Fahrplan für eine bessere Welt - Natürliche Ressourcen in der Schweiz - Warum die Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele unumgänglich ist - BAFU
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1 | 2020 Natürliche Ressourcen in der Schweiz Fahrplan für eine bessere Welt Warum die Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele unumgänglich ist
2 EDITORIAL Nachhaltigkeit ist ansteckend Es war der Höhepunkt jahrelanger Verhandlungen, welche die Schweiz massgeblich mitbeeinflusst hat: 2015 wurde am Gipfeltreffen der Vereinten Nationen in New York die Agenda 2030 mit ihren 17 globalen Nachhaltigkeitszielen – den sogenannten Sustainable Development Goals (SDGs) – und 169 Unterzielen von der anwesenden Staatengemein- schaft einstimmig angenommen. Den Zielen liegt die Erkenntnis zugrunde, dass ohne eine ambitionierte und ressourcenschonende Umweltpolitik, ohne den Schutz von Klima, Luft, Wasser, Boden und Biodiversität die Herausforderungen in den ökonomischen und sozialen Bereichen nicht gelöst werden können. Kurz: Ohne ökologische Sicherheit sind nicht nur der Wohlstand und der soziale Friede, sondern die Existenz überhaupt gefähr- det. Dementsprechend ist die Umweltdimension in jedem der Ziele verankert. Die SDGs sollen bis 2030 von allen UN-Mitgliedsländern erreicht werden. Sie bilden gegenwärtig den global geltenden Rahmen im Bereich der nachhaltigen Entwicklung. Bild: Janosch Hugi | BAFU Generell handelt es sich bei den SDGs um ein rechtlich unverbindliches, freiwilliges Instrument. Als Richtlinie hat es aber ein grosses Druck- und Wirkungspotenzial. In der Schweiz legte der Bundesrat seine politischen Absichten zur Umsetzung der nachhaltigen Entwicklung bereits 1997 in einer Strategie fest. Die Agenda 2030 gibt den Bemühungen nun aber neuen Schwung und bündelt die nationalen und internationalen Anstrengungen für gemeinsame Lösungen, etwa beim Ressourcenverbrauch oder beim Klimawandel. Um die Herausforderungen und Chancen wirkungsvoll anzugehen, hat der Bundesrat am 14. Dezember 2018 ein «Direktionskomitee Agenda 2030» eingesetzt. Anfang 2020 ist mit dem Start der neuen Legislatur die «Strategie Nachhaltige Entwick- lung» (SNE) in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Die Strategie, bei welcher das Bundesamt für Raumplanung (ARE) federführend ist, orientiert sich stark an der Agenda 2030. Das BAFU engagiert sich dafür, dass die SDGs konsequent umgesetzt werden. Insbesondere macht es sich dafür stark, dass stets auch die Umweltdimension mitberück- sichtigt und gestärkt wird. Doch es braucht mehr als Bund und Kantone, um die Ziele zu erreichen. Es braucht die ganze Gesellschaft: Gemeinden, Wirtschaft, Forschung, NGOs sowie jede und jeder Einzelne von uns sind aufgerufen, an einer nachhaltigen Entwicklung mitzuwirken. Gefordert werden mehr Taten und weniger Rhetorik. Vieles ist schon angestossen. Die zahlreichen innovativen Projekte auf sämtlichen Ebenen zeigen, dass eine Bewegung in Gang gekommen ist, die sich zum Glück nicht mehr stoppen lässt. Nachhaltigkeit wirkt gemeinschafts- und sinnstiftend, trägt zu mehr Lebensqualität bei – und steckt an. Aber klar ist auch: Die Weltgemeinschaft – wir alle! – dürfen nicht zögern. Es geht um nichts weniger, als um das Überleben auf unserem Planeten. Christine Hofmann | Stv. Direktorin BAFU die umwelt 1 | 20
INHALTSVERZEICHNIS 3 Dossier 360° NACHHALTIGE ENTWICKLUNG 9 Wie die Nachhaltigkeitsziele 44 Hochwasserschutz entstanden sind Wie an der Rhone die goldene Mitte gesucht wird 14 Warum Selbstkritik so wichtig ist 48 Umwelttechnologie 17 Wie ein Berner Professor die Wie Umwelt und Unternehmen Staatschefs berät gemeinsam gewinnen 22 Was ein «Stupser» mit nachhaltigem 52 Bodenschutz Leben zu tun hat Wie der Maisanbau bodenschonend wird 26 Wie Schüler Nachhaltigkeit lernen 56 Umwelt und Gesundheit Wie Umweltschutz uns gesund macht 29 Wer dafür sorgt, dass alle am gleichen Strick ziehen 59 Wildtiere Warum das neue Jagdgesetz ein 33 Wo der Bund anpackt guter Kompromiss ist RENDEZ-VOUS 4 Tipps 6 Bildung 7 Unterwegs 40 Vor Ort 42 International 43 Recht 62 Aus dem BAFU 62 Impressum 63 Meine Natur 64 Vorschau GRATISABOS UND FACEBOOK Collage: FRANZ&RENÉ ADRESSÄNDER UNGEN www.facebook.com/ www.bafu.admin.ch/ UmweltMag Alle Menschen auf dieser Welt sollen in den Genuss einer leserservice hochwertigen Ausbildung kommen: So verlangt es das vierte der TITELBILD UND 17 UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs). Das Titelbild dieser Ausgabe KONTAKT COLLAGEN nimmt dieses Thema auf. Verteilt über das Dossier finden sich magazin@bafu.admin.ch FRANZ&RENÉ weitere Illustrationen, die UN-Nachhaltigkeitsziele kunstvoll in Szene setzen (S. 8, 13, 16, 21, 25, 28, 32, 39). IM INTERNET www.bafu.admin.ch/ magazin die umwelt 1 | 20
4 360° RENDEZ-VOUS Tipps Ein Bus für Winterwandernde Ausgangsorte von Ski- und Schneeschuhtouren sind mit dem öffentlichen Verkehr oftmals nicht oder nur schwer erreichbar. Der «Schneetourenbus», ein neuartiges Verkehrsangebot, soll nun dafür sorgen, dass auch Winter-Tourengängerinnen und -gänger umweltfreundlich anreisen können. Und so läuft es ab: Auf der Internetseite «schneetourenbus.ch» sind alle bedienten Strecken inklusive der verfügbaren Fahrten einsehbar. Wichtig: Die Fahrten müssen reserviert werden. Die regionalen Betreiber entscheiden anhand der Reservationen bis spätestens am Vor- abend um 17 Uhr, ob gefahren wird. Je nach Strecke beträgt die Mindestanzahl an Fahrgästen zwei bis sechs Personen. schneetourenbus.ch Der Pilotbetrieb dauert noch bis zur Saison 2020/2021. Bild: zVg Pflanzen schützen Bäume in der Tasche Wandern für Kids Die «Invasiv»-App lädt Profis Der «Baumführer 2 PRO» ist ein Sandra Schaub-Turtschi, Mutter und Laien dazu ein, sich an praktisches Nachschlagewerk für von Zwillingen und Gründerin von der Bekämpfung von invasi- die Bestimmung der gängigsten kids-tour, hat ein spezielles Wan- ven, gebietsfremden Pflan- europäischen und nordamerikani- derbuch geschrieben: Es themati- zen (invasiven Neophyten) in der Schweiz schen Baumarten. Neben Fakten und Daten zu