen Bedingungen arbeitet, höhung gestreikt haben, entlassen und durch wird meist wenig beachtet. Gewerkschaften neue ersetzt. Die Zeitung erschien in dieser scheitern oft am Desinteresse der Politik und Zeit weiterhin jeden Tag. Auf diese Weise ver- interner Korruption. lieren viele Arbeiter_innen das Vertrauen in ihre Gewerkschaften, die häufig die Interessen des Milton Friedman bezeichnete Chile seinerzeit Betriebs über das Wohl der Angestellten stellen. als Labor des Neoliberalismus, geeignet für Dieser Widerspruch ist in Chile weit verbreitet, die Experimente der Chicago Boys. Dass jenes wird jedoch häufig nicht als ein solcher angese- Wirtschaftssystem sich auch im Rahmen der De- hen, da nur wenige Gewerkschaften tatsächlich mokratisierung nur unwesentlich verändert hat, dem Schutz und der Interessenvertretung ihrer macht sich vor allem in der Arbeitswelt bemerk- Mitglieder dienen. bar. Chile verfügt über eine Gewerkschaftsland- In den Worten des Finanzministers Felipe Larraín schaft, die zwar vielseitig, jedoch wenig einfluss- befindet sich der chilenische Arbeitsmarkt „an- reich ist. Die Arbeitsbedingungen eines großen nähernd in einer Situation der Vollbeschäftigung“. Teils der Bevölkerung sind nicht zuletzt deswegen Es ist jedoch fraglich, ob diese Beschäftigungs- alarmierend. So sind heute weniger als 10 Prozent verhältnisse den Ansprüchen der Arbeiter_innen der chilenischen Beschäftigten gewerkschaftlich genügen. Eine Befragung des Nationalen Sta- organisiert (im Vergleich dazu in Deutschland et- tistikinstitutes INE erhält den Mythos aufrecht. wa 20 Prozent), von diesen erringt wiederum „Die Daten sind gerade ausreichend, um das Bild nur ein geringer Teil Verhandlungserfolge mit den eines Landes zu schaffen, das produktiv ist und meist privaten Unternehmen. Somit hat die gro- Arbeit für alle garantiert”, so die Fundación Sol, ei- ße Mehrheit der arbeitenden Chilen_innen keine ne Stiftung, die sich mit Arbeitsbedingungen und Möglichkeit, ihre Arbeitsbedingungen mithilfe Arbeitsrecht beschäftigt. einer Gewerkschaft zu verbessern. Oftmals wird Zudem erhöhen chilenische Unternehmen stän- sogar der Entstehungsprozess solcher Organisa- dig ihre Flexibilität. So gilt beispielsweise der tionen von Unternehmen behindert, die ihre Pro- Vertrag eines_r Schichtarbeiter_in meist lediglich fitrate gefährdet sehen. für die Dauer einer einzelnen Schicht. Durch das Der chilenische Staat stellt keine Schutzmaß- Fehlen eines stabilen Vertrags geht der Anspruch nahmen für seine arbeitende Bevölkerung zur auf staatliche finanzielle Hilfe verloren, wie zum Verfügung. Die Arbeitsgesetze stammen aus Beispiel auf Wohungszuschüsse. Renteneinzah- den Zeiten der Diktatur, ein Streikrecht existiert lungen können kaum geleistet werden. Auch die nicht. Unternehmen haben bei Verstößen gegen Möglichkeit, einen Kredit aufzunehmen, besteht das Streikverbot das Recht, die involvierten Ar- auf dieser Vertragsbasis nicht, was wiederum den beiter_innen umgehend zu entlassen. So wurde Zugang zu Universitäten aufgrund der hohen Stu- beispielsweise die Mehrheit der gewerkschaft- diengebühren erschwert. 18 LN-Dossier 8
