Wo steht Europa? Die Europäische Union nach Lissabon 1 - 2012 - Zeitschrift POLITIK & UNTERRICHT

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Wo steht Europa? Die Europäische Union nach Lissabon 1 - 2012 - Zeitschrift POLITIK & UNTERRICHT
E4542

1 – 2012

           Wo steht Europa?
           Die Europäische Union nach Lissabon
Wo steht Europa? Die Europäische Union nach Lissabon 1 - 2012 - Zeitschrift POLITIK & UNTERRICHT
Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung

                                                       HEFT 1 – 2012, 1. QUARTAL, 38. JAHRGANG

»Politik & Unterricht« wird von der Landeszentrale
für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB)
                                                       Inhalt
herausgegeben.

HERAUSGEBER
Lothar Frick, Direktor                                 Editorial                                                                                    1
CHEFREDAKTEUR                                          Geleitwort des Ministeriums
Dr. Reinhold Weber                                     für Kultus, Jugend und Sport                                                                 2
reinhold.weber@lpb.bwl.de
                                                       Autoren dieses Heftes                                                                        2
REDAKTIONSASSISTENZ
Sylvia Rösch, sylvia.roesch@lpb.bwl.de
Mandy Hahn, Stuttgart/Berlin

ANSCHRIFT DER REDAKTION
                                                       Unterrichtsvorschläge                                                              3 – 16
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
                                                       Einleitung                                                                               3
Telefon: 0711/164099-45; Fax: 0711/164099-77
                                                       Baustein A:     Europa im Alltag                                                         8
REDAKTION
Judith Ernst-Schmidt, Oberstudienrätin,                Baustein B:     In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon                             10
Werner-Siemens-Schule (Gewerbliche Schule              Baustein C:     Baustelle Europa – wohin geht die EU?                                   13
für Elektrotechnik), Stuttgart
Dipl.-Päd. Martin Mai, Wilhelm-Lorenz-Realschule,      Literaturhinweise                                                                       15
Ettlingen                                              Kommentierte Internethinweise                                                           16
Dipl.-Päd. Holger Meeh, Akademischer Rat,
Pädagogische Hochschule Heidelberg
Wibke Renner-Kasper, Konrektorin der Grund-,
Haupt- und Realschule Illingen                         Texte und Materialien                                                            17 – 46
Angelika Schober-Penz, Studienrätin,
Erich-Bracher-Schule (Kaufmännische Schule),           Baustein A:          Europa im Alltag                                                   18
Kornwestheim                                           Baustein B:          In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon                        26
GESTALTUNG TITEL                                       Baustein C:          Baustelle Europa – wohin geht die EU?                              38
Bertron.Schwarz.Frey, Gruppe für Gestaltung, Ulm
www.bertron-schwarz.de

DESIGN UND DIDAKTIK                                    Einleitung und alle Bausteine: Martin Große Hüttmann und
Medienstudio Christoph Lang, Rottenburg a.N.,
www.8421medien.de
                                                       Dr. Georg Weinmann

VERLAG
Neckar-Verlag GmbH, Klosterring 1,
78050 Villingen-Schwenningen
Anzeigen: Neckar-Verlag GmbH, Uwe Stockburger          Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter
Telefon: 07721/8987-71; Fax: -50
anzeigen@neckar-verlag.de                              www.politikundunterricht.de/1_12/europa.htm
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2 vom 1.5.2005.

DRUCK
PFITZER GmbH & Co. KG, Benzstraße 39,
                                                       Politik & Unterricht wird auf umweltfreundlichem Papier aus FSC-zertifizierten Frischfasern
71272 Renningen
                                                       und Recyclingfasern gedruckt. FSC (Forest Stewardship Council) ist ein weltweites Label
                                                       zur Ausweisung von Produkten, die aus nachhaltiger und verantwortungsvoller Waldbewirt-
Politik & Unterricht erscheint vierteljährlich.
                                                       schaftung stammen.
Preis dieser Nummer: 3,20 EUR
Jahresbezugspreis: 12,80 EUR
Unregelmäßige Sonderhefte werden zusätzlich
mit je 3,20 EUR in Rechnung gestellt.

Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht
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                                                       THEMA IM FOLGEHEFT
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Genehmigung der Redaktion.

Titelfoto: Fotosearch/Juice Images
Auflage dieses Heftes: 24.000 Exemplare
                                                       Die Vereinigten Staaten von Amerika
Redaktionsschluss: 15. Februar 2012
ISSN 0344-3531
Wo steht Europa? Die Europäische Union nach Lissabon 1 - 2012 - Zeitschrift POLITIK & UNTERRICHT
Editorial
Die Europäische Union ist in aller Munde – und das zumeist      Unterricht« wollen wir das Thema in einer ganz grund-
in Zusammenhang mit den krisenhaften Entwicklungen der          sätzlichen Auseinandersetzung erneut in die Schulen des
nationalen Haushalte einiger ihrer Mitgliedstaaten. Bei aller   Landes bringen. Dabei beginnt das Heft mit der Frage, wie
Bedeutung dieser Thematik sollten wir aber nicht vergessen,     sich die EU im Alltag der Menschen zeigt. Es fährt fort mit
dass die EU ein einmaliges politisches Vorhaben ohne histo-     einer Auseinandersetzung über die Veränderungen, die sich
risches Vorbild ist, weil es auf Frieden und Demokratie sowie   mit dem Vertrag von Lissabon ergeben haben, und es endet
auf den Grundwerten der Menschrechte und der Solidarität        mit der Beschäftigung mit der »Baustelle Europa«, mit der
zwischen den Völkern beruht. Das sind hohe Ziele, die es        Frage also, wie sich das Gebilde EU verändern muss, um
sich aber immer wieder zu vergegenwärtigen gilt – gerade        den zukünftigen Herausforderungen gewachsen zu sein. Wir
vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte.                freuen uns, damit den Lehrerinnen und Lehrern des Landes
                                                                methodisch abwechslungsreiche Materialien zur Verfügung
Was macht die EU also interessant und wichtig? Welche be-       stellen zu können, mit denen sie einen anregenden Unter-
sonderen Anforderungen stellen sich bei der Beschäftigung       richt gestalten können.
mit diesem eigentümlichen politischen Gebilde? Und welche
praktische Bedeutung hat dieses einzigartige Großprojekt?
Diese Fragen sind vor allem auch in der politischen Bildung
von besonderer Bedeutung – und viel mehr noch, wenn es
darum geht, die EU jungen Menschen zu vermitteln, für die
die zerstörerischen Jahre zwischen 1914 und 1945 lang
vergangene Geschichte sind.

Die Landeszentrale für politische Bildung sieht in der Be-
schäftigung mit der EU eine ihrer zentralen Aufgaben. Unser
europapolitisches Angebot ist groß und breit gefächert:
fachwissenschaftliche und didaktische Publikationen sowie
E-Learnig-Kurse, Politische Tage für die Schulen, Exkur-
sionen, Bildungsreisen, Seminare, Spiele, Planspiele und        Lothar Frick                 Dr. Reinhold Weber
vieles andere mehr. Mit der neuen Ausgabe von »Politik &        Direktor der LpB             Chefredakteur