siert die 157 besten Erlebniswan- zu beteiligen. Mit der von Info Flora, dem den einzelnen Bäumen stellt die App auch In- derwege der Schweiz. Auf diesen nationalen Daten- und Informationszent- formationen und Bilder zu den Blättern, Blüten gibt es für Kinder immer etwas zu rum der Schweizer Flora, entwickelten und Früchten der Bäume zur Verfügung. Wer sehen oder einen Posten spielerisch App können Nutzende ihre Beobachtun- bei der Bestimmung immer noch unsicher ist, zu entdecken. Somit wird Wandern gen umgehend melden. So lassen sich kann sich über die in der App integrierte On- für die ganze Familie zu einem Fotos von verdächtigen Pflanzen hochla- line-Artenberatung mit anderen Nutzenden lustvollen Erlebnis. Auf der dazu- den, die Grösse ihrer Bestände angeben austauschen. Dort lassen sich auch Bilder und gehörigen Website gibt es Tipps sowie die Standorte beschreiben. Standorte einer besonderen Entdeckung teilen. und laufend neue Touren. Gratis | für Android und iPhone CHF 12.– | für Android und iPhone «157 Erlebniswanderwege für die ganze infoflora.ch naturemobile.org Familie» | CHF 45.– | erhältlich unter: kids-tour.jimdofree.com Wir feiern die Natur! Vom 15. bis 24. Mai 2020 werden schweizweit zehn Tage und zehn Nächte gänzlich der Natur gewidmet. Im Rahmen des «Festivals der Natur» sind in der gesamten Schweiz rund 750 Veranstaltungen im Bereich Natur, Biodiver- sität und Ökologie geplant: Von Exkursionen und Wanderungen über Infor- mationsstände und Veranstaltungen zum Mitmachen bis hin zu Ausstellun- gen ist alles dabei. Ziel der vom BAFU unterstützten Veranstaltungen ist es, die Bevölkerung auf spielerische und erlebnisorientierte Art und Weise für die Themen «Natur» und «Artenvielfalt» zu sensibilisieren. festivaldernatur.ch | Vom 15. bis 24. Mai 2020 Bild: zVg die umwelt 1 | 20
360° RENDEZ-VOUS 5 Mikroplastik-Fänger Zwitscher-Schweiz Mobilitäts-Check Der von zwei deutschen Forschern ent- Wer bietet kombinierte Mobilität an? wickelte «Guppyfriend»-Waschbeutel Und welcher Mobilitätssharing-Anbieter wirkt der Verschmutzung der Gewässer passt am besten zum persönlichen Ver- entgegen. Bei jedem Waschgang lösen halten? Auf der Website des Touring sich winzige Kunststoffpartikel aus den Club Schweiz (TCS) findet sich eine Über- Kleidungsstücken und landen als Mikro- sicht zu den verschiedenen Mobilitäts- plastik im Abwasser. Dank dem fein ver- sharing-Anbietern in der Schweiz. Ein- webten Hightech-Stoff des Guppyfriend grenzen lässt sich die Suche entweder bleiben die Mikrofasern hängen und kön- anhand der Postleitzahl oder mit der nen so im Müll entsorgt werden. Er ist in Angabe der gewünschten Sharing- den Schweizer Outdoor-Shops Jack Wolf Option – Carsharing, Parksharing, Bike skin und Transa erhältlich. sharing oder Ridesharing. Neben allge- meinen Informationen zu den diversen guppyfriend.com Anbietern kann man auch Bewertungen einsehen und verfassen. Angst vorm Wolf? tcs.ch/de/testberichte-ratgeber/ratgeber/ einfach-mobil/anbieter.php Gesucht wird nicht die Harmonie, son- dern eine Basis für die Meinungsbildung Umwelt-Geschichte rund um den Wolf und seine Rückkehr in unsere Landschaft: So lautet der An- spruch der fast 90-seitigen und reich be- bilderten Publikation «Wolf – Eine Annä- herung» aus dem Natur-Museum Luzern. Sie sucht den Perspektivenwechsel, ohne zu werten, und stellt Fakten und unter- schiedliche Einschätzungen vor. Bild: zVg «Wolf – Eine Annäherung» CHF 12.– + Versandkosten, «Prachtvolle Bilder, viele leichtfüssige Bestellung: naturmuseum@lu.ch Momente und faszinierende Hauptdar- ISBN: 978-3-033-06988-6 steller, so bunt und vielfältig wie das Bild: zVg Leben selbst», sagt SRF-Journalistin Wie ist Umweltpolitik in der Schweiz Mona Vetsch über den Film «Welcome to entstanden? Welche Kompetenzen ha- Zwitscherland – wie das Land, so die Vö- ben wir entwickelt, um mit Umweltprob- Hoch auf die Alpen gel» des Schweizer Naturfilmers Marc lemen erfolgreich umzugehen? Ein vom Tschudin. Der Film soll eine unterhalt- BAFU in Auftrag gegebenes Buch thema- Unter dem Namen «whatsalp» wanderte same Biografie der Schweizer Vögel sein, tisiert die Diskussionen um Wald, Was- der Schweizer Alpenforscher Dominik die wie ihre menschlichen Landesgenos- ser und Naturschutz, die weit in die Siegrist im Sommer 2017 gemeinsam mit sen Eigenheiten und Besonderheiten auf- Schweizer Geschichte zurückreichen, einer Gruppe von Freunden von Wien weisen. Nachdem er in den Schweizer und schlägt den Bogen zu aktuellen The- nach Nizza. Das Ziel dieser Weitwande- Kinos lief, ist er nun im Online-Shop men und Verfahren. In 15 Kapiteln erläu- rung war es, den aktuellen Zustand der der Schweizerischen Vogelwarte oder tern Expertinnen und Experten aus Alpen zu dokumentieren und sich mit ver- direkt im Shop ihres Besucherzentrums Praxis und Forschung die vielfältigen schiedenen Menschen vor Ort und unter- in Sempach als DVD erhältlich. Neben Institutionen, Instrumente und Regelun- wegs auszutauschen. Seine Erlebnisse, den wählbaren Sprachen Deutsch, Fran- gen in Recht, Wirtschaft und Wissen- Eindrücke und Erkenntnisse hat Dominik zösisch und Englisch können zudem schaft, die für die Umweltpolitik in der Siegrist in einem Buch festgehalten. die Vogelnamen und Orte eingeblendet Schweiz wegweisend geworden sind. «Alpenwanderer – Eine dokumentarische werden. Fußreise von Wien nach Nizza» «Umweltpolitik in der Schweiz» CHF 29.–, Haupt Verlag vogelwarte.ch > Shop NZZ Libro, CHF 48.– ISBN: 978-3-258-08122-9 welcome-to-zwitscherland.ch ISBN 978-3-03810-290-8 die umwelt 1 | 20
