Ernährungssicherung Anika Mahla, Karin Gaesing und Frank Bliss - Eine entwicklungspolitische Bewertung ausgewählter Handlungsfelder - Uni-DUE
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Institut für Entwicklung und Frieden Anika Mahla, Karin Gaesing und Frank Bliss Ernährungssicherung Eine entwicklungspolitische Bewertung ausgewählter Handlungsfelder AVE-Studie 8/2018
BIBLIOGRAPHISCHE ANGABE: Mahla, Anika / Gaesing, Karin / Bliss, Frank (2018): Ernährungssicherung: Eine entwicklungs- politische Bewertung ausgewählter Handlungsfelder. Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Universität Duisburg-Essen (AVE-Studie 8/2018, Wege aus extremer Armut, Vulnera- bilität und Ernährungsunsicherheit). Impressum Herausgeber: © Institut für Entwicklung und Frieden Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) Lotharstr. 53 D - 47057 Duisburg Universität Duisburg-Essen Phone +49 (203) 379 4420 Fax +49 (203) 379 4425 E-Mail: inef-sek@inef.uni-due.de Logo design: Carola Vogel Homepage: http://inef.uni-due.de Layout design: Jeanette Schade, Sascha Werthes Cover design: Shahriar Assadi ISSN 2511-5111
Anika Mahla, Karin Gaesing und Frank Bliss, Ernährungssicherung: Eine entwicklungspolitische Bewertung ausgewählter Handlungsfelder AVE-Studie 8/2018 Wege aus extremer Armut, Vulnerabilität und Ernährungsunsicherheit Universität Duisburg-Essen Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) University of Duisburg-Essen Institute for Development and Peace
AUTORINNEN: Anika Mahla M.A., Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik, B.A. Sozial- wissenschaft und Philosophie mit Kernfach Politikwissenschaft; wissenschaftliche Mitarbeiterin am INEF, Universität Duisburg-Essen, Forschungsschwerpunkte: ländliche Entwicklung, Gender, Ernährungssicherung/-souveränität und Land-Governance. E-Mail: amahla@inef.uni-due.de Dr. rer. pol. Karin Gaesing, Geographin und Raumplanerin; wissenschaftliche Mitarbeiterin am INEF, Universität Duisburg-Essen; langjährige Erfahrung in der EZ, u.a. für die GTZ in Äthiopien und der Côte d’Ivoire sowie als freiberufliche Gutachterin in Afrika und Indien. Expertise in Regionalplanung, Gender, Partizipation, Landnutzungsplanung E-Mail: kgaesing@inef.uni-due.de Dr. phil. Frank Bliss, Prof. für Ethnologie (Entwicklungsethnologie) an der Universität Hamburg und Senior Research Fellow sowie Lehrbeauftragter an der Universität Duisburg-Essen (INEF). Forschungsarbeiten u.a. in Ägypten, im Maghreb, dem Sudan sowie in Zentralasien. Als Consultant vor allem im Wasserbereich, bei der Umsetzung von Social Safeguards in Infrastrukturprojekten sowie in der Politikberatung tätig. E-Mail: bliss.gaesing@t-online.de Projekthomepage www.inef-reachthepoorest.de Das Projekt wird aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Rahmen der Sonderinitiative „EINEWELT ohne Hunger“ (SEWOH) finanziert.
Inhalt Zusammenfassung ....................................................................................................... 7 Executive Summary .................................................................................................... 10 1. Einleitung ............................................................................................................ 12 2. Wer sind die Hungernden? .............................................................................. 15 3. Ursachen der Ernährungsunsicherheit .......................................................... 19 4. Agrarentwicklungspolitische Konzepte als Leitbilder der Ernährungssicherung ....................................................................................... 24 4.1 Grüne Revolution (1965-75) .................................................................... 24 4.2 Integrierte Ländliche Entwicklung (1975-85) ....................................... 25 4.3 Agrarökologie (seit 1980) ........................................................................ 26 4.4 Strukturanpassungsprogramme (1985-95) ........................................... 27 4.5 Sektorinvestitionsprogramme, Capacity Building und Institutionenförderung (seit etwa 1995) ................................................ 28 5. Maßnahmen zur Ernährungssicherung......................................................... 31 5.1 Zielgruppendifferenzierung ................................................................... 31 5.2 Ausgewählte Handlungsfelder .............................................................. 32 5.2.1 Förderung der Geschlechtergerechtigkeit und Ernährungsberatung für Mutter und Kind ....................................................................................... 34 5.2.2 Zugang zu Land und anderen natürlichen Ressourcen .............................. 36 5.2.3 Soziale Sicherung ............................................................................................. 41 5.2.4 Kleinbäuerliche versus industrialisierte Landwirtschaft ............................ 44 5.2.5 Wertschöpfungsketten-Ansatz ....................................................................... 49 5.2.6 Fortifizierung von Nahrungsmitteln ............................................................. 51 6. Schlussfolgerungen und Empfehlungen ...................................................... 54 Literaturverzeichnis ................................................................................................... 59 Anhang ......................................................................................................................... 71
Ernährungssicherung: Eine entwicklungspolitische Bewertung Abkürzungsverzeichnis ACTED Agency for Technical Cooperation and Development AFC Agriculture & Food Consulting AGRA Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika AU Afrikanische Union AVE Wege aus extremer Armut, Vulnerabilität und Ernährungsunsicherheit BCC Behaviour Change Communication BMEL Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft BMGF Bill und Melinda Gates-Stiftung BMZ Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung BSP Bruttosozialprodukt CAADP Comprehensive Africa Agriculture Development Programme CFS Committee on World Food Security CGIAR Consultative Group on International Agricultural Research CO2 Kohlenstoffdioxid CSA Climate Smart Agriculture DEZA Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEval Deutsches Evaluierungsinstitut der Entwicklungszusammenarbeit DIE Deutsches Institut für Entwicklungspolitik EL Entwicklungsländer EPA Economic Partnership Agreement ES Ernährungssicherung EU Europäische Union EZ Entwicklungszusammenarbeit FAO Food and Agriculture Organization of the United Nations FMNR Farmer Managed Natural Regeneration FZ Finanzielle Zusammenarbeit G8 Gruppe der Acht GAIN Global Alliance for Improved Nutrition GACSA Global Alliance for Climate Smart Agriculture GFP German Food Partnership GG Kennung zur Gleichberechtigung der Geschlechter GIGA German Institute of Global and Area Studies GIZ Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GVO Gentechnisch veränderte Organismen HANCI Hunger and Nutrition Commitment Index hh Haushalt/e IAASTD International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development 5