Politik & Unterricht • 1-2012                                                                                            1
Wo steht Europa? Die Europäische Union nach Lissabon 1 - 2012 - Zeitschrift POLITIK & UNTERRICHT
Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport
»Auf der Basis einer umfassenden Kenntnis der Aufgaben-        von Lissabon an Bedeutung gewonnen hat. Nun muss die
und Gewaltenteilung in der EU sind die Schülerinnen und        nahe Zukunft weisen, ob es den Verantwortlichen in der EU
Schüler in der Lage, die Zuständigkeiten und Arbeitsweisen     beispielsweise gelingt, das oft beklagte Demokratiedefizit
der Institutionen der EU zu erläutern sowie aktuelle Bezüge    in der EU abzubauen. Der dritte und letzte Baustein C stellt
zu Entwicklungen auf europäischer Ebene herzustellen.« So      schließlich Materialien zur Verfügung, um die Zukunft der
kurz und präzise werden die Kompetenzen der Schülerinnen       Europäischen Union zu diskutieren. Wie wird sich dieser
und Schüler im Bildungsplan des Landes für den Fächerver-      einmalige Einigungsprozess der europäischen Völker wei-
bund EWG in der Realschule in Klasse 10 umrissen. Etwas        terentwickeln? Wie könnte sich die EU den weltpolitischen
ausdifferenzierter gilt das im Grunde auch für den Bildungs-   Herausforderungen der nächsten Jahre gewachsen zeigen?
plan für die Gymnasien.
                                                               Wir danken der Landeszentrale für politische Bildung, dass
Wenn es darum geht, die Geschichte des europäischen Eini-      sie die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer im Land mit dieser
gungsprozesses und die Funktionsweise der Europäischen         Ausgabe von »Politik & Unterricht« erneut unterstützt und
Union im Unterricht zu vermitteln, sind immer wieder neue      damit deutlich macht, welche Bedeutung bei ihr und uns
Ansätze und Ideen gefragt. Mit der vorliegenden Ausgabe        allen das Thema »Europa« hat.
von Politik & Unterricht ist es der Landeszentrale für poli-
tische Bildung erneut gelungen, die Lehrerinnen und Lehrer
in diesem Vorhaben zu unterstützen. Wo betrifft mich die       Gernot Tauchmann
Europäische Union im Alltag? Dieser Frage geht der erste       Ministerium für Kultus, Jugend und Sport
Baustein des Heftes nach – und er bringt Beispiele, die den    Baden-Württemberg
Lebenswelten der Jugendlichen nahe sind: Führerschein,
Schüleraustausch, Reisen, Einkaufen oder mit dem Handy
telefonieren im Ausland. Die Beispiele zeigen: Europa wird
täglich gelebt!

Darüber hinaus bietet die Ausgabe in Baustein B die Mög-
lichkeit zur grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den
Organen der Europäischen Union. Im Vordergrund steht
dabei das Europäische Parlament, das durch den Vertrag

                                                                             AUTOREN DIESES HEFTES

                                                                             Martin Große Hüttmann ist Akademischer
                                                                             Oberrat am Institut für Politikwissenschaft
                                                                             der Eberhard Karls Universität Tübingen. Der
                                                                             Europaexperte ist Mitherausgeber der Reihe
                                                                             »Brennpunkt Politik« beim Verlag W. Kohl-
                                                                             hammer, des »Handbuchs Europapolitik« der
                                                                             LpB Baden-Württemberg sowie des Europa-
                                                                             Lexikons beim Verlag J.H.W. Dietz.
                                                                             Dr. Georg Weinmann ist Studiendirektor
                                                                             am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Wert-
                                                                             heim am Main. Zu seinen Arbeitsschwer-
                                                                             punkten gehört der Bereich »Europa in
                                                                             der Schule – Schule in Europa«. Er ist u. a.
                                                                             Autor im »Handbuch Europapolitik« der LpB
                                                                             Baden-Württemberg und Mitglied im Beirat
                                                                             der LpB-Zeitschrift »Deutschland & Europa«.

2                                                                                                      Politik & Unterricht • 1-2012
Wo steht Europa? Die Europäische Union nach Lissabon 1 - 2012 - Zeitschrift POLITIK & UNTERRICHT
Wo steht Europa?
                       Die Europäische Union nach Lissabon

                       ●●●         EINLEITUNG                                         sen Rechnung getragen werden? Wie soll die künftige Aus-
                                                                                      gestaltung der Europäischen Union angelegt sein, damit sich
                                                                                      Krisen dieses Ausmaßes nicht mehr wiederholen können? Ist
                                                                                      das europäische Institutionengefüge in der Lage, auf die
                       »Scheitert der Euro, scheitert Europa!« Diese Prognose von     Herausforderungen zu reagieren oder bedarf es einer Ergän-
                       Bundeskanzlerin Angela Merkel bringt die Dramatik auf den      zung bzw. eines größeren Umbaus, um die Voraussetzungen
                       Punkt, die zurzeit den europäischen Integrationsprozess be-    für ein verlässliches Krisenmanagement zu schaffen? Sollten
                       herrscht. Die Finanzkrise dominiert seit 2007 die Tagesord-    Veränderungen also mit einer Überarbeitung des Vertrages
                       nung der Europäischen Union (EU) und prägt den aktuellen       von Lissabon einhergehen oder wäre es nicht sinnvoller, im
                       Blick vieler Beobachter auf den Kontinent. Dabei wird häufig   Rahmen der gegebenen Möglichkeiten Anpassungen vorzu-
                       die Frage nach der Fähigkeit der Union zur effektiven Prob-    nehmen? Der Brüsseler Krisengipfel Anfang Dezember 2011
                       lemlösung gestellt. Der Umgang mit der Finanzkrise wird        hat gezeigt, dass die Vorstellungen darüber in verschie-
                       darüber hinaus zum Testfall für die Bedeutung von Werten       dene Richtungen gehen. Die Weigerung Großbritanniens,
                       wie Demokratie, Solidarität, Wohlstand, sozialer Ausgleich     einer Änderung des bestehenden EU-Vertrages zuzustimmen,
                       und Transparenz.                                               stellte die europäischen Regierungen vor ein Problem. Es
                                                                                      musste ein alternativer Weg und eine rechtlich verbind-
                       Die Finanzkrise hat die öffentliche Wahrnehmung der Eu-        liche Vereinbarung gefunden werden, die die EU-Staaten
                       ropäischen Union neu ausgerichtet. Sichtbar werden vor         verpflichtet, ihre nationalen Haushalte zu konsolidieren und
                       allem Bruchstellen bei der Einhaltung des Vertragswerks,       sich einer europäischen Kontrolle zu unterwerfen – nur eben
                       eine hektische Betriebsamkeit im Rahmen des »Gipfelmara-       außerhalb des Lissabon-Vertrages. Da der EU-Vertrag nur ge-
                       thons« und unterschiedliche Vorstellungen über die Rezepte     ändert werden kann, wenn wirklich jeder einzelne EU-Staat
                       zur Krisenbewältigung. Nicht selten werden diese Entwick-      zustimmt, wurde auf Betreiben der deutschen Regierung auf
                       lungen als Test für die europäische Integration insgesamt      dem EU-Gipfel Ende Januar 2012 ein sogenannter Fiskalpakt
                       gedeutet: Wie weit kann, wie weit muss die Solidarität in      beschlossen. Dieser Pakt steht rechtlich gesehen neben dem
                       der Union gehen, um einerseits die Handlungsfähigkeit von      EU-Vertrag, er ist aber eng mit diesem verknüpft, weil die
                       Staaten zu sichern und ein Übergreifen von krisenhaften        Regelungen zur Währungsunion und zum Euro dort festge-
                       Erscheinungen auf weitere Mitgliedsländer zu vermeiden?        schrieben sind. Auf diesen Fiskalpakt einigten sich 25 von
                       Wie kann andererseits dabei die nationale Eigenständigkeit     den insgesamt 27 EU-Staaten. Außer Großbritannien wollte
                       gewahrt und länderspezifischen Besonderheiten angemes-         sich auch die Tschechische Republik nicht von der EU eine

                                                                                                         Bundeskanzlerin Merkel beim EU-Gipfel
                                                                                                         in Brüssel am 30. Januar 2012. Jeder
                                                                                                         neue Gipfel zur Schuldenkrise ist eine
                                                                                                         schwierige Gratwanderung.
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                       Politik & Unterricht • 1-2012                                                                                              3
Wo steht Europa? Die Europäische Union nach Lissabon 1 - 2012 - Zeitschrift POLITIK & UNTERRICHT
Einleitung