6 360° RENDEZ-VOUS Bildung Klima-Bauen Unter dem Titel «Klimakompatibles Bauen» findet am 26. März 2020 in Zürich die von eco-bau mitorganisierte Fachtagung «Nachhaltiges Bauen» statt. Dabei beschäftigen sich Referen- ten aus den Bereichen Wirtschaft und Forschung mit der Frage, wie man bau- en soll, wenn sich das Klima verändert. Die Tagung richtet sich in erster Linie an Vertreterinnen aus den Fachberei- chen Architektur, Gebäudetechnik und Bild: BBL Energieversorgung. Profi-Beschaffung ftnb.ch Mit dem neuen Bundesgesetz über die öffentliche Beschaffung findet ein Paradigmenwech- sel vom Preis- zum Qualitätswettbewerb statt. Lieferanten können aber nur nachhaltige und Jugendsolarmacher qualitativ hochwertige Produkte anbieten, wenn die Kriterien in den Ausschreibungen ent- sprechend formuliert werden. Unter anderem deshalb entschied die Beschaffungskonferenz Auf dem Dach eines Schulhauses oder des Bundes (BKB), dass für den Umgang mit öffentlichen Beschaffungen spezifische Fach- auf dem Schulgelände eine Solaranlage kompetenzen gefordert werden müssen und dass das Berufsbild professionalisiert werden zu installieren, ist eine kluge Idee. Erst sollte. Daraus entstand der eidgenössische Fachausweis «Spezialist/Spezialistin öffentliche recht, wenn dabei Schülerinnen und Beschaffung». Schüler die Hauptrollen spielen und Nun bieten verschiedene Bildungsinstitutionen dazu vorbereitende Kurse an. In sieben Hand anlegen. Allerdings ist das Modulen wird unter anderem vermittelt, welche Eignungskriterien und technischen Spezi- schneller gedacht als getan. Deshalb fikationen in den Ausschreibungen nicht fehlen dürfen, um ein nachhaltiges Produkt zu bietet die Besucher- und Bildungsplatt- erhalten; oder wie der Ausschreibungsprozess unter Einhaltung der wirtschaftlichen, öko- form Linie-e Hilfe an: Sie übernimmt logischen und sozialen Nachhaltigkeit geplant werden muss. die Koordination des Projekts und un- terstützt Gemeinden und Schulen bei dessen Finanzierung sowie bei der Pla- Mehr Informationen zu den Modulen und Bildungsanbietern: iaoeb.ch nung und beim Bau einer Solaranlage. Schülerinnen und Schüler ab der 7. Klasse werden so zu Projektleitern, Umwelt-Master MINT erleben Energieberaterinnen, Kommunikations- beauftragten oder Anlagenbauerinnen. Welche Strategien, Methoden und Rahmen- Mit der Onlineplattform «mint-erleben» Sie erhalten einen Einblick in die Pla- bedingungen ermöglichen eine nachhaltige nimmt ein neues Lehrmittel für den 2. Zy- nung und Umsetzung eines Solarpro- Entwicklung? Im neuen Masterstudien- klus Einzug in die Luzerner Klassenzim- jekts und werden Teil der Energiewende. gang «Umwelt und nachhaltige Ressour- mer. Die Plattform ist Lehrern und Lehre- Als Gemeinschaftsvorhaben von ver- cen» der Zürcher Hochschule für ange- rinnen frei zugänglich und enthält digitale schiedenen Akteuren (Schüler, Lehrper- wandte Wissenschaften (ZHAW) sollen Unterrichtsmaterialien zu den Themen sonen, Schule, Gemeinde, Energieunter- Studentinnen und Studenten die Fähigkeit Mathematik, Informatik, Naturwissen- nehmen) hat ein solches Projekt auch erlernen, technologische, naturwissen- schaft und Technik (MINT). Auch Schüle- gute Chancen, in den Medien themati- schaftliche und sozialwissenschaftliche rinnen und Schüler haben Zugriff auf be- siert zu werden. Disziplinen zu verknüpfen. Der Studien- stimmte Inhalte der Plattform. Ziel des Neben dem Bau einer Solaranlage or- gang teilt sich in drei Schwerpunkte auf: Lehrmittels ist es, dass Schülerinnen und ganisiert die Linie-e auf Wunsch auch Agrofoodsystems, Biodiversity & Ecosys- Schüler eine naturwissenschaftliche Ar- verschiedene andere Bildungs- und tems oder Ecological Engineering. beitsweise erlernen. Unterrichtsangebote zum Thema Ener- gie. Linie-e ist ein Projekt von Energie mint-erleben.lu.ch; ab Frühjahr 2020 stehen zudem Zukunft Schweiz AG. zhaw.ch > Studium > Masterstudiengänge > Um- die Unterrichtseinheiten für den 3. Zyklus zur Ver- welt und natürliche Ressourcen fügung; volksschulbildung.lu.ch > Unterricht & Or- Infos zu Kosten und Organisation: Corinne Informationsanlässe zu den Masterstudiengän- ganisation > Fächer, WOST & Lehrmittel > Über- Gasser | 061 500 18 92 | c.gasser@ezs.ch gen: 10. März und 6. Oktober 2020 fachliche Themen > MINT linie-e.ch die umwelt 1 | 20
360° RENDEZ-VOUS 7 Unterwegs Blick auf das Juradorf La Ferrière mit der reformierten Kirche aus dem Jahr 1864. Bild: Beat Jordi Winterwandern auf dem Sonnenberg Der Winterwanderweg vom Mont-Soleil im Berner Stahltürme, die mit ihren surrenden Rotorblättern Jura nach La Ferrière führt durch verschneite Wyt- Strom für mehr als 15 000 Haushalte produzieren – weiden – und in eine emissionsfreie Energiezukunft. ohne die Umwelt mit Luftschadstoffen, Kohlendioxid Text: Beat Jordi oder radioaktiven Abfällen zu belasten. Wenn das Mittelland am Jurasüdfuss während win- Eine Pionierregion terlicher Hochdrucklagen manchmal tagelang unter Die Gegend ist ohnehin eine Pionierregion der erneu- einer dicken Nebeldecke liegt, macht der Mont-Soleil erbaren Stromproduktion, denn bereits in den frühen am Südrand der jurassischen Freiberge seinem Na- 1990er-Jahren nahm auf dem Mont-Soleil das damals men jeweils alle Ehre. Von der kleinen Uhrmacher- grösste Sonnenkraftwerk Europas auf einer Fläche stadt St-Imier (BE) im gleichnamigen Tal der Schüss von 2 Hektaren seinen Betrieb auf. Es dient noch heu- führt eine bereits 1903 erstellte Standseilbahn in te Forschungs- und Demonstrationszwecken und knapp vier Minuten auf den sonnigen Aussichtsberg. kann – wie der Windpark – besichtigt werden. Es lohnt sich, von der Bergstation auf 1179 Metern Der Weg nach La Ferrière führt westwärts und über Meer noch gut 100 Meter höher auf die Kuppe folgt dem Rücken des Montagne du Droit, wo der des Mont-Soleil zu steigen. Einerseits ist von hier aus Blick zum Teil bis zu den Hochalpen reicht. Nach dem die Südsicht auf den Nordhang des Chasserals ein- Weiler L’Assesseur öffnet sich die Landschaft. Vorbei drücklicher. Zum anderen eröffnet sich ostwärts in an typischen Bauernhäusern des Hochjuras, die teil- Richtung des etwas tiefer gelegenen Mont Crosin der weise aus dem 17. Jahrhundert stammen, quert die Blick auf den grössten Windpark der Schweiz. 16 Tur- vom Schnee geräumte kleine Fahrstrasse weite Hoch- binen des weltweit grössten Herstellers Vestas mit ebenen und verlassene Wytweiden, die vereinzelt einer Einzelleistung von bis zu 3,3 Megawatt sind durch Trockensteinmauern eingegrenzt sind. Die hier fast permanent den vorherrschenden Westwin- mächtigen Fichten und knorrigen Bergahorne auf den den ausgesetzt. Mit bis zu 150 Meter Höhe überragen ausgedehnten Jurahochweiden, aber auch die Offen- sie die Juraweiden, auf denen zwischen Mai und Ok- heit dieser Landschaft, in der man nur selten jeman- tober Pferde und Kühe friedlich nebeneinander gra- dem begegnet, machen den besonderen Reiz der Frei- sen. Über 400 Tonnen wiegen die grössten der im berge aus, die im Winter noch einsamer wirken. jurassischen Kalkstein fest verankerten weissen die umwelt 1 | 20