Anika Mahla, Karin Gaesing, Frank Bliss IDS Institute of Development Studies ILC International Land Coalition ILE Integrierte Ländliche Entwicklung INEF Institut für Entwicklung und Frieden IPCC Intergovernmental Panel on Climate Change IWF International Monetary Fund KB Kleinbauern und -bäuerinnen Kcal Kilokalorien KfW Kreditanstalt für Wiederaufbau MDG Millennium Development Goal Mio. Millionen Mrd. Milliarden MSA Multi-Stakeholder-Ansätze NEPAD New Partnership for Africa's Development NRO Nichtregierungsorganisation ODA Official Development Assistance ODI Overseas Development Institute ORDA Organization for Rehabilitation and Development in Amhara PPP Public Private Partnership PRA Participatory Rural Appraisal PRSP Poverty Reduction Strategy Papers RAI Responsible Agricultural Investements RAIN Realigning Agriculture to Improve Nutrition RUTF Ready-to-Use Therapeutic Food SAP Structural Adjustment Programme (Strukturanpassungsprogramm) SDG Sustainable Development Goal SEWOH Sonderinitiative „EineWelt ohne Hunger“ SLE Seminar für Ländliche Entwicklung SUN Scaling-Up Nutrition UPOV International Union for the Protection of New Varieties of Plants UNICEF United Nations International Children's Emergency Fund USD US-Dollar VGGT Voluntary Guidelines on the Responsible Governance of Tenure of Land, Fisheries and Forests in the Context of National Food Security VN Vereinte Nationen WASH Water, Sanitation and Hygiene WFP World Food Programme of the United Nations WHO World Health Organization WSK Wertschöpfungsketten 6 WWF ZBNF World Wide Fund for Nature Zero Budget Natural Farming
Ernährungssicherung: Eine entwicklungspolitische Bewertung Zusammenfassung Da noch immer mindestens 815 Millionen (Mio.) Menschen weltweit von Unterernährung be- troffen sind, fordert das zweite Ziel der Agenda 2030 (Nachhaltige Entwicklungsziele –Sus- tainable Development Goals, SDG) die vollständige Überwindung von Hunger, Nahrungsun- sicherheit, eine verbesserte Ernährung sowie die Förderung einer nachhaltigen Landwirt- schaft. Die vorliegende Studie nähert sich der Frage, welchen Beitrag die Entwicklungszu- sammenarbeit (EZ) zur Ernährungssicherung leisten kann, da die überwiegende Mehrheit der Betroffenen in Entwicklungsländern (EL) lebt. Bis zur letzten Ernährungskrise 2007/08 wurde dem Thema nur unzureichend Aufmerk- samkeit geschenkt. Alarmiert durch die steigenden Hungerzahlen auf zwischenzeitlich über eine Milliarde (Mrd.) betroffener Menschen, wurde das EZ-Engagement zur Verbesserung der Ernährungssituation in vielen EL ausgebaut. Hinzu kam ein neuer Fokus, der auf die Bekäm- pfung vor allem von Mangelernährung abzielte. Handlungsdruck bestand besonders vor dem Hintergrund, dass Hunger das größte Gesundheitsrisiko überhaupt und damit ein bedeuten- des Hemmnis auch für alle anderen Entwicklungsbereiche darstellt. Das in der Millenniumserklärung vom September 2000 proklamierte Ziel der Halbierung der Anzahl von unterernährten Menschen bis 2015 gilt als beinahe erreicht. Mitverantwortlich hierfür ist u.a. auch die veränderte Methodik zur Berechnung der Betroffenenzahlen durch die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO). Maßgeb- lich jedoch ist dieser Erfolg dem Wirtschaftswachstum in asiatischen Ländern, insbesondere China, zu verdanken. Die größte Herausforderung besteht weiterhin für viele Länder südlich der Sahara, wo der prozentuale Anteil der Hungernden sich weiterhin durchschnittlich auf 20% beläuft. Schwie- rigkeiten bei der Hungerbekämpfung sind insbesondere anhaltendes Bevölkerungswachs- tum, gestiegene Preise für Nahrungsmittel und Energie, Naturkatastrophen sowie zunehmen- de Klimaveränderungen, welche durch interne Konflikte und politische Instabilität noch ver- schärft werden. Hinsichtlich der Zusammensetzung der Hungernden nach Bevölkerungs- gruppen wird deutlich, dass mit 80% die überragende Mehrheit im ländlichen Raum lebt. Die Hälfte allein sind Kleinbauern und -bäuerinnen. Darüber hinaus gelten als besonders vulnera- bel für Ernährungsunsicherheit u.a. auch sozio-kulturelle und ethnische Randgruppen in Vor- städten, Menschen mit Behinderung, MigrantInnen, Konfliktopfer sowie abhängige Familien- mitglieder in armen Haushalten, neben anderen sozialen Risikogruppen. Bei den Ursachen für chronische Ernährungsunsicherheit lassen sich eine Vielzahl an Fak- toren auf unterschiedlichen Ebenen ausmachen. Auf der Gesellschaftsebene gehören dazu bei- spielsweise soziale Diskriminierung, mangelnder Zugang zu Ressourcen für die landwirt- schaftliche Produktion und in einzelnen EL ein anhaltend starkes Bevölkerungswachstum. Auf der Haushaltsebene stellen der ungenügende Zugang zu Nahrung, aber auch unzurei- chende Fürsorge gegenüber Müttern und Kindern sowie die mangelhafte Bereitstellung von Trinkwasser-, Sanitär- und Gesundheitsversorgung tiefliegende Ursachen von Ernährungs- unsicherheit dar, die wiederum Krankheit und zu geringe Aufnahme von Nahrung als unmittelbare Ursachen von Unter- und Mangelernährung zur Folge haben. Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Ernährungsunsicherheit und Armut gibt es eine zirkuläre Be- ziehung: So ist Armut einerseits Ursache von Unterernährung, aber andererseits kann Unter- ernährung gleichfalls als Ursache sowie Folge von Armut betrachtet werden. 7
Anika Mahla, Karin Gaesing, Frank Bliss Seit Mitte der 1950er Jahre existieren eine Vielzahl von agrarentwicklungspolitischen Konzepten, die die Ausgestaltung von ernährungssichernden Maßnahmen in der EZ mitbe- stimmen. Zu den Agrar- und Entwicklungskonzepten gehören die Grüne Revolution, Inte- grierte Ländliche Entwicklung, Agrarökologie, Strukturanpassungs- sowie Sektorinvesti- tionsprogramme, Capacity Buildung und Institutionenentwicklung. Zu letzterer können auch Multi-Stakeholder-Initiativen zur Ernährungssicherung gerechnet werden. Der Schwerpunkt der vorliegenden Studie liegt auf denjenigen Maßnahmen, die auf das Oberziel der Ernährungssicherung (ES) hinarbeiten sollen. Modellhaft können dabei Hand- lungsoptionen für Zielgruppen im ländlichen Raum, basierend auf deren spezifischer Ressourcenausstattung, entwickelt werden. Beispielsweise können Haushalte mit einem größeren Produktionspotenzial durch technologische Maßnahmen zur Produktionsstei- gerung unterstützt werden. Subsistenzbauern- und -bäuerinnen hingegen können von Fort- bildungsmaßnahmen zur nachhaltigen Landwirtschaft und einer Agrarreform (z.B. Zuteilung sozialer Landnutzungstitel) profitieren. Aus der Vielzahl an ernährungssichernden Interventionen