Sparpolitik und die Verankerung einer »Schuldenbremse« in        liefert Kroatien, das zum Jahresende 2011 den Beitrittsver-
ihrer nationalen Verfassung vorschreiben lassen. Der Fis-        trag unterschrieben hat. Neben der Türkei könnte man noch
kalpakt muss von den EU-Staaten ratifiziert werden, ehe          Island nennen. Mit der kleinen Insel verhandelt Brüssel erst
er wirksam wird. Das heißt, es genügt nicht, wenn sich           seit Juli 2010. Da in Island die ursprüngliche Europabegeis-
Angela Merkel und Nicolas Sarkozy auf den Pakt verständigt       terung jedoch abgenommen hat, ist noch unklar, ob am Ende
haben, es müssen auch die nationalen Parlamente bzw. –           der Verhandlungen, die heute schon weiter sind als die Bei-
soweit dies rechtlich vorgeschrieben ist – die Bürger in den     trittsgespräche zwischen der EU und der Türkei, die Isländer
EU-Staaten dem Pakt zustimmen (z. B. in Irland). Weil das        dann in einem Referendum dem Beitritt zur EU tatsächlich
seine Zeit braucht, wird der Fiskalpakt frühestens Anfang        zustimmen werden.
2013 in Kraft treten. Für den Fall, dass in dem einen oder
anderen EU-Staat Probleme bei der Ratifizierung auftreten        Die Europäische Union muss immer wieder aufs Neue kon-
und bei Abstimmungen keine Mehrheiten zustande kommen,           kretisiert und für die Bürger sichtbar und erfahrbar werden.
wurde vorgesorgt. Der Fiskalpakt kann schon in Kraft treten,     Nur so können die übergeordneten Ziele – Frieden, Demokra-
wenn in nur zwölf Euro-Staaten die Ratifizierung erfolgreich     tie, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand – für die Lebenswelt
abgeschlossen ist; der Pakt gilt dann freilich auch nur in       der EU-Bürger bedeutsam sein und den Rückhalt für die
den Staaten, die ihn tatsächlich ratifiziert haben. Nach         »europäische Idee« vor Ort stärken. Zu diesem Zweck hat die
fünf Jahren soll der Fiskalpakt in den EU-Vertrag integriert     EU in der Vergangenheit eine Reihe unterschiedlicher Wege
werden. Dann wäre die aufgrund der britischen und tsche-         beschritten. Sie reichen von einer bewusst vorangetriebenen
chischen Weigerungshaltung gefundene Behelfskonstruk-            Symbolpolitik über neue Kommunikationskanäle bis hin zu
tion, einen Vertrag außerhalb des Vertrags zu schließen,         mehr Aufmerksamkeit für die Wirkungsweise europäischer
nicht mehr notwendig.                                            Politik in lokalen oder regionalen Zusammenhängen. Oftmals
                                                                 geht es darum, den »europäischen Fußabdruck vor Ort«
In der aktuellen Finanzkrise bündeln sich Kernfragen der         sichtbar zu machen und mit Blick auf die Bevölkerung den
europäischen Einigung. Integrationskritische Beobachter          konkreten Niederschlag europäischer Politik im Mehrebe-
geben deshalb zu bedenken, ob es sich bei der EU nicht           nensystem der EU hervorzuheben.
um ein »Schönwetterprojekt« handele, dessen Bestand bei
stürmischen Bedingungen recht schnell ins Wanken ge-             Die Frage nach dem tieferen Sinn der EU stellt sich für viele
raten könne. Andere halten dieser Auffassung entgegen,           Menschen nicht zuletzt deshalb neu, weil Kosten-Nutzen-
dass die Geschichte der europäischen Integration vor allem       Kalküle im Zuge der Finanzkrise an Bedeutung gewonnen
aus der Geschichte ihrer Krisen bestehe und der Reifegrad        haben. Dabei geht es in erster Linie um die Eigenverant-
des europäischen Integrationsprozesses nicht zuletzt auf         wortung der Mitgliedstaaten bei der Sanierung ihrer Staats-
der Überwindung elementarer Probleme fuße. Vor diesem            haushalte. Nicht wenigen scheint der Verweis auf die Milliar-
Hintergrund habe die EU ihre Handlungsfähigkeit vielfach         densummen eine Vorstellung von der Last zu vermitteln, die
unter Beweis gestellt. Gerade die Debatten zur Finalität der     einzelne Mitgliedsländer zu stemmen haben oder die die »So-
europäischen Integration zeigen, dass den Auseinanderset-        lidargemeinschaft EU« – zumindest zu bestimmten Teilen –
zungen nicht selten unterschiedliche Vorstellungen über das      tragen soll. Abstraktere Themen wie die Sicherung des Frie-
Wesen, die Struktur und die Zukunft der Europäischen Union       dens oder die Förderung von Demokratie und Wohlstand
zugrunde liegen. Oft bleiben diese Prämissen verborgen und       bringen viele EU-Bürger nicht mit der Europäischen Union
treten lediglich als konkrete Forderungen zur Gestaltung         in Verbindung: Zum einen werden entsprechende Entwick-
des europäischen Einigungsprozesses an die Oberfläche. In        lungen als selbstverständlich wahrgenommen, zum anderen
diesem Zusammenhang wird in der Fachliteratur und auch           tritt die Rolle der europäischen Institutionen in diesen
von vielen »EU-Praktikern« darauf hingewiesen, dass es           Prozessen nicht immer deutlich zutage. Dies liegt auch an
keine Blaupause für die Entwicklung der EU gebe. Vielmehr        der Neigung von Mitgliedstaaten, Misserfolge oder Politik-
sei »Einheit in Vielfalt« ein wesentliches Merkmal des euro-     versagen »Brüssel« zuzuschreiben. Erfolge hingegen werden
päischen Selbstverständnisses. Die zunehmende Komplexi-          gerne auf das eigene nationale Konto gebucht.
tät der europäischen Einigung trage zwar dazu bei, dass ihr
Verlauf immer seltener verlässlich zu prognostizieren sei. Die   Vor diesem Hintergrund kann »Europa« nicht immer auf den
unterschiedlichen Formen, in denen sich die Vorstellungen        ersten Blick im Alltag sichtbar werden, geschweige denn für
von »Europa« äußern, gehören aus ihrer Sicht jedoch zu           sich in Anspruch nehmen, ganz konkret zur Verbesserung
den Stärken der Union und machen sie ungeachtet aller Ver-       von Lebensbedingungen beizutragen. Dabei hat die euro-
besserungsmöglichkeiten zu einem weltweit einzigartigen          päische Ebene im Laufe ihres Bestehens auf vielen Gebie-
Gebilde mit Vorbildfunktion.                                     ten Rahmenbedingungen geschaffen, die genau dieses Ziel
                                                                 vor Augen haben. Die Bereiche Verkehr, Verbraucherschutz,
Trotz der unterschiedlichen Auffassungen über Sinn und           Agrar- und Strukturpolitik, Gesundheit und Sozialpolitik
Zweck der europäischen Einigung und der heterogenen Vo-          sind dafür einige Beispiele. In den Augen vieler Kritiker
raussetzungen in den einzelnen Mitgliedstaaten handelt es        handelt es sich bei diesen Aspekten um »Randthemen« der
sich bei der EU nach wie vor um eine Wertegemeinschaft,          europäischen Integration. Den Kern der EU bilden nach
die auch durch die beachtliche Zahl an Beitrittsaspiranten       dieser Auffassung immer noch wirtschaftlich und macht-
immer noch großen Zuspruch findet. Das jüngste Beispiel          politisch ausgerichtete Interessen. Die »Alibi-Funktion« der

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Wo steht Europa? Die Europäische Union nach Lissabon 1 - 2012 - Zeitschrift POLITIK & UNTERRICHT
Einleitung