DOSSIER NACHHALTIGE ENTWICKLUNG 9 Wichtiger Paradigmenwechsel «Die Welt soll 2030 dank den SDGs eine bessere sein» Ein Gespräch mit Franz Perrez, Umweltbotschafter der Schweiz, über die Umweltdimension in den Sustainable Development Goals (SDGs), das Making-of dieser Nachhaltigkeitsziele, die Rolle der Schweiz sowie die Bedeutung von internationalen Konferenzen. Interview: Gregor Klaus Laut UNO sind die 2015 beschlossenen Nachhal- Was hat diesen Paradigmenwechsel ausgelöst? tigkeitsziele, die SDGs, «die To-do-Liste der Auslöser war die Erkenntnis, dass sich die Ent- Menschheit für einen nachhaltigen Planeten und wicklungsziele nicht erreichen lassen und die Ar- ein klarer Fahrplan für eine bessere Zukunft». mut nicht langfristig überwunden werden kann, Teilen Sie diese Einschätzung? wenn gleichzeitig die natürliche Lebensgrundlage Franz Perrez: Absolut. Die Zielliste ist ein äusserst zerstört wird. Während der Vorbereitungen zur wertvolles Instrument, um die globalen Herausfor- UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung, die derungen anzugehen. Vor allem stellt sie einen 2012 in Rio de Janeiro abgehalten wurde, lancierte wichtigen Paradigmenwechsel dar: Erstmals wur- Kolumbien die Idee von Nachhaltigkeitszielen. Spä- den auf globaler Ebene Ziele formuliert, die alle ter spielte auch die Schweiz eine wichtige Rolle im drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung – Prozess. ökologisch, ökonomisch und sozial – abdecken. Wieso gerade Kolumbien? Das war bei den «Millennium Development Goals», Das Land hat sich in den vergangenen Jahrzehnten den MDGs, die im Jahr 2000 am Millennium-Gipfel stark entwickelt. Allerdings wurde dort festge- von den Vereinten Nationen verabschiedet wur- stellt, dass dies auf Kosten der Umwelt stattgefun- den, nicht der Fall? den hatte – was nun die zukünftige Entwicklung Die MDGs waren ebenfalls ein wichtiges Instru- bremst. Die Regierung kam zum Schluss, dass Ent- ment und gaben der Entwicklungsagenda Orientie- wicklungsziele, die nur Wohlstand und Reichtum rung und Visibilität. Doch der Fokus der MDGs lag im Fokus haben, in eine Sackgasse führen. Kolum- auf Entwicklung und Armutsbekämpfung. Die SDGs bien schlug vor, für die globale Nachhaltigkeits- hingegen stellen einen Paradigmenwechsel dar: Sie agenda einen Zielrahmen zu entwickeln, der alle integrieren konsequent Umweltschutzaspekte. Das drei Dimensionen der Nachhaltigkeit zusammen- ist ein riesiger Fortschritt. Vergessen wir nicht: bringt und für alle gilt. Diese Ziele sollten die Die verschiedenen Nachhaltigkeitsdimensionen MDGs ablösen und die Globalen Umweltziele, die sind untrennbar miteinander verbunden. Man bereits auf Initiative der Schweiz erarbeitet wor- kann nicht die Umwelt zerstören und gleichzeitig den waren (siehe auch S. 14), integrieren. auf eine langfristig stabile Wirtschaft hoffen. Es ist auch nicht möglich, Menschenrechte mit Füs- Und Kolumbien wurde erhört? sen zu treten und gleichzeitig Wohlergehen für Hilfreich war, dass nicht ein Industriestaat die alle zu generieren. Idee der SDGs lanciert hat. Kolumbien übernahm Bildung Alle sollen Zugang zu hochwertiger und gleichberechtigter Grund- und Berufsbildung haben und sich ein Leben lang weiterbilden können (SDG 4).
Franz Perrez ist seit 2010 Chef der Abteilung Internationales im BAFU und Umweltbotschafter der Schweiz. Er vertritt die Schweiz in den wichtigsten internationalen Verhandlungen im Umweltbereich. Nach seinem Rechtsstudium in Bern und Paris hatte er zunächst in der Direktion für Völkerrecht des Eidgenössischen Departements für äussere Angelegenheiten (EDA) ge- arbeitet. An der New York University School of Law spezialisierte er sich in den Bereichen Völkerrecht und internationa- les Umwelt- und Wirtschaftsrecht. Danach arbeitete er im WTO-Dienst des SECO und wechselte dann ins BAFU, wo er bis 2010 die Sektion Globales in der Abteilung Internationales leitete. Seit 2008 ist er zudem Lehrbeauftragter für inter- Bild: BAFU nationales Umweltrecht an der Universität Bern. Er war u. a. massgeblich beteiligt am Ergebnis der Konferenz über nach- haltige Entwicklung von 2012, am Abschluss der Minamata-Quecksilberkonvention und des Pariser Klimaabkommens sowie an der Stärkung der internationalen Chemikalien- und Abfallkonventionen. Franz Perrez ist 52, verheiratet und hat zwei Kinder. den Lead und trieb den Prozess konsequent voran. Länder der Welt einzubinden. Wir zeigten ihnen Ich kannte die Verhandlungsleiterin Kolumbiens die Vorteile und Chancen von SDGs auf und konn- gut, und wir bildeten zusammen mit dem Vertreter ten sie schliesslich mit ins Boot holen. Es wurde von Barbados, den wir wiederum von den Klima- klar kommuniziert, dass einerseits die Ärmsten am verhandlungen her kannten, eine Art strategische meisten unter der Umweltzerstörung leiden und Kerngruppe. Das zeigt sehr schön, dass bei solchen anderseits ohne den Schutz der Umwelt die Armut Prozessen persönliche Kontakte enorm wichtig nicht bekämpft werden kann. Die Umwelt ist unse- sind. re Lebensgrundlage. Schützen wir sie nicht, frisst ihre Zerstörung früher oder später den erreichten Gab es keine Opposition gegen die Entwicklung Fortschritt wieder auf. An der UN-Konferenz über von SDGs? nachhaltige Entwicklung 2012 beschloss dann die Doch. Negative Stimmen behaupteten, dass solche Staatengemeinschaft, im Rahmen eines kompli- Ziele die Armutsbekämpfung einschränken wür- zierten partizipativen Verhandlungsprozesses den. Es gelang unserer Kerngruppe, die ärmsten griffige Nachhaltigkeitsziele zu entwickeln. die umwelt 1 | 20