Im Mai bezeichnete die christdemokratische Se- der arbeitenden Bevölkerung selbst ausgehen und natorin Soledad Alvear die Arbeitskonditionen der von unten heraus institutionalisiert werden müsse: Schichtarbeiter_innen in Call Centern als Sklave- „Wir müssen uns unseren eigenen Weg vorgeben. rei: „Die Bedingungen sind unmenschlich, bei Die traditionellen Strukturen wie Parteien und Re- jedem Gang zur Toilette setzt das Gehalt aus.” gierungen interessieren sich nicht für uns, nur auf Verstöße gegen das Arbeitsgesetz seien an der unser Aufbegehren reagieren sie mit Repression.“ Tagesordnung. „Schwangere und Mütter mit Kin- Eine ähnliche Sichtweise vertritt Jorge Peña, Vor- dern unter zwei Jahren müssen Nachtschichten sitzender der Gewerkschaft des staatlichen Kup- übernehmen“, kritisiert Alvear. ferunternehmens Codelco: „Es liegt in unseren Für viele Arbeiter_innen ist der gewerkschaftli- Händen, unsere eigene Arbeitsrealität zu verbes- che Dachverband (CUT) mitverantwortlich für die sern. Die Umfragen bestätigen eine sehr hohe schlechten Bedingungen. Barbara Figueroa, Pro- Unterstützung seitens der chilenischen Bevölke- fessorin für Philosophie, Mitglied der Kommunis- rung für soziale Bewegungen wie die Studieren- tischen Partei und Präsidentin des CUT sieht das den oder die Beschäftigten der Kupferminen.” Um grundlegende Problem in der Ungleichheit der wirklich etwas verändern zu können, müssten die Gehälter: „Wir benötigen neue Arbeitsgesetze, die Gewerkschaften sich laut Peña zentraler organi- von den Arbeiter_innen selbst mitbestimmt wer- sieren und gleichzeitig auf spezielle Bedürfnisse den müssen, um die Klassenteilung der Arbeits- eingehen, wie zum Beispiel denen derjenigen welt aufzuheben.“ Für Figeroa ist dieses Wahljahr Arbeitnehmer_innen, die mit dem System der ausschlaggebend: „Mit den Kandidat_innen der Leiharbeit zu kämpfen haben. Zudem, so Peña, Concertación (Bündnis von Mitte-Links-Parteien; müsse man dafür sorgen, dass mehr Menschen Anm. der Red.) haben wir uns bereits getroffen. die Möglichkeit bekommen, sich gewerkschaftlich Wir sind uns einig, dass das Symbol der Ungleich- zu organisieren und sich auf diese Weise Gehör heit das Gesicht des Arbeiters ist, und dass sich zu verschaffen: „Wir müssen unsere Ziele in einer das ändern muss.“ José Agurto hingegen, Spre- einzigen Bewegung formulieren, die von der Re- cher der Unión Portuaria del Biobío, dem Dach- gierung nicht ignoriert werden kann.“ verband der Hafengewerkschaften Südchiles, ist // Nicolás Véliz Rojas der Meinung, dass ein grundlegender Wandel von Übersetzung: Elena von Ohlen Clotario Blest Riffo, Gründer der CUT) In seiner Wohnung, Santiago, 10. Februar 1986
MORD UND SCHLAGSTOCK IM NEOLIBERALEN MUSTERLAND CHILE HAT REPRESSION VIELE GESICHTER Die Unterdrückung oppositioneller Strö- Mittlerweile hat sich die Bewegung in ihren For- mungen geht in Chile auch 23 Jahre nach derungen radikalisiert und fordert neben einer Ende der Militärdiktatur weiter. Mit der 2011 Wiederverstaatlichung der Bergbauressourcen entstandenen Studierendenbewegung ist im Land eine generelle Abkehr vom neoliberalen jedoch ein neuer Faktor ins Spiel gekom- Modell in Chile, nicht nur in der Bildung. Dieses men, der unterschiedliche Richtungen zu Ziel strebt die Bewegung über die Einberufung integrieren versucht und auf eine neue und einer