»Feigenblattpolitik« sei unübersehbar. Des Weiteren könne       Unter dem Eindruck der momentanen Krise stellt sich aus der
bezweifelt werden, ob das komplizierte, schwerfällige und       Sicht vieler Beobachter die Frage, inwieweit die Aufnahme
nicht selten intransparente Räderwerk der EU einen Beitrag      weiterer Staaten unter den derzeitigen Bedingungen ver-
zu effektivem Regieren leiste.                                  kraftbar wäre. Die zunehmende Komplexität dürfe nicht dazu
                                                                führen, dass Blockaden im Entscheidungsgefüge entstehen,
Integrationsbefürworter geben jedoch zu bedenken, dass          die die Handlungsfähigkeit der EU einschränken und die
das Prinzip der Subsidiarität dazu beitrage, den Kompe-         Abläufe für die Umsetzung von Entscheidungen verzögern.
tenztransfer von den Nationalstaaten zu den europäischen        Darüber hinaus sei mit Verteilungskonflikten zu rechnen,
Institutionen zu begrenzen. Darüber hinaus führe die enge       in deren Verlauf die Zuteilung finanzieller Hilfen zu einer
wirtschaftliche Zusammenarbeit zwangsläufig dazu, dass          schärferen Wettbewerbssituation zwischen den bisherigen
grenzüberschreitende Probleme auch grenzüberschreiten-          Empfängern und den »Neulingen« führen und weitere Mode-
der Lösungen bedürfen. Für den Bereich der Verbraucher-         rationsverfahren notwendig machen könnten.
politik gelten die Rinderseuche BSE oder die Verbreitung
gentechnisch veränderter Lebensmittel als Paradebeispiele       Auch in der Außenpolitik zeigen verschiedene Beispiele,
für die Notwendigkeit europaweiter Zusammenarbeit. Sie          dass ein koordiniertes Vorgehen trotz gemeinsamer ideeller
können zeigen, dass die Europäische Union im Laufe ihrer        Grundlagen von Fall zu Fall neu verabredet werden muss.
Geschichte dazu gezwungen wurde, Antworten auf die nega-        Immer deutlicher wird dabei, dass der Verknüpfung von au-
tiven Begleiterscheinungen einer zunehmenden Verflechtung       ßenpolitischem EU-Profil und Energie- bzw. Rohstofffragen
der Wirtschaftsräume sowie des technischen Fortschritts zu      eine wachsende Bedeutung zukommt. Trotz aller Anstren-
finden und im Bedarfsfall rasch zu reagieren.                   gungen bei der Förderung regenerativer Energien geht es
                                                                auf lange Sicht darum, die Energiewende im europäischen
Ungeachtet der umtriebigen Krisendiplomatie zur Bewälti-        Rahmen durch die Erschließung neuer Bezugsquellen ab-
gung der Finanzkrise vollziehen sich derzeit auch wichtige      zusichern. Auch an einer langfristigen, verlässlichen Roh-
Entwicklungen auf anderen Gebieten der europäischen In-         stoffversorgung der europäischen Industrie haben die EU-
tegration. Sie spielen für ihre Zukunft ebenfalls eine wich-    Staaten ein großes gemeinsames Interesse. Diese Kongruenz
tige Rolle. So ist die Aufnahme Kroatiens als 28. EU-Land       wird auch in Zukunft eine engmaschige Abstimmung in den
ein wichtiges Signal für eine neue Epoche im ehemaligen         Außenbeziehungen der EU notwendig machen.
Jugoslawien. Andere Aspiranten haben aus der Sicht von
EU-Vertretern die Beitrittsreife noch lange nicht erreicht.     Ein anderes Zukunftsthema liegt in der demografischen Ent-
So wird auch im Zusammenhang mit weiteren Bewerbern             wicklung der Europäischen Union. Wenn sich in vielen EU-
das »Monitoring« von Beitrittskandidaten eine wichtige Zu-      Ländern die Zahl der über 65-Jährigen an die der Erwerbs-
kunftsaufgabe der EU bleiben. Die Erfüllung von Beitritts-      tätigen weiter annähert, wird ein »graues Europa« die Sozi-
konditionen in Staaten der letzten Erweiterungswelle steht      alsysteme mittelfristig vor große Herausforderungen stellen.
ebenfalls nach wie vor ganz oben auf der EU-Agenda. Im          Dabei handelt es sich bei der hohen Jugendarbeitslosigkeit
Falle Bulgariens und Rumäniens geht es in erster Linie um die   in einigen südeuropäischen EU-Ländern um ein demogra-
Eindämmung von Korruption, den Aufbau einer verlässlichen       fisches Problem eigener Art. Dieses besteht darin, dass die
Verwaltung und die Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen.       nationalen Arbeitsmärkte auf Grund der finanzpolitischen

                                                                                      Die europäische Einigung ist ein
                                                                                      bislang einzigartiger Vorgang in
                                                                                      der Geschichte des Kontinents. Sie
                                                                                      ist auch die Folge von zwei Welt-
                                                                                      kriegen und des Endes der
                                                                                      Ost-West-Konfrontation.

Politik & Unterricht • 1-2012                                                                                              5
Wo steht Europa? Die Europäische Union nach Lissabon 1 - 2012 - Zeitschrift POLITIK & UNTERRICHT
Einleitung

und wirtschaftlichen Verwerfungen derzeit nicht in der Lage     war allen Beobachtern klar, dass über kurz oder lang die EU
sind, dieses junge Arbeitskräftepotenzial zur Entfaltung zu     noch einmal »in die Werkstatt« musste.
bringen. Unsichere Perspektiven für die eigene Existenz
führen deshalb zu länderübergreifendem Protestverhalten.        Die Halbwertszeit des Vertrags von Nizza war besonders
Es richtet sich auch gegen die Europäische Union mit For-       kurz, denn schon zwei Jahre nach Inkrafttreten tagte der
derungen nach einer effektiven Schadensbegrenzung und           Europäische Verfassungskonvent, um einen neuen Vertrag
einer gerechten Verteilung der Lasten, die für viele Länder     zu schreiben. Im Juli 2003 legte der Konvent einen Ver-
der Europäischen Union mit der Finanzkrise verbunden            tragsentwurf vor, der dann noch im Rahmen einer Regie-
sind.                                                           rungskonferenz diskutiert und offiziell beschlossen werden
                                                                musste. 2004 wurde der Verfassungsvertrag – offiziell hieß er
Vielerorts sind die Erwartungen an die EU sehr hoch. Ihre       »Vertrag über eine Verfassung für Europa« – von den Staats-
führenden Politiker gehen mit Recht davon aus, dass die         und Regierungschefs beschlossen. Der offizielle, aber etwas
Glaubwürdigkeit der europäischen Idee eng mit der Fähig-        eigenartig anmutende Titel ist der Sorge in Großbritannien
keit zur Krisenbewältigung verknüpft ist. Die neuen Abspra-     oder den skandinavischen EU-Staaten geschuldet, die EU
chen im Hinblick auf die nationalen Haushalte (Fiskalpakt)      könnte durch eine »Verfassung« staatsähnliche Züge erhal-
verschieben die Balance zwischen der europäischen und           ten. Dieser neue Verfassungsvertrag musste, wie bei Vertrags-
nationalen Politikebene deutlich. Dadurch werden nicht nur      änderungen üblich, in allen EU-Staaten ratifiziert werden.
wichtige Sicherungen für die finanzpolitische Stabilität in     In den beiden Gründerstaaten der Gemeinschaft Frankreich
Europa geschaffen. Mit diesem Schritt beschleunigt sich         und in den Niederlanden sollte der Vertrag nicht nur von den
nach Meinung vieler integrationsskeptischer Beobachter          Parlamenten ratifiziert, sondern zusätzlich durch ein Refe-
auch die Tendenz zu einem Europa mit mehreren Geschwin-         rendum legitimiert werden. In beiden Staaten sprach sich im
digkeiten. Nicht zuletzt deshalb haben die Debatten über die    Frühsommer 2003 eine (knappe) Mehrheit der Bevölkerung
künftige Gestalt des europäischen Einigungsprozesses der-       gegen den Verfassungsvertrag aus, so dass er politisch ge-
zeit wieder Hochkonjunktur – und wieder einmal muss die EU      sehen tot war. Die EU verordnete sich eine »Denkpause«, in
ihr Selbstverständnis überdenken und die Neuausrichtung         der sie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit geben wollte, in
zur Grundlage ihres Handelns nach innen und nach außen          den nationalen Öffentlichkeiten intensiver, als dies bislang
machen. Der Vertrag von Lissabon steht deshalb auch für das     geschehen ist, über den Vertrag zu diskutieren.
Bemühen, die Zukunftsfähigkeit der EU zu sichern.
                                                                Als die deutsche Bundesregierung in der ersten Jahreshälfte
Nach der Reform ist vor der Reform?                             2007 die Ratspräsidentschaft der EU übernahm, waren die
Der Vertrag von Lissabon                                        Erwartungen der Europafreunde an die Kanzlerin sehr hoch,
Als der Vertrag von Lissabon nach einer Zitterpartie am         dass sie den Vertrag doch noch retten könne. Angela Merkel
1. Dezember 2009 schließlich in Kraft getreten ist, dachten     hatte es dann tatsächlich geschafft, dem im Koma liegenden
viele, dass er für die nächsten zehn Jahre die Basis für die    EU-Vertrag neues Leben einzuhauchen, sodass er dann am
Politik der Europäischen Union bilden würde. Seit Mitte der     13. Dezember 2007 von den europäischen Staats- und Re-
1980er Jahre waren die rechtlichen Grundlagen der Gemein-       gierungschefs unterzeichnet werden konnte. Inhaltlich war
schaft in immer kürzeren Abständen verändert worden, die        er in weiten Teilen identisch mit dem Verfassungsvertrag von
Europäische Gemeinschaft (EG) regelmäßig auf den Prüfstand      2004; auf der symbolischen Ebene wurde er jedoch deutlich
gestellt worden. Als der Vertrag von Lissabon unter Dach und    abgespeckt: Man hat alle staatsähnlichen Symbole wie die
Fach war, setzte eine gewisse Reformmüdigkeit ein: Die erste    EU-Flagge, die Hymne (»Ode an die Freude«), den Europa-
große Vertragsreform kam 1985 mit der Einheitlichen Euro-       tag (9. Mai) und auch den Leitspruch der EU (»In Vielfalt
päischen Akte; dieser Begriff wurde gewählt, um deutlich zu     geeint«) wieder gestrichen; trotzdem wird natürlich bei öf-
machen, dass die EG keine Verfassung im eigentlichen Sinne      fentlichen Anlässen in Deutschland und anderen EU-Staaten
besitzt wie Deutschland mit dem Grundgesetz. Dann kam mit       die Europaflagge gehisst und die »Europa-Hymne« gespielt.
dem Maastrichter Vertrag, der 1993 in Kraft getreten ist, die   Aber auch der Vertrag von Lissabon wäre fast gescheitert,
bislang wichtigste Änderung des Gemeinschaftsvertrags: Neu      weil sich die irische Bevölkerung im ersten Referendum
eingeführt wurden nun die Wirtschafts- und Währungsunion        gegen den Vertrag ausgesprochen hat; bei einer erneuten
und der Euro als gemeinsame Währung, aber auch eine Ge-         Abstimmung votierte dann eine Mehrheit für den EU-Vertrag,
meinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (kurz: GASP)      nachdem die anderen EU-Staaten den Iren kleinere Zuge-
und eine engere Zusammenarbeit im Rahmen der Justiz- und        ständnisse gemacht hatten. Die europäische »Verfassungs-
Innenpolitik, also etwa eine gemeinsame europäische Ver-        debatte« dauerte also fast ein Jahrzehnt und stand immer
brechensbekämpfung, kamen hinzu. Dann erfolgten in immer        wieder kurz vor dem Scheitern.
kürzeren Abständen weitere Anpassungen des EU-Vertrags
(der Begriff »EU« wurde erst mit dem Maastrichter Vertrag       Der Vertrag von Lissabon: Mehr Demokratie
eingeführt): erst der Vertrag von Amsterdam (im Juni 1997       und mehr Effizienz?
unterzeichnet), dann der Vertrag von Nizza, der im Dezember     Die zentralen Ziele des neuen Vertrags waren »Mehr Demo-
2000 nach sehr schwierigen Verhandlungen unterzeichnet          kratie« und »Mehr Effizienz«. Beides wurde bis zu einem
werden konnte und die EU für die Osterweiterung fit machen      gewissen Teil auch erreicht. Im Vergleich zum alten Vertrag
sollte. Da dies nur in einem begrenzten Maße gelungen ist,      von Nizza (2000) hat der jetzt gültige Vertrag von Lissabon