DOSSIER NACHHALTIGE ENTWICKLUNG 11 Mit Erfolg! Die Agenda 2030 mit ihren SDGs wur- nen Kolonialismus der Industriestaaten, sondern de 2015 am Gipfeltreffen der UNO in New York von um eine nachhaltige Entwicklung für die ganze der internationalen Staatengemeinschaft verab- Welt. Rückblickend muss ich sagen: Es war kein schiedet. Was waren die zentralen Erfolgs - einfacher Prozess. Je griffiger ein SDG formuliert faktoren? wurde, desto stärker wurde auch der Widerstand. Es war wichtig, alle Ziele und Indikatoren so weit Dass wir zum Schluss so einen guten Rahmen hin- wie möglich auf wissenschaftliche Erkenntnisse bekommen haben, ist nicht selbstverständlich. abzustützen. Ziel war es, die SDGs zu entpolitisie- Viele Ziele sind übrigens stark durch die Schweiz ren und dadurch zu einem sachlichen Instrument geprägt. Darauf kann sie stolz sein. zu machen. Das führte letztlich dazu, dass die ein- zelnen Staaten eigentlich gar nicht gegen die SDGs Wer vertritt eigentlich bei solchen Verhandlungen sein konnten. die einzelnen Staaten? Das ist ein interessanter Punkt. In den meisten Staaten ist dies entweder das Umweltministerium «Man kann nicht die Umwelt oder das Aussenministerium. In der Schweiz sah das ein bisschen anders aus. Die Verantwortung zerstören und gleichzeitig auf für das Dossier Nachhaltigkeit rotierte zwischen eine langfristig stabile Wirt- SECO/BLW, BAFU und DEZA. Dies zeigt exempla- risch, dass Nachhaltigkeit bei uns nicht einfach schaft hoffen.» eine Umweltagenda ist. Das partnerschaftliche System hat einen grossen Vorteil, wenn es um die Umsetzung geht, weil das Thema schon breit ver- Solche UN-Konferenzen erinnern immer ein biss- ankert ist. Dass das BAFU 2012 den Lead bei der chen an Folklore. UN-Konferenz hatte, war Zufall, danach übernahm Was sie aber nicht sind. Es sind Momente, in denen entsprechend der Rotation die DEZA. grosse Schritte möglich sind. Tief greifende Trans- formationen benötigen einen Aufhänger, ein Mo- Eine Zukunft, in der die SDGs bereits umgesetzt mentum und die Aufmerksamkeit von Politik und sind, lädt zum Träumen ein. An dieser Zukunft Gesellschaft. An solchen Anlässen schaut die gan- müssen wir die Gegenwart messen. Aber seien wir ze Welt zu – der Druck ist enorm! ehrlich: Bei den SDGs handelt es sich um ein rechtlich völlig unverbindliches, freiwilliges In Stand die Verabschiedung der SDGs jemals auf strument. Diese Zukunft werden wir beide nicht der Kippe? erleben. Ablehnung kam vorwiegend von den grossen Wir werden erleben, dass wir den Zielen ein we- Schwellenländern. Sie hatten Angst, dass die SDGs sentliches Stück nähergekommen sind! Bereits die ihre Entwicklungschancen einschränken würden. MDGs waren eine Erfolgsgeschichte. Sie haben viel Es sind die gleichen Staaten, die heute auch beim ausgelöst, auch wenn man nicht alle Ziele erreicht Klimaprozess auf die Bremse drücken. Am Ende hat. Der Menschheit geht es besser dank ihnen, konnten aber alle überzeugt werden – oder es wur- und ich bin überzeugt, dass die Welt 2030 auch de zu schwierig, öffentlich Nein zu sagen –, und die dank den SDGs eine bessere Welt sein wird, als sie Ziele wurden akzeptiert. Dass sich die ärmsten es ohne geworden wäre. Staaten der Welt ehrlich und explizit für die SDGs äusserten, war von der Symbolik her ein ganz star- Hat der Schwung, der durch die Agenda 2030 kes Signal. Allen wurde klar: Es geht nicht um grü- ausgelöst wurde, noch nicht nachgelassen? die umwelt 1 | 20
12 DOSSIER NACHHALTIGE ENTWICKLUNG Franz Perrez (Mitte) vertritt die Schweiz in den wichtigsten internationalen Verhandlungen im Umweltbereich. Bild: BAFU Links der ehemalige BAFU-Direktor Marc Chardonnens, rechts Felix Wertli (Sektionschef Globales). Keineswegs! Ich würde auch nicht von Schwung das Potenzial der Agenda 2030, nicht nur wegen sprechen, sondern von einer Beschleunigung. des möglichen Reputationsschadens; vielmehr ha- Denn der Schwung in Richtung Nachhaltigkeit ben sie erkannt, dass die SDGs nicht gegen sie ge- wurde schon viel früher ausgelöst, und zwar mit richtet sind, sondern ihre Arbeit unterstützen. Sie der ersten globalen Umweltkonferenz 1972 in sehen das Potenzial beziehungsweise die neue Stockholm. 20 Jahre später gab es in Rio eine Neu- Wirtschaftskraft für die Zukunft. auflage der globalen Umweltkonferenz, an der das Konzept der nachhaltigen Entwicklung erstmals Die Staaten sind nun aufgerufen, bis 2030 mög- lanciert wurde. Die SDGs haben dem Ganzen einen lichst viele Ziele möglichst gut zu erreichen. zusätzlichen Schub verliehen. Politiker und Politi- Braucht es überhaupt noch eine internationale kerinnen werden sich an solchen Konferenzen des Umweltpolitik? Themas bewusst, und bisherige Aktivitäten erhal- Unbedingt! Zwar sind die globalen Umweltziele mit ten eine politische Legitimation. Konferenzen hal- den SDGs gut abgedeckt. Für die konkrete Umset- ten das politische Feuer am Leben. zung braucht es dann aber doch die spezifischen und oftmals rechtlich verbindlichen Abkommen. Genauso, wie wir weiterhin eine Entwicklungs- «Bei Prozessen wie der Entwick- politik und eine Wirtschaftspolitik brauchen, be- nötigen wir auch in Zukunft eine Umweltpolitik. lung der SDGs sind persönliche Der Vorteil der SDGs ist aber, dass die verschiede- Kontakte enorm wichtig.» nen Politiken nicht mehr losgelöst voneinander betrieben werden, sondern ein gemeinsames Ziel vor Augen haben. Wie kommen die SDGs von der hohen Politik zu Infos zu den SDGs den Staaten, Gemeinden, Unternehmen sowie eda.admin.ch/agenda2030/de/home.html Bürgerinnen und Bürgern? Gesetze spielen hier eine bedeutende Rolle. Wir stellen aber auch ein beachtliches freiwilliges En- gagement fest, beispielsweise vonseiten der Wirt- Link zum Artikel schaft. Die SDGs sind mittlerweile zu einem wich- www.bafu.admin.ch/magazin2020-1-01 tigen Instrument für Privatunternehmen geworden, gerade auch für Versicherungen, Ban- Franz Perrez | Abteilungschef Internationales | BAFU ken und grosse internationale Firmen. Diese sehen franz.perrez@bafu.admin.ch die umwelt 1 | 20 Wasser Alle sollen Zugang zu sauberem Trinkwasser und funktionierenden Sanitäts einrichtungen haben. Wasser muss nachhaltig bewirtschaftet werden (SDG 6).