können sechs Handlungsfelder als besonders wichtig hervorgehoben werden. Bei dreien davon handelt es sich um konsen- suelle Ansätze. Dazu gehören i) die Förderung von Geschlechtergerechtigkeit sowie verbes- serte Ernährung von Mutter und Kind, ii) der Zugang zu Land und anderen natürlichen Res- sourcen und iii) Soziale Sicherung. Kontroverser hingegen wird iv) die Förderung der Land- wirtschaft diskutiert sowie die damit verbundene Frage, ob das Primat auf einer klein- bäuerlichen oder eher industrialisierten Form liegen soll, um Ernährung langfristig zu sichern. Damit in Zusammenhang stehen teilweise auch die Kontroversen um v) den Wertschöpfungs- ketten-Ansatz und vi) die Fortifizierung von Nahrungsmitteln. Frauen und Mädchen sind überproportional von Hunger und Mangelernährung betroffen, daher gilt die Stärkung ihrer Rechte als besonders wirksam für die ES. Um Gender-basierte Ungleichheiten in der Nahrungsmittelproduktion abzubauen ist es besonders wichtig, dass der Zugang zu Land, zu anderen produktiven Ressourcen (z.B. Saatgut, Wasser etc.), zu Krediten sowie die landwirtschaftliche Beratung für Frauen massiv verbessert und in der Fläche ausgebaut werden. Insbesondere bei der Bekämpfung von Mangelernährung spielen die Ernährungsberatung sowie die Sensibilisierung für die Bedeutung der ersten 1.000 Tage bei der frühkindlichen Ernährung eine große Rolle. Das Thema Landverfügbarkeit ist oftmals für die ländliche Bevölkerung existenziell und bei der Landthematik in der EZ – wie z.B. hinsichtlich des Zugangs zu Land und Rechts- sicherheit bei der Landnutzung – sollte die Priorität auf der Unterstützung von marginali- sierten und vulnerablen Bevölkerungsgruppen und hierbei insbesondere von Frauen liegen. Neben Ansätzen der Ersteintragung von Landtiteln im Rahmen der Transformation traditio- neller in moderne Rechtsansprüche können auch umverteilende Landreformen ein geeignetes Mittel sein, um einen Beitrag zu einer erhöhten ES zu leisten. Nur langfristig rechtlich ge- sicherte Landnutzung kann die ansässige Bevölkerung wirksam gegen Land Grabbing schützen und bietet die nötige Sicherheit, um diese zu Investitionen in ihre landwirtschaft- lichen Flächen zu motivieren. Ein nicht nachhaltiger Umgang mit natürlichen Ressourcen gilt als eine Ursache von Ernährungsunsicherheit und führt langfristig zur Zerstörung der Produktionsgrundlagen, was wiederum eine Erweiterung der Nutzflächen auf Kosten des Waldes bzw. der Savanne mit sich bringen kann. Zusätzlich besteht eine wachsende Konkurrenz um Flächen durch den Anbau von Agrotreibstoffen und Futtermitteln, welche den Anteil für die Nahrungsmittel- 8 erzeugung reduzieren. Dies führt international zu erhöhten Nahrungsmittelpreisen und lokal
Ernährungssicherung: Eine entwicklungspolitische Bewertung zu mangelnder Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln auf dem Markt. Um der Übernutzung von Agrar- und Forstflächen entgegenzuwirken, besteht ein wirkungsvoller Ansatz im Auf- bau von gemeindebasierten und nachhaltigen Ressourcenmanagementsystemen. Je stärker die eigenen Ressourcen durch die ansässige Bevölkerung selbst kontrolliert werden können, desto wahrscheinlicher ist auch ihre schonende Nutzung. Für die Ernährungssicherheit der Weltbevölkerung stellt die ressourcenschonende und klimaverträgliche Ausgestaltung der Landwirtschaft in jedem Fall die wichtigste Zukunftsaufgabe dar. Auch die Förderung von Sozialen Sicherungssystemen kann auf vielfältige Weise wert- volle Beiträge sowohl zur Nahrungs- als auch Ernährungssicherheit leisten. Gerade in Notsi- tuationen können hierdurch Krisen wirkungsvoll abgepuffert und die Resilienz ernährungs- unsicherer Haushalte gestärkt werden. Ferner können verschiedene Instrumente wie bei- spielsweise Sach- und Bargeldtransfers die Gewährleistung eines gesicherten Zugangs zu Nahrung und Einkommen bewirken sowie die landwirtschaftliche Produktion ankurbeln. Nicht vergessen werden dürfen dabei allerdings die Menschen bzw. Haushalte, die über keinerlei Arbeitskraft verfügen. Auch und gerade in Anbetracht sich selbst auf dem Land auflösender traditioneller sozialer Absicherung kann diesen ein menschenwürdiges Leben im Sinne der Agenda 2030 wohl nur durch Sozialtransfers garantiert werden. Da die Hälfte der von Unterernährung betroffenen Menschen Kleinbauern und –bäuer- innen (KB) sind, stellt der Agrarsektor einen wichtigen, wenn auch nicht den einzigen Schlüs- sel zur langfristigen Bekämpfung von Armut und Hunger dar. Hierbei kann einerseits bei Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung bzw. zumindest zum Erhalt des bestehenden Pro- duktionsniveaus angesetzt werden. Andererseits darf dies nicht der alleinige Fokus sein, und es sollten auch Vorhaben unterstützt werden, die über technische Ansätze hinausgehen und partizipativ kulturtechnische Praktiken vermitteln, etwa im Kontext einer ökologischen Landwirtschaft. Interessante Ansatzpunkte sind in diesem Kontext beispielsweise der Aufbau von Saatgutbanken und eine sozio-kulturell angemessene Verbreitung angepassten Saatguts. Zudem sind, neben einem diversifizierten Anbau, insbesondere multisektorale Ansätze im Kampf gegen Mangelernährung vielversprechend. Im Mittelpunkt einer ernährungssichern- den EZ sollten stets die Interessen der KB stehen statt einer einseitigen Förderung der Agrarindustrie. Insbesondere bei den Kontroversen um angereicherte Nahrungsmittel sowie der Integration von KB in globale Wertschöpfungsketten müsste dies unbedingt beachtet werden. Insgesamt sollte bei Projekten zur Ernährungssicherung nicht nur auf die Steigerung der reinen Produktion abgezielt werden, sondern es müssten vorrangig Fragen der Verteilung sowie des Zugangs zu Nahrungsmitteln in den Blick genommen werden. 9
Anika Mahla, Karin Gaesing, Frank Bliss Executive Summary Since 815 million people worldwide still suffer from hunger, the second Sustainable Development Goal (SDG) calls for the eradication of undernutrition, food insecurity, and malnutrition and the promotion of sustainable agriculture. The study is based on the question how development cooperation can contribute to the second SDG regarding food and nutrition security. Until the last food crisis in 2007/08 the topic lacked proper attention. The rising numbers of undernourished – at the time more than one billion people were affected – led to an increased commitment in developing countries. Furthermore, efforts were strengthened to combat the burden of malnutrition. Sustained population growth, spiking food and energy prices, natural disasters and intensified climate change effects, which will exacerbate internal conflicts and political instability, are identified as key challenges for fighting food insecurity. With regard to the composition of the hungry, it is clear that 80% of the affected population live in rural areas. Half of them are