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Wo steht Europa? Die Europäische Union nach Lissabon 1 - 2012 - Zeitschrift POLITIK & UNTERRICHT
Einleitung

wichtige Veränderungen in Bezug auf diese beiden Zielmar-        möglichen, dass eine Europäische Union mit 27 und bald 28
ken gebracht. Das Europäische Parlament (EP), welches seit       Staaten sich nicht permanent selbst blockiert. Diese Praxis
Jahren im Verdacht steht, kein »richtiges« Parlament zu sein,    trägt maßgeblich zur Effizienz der Europäischen Union bei.
weil es zu schwach sei, hat sich inzwischen als veritabler
Mitspieler und Kontrolleur in der EU etabliert. Das »Demo-       Eine Stärkung der europäischen oder »supranationalen«
kratiedefizit« der EU konnte in den letzten Jahren nicht nur     Demokratie wird nicht nur durch die Aufwertung des Euro-
dadurch abgebaut werden. Durch den neuen Vertrag wird            päischen Parlaments erreicht, sondern auch durch die Ein-
das EP noch wichtiger, weil die Bereiche, in denen es heute      richtung des sogenannten Frühwarnmechanismus. In diesem
mitentscheiden kann, ausgeweitet worden sind; es ist nun in      Mechanismus ist vorgesehen – und es wird inzwischen
fast allen Bereichen (nicht jedoch in der Europäischen Außen-    auch so praktiziert –, dass alle nationalen Parlamente (in
und Sicherheitspolitik) ein gleichberechtigter Mitspieler. Das   Deutschland also der Bundestag und der Bundesrat) sämt-
Parlament hat seine neue Macht auch gleich eingesetzt und        liche Dokumente und wichtige Papiere der Europäischen
das sogenannte SWIFT-Abkommen, das den Austausch von             Kommission direkt zugesandt bekommen. Dann können sie
Kontodaten mit den USA regelt, in einer ersten Abstimmung        entscheiden, ob bestimmte Themen für sie von Bedeutung
Anfang 2010 zu Fall gebracht, weil aus seiner Sicht der          sind. Wenn eine bestimmte Zahl an nationalen Parlamenten
Datenschutz nicht ausreichend war. Nach entsprechenden           parallel und koordiniert zu dem Eindruck kommt, dass die
Nachbesserungen stimmte das Straßburger Parlament in der         EU-Kommission mit ihren Vorschlägen das Subsidiaritäts-
zweiten Abstimmung im Juli 2010 schließlich zu.                  prinzip verletzt, dann können sie sich zusammenschließen,
                                                                 innerhalb von acht Wochen im Rahmen des neuen Systems
Darüber hinaus wurden im Rat, also dem Organ der EU, in          eine »Frühwarnung« aussprechen und die Kommission ersu-
dem die nationalen Regierungsvertreter sitzen, die Abstim-       chen, ihr Vorhaben einer erneuten Bewertung zu unterzie-
mungsmodalitäten geändert. In Zukunft kann im Rat (freilich      hen. Die Kommission ist nicht verpflichtet, ihren Vorschlag
erst ab 2014) nach dem Prinzip der »doppelten Mehrheit«          aus dem Verkehr zu ziehen, sie wird sich jedoch die Kritik
(Mehrheit der Staaten und gleichzeitig Mehrheit der Be-          sehr genau ansehen und dann entscheiden, ob sie einen
völkerung) entschieden werden; die Folge ist – wie heute         zweiten Anlauf unternimmt. Der Sinn des Systems ist es,
schon –, dass auch große Staaten wie Deutschland oder            dass nationale Parlamente sich über die staatlichen Gren-
Frankreich überstimmt werden können, wenn eine Koalition         zen hinweg koordinieren und gemeinsam eine europäische
von kleineren und größeren Staaten eine solch »qualifizierte     Verantwortung übernehmen. Dies gilt auch für Landtage und
Mehrheit« zustande bringen. In der Praxis kommt dies jedoch      Regionalparlamente.
weniger häufig vor, als man vermuten würde – die EU zieht
es in der Regel vor, so lange zu verhandeln, bis eine Ent-       Eine weitere Neuerung ist das Instrument der Europä-
scheidung gefunden worden ist, der alle zustimmen können.        ischen Bürgerinitiative, die den Bürgerinnen und Bürgern
Eine beliebte Variante ist auch das Schnüren von Paketen,        zum ersten Mal die Möglichkeit gibt, sich im Rahmen eines
das heißt, ein EU-Staat stimmt in einer Frage dem anderen        rechtlichen Verfahrens direkt an die EU-Kommission zu
zu, wenn dieser Staat einem in einer zweiten Frage, die          wenden und die Brüsseler Behörde aufzufordern, ein EU-
ihm selbst besonders wichtig ist, ebenfalls entgegenkommt.       Gesetz auf den Weg zu bringen; das gilt natürlich nur für
Solche »package deals« halten die EU am Laufen und er-           die Themen und Politikfelder, in denen die Europäische

                                                                                       Die Europäische Union ist weder
                                                                                       Staat noch Staatenbund noch inter-
                                                                                       nationale Organisation – und doch
                                                                                       von allem etwas. Das macht sie
                                                                                       zu einem historisch einzigartigen
                                                                                       Gebilde. Ebenso einzigartig sind
                                                                                       Aufbau und Funktionsweise ihrer
                                                                                       Organe, die eine Klammer zwischen
                                                                                       dem »Europa der Bürger« und dem
                                                                                       »Europa der Staaten« und zwischen
                                                                                       den verschiedenen Politikbereichen
                                                                                       der EU bilden. Durch den Reform-
                                                                                       vertrag von Lissabon wurden wich-
                                                                                       tige Neuerungen im institutionellen
                                                                                       Aufbau der EU eingeführt.