14 DOSSIER NACHHALTIGE ENTWICKLUNG Globale Ebene Selbstkritik statt Selbstgerechtigkeit Die Umweltdimension ist in den Nachhaltigkeitszielen der UNO ausgewogen vertreten. Dies ist nicht zuletzt ein Verdienst der Schweiz, die sich auch dafür engagiert hat, dass die Länder die Zielerreichung regelmässig überprüfen. Bei der Umsetzung gilt es nun, die planetaren Grenzen zu respektieren. Text: Gregor Klaus Ziele motivieren – und sie geben Leitplanken und dieser oft spezifisch auf bestimmte Umweltproble- definieren Schwerpunkte. Das gilt auch für me ausgerichteten Abkommen verfolgen stringen- die Agenda 2030. Mit ihren 17 übergeordneten te Ziele und sind vielerorts rechtlich verbindlich, Zielen (Sustainable Development Goals, SDGs) wie zum Beispiel die Übereinkommen im Bereich und 169 Unterzielen sowie den über 230 Indikato- Chemikalien und Abfall. «Die so extrahierten ren ist sie der internationale Minimalkonsens da- ‹Global Environment Goals› waren eine wichtige rüber, wie die UN-Mitgliedsstaaten die Zukunft der Grundlage bei der Erarbeitung der SDGs und hal- Menschheit und der Erde gestalten wollen. Erst- fen dabei, die Umweltdimension prominent in die mals wurden die drei Dimensionen der nachhalti- Verhandlungen zu den SDGs einfliessen zu lassen», gen Entwicklung, das heisst ökologisch, ökono- sagt Sebastian König von der Sektion Globales misch und sozial, gleichberechtigt in globale Ziele beim BAFU. integriert, die für alle Staaten gleichermassen gel- ten. Die Verankerung der Umweltdimension war Freiwillige Berichterstattung allerdings keine Selbstverständlichkeit, obwohl Ziele ermöglichen es, Fortschritte überhaupt erst eine intakte Umwelt und ein schonender Umgang zu erkennen. Dazu muss man den Fortschritt aller- mit natürlichen Ressourcen zwingende Vorausset- dings auch messen und analysieren. Am Gipfeltref- zung für die soziale und wirtschaftliche Dimen- fen der UNO in New York 2015 wurde daher be- sion der nachhaltigen Entwicklung sind. schlossen, zusammen mit dem Aktionsplan «Agenda 2030» ein politisches Forum zu schaffen, das den Umweltziele als wichtige Grundlage globalen Stand der Zielerreichung über alle 17 Zie- Die Schweiz hat zusammen mit anderen Staaten le prüft. Es ist ein hochrangiges Forum, das jedes die SDGs im Bereich Umwelt und Ressourcen mass- Jahr auf Ministerebene und alle vier Jahre sogar geblich mitgestaltet: Unter anderem erarbeitete die auf Ebene der Staats- und Regierungschefs tagt. UN-Umweltbehörde UNEP auf ihre Initiative hin Die Schweiz hatte sich für diesen strikten Über- bereits im Vorfeld zur Konferenz der Vereinten Na- prüfungsmechanismus starkgemacht. tionen über nachhaltige Entwicklung, die 2012 in Bei den jährlichen Treffen berichten seit 2016 Rio de Janeiro abgehalten wurde, eine Gesamt- unter anderem mehrere Dutzend Staaten freiwillig schau aller international verabschiedeten Umwelt- über die Erreichung der Zielvorgaben. Die Versu- ziele. Diese fanden sich in bestehenden multi chung ist gross, dies als eine Art olympischen lateralen Umweltabkommen, Resolutionen der Wettbewerb anzusehen. Davon hält Sebastian Kö- UN-Generalversammlung sowie Resultaten von UN- nig nicht viel: «Ländervergleiche sind nur sinnvoll, Gipfeln. Es gibt allein 500 multilaterale Umwelt- wenn sie einem Staat dabei helfen, sich zu verbes- abkommen, die zwar fragmentiert sind, aber alle sern. Es geht ja bei der nachhaltigen Entwicklung das Gleiche wollen: die Umwelt schützen. Viele darum, gemeinsam auf globaler Ebene einen Fort- die umwelt 1 | 20
DOSSIER NACHHALTIGE ENTWICKLUNG 15 schritt zu erreichen.» Da sehe es jedoch gar nicht schaft und von Nichtregierungsorganisationen gut aus: «Gemäss UNEP ist die Welt derzeit auf (NGOs) eingeladen, sich an dem Prozess zu beteili- dem besten Weg, gerade einmal 22 Prozent der gen. In zahlreichen thematischen Diskussionen umweltbezogenen SDGs zu erreichen, wenn die tauscht man sich aus und geht neue Partnerschaf- aktuellen Trends anhalten, und für 68 Prozent der ten ein. Auch am Ende der Länderpräsentationen umweltbezogenen SDGs gibt es auf globaler Ebene können alle Teilnehmenden Rückmeldungen ge- keine ausreichenden Daten, um die Fortschritte zu ben. «Dies ist eine grosse Chance, denn wir können bewerten.» von anderen lernen, wie sich die SDGs national umsetzen lassen», sagt König. Weil die kritische Selbstreflexion der Regierun- Es bräuchte nach wie vor mehr gen manchmal zu wünschen übrig lässt, erstellen als 3 Erden, wenn alle Menschen jeweils viele nationale NGOs sogenannte Schatten- berichte. Diese dürfen am Forum ebenfalls präsen- so leben würden wie die tiert werden – meist nicht zur Freude der Regie- Schweizerinnen und Schweizer. rungen. Auch für die Schweiz gibt es einen solchen Schattenbericht, der in seinen Empfehlungen na- turgemäss etwas weiter geht als der offizielle Län- Selbstkritik statt Selbstgerechtigkeit ist angesagt. derbericht. Die Schweiz als basisdemokratisches Die Schweiz hat dies ernst genommen, als sie 2018 Land steht der Kritik jedoch offen gegenüber. Dies ihren ersten Länderbericht präsentierte. Wie die drückte sich unter anderem darin aus, dass bei der anderen Länder erfüllt auch sie die Nachhaltig- Präsentation des Länderberichts auch NGOs oder keitsziele noch nicht. Das nationale Monitoring- Wissenschaftsvertretende offiziell Teil der Schwei- system hatte ergeben, dass 39 Indikatoren einen zer Delegation waren. positiven Trend, 12 keine signifikante Entwick- Ganz frei von Kritik ist allerdings auch das Fo- lung und 14 einen negativen Trend aufweisen. Vor rum selbst nicht: Moniert wird beispielsweise, allem aber bräuchte es nach wie vor mehr als dass die Vor- und Nachbereitungsprozesse noch 3 Erden, wenn alle Menschen so leben würden wie immer zu kurz kommen und der Lerneffekt da- die Schweizerinnen und Schweizer, die ihren Fuss- durch zu klein ist. «Die Länderberichte müssen abdruck vor allem im Ausland hinterlassen. Die deutlich kritischer begutachtet werden, und vor Bestandsaufnahme identifizierte daher die Berei- allem müssen die Umsetzungslücken konkreter che, in denen deutlich verstärkte Anstrengungen aufgezeigt werden», sagt Sebastian König. «Das notwendig sind: Um den planetaren Belastungs- Potenzial des Nachhaltigkeitsforums ist noch nicht grenzen gerecht zu werden, ist ein Wandel des Er- ausgeschöpft. Doch auch wenn nicht alles perfekt nährungssystems, der Art und Weise des Wohnens ist: Das Forum bleibt momentan der zentrale Ort, und der Mobilität notwendig. Zu diesem Schluss der die relevanten Akteure an den Tisch bringt, um kommt auch der jüngste Umweltbericht der dem globalen Fortschritt in der nachhaltigen Ent- Schweiz. wicklung auf den Zahn zu fühlen.» Umsetzungslücken identifizieren An den jährlichen Treffen des Nachhaltigkeitsfo- Link zum Artikel rums diskutieren die Länder auch über Lücken und www.bafu.admin.ch/magazin2020-1-02 notwendige Massnahmen. Und weil es dafür mehr als nur Politiker und Politikerinnen braucht, sind Sebastian König | Sektion Globales | BAFU auch Akteure aus der Wirtschaft, der Wissen- sebastian.koenig@bafu.admin.ch die umwelt 1 | 20
DOSSIER NACHHALTIGE ENTWICKLUNG 17 Systemänderungen anstreben «Es geht um das Überleben der Menschheit» Peter Messerli, Professor für nachhaltige Entwicklung an der Universität Bern, berät zusammen mit anderen Wissenschaftlern die Staatschefs bei der Umsetzung der Agenda 2030. Ein Gespräch über Erfolg versprechende Lösungsansätze, einen ressourcenschonenden Lebensstil und das Versagen der Politik. Interview: Peter Bader Herr Messerli, Sie sind seit knapp drei Jahren und nicht erst an dem Punkt, an dem es zu spät Co-Leiter eines unabhängigen wissenschaftli- ist – sei dies bei der Biodiversität, beim Klimawan- chen Beirats, der Grundlagen zur Umsetzung der del, bei wachsender Ungleichheit oder bei sozialen UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung Spannungen. bereitstellt. Welches war bisher die eindrücklichs- te Begegnung? Wie gelingt das? Peter Messerli: Es gab viele. Zum Beispiel mit all Indem wir uns nicht auf das Erreichen einzelner den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen Nachhaltigkeitsziele fokussieren, sondern System- aus vielen verschiedenen Disziplinen. Da mussten änderungen anstreben. Nehmen Sie die Ernäh- wir uns zuerst finden, die Verbindungen zwischen rung, ein System, das weltweit komplett aus dem den einzelnen Disziplinen herstellen. Denn es geht Gleichgewicht ist: Die Hälfte der Bevölkerung ist ja um das grosse Ganze. Eindrücklich ist auch die entweder unter- oder überernährt, die Nahrungs- Bühne, auf der wir agieren: Wir arbeiten im Auf- mittelproduktion ist gleichzeitig für einen grossen trag aller Staatschefs der Welt, da hat man schon den Eindruck, dass man gehört wird. Was als «klei- ner» Wissenschaftler nicht immer der Fall ist (lacht). Einmal nahm ich an einer Video-Sitzung des UN-Führungsgremiums unter der Leitung von «Der Wohlstand in der Schweiz Generalsekretär António Guterres teil. Da war ich fordert einen viel zu hohen vorher schon ein bisschen aufgeregt. Aber auch auf dieser Ebene wird wie in einer alltäglichen Sitzung Preis. Hier versagen wir total.» um Lösungen gerungen. Am Schluss hielt der Ge- neralsekretär ein sehr persönliches Plädoyer für die Nachhaltigkeit. Das war eindrücklich. Teil des Biodiversitätsverlusts und für fast einen Im vergangenen September hat Ihr Gremium den Drittel der Klimagase verantwortlich. Wenn man ersten Bericht zuhanden der UN-Generalver- weltweit nun einfach mehr produziert, erzielt man sammlung veröffentlicht. Was war für Sie dessen vielleicht Fortschritte bei der Ernährungssicher- Kernbotschaft? heit, verliert aber bei der Biodiversität oder beim Wir wissen genug, um handeln zu können. Und Klimawandel. Vier solcher grundlegender, systemi- aufgrund dieses Wissens müssen wir jetzt handeln scher Ansatzpunkte wurden definiert: Zur Ernäh- Energie und Klimaschutz Alle sollen Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher und nachhaltiger Energie haben (SDG 7). Der Klimawandel und seine Auswirkungen sind zu bekämpfen (SDG 13).