smallholders. The causes of chronic food insecurity can be attributed to a variety of factors at different levels. On the societal level, sociocultural, economic and political context factors are responsible. These include, for example, social discrimination and lack of access to resources for agricultural production. At the household level, insufficient access to food but also inadequate care for mothers and children as well as the lack of provision of water, sanitation and health care are the underlying causes of malnutrition. However, insufficient dietary intake and disease are the immediate causes. There is a double-sided relationship concerning the link between food insecurity and poverty. On the one hand, poverty can be the cause of malnutrition; on the other hand, malnutrition and poverty also have a circular relation, malnutrition being both the cause and the consequence of poverty. Since the mid-1950s there have been multitudes of agricultural and development policy concepts which contribute to the practice of food and nutrition security on the ground. These concepts include the Green Revolution, Integrated Rural Development, Agroecology, Structural Adjustment Programs as well as Sector Investment Programs, Capacity Building and an Institution-based approach. Furthermore, Multi-Stakeholder Initiatives in the realm of food security, nutrition and agriculture are a recent trend. From the large number of interventions for food security, six important fields of action are analysed in more detail. There are three widely consensual approaches. These include (1) the promotion of gender equality and improved mother and child nutrition, (2) access to land and other natural resources, and (3) social protection measures. Controversies, on the other hand, are discussed for (4) the promotion of agriculture, focused on either small holders or the agro- industry. This also relates to the debates about (5) the value chain approach and (6) food fortification. In conclusion, the empowerment of women and girls is particularly key for eradicating food insecurity. This should include improving their access to land and productive resources, loans and extension. For the reduction of malnutrition, the first 1,000 days of an infant play a major role and should be accompanied by nutrition counselling of the mother. Land is the most important asset for poor rural people. Hence, there should be a focus on marginalised and vulnerable population groups in development projects in order to strengthen their tenure security and protect them against land grabbing. 10 To secure stable long-term production of food a more sustainable use of natural resources is strongly recommended to counteract the current overuse of agricultural and forest land,
Ernährungssicherung: Eine entwicklungspolitische Bewertung inter alia by the introduction of effective and sustainable resource management systems. Therefore agroecology is highly worthy of support because it can also contribute to less harmful carbon dioxide emission. The promotion of social security can serve as a buffer, e.g. in times of drought, and helps to enhance the resilience of food-insecure households. Cash transfers can secure a stable access to food and income. Hence, this has also positive effects in terms of boosting agricultural production. Since smallholders are particularly affected by undernutrition, agriculture is the most important sector in the fight against poverty and hunger. Here it is of key importance not only to adopt technical approaches which tend to discriminate against female farmers. Instead participatory practices, diversified crop farming and the establishment of public seed banks should be supported. Overall, it should be kept in mind that it is short-sighted to focus exclusively on increasing food production, because issues of distribution and access to food are clearly more significant for food security. 11
Anika Mahla, Karin Gaesing, Frank Bliss 1. Einleitung Obwohl Landwirtschaft und die Lebensmittelindustrie die größten Wirtschaftszweige der Welt darstellen und Nahrung – zumindest global – im Überfluss produziert wird, leiden noch immer mindestens 815 Millionen Menschen an Unterernährung (FAO et al. 2017: 2). Nachdem in den letzten Dekaden zwar erhebliche Fortschritte bei der Reduzierung von Ernährungs- unsicherheit erreicht wurden, wenn auch je nach Region in unterschiedlichen Ausmaß, so scheint sich nach diesem Trend derzeit eher eine Stabilisierung der Problematik bzw. Stag- nation bei den Fortschritten abzuzeichnen. Zum ersten Mal nach 10 Jahren ist 2016 ein leichter Zuwachs der Zahl der Hungernden zu beobachten. Im Vergleich zu den Zahlen für 2014 bis 2016 beläuft sich dieser Zuwachs auf 0,4% und damit auf nunmehr 11% aller Menschen, die weltweit von Unterernährung betroffen sind (vgl. ebd.: 6).1 Als Gründe für diese zunehmende Ernährungsunsicherheit werden insbesondere die Folgen des Klimawandels und anhaltende Konflikte angeführt. Diese Entwicklung stellt eine Gefahr für die Erreichung des zweiten Nachhaltigkeitsziels (SDG) dar, das eine vollständige Beendigung des Hungers, bessere Er- nährung sowie eine nachhaltige Landwirtschaft benennt. Aus historischer Perspektive wurde spätestens mit den Welternährungskrisen von 1972 bis 1974 die Bedeutung von Ernährungssicherungspolitik im Rahmen der EZ sichtbar. Das in den darauffolgenden Jahren entwickelte Konzept basiert auf dem Recht auf Nahrung, welches mit Artikel 25 bereits in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (VN) verankert ist und 1966 auch mit Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (VN-Sozialpakt) festgeschrieben wurde. Auf dem Welternäh- rungsgipfel 1996 wurde durch die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Ver- einten Nationen (FAO) festgelegt, dass Nahrungssicherheit (Food Security) besteht, „wenn alle Menschen jederzeit physischen und ökonomischen Zugang zu sicherer und nahrhafter Nahrung haben, die ihre Ernährungserfordernisse und -präferenzen für ein aktives und gesundes Leben erfüllt” (übersetzt durch Paasch 2009: 5). Eine allgemeingültige Definition von Nahrungssicherheit existiert aufgrund von kulturellen, geographischen und demo- graphischen Besonderheiten nicht, da Essgewohnheiten, Gesundheitsverfassung, verfügbares Nahrungsmittelangebot sowie Alter der Individuen eine Rolle spielen können (vgl. Günther 2012). Konzeptionell wird Nahrungssicherheit durch die folgenden vier Dimensionen definiert, welche stark miteinander verknüpft sind: 1 Hinsichtlich der Trendentwicklung existieren langfristig aber teilweise auch optimistische Einschätzungen. Beispielsweise nimmt der Global Food Policy Report an: „The share of population at 12 risk of hunger is projected to decline from 12 to 5 percent globally by 2050 and from 14 to 6 percent in developing countries“ (IFPRI 2017: 118).