Politik & Unterricht • 1-2012                                                                                                7
Wo steht Europa? Die Europäische Union nach Lissabon 1 - 2012 - Zeitschrift POLITIK & UNTERRICHT
Baustein A

Union auch die Befugnisse dazu besitzt, etwa im Bereich des     Alles in allem gilt der Vertrag von Lissabon als pragmatische
europaweiten Verbraucherschutzes. Dies soll dazu beitra-        Lösung, die für längere Zeit die rechtliche Grundlage der EU
gen, das sogenannte Demokratiedefizit der Europäischen          hätte sein können. Dann kam jedoch die Staatsschuldenkrise
Union abzubauen, und einen Weg eröffnen, um die Bürger          mit Macht auf die europäische Tagesordnung und setzte den
in den EU-Staaten unmittelbar in die Entscheidungsprozesse      Vertrag einem Stresstest aus. Dieser – noch anhaltende –
der Europäischen Union einzubinden – und zwar als Ideen-        Test hat gezeigt, dass die EU für die Krise nicht gut gerüstet
geber für EU-Initiativen. Dieses neue Instrument wird aber      ist. Nun hat sich die Diskussion deutlich gewandelt und seit
nur dann die hohen Erwartungen erfüllen können, wenn            2010 ist die Europäische Union zusammen mit den euro-
es gelingt, die erforderliche Zahl an Unterschriften (eine      päischen Regierungen eigentlich täglich damit beschäftigt,
Million) europaweit zu organisieren und der Europäischen        durch immer neue »Rettungsschirme« und Anpassungen des
Kommission solche Themen vorzuschlagen, die wirklich            Vertrags die EU und den Euro wieder wetterfest zu machen.
»europäische« Belange betreffen und in mehreren EU-             Dieser Prozess wird die Europäer für die nächsten Jahre
Staaten eine entsprechende Unterstützung finden.                beschäftigen, die europaweite Solidarität testen und das
                                                                Nachdenken über die Zukunft Europas bestimmen.
Zu erwähnen ist auch noch die Einrichtung von zwei neuen
Institutionen – zum einen der permanente Präsident des
Europäischen Rates und der Hohe Vertreter der Union für die
Außen- und Sicherheitspolitik. Von beiden Ämtern hat man
sich mehr Kontinuität und Geschlossenheit der EU in ihrem       ●●●    Baustein A
Auftreten nach innen und nach außen versprochen. Herman
Van Rompuy hat als EU-Ratspräsident – er ist für zweimal
2,5 Jahre bis 2014 gewählt – die Aufgabe, den Europäischen      EUROPA IM ALLTAG
Rat, also die Sitzungen der Staats- und Regierungschefs
zu leiten und seinen Teil dazu beizutragen, dass am Ende        Europa und der europäische Integrationsprozess haben viele
die »Chefs« Entscheidungen treffen können. Nicht selten         Gesichter. Diese sollen im einleitenden Baustein A durch
geschieht dies bei EU-Gipfeln erst in den frühen Morgen-        eine lebensweltlich orientierte Annäherung mit den Schü-
stunden und nicht selten wird in diesem Kreis auch heftig       lerinnen und Schülern erschlossen werden. Gleichzeitig ist
gestritten. Im Anschluss an einen Gipfelmarathon bei den        beabsichtigt, die Gestaltung des Alltags durch Beschlüsse
Verhandlungen zum Vertrag von Amsterdam (1997) hatten           der EU zu verdeutlichen und auf die Problematik der Trans-
sich etwa die belgische und niederländische Delegation ge-      parenz europäischer Politik hinzuweisen. Dabei wird auf die
weigert, in denselben Aufzug im Hotel zu steigen, weil man      möglichst vielschichtige Begegnung mit »europäischen Phä-
in den Verhandlungen so heftig gestritten hatte und sich        nomenen« Wert gelegt (eigene Erfahrungen, Familie, Schule,
nun möglichst aus dem Weg gehen wollte.                         Freundeskreis, Gemeinde, Region). Dieser Ansatz soll auch
                                                                als Motivation verstanden werden, sich intensiver mit der
Catherine Ashton, die Hohe Vertreterin bzw. EU-Außenbe-         EU zu befassen, das eigene Wissen zu erweitern und mit
auftragte, hatte, als sie im Dezember 2009 in ihr Amt kam,      neuen Aspekten zu verknüpfen. In diesem Zusammenhang
einen schwierigen Start. Inzwischen hat sie jedoch ihre         ist es wichtig, auf die Symbolik des europäischen Eini-
Rolle als Vermittlerin gefunden, bleibt aber nach Meinung       gungsprozesses einzugehen und seine ideellen Grundlagen
der Mehrzahl der Experten politisch zu vorsichtig und hat       zu verdeutlichen.
bislang wenig eigene Initiativen gestartet, so dass Kritik an
ihr immer wieder laut wird. Ihre Aufgabe besteht in erster
Linie darin, die europäischen Außenminister zu koordinieren
und für eine einheitlichere EU-Außenpolitik zu sorgen. Da       UNTERRICHTSPRAKTISCHE HINWEISE
die EU-Staaten ja weiterhin eine eigene Außenpolitik ver-
folgen, ist dies kein leichtes Unterfangen. Zu welchen Ver-     Das Material A 1 bietet die Gelegenheit zu einer ersten An-
werfungen zwischen den europäischen Staaten dies führen         näherung an die EU. Die Mindmap nimmt Assoziationen auf,
kann, hat ja der von Frankreich und Großbritannien geführte     die nach der Sammelphase erläutert und zueinander in Be-
NATO-Einsatz in Libyen im Jahre 2011 und die Enthaltung         ziehung gesetzt werden können. Dabei ist es möglich, durch
Deutschlands im UN-Sicherheitsrat in dieser Frage gezeigt.      die zahlreichen »Hauptstränge« der Vorlage die Beiträge zu
Dass sich die EU-Staaten und Washington in den ersten           ordnen und zu gewichten. So werden Zusammenhänge und
Monaten 2012 erfolgreich auf Sanktionen gegenüber dem           Strukturen sichtbar. Als Sozialformen bieten sich Einzel-,
Assad-Regime in Syrien verständigt haben, ist ein Beispiel      Partner- oder Gruppenarbeit an. Das Plenum eignet sich für
für Lernfähigkeit in der EU.                                    das Vorstellen der Ergebnisse und ihren Vergleich. Eine Be-
                                                                fragung von Eltern und Großeltern zum Thema »Europäische
Schließlich verankert der Vertrag von Lissabon in einigen       Union« könnte zu dem Ergebnis führen, dass die »EU-Bilder«
Politikfeldern zum ersten Mal eine Handlungskompetenz der       verschiedener Generationen sowohl Gemeinsamkeiten als
Gemeinschaft, etwa auf den Gebieten der Energie- und Kli-       auch Unterschiede aufweisen. Generationengebundene Hal-
mapolitik, der Weltraumpolitik, der Sportpolitik und auch       tungen können in einer Tabelle (Tafel oder Plakat) generati-
auf dem Feld des Katastrophenschutzes.                          onenübergreifenden Sichtweisen gegenübergestellt werden.