Peter Messerli studierte und promovierte am Geografischen Institut der Universität Bern. Der 52-Jährige ist heute Professor für Nachhaltige Entwicklung an der Universität Bern; seit 2010 leitet er das dort ansässige interdisziplinäre Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (Centre for Development and Environment, CDE). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der nachhaltigen Nutzung von Landsystemen in Asien und in Afrika unter Einfluss des globalen Wandels. Zu diesem Zweck hat er mehr als 10 Jahre in Madagaskar und in Laos sowie in weiteren Ländern des Südens verbracht. Er ist verheiratet, Vater von drei Kindern und lebt in Bern. Bild: Ephraim Bieri | Ex-Press | BAFU
DOSSIER NACHHALTIGE ENTWICKLUNG 19 rung kommen Produktion und Konsum sowie der können wir die Ziele tatsächlich erreichen. Solange Zugang zu erneuerbarer Energie, der vierte Sys- wir die einzelnen Ziele isoliert betrachten, wird temansatz betrifft die Städte. Bis 2050 leben rund uns das nicht gelingen. 70 Prozent aller Menschen in Städten. Wie Men- schen sich dort ernähren oder Energie verbrau- Was braucht es für konkrete Veränderungen? chen, wird die globale Nachhaltigkeit entscheidend Unsere Gruppe unabhängiger Wissenschaftler hat beeinflussen. Wenn wir diese vier Systeme grund- vier mögliche «Lösungshebel» bestimmt. Dazu ge- legend verändern, könnten wir einen globalen hört der Unternehmens- und Finanzsektor und Wandel hin zu einer nachhaltigen Entwicklung damit die Frage: Wo und wie soll die Wirtschaft schaffen. wachsen? In Madagaskar, wo ich im August 2019 war, gibt es einen grossen und legitimen Anspruch auf Wirtschaftswachstum, während wir in der Schweiz wohl neue Formen des Wirtschaftens su- chen müssen. Ein weiterer wichtiger Hebel ist in- dividuelles Verhalten. Und auch die politischen «Wir haben festgestellt, dass Spielregeln sind entscheidend: Dass fossile Ener- es innerhalb der Nachhaltig- gieträger nach wie vor massiv subventioniert wer- den, statt dass die externen Umweltkosten auf keitsziele mehr Synergien als den Preis geschlagen werden, ist eine absolute Widersprüche gibt.» Katastrophe – eine Spielregel, die wir schleunigst ändern müssen. Hinzu kommt als vierter Hebel Wissenschaft und Technologie. Welches ist der wichtigste Lösungsansatz? Die Einsicht, dass es nicht einer alleine schaffen Können wir es tatsächlich schaffen? Allein schon kann – nicht der Staat, nicht die Gesellschaft, nicht die Tatsache, dass sich einzelne Ziele diametral Wirtschaft oder Wissenschaft. Eine neue Art der widersprechen, schränkt die Erfolgschancen doch Zusammenarbeit ist nötig. Es gibt keine techno- deutlich ein. logische Innovation als Wunderheilmittel. Wir Wenn man die Ziele gegeneinander ausspielt, er- müssen viel eher die Technologie mit politischen weist man der Agenda einen Bärendienst. Sie sind Spielregeln verbinden, die Wissenschaft muss viel trotz allem als Einheit zu verstehen. Klar: Die mehr mit den Regierungen oder dem Privatsektor Widersprüche darf man nicht kleinreden. Aber wir zusammenarbeiten. Alle müssen raus aus ihren haben festgestellt, dass es innerhalb der Nachhal- Ecken. Jedes Land muss dabei seinen eigenen Weg tigkeitsziele mehr Synergien als Widersprüche finden: Die Energiewende in der Schweiz zu schaf- gibt. Wenn wir zum Beispiel die Bildung der Frau- fen, ist etwas komplett anderes, als sie in Madagas- en in Afrika fördern, hat das einen positiven Ein- kar anzugehen. Die Prioritäten sind in jedem Land fluss auf die Gesundheit der Kinder – was wieder- verschieden, entsprechend unterschiedlich müssen um das Bildungsniveau erhöht. Es geht also darum, die Hebel kombiniert werden. Die Herausforde- mit den vorhin beschriebenen Systemänderungen rung, die Beziehung zwischen dem Menschen und die Widersprüche zu überwinden. Das heisst: Wir der Umwelt in ein gesundes Gleichgewicht zu brin- müssen herausfinden, wie wir mehr Leute besser gen, ist hingegen überall die gleiche. Und da sind ernähren können, ohne damit Klima oder Biodiver- wir in der Schweiz nicht viel näher am Ziel, als es sität mehr zu schädigen. Wenn wir das schaffen, Madagaskar ist. die umwelt 1 | 20
20 DOSSIER NACHHALTIGE ENTWICKLUNG Weil wir einen möglichst ressourcenschonenden allein schon die Produktion von weissem Fleisch Lebensstil immer noch mit persönlichem Verlust der Umwelt fast 10 Mal weniger schadet als jene gleichsetzen? von rotem Fleisch – bei der Produktion von Weizen Viele tun das noch. Aber es findet in der Schweiz und Reis ist der Schaden noch einmal um den glei- zunehmend eine öffentliche Wertediskussion chen Faktor kleiner. statt, die auch von der Wissenschaft vorangetrie- ben werden kann: In welcher Welt wollen wir in Welche Note geben Sie der Schweiz in ihren Zukunft leben? Muss es wirklich ein Wochenende Bemühungen zum Erreichen der Nachhaltig- in Barcelona sein? Ist es nicht auch am Neuenbur keitsziele? gersee sehr schön? Und immer mehr Menschen Im Durchschnitt eine 5, in vielen Punkten ist die verbinden mit einem solchen Lebensstil längst Schweiz vorbildlich. Das Problem ist: Weil wir in nicht mehr nur Verlust und Verzicht, sondern vor anderen Punkten eine schlechte Figur abgeben, allem auch Innovation, Kreativität und den Ge- schmälert das die restlichen Bemühungen deutlich. winn von neuen Freiheiten. Ungefähr drei Viertel der Schweizer Umweltbelas- tungen fallen im Ausland an, unser Wohlstand fordert einen viel zu hohen Preis. Hier versagen wir total. Tatsächlich wäre die Gesamtbeurteilung also ungenügend. Aber es gibt auch positive Ent- «Bei den Unternehmen gibt wicklungen: Gerade das BAFU unternimmt viel, es längst nicht nur schwarze um diese «versteckten» Umweltbelastungen im Ausland einer