Ernährungssicherung: Eine entwicklungspolitische Bewertung Tabelle 1: Dimensionen der Nahrungssicherheit Dimension Beschreibung 1) Verfügbarkeit von Ausreichende Menge von Nahrung über einen längeren Zeitraum, Nahrung welche von angemessener Qualität ist; Quellen können inländische Produktion oder globaler Handel sein 2) Zugang zu Nahrung Zugang zu Ressourcen für Individuen sowie Haushalte, um entweder angemessen Nahrung produzieren oder erwerben zu können; dabei spielt Kaufkraft eine wichtige Rolle 3) Nutzbarkeit der Deckung der physiologischen Bedürfnisse des Individuums durch Nahrung angemessene Ernährung, sauberes Wasser, hygienische Speisezubereitung sowie Sanitäreinrichtungen und adäquate Gesundheitsversorgung 4) Stabilität des Ständige Verfügbarkeit im Sinne zeitlicher Beständigkeit und Nahrungssystems permanenter Zugang zu angemessener Nahrung, stabile Preise Quelle: Eigene Darstellung nach Weingärtner / Trentmann 2011, von Braun 2015, FAO 2008 Der Begriff der Ernährungssicherheit2 (Nutrition Security) bezieht sich auf ein breiteres Verständnis, das über eine ausreichende Menge und Qualität von Nahrung hinausgeht (=Nahrungssicherheit): „Neben dem Zugang zu quantitativ und qualitativ angemessener Nahrung umfasst der Begriff auch den Zugang zu ausreichender Gesundheitsversorgung und sozialer Fürsorge einschließlich einer gesunden Umwelt, sauberem Trinkwasser und sani- tären Einrichtungen“ (Weingärtner / Trentmann 2011: 35). Mit dem Terminus Ernährungs- sicherung (ES) sind sowohl Ernährungs- als auch Nahrungssicherheit gemeint. Unterernährung stellt eine vorwiegend quantitative Beschreibung dar, wohingegen Mangelernährung (Malnutrition) qualitativ erfasst, dass ein Mangel bei mindestens einer Komponente der Ernährung vorliegt. Mangelernährung kann also eine direkte Konsequenz von Ernährungsunsicherheit sein. Synonyme Begriffe dafür sind „versteckter“ oder „ver- borgener Hunger“. Die Ursachen für diese Form des Hungers liegen in einer unausgewo- genen, übermäßigen oder unzureichenden Aufnahme von Makro- und/oder Mikronähr- stoffen begründet, wozu Vitamine, Mineralstoffe, essenzielle Fettsäuren, Eiweiße und Spuren- elemente zählen (vgl. FAO et al. 2015a). Weltweit sind laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) von Mangelernährung etwa zwei Milliarden Menschen betroffen, die vorwiegend in Entwicklungsländern leben und sowohl in ihrer Gesundheit als auch hinsichtlich der Lebenserwartung eingeschränkt sind (Von Greb- mer et al. 2015: 5). Die Erscheinungsformen von Mangelernährung sind vielfältig: Kinder leiden insbesondere unter verringertem Körperwachstum (Stunting) und -gewicht (Wasting).3 Trotz erheblicher Fortschritte ist noch immer weltweit jedes vierte Kind (155 Mio.) unter fünf Jahren von Stunting betroffen (FAO et al. 2017: 2). Außerdem zählen auch Übergewicht, 2Im öffentlichen Diskurs findet zumeist keine Differenzierung der beiden Begriffe statt und oftmals wird Ernährungssicherheit verwendet, wo aber eigentlich infolge eines Übersetzungsfehlers definitorisch Nahrungssicherheit stehen müsste (vgl. Brüntrup 2015). 3Zur Unterscheidung zwischen akuten (Wasting) und chronischen (Stunting) Hunger werden Körper- messungen (=Anthropometrie) als Grundlage verwendet. Der Zustand von Neugeborenen und Klein- kindern (bis fünf Jahre) wird als Indikator genutzt, um Aussagen über den Ernährungsstatus der Ge- samtbevölkerung zu treffen (vgl. Weingärtner / Trentmann 2011). 13
Anika Mahla, Karin Gaesing, Frank Bliss Adipositas, Mikronährstoffmangel und nicht übertragbare Krankheiten wie z.B. Diabetes zu den Erscheinungsformen von Fehlernährung (vgl. IFPRI 2016). Insbesondere Entwicklungsländer werden mit einer dreifachen Fehlernährung konfrontiert, da Unterernährung, Mikronährstoffmangel und Überernährung 4 hier oft gleich- zeitig präsent sind. Als Folge von Mangelernährung steigt das Risiko für chronische und in- fektiöse Krankheiten, was irreversibel zum Verlust von kognitiven und physischen Funk- tionen führen kann, insbesondere bei Kleinkindern („erstes 1.000-Tage Zeitfenster“). In der Entwicklungspolitik wurde das Thema der Mangelernährung lange vernachlässigt, gewinnt aber zunehmend an Bedeutung, was auch daran deutlich wird, dass die VN die „Dekade für Ernährung“ (2016-25) ausgerufen haben (vgl. Schneider 2015, Barrett 2010). Im Diskurs wird oftmals als Lösungsansatz zur ES auf die Notwendigkeit einer steigenden Nahrungsmittelproduktion verwiesen. Dies greift jedoch zu kurz, da die Ursachen des Hungers vor allem struktureller Natur sind und Probleme der Mangelernährung bei einem Fokus allein auf Quantität unberücksichtigt bleiben. So können sich Arme auch bei über- quellenden Märkten oftmals keine (gute) Nahrung leisten. Die vereinfachte Annahme, dass es sich um eine Versorgungskrise handelt, verstellt daher den Blick auf Ansätze, die über technische Lösungen hinausgehen. Denn auch Fragen der Governance in der Landwirtschaft, der Umweltverträglichkeit und vor allem der Verteilungsgerechtigkeit spielen eine wichtige Rolle. Zudem ist oftmals, wie beispielsweise vielerorts in Südostasien, nicht der Mangel an Nahrung das Hauptproblem, selbst nicht bei vielen armen Bevölkerungsgruppen, sondern vielmehr der unzureichende Zugang zu einer ausgewogenen Ernährung, was dann allerdings oft auf die Armut der Betroffenen zurückgeführt werden kann. 14 4Weingärtner und Trentmann (2011: 20) verstehen darunter „die Aufnahme von Nahrungsenergie [, die] kontinuierlich den Bedarf überschreitet.“
Ernährungssicherung: Eine entwicklungspolitische Bewertung 2. Wer sind die Hungernden? Die überwiegende Anzahl der unternährten Menschen lebt in Entwicklungsländern. Im Vergleich zu Anfang der 1990er Jahre, wo die globale Gesamtanzahl der Hungernden über eine Milliarde (18,6%) betrug, sind es – trotz wachsender Weltbevölkerung – für 2016 immer- hin fast 200 Mio. Menschen weniger („nur“ noch 815 Mio.), was einem prozentualen Anteil weltweit von 11% entspricht (FAO 2017a: 2). Quantitativ ist somit erstmalig seit langer Zeit ein Anstieg zu verzeichnen, da die vorherige Schätzung noch bei 795 Mio. unterernährten Menschen lag (FAO 2015a: 8). Mit Ausnahme des afrikanischen Kontinents sind in fast allen Regionen die Zahlen für Unterernährung rückläufig. Die größten Erfolge bei der Bekämpfung von Hunger erzielte Asien, wo sich die geschätzte Zahl zwischen 2014 und 2016 auf insgesamt 511,7 Mio. Menschen beläuft. Anfang der 1990er Jahre lebten dort noch 742 Mio. Hungernde. Alleine