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Baustein A

                 Besonders wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die         ordnung weiterer Begriffe kann sich an diesen oder anderen
                 Ursachenforschung. Warum bestehen Überschneidungen und         Kriterien orientieren (z. B. Völkerverständigung, Konflikte).
                 Unterschiede? Das Bemühen um Antworten auf diese Leit-
                 frage führt bei den Schülerinnen und Schülern nicht selten     Das Leitbild eines »Europas ohne Grenzen« greift A 4 auf. Hier
                 zu einer Schärfung der subjektiven Wahrnehmung politischer     liegt ein Vergleich zugrunde, der auf die Situation am Grenz-
                 und historischer Abläufe. Darüber hinaus kann dieses Vor-      übergang Kehl–Straßburg im Abstand von zwanzig Jahren
                 gehen auch qualitative Veränderungen im europäischen           eingeht. Deutlich zu sehen ist der Abbau von Grenzanlagen
                 Einigungsprozess deutlich machen, die mehrere Jahrzehnte       und der fließende Verkehr auf dem zweiten Bild als Zeichen
                 in Anspruch genommen haben.                                    der Vereinfachungen im nachbarschaftlichen Miteinander
                                                                                zwischen Frankreich und Deutschland. Wie die Europaflagge
                 Die Mindmap ermöglicht auch eine Verknüpfung mit dem           zeigt, steht diese Situation stellvertretend für viele Gren-
                 Material A 2. Die Befragung kann ähnlich offen gestaltet       zen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
                 werden wie in A 1 oder auf einem vorbereiteten Fragebogen      Zur zeitlichen Einordnung von politischen Schritten, die
                 basieren: Dieser gibt die Antwortvarianten von A 2 wieder      diese Entwicklung möglich gemacht haben, bietet sich die
                 und stellt den Befragten eine begrenzte Zahl an Stimmen zur    Übersicht auf S. 5 sowie die Chronologie der europäischen
                 Verfügung. So werden Entscheidungen und Gewichtungen           Einigung im Mittelteil des Heftes an. Erfahrungsgemäß sind
                 erleichtert. Die Zielgruppe für eine Befragung kann sowohl     manche Kinder und Jugendliche bei dieser Thematik in der
                 die Klasse als auch eine erweiterte Gruppe innerhalb der       Lage, von eigenen »Grenz-Erfahrungen« zu berichten und
                 Schule oder der breiteren Öffentlichkeit sein. Bei einer       Probleme zu benennen, die offene Grenzen eventuell mit
                 entsprechenden Computerausstattung ist die Auswertung          sich bringen (z. B. Kriminalität). Europäische Initiativen
                 der Resultate mit dem Statistikprogramm »GrafStat« denk-       wie das Schengen-Abkommen oder Frontex können deutlich
                 bar. Das Programm wird von den Landeszentralen und der         machen, dass die EU negative Begleiterscheinungen von
                 Bundeszentrale für politische Bildung kostenlos zur Verfü-     Integrationsschritten registriert und mit unterschiedlichem
                 gung gestellt. Für die Besprechung der Ergebnisse bietet       Erfolg versucht, Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
                 sich das Klassenplenum an.
                                                                                Die Karikaturen in A 5 zielen auf problemorientierte Zugänge
                 Die Auseinandersetzung mit Material A 3 stellt unterschied-    zum Thema EU. Naturgemäß stellen sie symbolische Inhalte
                 liche Erscheinungsformen von »Europa« in den Mittelpunkt.      in den Mittelpunkt. Dabei bieten sich Recherchen über das
                 Es macht das breite Spektrum deutlich, in dem dieses Schlag-   Motiv des Stiers, seinen mythologischen Hintergrund und
                 wort gebräuchlich ist, und thematisiert somit die Unüber-      die aktuellen Bezüge zur Diskussion um die Erweiterung der
                 sichtlichkeit beim »europapolitischen Sprachgebrauch«. Die     EU an (z. B. Türkei, Island oder Serbien). Eine weitere Kon-
                 Erläuterungen der Jugendlichen zu den einzelnen Stichwor-      fliktlinie veranschaulicht die zweite Karikatur. Sie themati-
                 ten können sowohl auf die institutionellen Erscheinungs-       siert das Problem der Konsensfindung in der EU. Dabei ist es
                 formen von »Europa« abzielen (Währungsunion, UEFA) als         naheliegend, auch auf mögliche (negative) Folgen einzuge-
                 auch Alltagserfahrungen (Schüleraustausch, Urlaub, Euro-       hen, die sich aus dem Widerstreit von nationalen Egoismen
                 pean Song Contest) oder regulative EU-Politik (E-10-Kraft-     und europäischen Interessen ergeben können. Den aus Sicht
                 stoff, Führerschein, KFZ-Kennzeichen) beschreiben. Die Zu-     des Karikaturisten verwirrenden Verlauf des europäischen
Gerhard Mester

                 Politik & Unterricht • 1-2012                                                                                              9
Baustein B

Einigungsprozesses thematisiert die dritte Karikatur. Das       ●●●    Baustein B
im wahrsten Sinne des Wortes häufige Hin und Her, Vor
und Zurück verunsichert Europa und vermittelt den Eindruck
zielloser, beliebiger Politik. Sowohl die idealistischen An-    IN GUTER VERFASSUNG? –
sprüche der EU als auch die reale Situation können mit Aus-     DIE EU NACH LISSABON
zügen aus dem Vertragstext und kritischen Stimmen aus der
Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden. Aus methodischer        Als der Vertrag von Lissabon am 1. Dezember 2009 in Kraft
Sicht bietet sich in diesem Zusammenhang eine Debatte           getreten ist, war eine jahrelange Debatte um die Reform der
oder eine »Talkshow« an, die von Schülerinnen und Schülern      Europäischen Union zu Ende gegangen. Der neue Vertrag soll
gestaltet wird.                                                 die EU vor allem demokratischer und effizienter machen. Zu
                                                                den wichtigsten Änderungen gehören folgende Reformen: Das
Dem Material A 6 liegt die Absicht zugrunde, eine konkretere    Europäische Parlament wird durch den Vertrag in seinen Mit-
Vorstellung vom »politischen Mehrebenensystem« der EU           wirkungs- und Kontrollrechten gestärkt. Es ist somit längst
zu vermitteln. Zentrales Ziel dieses Lernschrittes ist die      kein »zahnloser Tiger« mehr. Zudem können die einzelnen
Erkenntnis, dass regionale, nationale und europäische Po-       Parlamente in den EU-Staaten – in Deutschland also Bundes-
litikebenen miteinander verflochten sind und verschiedene       tag und Bundesrat – die EU-Kommission direkt kontrollieren,
Bereiche der Politik in unterschiedlicher Intensität gemein-    weil alle Vorhaben und Pläne der Kommission vorab einem
sam gestalten. Dieser Umstand kann seinen Niederschlag          »Subsidiaritäts-Test« unterzogen werden können: Wenn na-
in den beiden anschließenden Arbeitsaufträgen finden (Ge-       tionale Parlamente aus mehreren EU-Staaten zu dem Ergeb-
staltung einer eigenen Europaflagge, Recherche zum Zusam-       nis kommen, die Europäische Kommission überschreite mit
menwirken der verschiedenen Politikebenen anhand eines          ihren Plänen ihre Kompetenzen, können sie ihr eine »gelbe
bestimmten Beispiels).                                          Karte« zeigen und die Kommission stoppen. Um dieses Kon-
                                                                trollinstrument auch nutzen zu können, müssen sich die Par-
Die Bedeutung europäischer Politik für den Einzelnen wird       lamente europaweit verständigen und Koalitionen bilden. So
in A 8 aufgegriffen. Es weist auf Vorteile einer EU-Mitglied-   soll sichergestellt werden, dass dieser »Frühwarnmechanis-
schaft hin und bietet Schreibanlässe für Briefe an fiktive      mus« nur dann zum Tragen kommt, wenn der Einspruch von
Freunde auf anderen Kontinenten. Darüber hinaus kann der        einer entsprechenden Mehrheit geteilt wird, und nicht dazu
Text als Ergänzung für das Fallbeispiel Wertheim in A 9         missbraucht werden kann, rein nationale Sonderinteressen
herangezogen werden. In ihm kommen ebenfalls Chancen            zu verfolgen und die EU zu blockieren.
und Probleme der europapolitischen Zusammenarbeit zur
Sprache. Handlungsorientiert ausgerichtet ist die »Europa-      Aber nicht nur die nationalen Parlamente wurden gestärkt,
suche« von Schülerinnen und Schülern. Das individuelle          sondern auch die Bürgerinnen und Bürger in der EU sollen
»EU-Profil« kann auf Landkarten entstehen, die durch Ver-       ein neues Mitspracherecht bekommen. Sie können mit der
bindungslinien, Fotos, Souvenirs, Postkarten, Notizen usw.      »Europäischen Bürgerinitiative« der Kommission im Rahmen
die persönlichen Beziehungen der Schülerinnen und Schüler       eines neuen rechtlichen Verfahrens konkrete Vorschläge und
zu anderen Ländern in Europa veranschaulichen. Darüber          Ideen für neue EU-Gesetze übermitteln. Der Vertrag von
hinaus ist denkbar, dass Jugendliche den (Ober-)Bürger-         Lissabon hat darüber hinaus zwei neue politische Ämter und
meister oder den Europabeauftragten ihres Wohnorts zu           wichtige Mitspieler auf der EU-Ebene gebracht: Mit Herman
EU-Themen interviewen.                                          Van Rompuy hat die Europäische Union nun einen dauer-
                                                                haften, für maximal fünf Jahre gewählten EU-Präsidenten,
Das Beispiel »Verbraucherschutz« soll die Möglichkeit bieten,   der die Brüsseler EU-Gipfel leitet und die EU-Politik nach
die Vor- und Nachteile von Harmonisierungsbestrebungen der      innen und außen sichtbarer machen soll. (Bislang wurden
EU kennenzulernen und zu beurteilen. Die Sicherheit von         die Treffen der Staats- und Regierungschefs von einer nur
Nahrungsmitteln, Gesundheitsvorsorge, der Abbau von Han-        sechs Monate amtierenden Ratspräsidentschaft geleitet.)
delshemmnissen, Orientierungshilfen beim Einkauf und der        Das zweite neue Amt ist mit Catherine Ashton besetzt. Sie ist
Schutz vor überhöhten Gebühren stehen deshalb im Zentrum        als EU-Außenbeauftragte eine Art »Außenministerin« und
der Materialien A 10 bis A 13. Ausgehend von den eigenen        verleiht der EU Gesicht und Stimme auf der internationalen
Erfahrungen bietet sich die themengeleitete Erkundung eines     Bühne. Mit dem neu geschaffenen Europäischen Auswärtigen
Supermarktes als praktische Ergänzung dieser Einheit an.        Dienst soll sie zu mehr Kohärenz und Geschlossenheit in den
Eine fundierte und differenzierte Beurteilung europäischer      EU-Außenbeziehungen beitragen. Weil jedoch Außenpolitik
Politik erfordert aber auch die Auseinandersetzung mit der      zu den Kernbereichen der nationalen Souveränität gehört,
oft beklagten Überregulierung »aus Brüssel« sowie die Be-       sind hier die Anlaufschwierigkeiten einer geschlosseneren
schäftigung mit Interessen- bzw. Zielkonflikten zwischen        Außenvertretung der EU am größten.
Mitgliedstaaten der EU und europäischen Institutionen (siehe
insbesondere A 14). Die Erarbeitung von Konfliktlösungen
kann zu der Einsicht führen, dass Kompromissbereitschaft
und das »Prinzip des Gebens und Nehmens« (das sogenannte
»Horse Trading«) wichtige Instrumente für die Überwindung
von Problemen in der Europäischen Union sind.