Verfassunggebenden Versammlung an, um demokratischere Verfassung hinarbeitet. die heutige Verfassung durch eine Neue zu erset- zen . Das letzte Opfer war ein 16-jähriger Schüler. Manu- Neben meist nicht genehmigten Demonstratio- el Gutiérrez war im August 2011 auf dem Weg zu nen gehören Besetzungen zum Standardinventar einer Demonstration, als ihn ein Polizist erschoss. der Bildungsproteste. Im Laufe des vergangenen Im oft als „ökonomischen Musterland Lateiname- Jahres war zwischenzeitlich fast der gesamte rikas“ bezeichneten Chile ist dies allerdings bei staatliche Universitätsbetrieb wegen Besetzun- weitem kein Einzelfall. Seit dem Ende der Militär- gen zum Stillstand gekommen und im ganzen diktatur 1990 wurden mehr als 70 politische Akti- Land waren mehr als 400 Schulen besetzt. Die vist_innen von der chilenischen Polizei ermordet. Regierung reagierte, indem sie die juristischen Auch wenn die Häufigkeit dieser Morde in den Daumenschrauben anzog – so zum Beispiel in- letzten Jahren abgenommen hat, funktioniert der dem sie das sogenannte „Hinzpeter-Gesetz“ in Repressionsapparat in Chile weiterhin mit großer die Parlamente einbrachte – benannt nach dem Brutalität. Tränengasgranaten, Wasserwerfer und Innenminister und konservativen Hardliner Rod- „Zorrillos“ – Stinktier – genannte Fahrzeuge mit rigo Hinzpeter. Die Gesetzesvorlage sieht unter Tränengasdüsen auf dem Dach gehören neben anderem ein Vermummungsverbot auf Demons- Schlagstöcken und Gummigeschossen zu den trationen vor sowie „die Störung des öffentlichen Waffen, die auf fast jeder Demonstration zum Ein- Friedens“ – also etwa Besetzungen – zu einer satz kommen. Aber auch abseits von physischer Straftat zu machen, um sie nun mit bis zu fünf Gewalt findet in Chile starke Repression statt Jahren Haft anstatt wie bisher mit Geldbußen zu Diese richtet sich im Moment vor allem gegen die ahnden. Sollte das Gesetz verabschiedet wer- neu entstandene Studierendenbewegung. Mit ei- den, könnten diese Strafen auch auf die Organi- ner ersten Demonstration im April 2011 begann sator_innen von Demonstrationen ausgeweitet eine in der jüngeren Geschichte Chiles beispiel- werden. lose Mobilisierung von Studierenden und Schü- Eine weitere, 2013 lancierte Gesetzesinitiative ler_innen. Die anfänglich schwach besuchten De- ist das sogenannte „Ley mi Cabo“ („Mein Ge- monstrationen gewannen schnell an Größe und freiter-Gesetz“). Damit soll das Beleidigen und schon im August desselben Jahres fand mit ei- Schubsen von Polizist_innen unter härter bestraft ner Million Demonstrant_innen die bis zu diesem werden. Diese Vergehen könnten dann mit bis Zeitpunkt größte Demonstration seit dem Ende zu 60 Tagen Freiheitsstrafe und Geldstrafen bis der Militärdiktatur statt. Die seither konstant fort- zu umgerechnet 455 Euro sanktioniert werden. laufenden Proteste richten sich gegen das enorm Problematisch dabei ist vor allem, dass es durch teure und ungerechte Bildungssystem in Chile, dieses Gesetz „möglich sein wird, jede Person das ebenso wie die 1981 in Kraft getretene Ver- festzunehmen, ohne irgendeinen Beweis gegen fassung ein Erbe der Pinochetdiktatur ist. sie zu haben“, so Andrés Fielbaum, Präsident der 20 LN-Dossier 8
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