in Indien sind mehr als 200 Mio. Menschen von Hunger betroffen. Obwohl in Afrika hingegen nur 232,5 Mio. Menschen betroffen sind, ist dort mit 20% prozentual der Anteil der Hungernden fast doppelt so groß wie in Asien (12,1%) (siehe Abbildung 1)5 (ebd.: 8). Abbildung 1: Entwicklung der Anzahl von Hungernden in den Weltregionen von 1990-92 bis 2014-16 800 742 700 666 637 600 512 500 MILLIONEN 400 300 232 210 213 182 200 100 66 60 47 34 20 21 15 15 0 Industrieländer Afrika Asien Lateinamerika und 1990-1992 2000-2002 2005-2007 2014-2016 Karibik Quelle: Eigene Darstellung nach FAO 2015a: 8 Je nachdem, welche Indikatoren betrachtet werden, ergibt sich ein unterschiedliches Bild. So sind in Südasien Kinder stärker von Unterernährung betroffen als in Subsahara-Afrika, wenn auch Auszehrung und Verzögerungen beim Wachstum beleuchtet werden. Wenn sich die Messungen dagegen auf das Kaloriendefizit der gesamten Bevölkerung sowie die Raten für 5In Abbildung 1 wird nicht die Entwicklung in Ozeanien abgebildet, wo 1990 bis 1992 noch eine Mio. Menschen hungerten und es für den letzten Schätzungszeitraum (2014-2016) 1,4 Mio. sind (FAO et al. 2015a: 8). Ferner gilt zu beachten, dass 2012 die Methodik zur Berechnung der Zahlen geändert wurde. Zum Beispiel wird die Preisentwicklung von Grundnahrungsmitteln weniger gewichtet. Dadurch konnten größere Fortschritte bei der Hungerbekämpfung errechnet, aber eben nicht real erzielt werden. Siehe dazu FIAN 2013, Lappé et al. 2013. 15
Anika Mahla, Karin Gaesing, Frank Bliss Kindersterblichkeit beziehen, dann ist Subsahara-Afrika stärker als Südasien betroffen ist (vgl. Von Grebmer et al. 2017). Daraus folgt, dass je nach Land bzw. Kontinent unterschiedliche Prioritäten bei der Bekämpfung von Mangelernährung bzw. für eine gesteigerte Ernährungs- sicherung gelegt werden wüssen. Datengrundlage für die Berechnung der Zahlen zur Unterernährung sind die potenzielle Kalorienzufuhr aus Nahrungsmitteln (Netto-Verfügbarkeit von Energie), die Einkommens- verteilung sowie die Bevölkerungszahl der Länder (vgl. Schneider 2014). Generell existiert jedoch für den Ernährungsstatus eines Menschen international keine einheitliche Definition. Für die FAO-Berechnungen wird länderspezifisch ein bewegungsarmer Lebensstil zugrunde gelegt, was einem Bedarf beispielsweise für Nicaragua von 1819 Kilokalorien (kcal) entspricht (FAO et al. 2013: 27). Somit blenden die ohnehin eher konservativen Schätzungen zu den Hungerzahlen auch Mangelernährung aus. Würde hingegen ein moderat aktiver Lebensstil, der insbesondere LandarbeiterInnen, die auf lange Fußwege angewiesen sind, weitaus eher entspricht, als Berechnungsgrundlage dienen, dann würden die Zahlen der Hungernden etwa doppelt so hoch sein. Zudem kann kritisch angemerkt werden, dass die Statistiken auch nur jene Menschen abbilden, die mindestens ein Jahr lang am Stück hungern (vgl. FIAN 2013). Dem Welthunger-Index 2017 folgend ist die Hungersituation in den sieben Ländern Zentralafrikanische Republik, Liberia, Madagaskar, Sierra Leone, Südsudan, Sambia und Jemen sehr ernst.6 Als „gravierend“ infolge von vorangegangenen Bürgerkriegen und Extrem- wetterereignissen wird die Lage in Teilen des Tschad eingeschätzt (vgl. von Grebmer et al. 2016). Daraus lässt sich eine besondere Betroffenheit von Ländern ableiten, die sich in sogenannten verlängerten Krisen (Protracted Crisis) befinden. Hierbei treten Naturkatas- trophen, Konflikte und dementsprechend Nahrungskrisen immer wieder auf (vgl. Wein- gärtner / Trentmann 2011). Abbildung 2 zeigt die Zusammensetzung der hungernden Menschen nach Bevölkerungs- gruppen. Dabei sind die Hälfte der aufgelisteten Personen Kleinbauern und -bäuerinnen (KB), die von der Landwirtschaft leben, aber keinen ausreichenden Zugang zu Ressourcen wie Wasser, Land und/oder Saatgut besitzen. 20% sind Landlose, die entweder Land pachten oder als ArbeitsmigrantInnen zu schlecht bezahlten Löhnen arbeiten müssen (vorrangig in Asien). 10% der Hungernden leben primär vom Fischen, Jagen oder von der Viehhaltung. Somit wird deutlich, dass es sich bei Unterernährung vorrangig um ein ländliches Problem handelt, da insgesamt 80% der Betroffenen auf dem Land leben. Die verbleibenden 20% stellen städtische Arme dar, denen oftmals die Kaufkraft fehlt, um ausreichend Nahrung zu erwerben (UNHRC 2011: 8). Die Tendenz für die letzte Gruppe dürfte allerdings aufgrund der zunehmenden Urbanisierung in vielen EL steigend sein, zudem werden zahlreiche extrem Arme in den Städten überhaupt nicht erfasst, da zumeist nur auf Einkommen7 basierende Zahlen vor- handen sind. 6Zu Beginn des Jahres 2017 drohte den VN zufolge über 20 Mio. Menschen in Nigeria, Somalia, Süd- sudan und Jemen eine Hungerkatastrophe (vgl. von Grebmer et al. 2017). 16 7 Oftmals sind die einkommensabhängigen Armutsgrenzen jedoch zu niedrig angesetzt im Verhältnis zu den Lebenshaltungskosten (u.a. für Nahrung, Wasser, Miete und Transport) der Stadtbevölkerung.
Ernährungssicherung: Eine entwicklungspolitische Bewertung Abbildung 2: Anteil der Hungernden Quelle: UNHRC 2011 Auch die FAO (1999) hat eine Vielzahl an Gruppen identifiziert, die als vulnerabel für Nahrungs- und Ernährungsunsicherheit gelten (siehe Tabelle 2). Als Obergruppen wurden diskriminierte Haushalte in Vorstädten, arme Haushalte in ungünstigen Lebenslagen oder mit abhängigen Familienmitgliedern, soziale Risikogruppen, MigrantInnen und ihre Familien sowie Konfliktopfer identifiziert. Außerdem sind mit 70% aller Hungernden Frauen und Mädchen besonders stark betroffen (UNHCR 2011: 10). Tabelle 2: Vulnerable Gruppen für Nahrungs- und Ernährungsunsicherheit Randgruppen in Vorstädten Arme Haushalte (hh) in ungünstigen - Arbeitslose und informell Beschäftigte Lebenslagen - Neu zugezogene Familien - KB und Subsistenzbauern/ -bäuerinnen - SlumbewohnerInnen - Von Frauen geführte bäuerliche hh/ - Obdachlose und BettlerInnen Alleinerziehende - Waisen und Straßenkinder - Landlose - SchulabbrecherInnen - FischerInnen - WaldbewohnerInnen - NomadInnen und HirtInnen - TagelöhnerInnen MigrantInnen und ihre Familien Abhängige Familienmitglieder in armen hh - SaisonarbeiterInnen mit großen Familien - Ältere Menschen - Bei Migration zurückgelassene - Kranke und Menschen mit Behinderung Familienmitglieder (zumeist Frauen) - Schwangere und Stillende - Kinder unter 5 Jahren - Alleinstehende Konfliktopfer Soziale Risikogruppen - Geflüchtete - Indigene Völker - Vertriebene im eigenen Land, insbesondere - Ethnische Minderheiten jene ohne Landbesitz - AnalphabetInnen - Rückkehrende Geflüchtete - KriegsinvalidInnen - Kriegswitwen und -waisen Quelle: Darstellung nach Weingärtner / Trentmann 2011: 21, basierend auf FAO 1999: 15 17