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Baustein B

                  UNTERRICHTSPRAKTISCHE HINWEISE                                 terien durch die Schülerinnen und Schüler. Ein Abgleich mit
                                                                                 den Länderprofilen lässt dann Rückschlüsse auf die Chancen
                  Baustein B möchte die qualitativen Veränderungen im eu-        eines entsprechenden Gesuches zu und weist auf die Not-
                  ropäischen Einigungsprozess deutlich machen, die sich aus      wendigkeit von Sonderabsprachen hin.
                  dem Vertrag von Lissabon ergeben. Dabei spielt die Erkennt-
                  nis eine wichtige Rolle, dass die Komplexität europäischer     Die Behandlung der Erweiterungsthematik ist auch in einer
                  Politik durch die Aufnahme zahlreicher Staaten in die EU       kreativ ausgerichteten Variante möglich. So können Schü-
                  Schritt für Schritt zugenommen hat. Die Reformschritte des     lerinnen und Schüler aus der Sicht von Beitrittskandidaten
                  Lissabonner Vertrages sind also nicht zuletzt der Versuch,     ein Bewerbungsschreiben an die Europäische Kommission
                  die Funktions- und Entwicklungsfähigkeit der EU auf verän-     verfassen und darin die Motive für einen EU-Beitritt darle-
                  derte Rahmenbedingungen einzustellen.                          gen. Im Gegenzug ist es denkbar, dass eine andere Gruppe
                                                                                 die Rolle der Kommission übernimmt und Bedingungen for-
                  B 1 veranschaulicht die verschiedenen Erweiterungsrunden       muliert, unter denen eine EU-Mitgliedschaft denkbar wäre.
                  der Union. Die Karte vermittelt einen vielschichtigen Ein-     Am Ende dieser Phase könnten »Beitrittsverhandlungen«
                  druck von der Beschleunigung des Erweiterungsprozesses         stehen, in deren Verlauf die beteiligten Parteien neben in-
                  seit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes. (Vgl. hierzu auch      haltlichen Schwerpunkten auch einen Zeitplan erarbeiten,
                  das groß angelegte EU-Quiz im Mittelteil des Heftes.) Die      der als Grundlage für den weiteren Beitrittsprozess dient.
                  Frage »Aus welchen Gründen sind immer mehr Länder Mit-         Bei größeren Lerngruppen bietet es sich an, die Zahl der
                  glied der heutigen EU geworden?« kann ein Einstieg in          Beitrittskandidaten zu erhöhen.
                  die Sammelphase zu den Beitrittsmotiven einzelner Staaten
                  sein. Diese sind meist wirtschaftlicher, politischer, histo-   Die kritischen Anmerkungen des Journalisten Thomas Gack
                  rischer oder sozialer Art und können bei der Ergebnissiche-    in B 2 können die Grundlage für ein Rollenspiel sein, in
                  rung entsprechend klassifiziert werden. Im Vorfeld bietet es   dem Kritiker und Befürworter des Vertrages von Lissabon
                  sich an, dass Schülerinnen und Schüler Länderprofile erar-     den Versuch unternehmen, ihre Auffassungen vor Publikum
                  beiten, die beispielsweise die Zusammensetzung der Bevöl-      überzeugend zu vertreten. Alternativ ist es auch möglich,
                  kerung, die Wirtschaftsleistung oder den Entwicklungsstand     Stärken und Schwächen des Vertragstextes in Gruppen auf
                  einzelner Regionen deutlich machen. Entsprechende Daten        der Grundlage von B 2 sowie B 3 arbeitsteilig zu erschließen
                  liefern die Europäische Statistikbehörde EUROSTAT und das      und die Ergebnisse anschließend dem Plenum vorzustellen.
                  Jahrbuch des Statistischen Bundesamtes. Dieser Arbeits-        Eine dritte Option ist das Verfassen von Leserbriefen an den
                  schritt kann in Kleingruppen vor sich gehen. Anschließend      Autor. Die Texte könnten sich auf einen wichtigen Aspekt
                  werden die Resultate im Plenum zur Diskussion gestellt und     konzentrieren (z. B. die Forderung nach einem »Europa der
                  mit der Frage nach den Gründen für einen EU-Beitritt ver-      Bürger«) und die Sichtweisen bzw. Forderungen der Schüle-
                  knüpft. Denkbar ist auch eine Umfrage in der Schule oder       rinnen und Schüler darlegen.
                  lokalen Öffentlichkeit über die Haltung von Befragten zum
                  Aufnahmeantrag eines bestimmten Landes. Nach einer ent-        Die Materialien B 4 – B 7 gehen in erster Linie auf die neuen
                  sprechenden Auswertung (vgl. die Bemerkungen zu GrafStat       Befugnisse und Herausforderungen für das Europäische Par-
                  auf S. 9) empfiehlt sich die Erarbeitung von Aufnahmekri-      lament ein. Eine kombinierte Beschäftigung mit den Mate-
Thomas Plaßmann

                  Politik & Unterricht • 1-2012                                                                                            11
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