Anika Mahla, Karin Gaesing, Frank Bliss Als Hauptgründe für die Vulnerabilität und Diskriminierung insbesondere der ländlichen Bevölkerung führt der Menschenrechtsrat der VN (OHCHR 2012) an: 1) Landenteignungen und -vertreibungen, 2) Gender-spezifische Diskriminierung von Frauen, 3) unzureichende politische Maßnahmen zugunsten von Agrarreformen und ländlicher Entwicklung (inkl. Bewässerung und Saatgut), 4) fehlende Mindestlöhne und Soziale Sicherungssysteme, 5) Unterdrückung und Kriminalisierung von kleinbäuerlichen Bewegungen, die sich für ihre Rechte einsetzen. Zu ergänzen wäre sicher die Benachteiligung ganzer Regionen eines Landes durch die politische Elite, was nicht nur im Falle Malis zu den bekannten militanten Konflikten geführt und die Lage gerade in den abgehängten Gebieten zusätzlich verschärft hat. Fast durchgängig werden auch Zonen, die von ethnischen Minderheiten bewohnt werden, benachteiligt (z.B. Indiens „Adivasi Belt“, Minderheitengebiete Zentralvietnams, Kambodschas oder in Laos). Besondere Diskriminierung erfahren häufig Kinder, denn fast ein Viertel aller Kinder unter fünf Jahren weltweit ist zu klein für ihr Alter, was mit einem verminderten physischen und psychischen Potenzial einhergeht (vgl. GLOPAN 2016). Besonders frappierend ist, dass Kinder infolge von Krankheiten sterben müssen,8 was mit angemessener Gesundheitsver- sorgung und Ernährung problemlos hätte verhindert werden können (vgl. UNHCR 2011). Ein Beispiel dafür ist die bakterielle Erkrankung Noma, die bei unterernährten Kindern zur Entstehung von Geschwüren in der Wangenschleimhaut führt und sich über das Gesicht ausbreitet, wobei das Gewebe zerstört wird. Neben unzureichender Nahrung ist mangelnde Hygiene verantwortlich für die Entstehung von Krankheiten (vgl. Ziegler 2011). Neben Kindern sind auch Schwangere und stillende Frauen besonders vom versteckten Hunger betroffen, da sie einen erhöhten Bedarf an Vitaminen und Mineralstoffen haben (vgl. Hodge 2014). Schätzungen gehen davon aus, dass der Produktivitätsverlust infolge von Mangel- ernährung die Entwicklungsländer Afrikas und Asiens etwa 11 Prozent ihres jährlichen Bruttosozialprodukts (BSP) kostet (vgl. IFPRI 2016). 18 8Schätzungen zufolge steht fast die Hälfte (45%) aller Todesfälle von Kindern unter fünf Jahren in Verbindung mit Unterernährung (vgl. GLOPAN 2016: 16).
Ernährungssicherung: Eine entwicklungspolitische Bewertung 3. Ursachen der Ernährungsunsicherheit Die Ursachen von Unter- und Mangelernährung sind vielseitig, unterscheiden sich auf verschiedenen Ebenen und bedingen sich oft gegenseitig. Es gibt keine Hauptursache, die zu bekämpfen wäre, um das Problem einfach zu lösen. Stattdessen müssen für die unterschied- lichen Ursachen auch angepasste Lösungskonzepte entwickelt werden (vgl. Welthungerhilfe 2004). Vom Kinderhilfswerk der VN (UNICEF) wurde hierfür ein konzeptioneller Rahmen entwickelt (siehe Abbildung 3), der auch die Ursachen von Unterernährung von Kindern be- rücksichtigt. Dabei zeigte sich, dass das Konzept auch für die Erklärung verschiedener For- men von Unter- und Mangelernährung anwendbar ist (vgl. Ghattas 2014). Das seit Anfang der 1990er Jahre verwendete UNICEF-Modell dient weiterhin als Grund- lage für die Erstellung von Ernährungs- und Gesundheitsprogrammen in EL und bildet die Ursachen von Unter- und Mangelernährung auf drei Ebenen ab. Es gibt i) die strukturelle Ge- sellschaftsebene (Makroebene), der grundlegende Ursachen zuzuordnen sind. Auf dieser Ebene ist die Basis für Ernährungssicherheit angesiedelt, denn die sozialen, ökonomischen und poli- tischen Rahmenbedingungen beeinflussen das zur Verfügung stehende finanzielle, physische und soziale Kapital sowie das Humankapital und natürliche Ressourcen. Vor allem Kriege,9 Naturkatastrophen, die Auswirkungen des Klimawandels, Wirtschaftskrisen sowie hohe Agrarpreise beschränken die Verfügbarkeit bzw. den Zugang zu Nahrung. Eine Ursache kann auch die mangelnde Resilienz gegenüber Krisen und Katastrophen sein. Besondere Relevanz haben zudem Governance-Fragen sowie Sektorpolitiken zu Gesundheit, Sozialer Sicherung, Landwirtschaft und Gender. Beispielsweise können das Fehlen von hinreichender Beschäf- tigung außerhalb der Landwirtschaft oder zu niedrige und damit nicht existenzsichernde Löhne eine Ursache für mangelhafte Nahrungssicherheit sein. Dies hat Auswirkungen ii) auf den Ernährungszustand der Familien auf der Haushalts- und Gemeinschaftsebene (Mesoebene), die die sogenannten tiefliegenden Ursachen von Unterernäh- rung beschreibt. Eine zentrale Ursache hier ist die Einkommensarmut, die auf Arbeitslosig- keit, fehlenden Mitteln zur Selbstständigkeit, schlechten Unterkünften, geringem materiellen Besitz und wenigen finanziellen Mitteln beruht. Zusätzlich spielen auch der schlechte oder fehlende Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich, mangelnde Partizipationsmöglichkeiten und zunehmender Bevölkerungsdruck eine zentrale Rolle.10 Auf der Ebene des Haushalts ist (fehlende) Gleichberechtigung von Frauen 11 für die 9 Fast 75% aller Menschen, die an Hunger leiden, leben in einem Land, in dem kriegerische Konflikte gegenwärtig sind bzw. in einer Post-Konflikt Situation, wo akute Konflikte erst kürzlich beendet wurden (vgl. Collier 2008). So konstatiert der Global Report on Food Crisis, dass Hungerkrisen hauptsächlich bedingt werden durch gewaltsame Konflikte (vgl. FSIN 2017). Steigende Nahrungsmittelpreise können aber umgekehrt auch Konflikte entfachen, wie beispielsweise in zahlreichen Ländern während der letzten Ernährungskrise deutlich wurde. 10 Eine detaillierte Beschreibung der Ursachen sowie Faktoren für die Verstetigung von Armut findet sich bei Bliss et al. 2017. Diese überschneiden sich oftmals mit jenen für Ernährungsunsicherheit. Dazu zählen beispielsweise der mangelnde Zugang zu sozialen Dienstleistungen, fehlende Infrastruktur, schlechte Regierungsführung, gesellschaftliche Benachteiligung und schwache institutionelle Struk- turen. 11Hintergrund ist, dass in einigen Ländern (u.a. in Westafrika) diskriminierende Gender-Normen dazu führen, dass Frauen und Mädchen beispielsweise erst als Letzte essen und deshalb teilweise nur die Essensreste oder minderwertige Speisen erhalten. Dies kann auch auf Kranke oder Alte zutreffen. Weitere Benachteiligungen finden sich aber auch auf den anderen Ebenen wieder, z.B. beim fehlenden Zugang zu Ressourcen für Frauen (vgl. Spohr 2015). 19
Anika Mahla, Karin Gaesing, Frank Bliss ES relevant. Eine Ursache kann beispielsweise auch ein Missverhältnis von arbeitsfähigen und -unfähigen Haushaltmitgliedern, also eine zu hohe Abhängigkeitsrate (Dependency Ratio) sein. Generell wird zwischen akutem Hunger infolge von Naturkatastrophen und Konflikten und chronischer Unterernährung differenziert. Letzteres stellt ein strukturelles Problem dar, welches durch die Bedingungen auf der Meso- und Makroebene bestimmt wird. Aus der Armut heraus ergeben sich drei Faktoren die auf die iii) individuelle Ebene (Mikroebene) negativ einwirken: mangelnder Zugang zu Nahrungsmitteln, unzureichende Fürsorge für Mütter und Kinder, ein ungesundes Haushaltsumfeld (mangelnde Hygiene und Zugang zu hygienisch einwandfreiem Trinkwasser) sowie fehlende Gesundheitsversorgung, die dort, wo sie zumindest rudimentär existiert, oft mit hohen Kosten verbunden ist. Auf dieser Ebene sind demnach die unmittelbaren Ursachen für Unterernährung zu verorten, die direkten Einfluss auf den Ernährungsstatus einer Person haben und aus den beschriebenen tiefliegenden Ursachen der zweiten Ebene resultieren. Hierzu zählen die unzureichende Aufnahme von Nahrung (=Verwendung von Nahrung) und/oder schlechte Gesundheit (=Ver- wertung von Nahrung). Die genannten Faktoren bedingen sich gegenseitig: einerseits können Krankheiten mitverantwortlich für einen verschlechterten Ernährungsstatus sowie Ernäh- rungsunsicherheit sein, und andererseits kann unzureichende Ernährung auch zu Krank- heiten führen, was dann Unter- oder Mangelernährung zur Folge haben kann (vgl. Hausmann 2014, Welthungerhilfe 2004/2011, Ghattas 2014, Weingärtner / Trentmann 2011, Trentmann et al. 2015). Armut und Unterernährung sind miteinander durch eine wechselseitige Beziehung ver- bunden, denn einerseits ist Armut auch Ursache von Unterernährung, und andererseits ist diese zugleich Ursache und Folge von Armut. Ein besonders fataler Teufelskreis ergibt sich in diesem Zusammenhang daraus, dass unterernährte Mütter diese Form der Mangelernährung an ihre Kinder weitergeben, was eine Verstetigung von Ernährungsunsicherheit sowie Armut durch die intergenerationale Weitergabe zur Folge hat (vgl. Welthungerhilfe 2004) Besonders evident zeigt sich dies anhand der Länderbeispiele Kambodscha, Myanmar und ganz besonders Laos (vgl. Bouapao 2016, Lao PDR 2015, WFP / BMZ 2013). Arme Haushalte sind gegenüber Ernährungsunsicherheit nicht nur bedeutend vulnera- bler, sondern neigen auch zu einer qualitativ minderwertigeren Ernährung, der es z.B. an Mikronährstoffen wie Eisen, Zink oder Vitamin A mangelt. Eine wichtige Verbindung zwischen Armut, Mangel- und Unterernährung stellen insbesondere Nahrungsmittelpreise dar (vgl. Ahmed et al. 2007). Ausnahmen sind Länder wie beispielsweise Tadschikistan, Kambodscha oder Laos, wo neben dem Einkommen auch andere Faktoren wie die absolute Fokussierung auf ein einziges Grundnahrungsmittel (Weizen bzw. „sticky“ Reis) für „schlechte“ Ernährung eine Rolle spielen. Die tägliche Ernährung bedeutet indes für die meisten armen Menschen eine der größten Herausforderungen, da sie für diese mit anteilig 60 bis 80% den Großteil ihres ohnehin geringen Einkommens aufwenden müssen (vgl. WFP 2018). Es existieren verschiedene Sichtweisen zu der kausalen Beziehung zwischen Ernährungs- unsicherheit und Armut. Zumeist werden Unter- und Mangelernährung als Folge von Armut gesehen. Neuere Betrachtungen hingegen drehen den Zusammenhang um und konstatieren, dass Armut auch eine Konsequenz von Unter- und Mangelernährung sein kann. Darüber hinaus kann aus menschenrechtlicher Perspektive konstatiert werden, dass die mangelnde Durchsetzung des Menschenrechts auf Nahrung zu Fehlernährung führen und Unterer- nährung als Folge von Rechtlosigkeit (vgl. von Braun 2015) bzw. fahrlässige Mißachtung bis 20 sogar Verwehrung von Menschenrechten verstanden werden kann.
Ernährungssicherung: Eine entwicklungspolitische Bewertung Je nach Perspektive gehen damit unterschiedliche Lösungsstrategien einher. Aus der Sicht- weise, dass Armut primär Ernährungsunsicherheit bedingt, wird abgeleitet, dass Armutsbe- kämpfung an erster Stelle stehen sollte und mit Wirtschaftswachstum oder Sozialpolitik auch Hunger reduziert werden kann. Dies gilt vor allem mit Blick auf ultra-arme Menschen. Wenn jedoch eine verbesserte Ernährungssituation auch der Armutsreduzierung zuträglich ist, dann werden eher konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung von Mangel- und Fehlernährung präferiert. In der Praxis dürften beide Ansätze zumeist kombiniert werden müssen. Zur Durchsetzung des Menschenrechts auf Nahrung wird zudem die gezielte Anpassung des Rechtssystems und der Rechtspraxis in den Vordergrund der Bemühungen gestellt werden müssen (vgl. ebd.). Bereits der Diskurs zu den Strategiepapieren zur Armutsminderung (Poverty Reduction Strategy Papers, PRSP) der 2000er Jahre kann zumindest als impliziter Beitrag zur Durchsetzung von Menschenrechten für Arme gesehen werden. Ein weiterer Grund für Ernährungsunsicherheit, der beim Verhalten der Bauern und Bäuerinnen selbst zu suchen ist, ist der in jüngster Zeit immer wieder thematisierte Vor- und Nachernteverlust12 infolge von unzulänglichen Ernte- und Transportmöglichkeiten sowie unsachgemäßer Lagerung. Faktoren sind ferner das Preisdumping im Rahmen der Handels- und Agrarpolitik der Europäischen Union (EU), Preissteigerungen infolge von Spekulationen mit Grundnahrungsmitteln, Unwissenheit über gute Ernährung (vor allem auch in der prä- und postnatalen Phase) und Hygiene, sogar verheerende Nahrungstabus während der Schwangerschaft und in den Wochen nach der Entbindung (z.B. in Laos), zudem hohes Bevölkerungswachstum (besonders in von Ernährungsunsicherheit erheblich betroffenen Regionen), Landnahmen bzw. -enteignungen und die zunehmende Konkurrenz zwischen Nahrungsmitteln und Agrartreibstoffen um Anbauflächen (vgl. Weingärtner / Trentmann 2011). 12Die Verschwendung von Nahrungsmitteln entlang der Wertschöpfungskette sowie Ernteausfälle durch Pflanzenkrankheiten und andere Gefahren führen zu einem Verlust von fast der Hälfte aller für den menschlichen Verzehr produzierten Kalorien (UNEP 2011: 36). 21
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