breiten Öffentlichkeit bewusst zu Schafe, sondern sehr viele machen. Nur die Politik hat noch nicht reagiert. nachhaltige Innovationen.» Nicht nur in der Schweiz. Was Sie pessimistisch stimmt? Die globale politische Lage gibt tatsächlich nicht Anlass zu viel Optimismus! Und in der Bevölke- Bräuchte es also eher einen Weltpsychologen für rung ist die Agenda 2030 auch noch nicht wirklich die nötigen Verhaltensänderungen? Die wissen- angekommen. Aber bei den Unternehmen gibt es schaftliche Dringlichkeit ist ja längst bekannt. längst nicht nur schwarze Schafe, sondern sehr Auch ein Weltpsychologe hält kein Universalmittel viele nachhaltige Innovationen. Der private Sektor bereit und könnte es nicht im Alleingang richten. und die Zivilgesellschaft machen mir Hoffnung. Wir sind alle Teil eines Systems, das sich ändern Und die brauchen wir auch. Denn es geht um das muss. Und solange CO2-Emissionen im Flugverkehr menschliche Überleben. oder beim Heizen nicht den Preis haben, den sie haben müssten, hilft auch kein Weltpsychologe. Die Gesellschaft braucht als Ganzes neue Regeln, damit sich das Individuum auch ändern kann. Die nötigen Veränderungen bedingen ein Zusammen- spiel verschiedener Einflussfaktoren. Um beim Link zum Artikel Beispiel Reisen zu bleiben: Helfen könnte eine www.bafu.admin.ch/magazin2020-1-03 technologische Innovation, die den Zugverkehr schneller, besser und billiger macht. Beim Thema Gabriella Zinke | Abteilung Kommunikation | BAFU Essen müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass gabriella.zinke@bafu.admin.ch die umwelt 1 | 20 Infrastruktur und Innovation Alle sollen Zugang zu widerstandsfähiger Infrastruktur haben. Innovationen und nachhaltige Industrialisierung sind überall zu fördern (SDG 9).
22 DOSSIER NACHHALTIGE ENTWICKLUNG Bequemlichkeit überwinden Bitte stupsen! Eigentlich ist uns meistens klar, was wir tun und lassen sollten, um nachhaltiger zu leben. Doch allzu oft steht unser Handeln nicht mit dem Wissen in Einklang. Die Verhaltensökonomie kann helfen, diese Kluft zu überwinden. Text: Lucienne Rey Zuweilen gelangten bewährte ökonomische Prin- meistens nicht rational, sondern aus dem Bauch zipien auch in Wirtschaftssystemen zum Einsatz, heraus handeln: rasch, spontan und wenig über- die untergegangen sind. So kannte die Deutsche legt. Hannah Scheuthle von der Sektion Umwelt- Demokratische Republik die Kategorie der «Bück- beobachtung des BAFU weiss um die Folgen unse- ware» – gemäss DDR-Lexikon «ein umgangs- sprachlich-satirischer Ausdruck für Waren, für die man sich bücken musste, um sie aufzuheben». Es handelte sich um Güter, die knapp waren oder als «Die Akzeptanz für ‹Stupser› ist ideologisch bedenklich galten. hoch, wenn das Ziel demokratisch Indem eine Ware äusserst zurückhaltend ins Sortiment eingeordnet wurde, sollte die Nachfrage und humanitär legitimiert und begrenzt werden oder gar nicht erst aufkommen. das Vorgehen transparent ist.» Die deutsche Planwirtschaft folgte damit einem Hannah Scheuthle | BAFU Leitsatz, wie er von der Verhaltensökonomie emp- fohlen wird – wenngleich in der umgekehrten Rich- tung. Denn heute geht es eher darum, bei den Men- schen besonders gesunde, umweltschonende (kurz: res «Autopiloten»: «Unsere Bequemlichkeit setzt nachhaltige) Produkte und Handlungsweisen be- sich oft durch, zudem neigen wir dazu, am Beste- liebt zu machen. henden festzuhalten und die kurzfristigen Auswir- kungen stärker zu gewichten als die in fernerer Alltag auf Autopilot Zukunft liegenden Folgen.» Auch dem Gruppen- Die Modelle der klassischen Volkswirtschaftslehre druck geben wir gerne nach – selbst wenn er von gehen vom «homo oeconomicus» aus. Dieser re- Fehlurteilen geleitet wird. agiert auf Preissignale, lässt sich also nicht zu emotionalen Spontankäufen hinreissen. Er hat zu- Nützliche Bequemlichkeit dem den vollen Durchblick bei Vor- und Nachteilen Gemäss Professor Thaler lässt sich dieses automa- des Produkts sowie Alternativen. tische System zum allseitigen Vorteil nutzen, etwa, Doch der «homo oeconomicus» bildet die Realität um uns zu einer gesünderen Lebensweise anzu- nur unzureichend ab. Im Jahr 2017 war diese Ein- halten, aber auch zum Schutz der Umwelt. Wenn sicht immerhin den Nobelpreis für Wirtschafts- Verhältnisse so gestaltet werden, dass sie unser wissenschaften wert. Richard H. Thaler, Professor spontanes Tun in die erwünschte und auch für die an der Universität Chicago, erhielt die Auszeich- Handelnden positive Richtung lenken, nennt nung für seinen Beitrag zur Verhaltensökonomie. das die Fachwelt «Nudging», zu Deutsch: einen Er wies nach, dass wir insbesondere im Alltag Anstoss geben, stupsen. die umwelt 1 | 20
DOSSIER NACHHALTIGE ENTWICKLUNG 23 So kommt beispielsweise unsere Bequemlichkeit und humanitär legitimiert ist und das Vorgehen dem Entscheidungsarchitekten zupass – so nennt transparent kommuniziert wird», ist sie überzeugt. Thaler Personen, die die Umstände gestalten, in «Zudem bleibt immer die Wahl, sich anders zu ent- denen wir eine Wahl zu treffen haben. Entschei- scheiden. Die Menschen, die unter den von uns dungsarchitekten sind beispielsweise Elektrizi- verursachten Umweltproblemen leiden, haben kei- tätswerke, die ihrer Kundschaft verschiedene ne Wahl.» Stromkategorien anbieten. Mehrere Schweizer Es gehört zu den grundlegenden Eigenschaften Stadtwerke haben die Voreinstellung (Default) auf von Nudging, keine Verbote oder monetären einen «grünen» Strommix festgelegt, der aus ei- Anreize einzusetzen. Das Menü für Fleisch wird nem grösseren Teil an Ökostrom besteht, dafür also nicht teurer oder gar gestrichen, sondern Obst aber etwas teurer ist. Wer günstigeren – und we- und Gemüse werden in der Kantine besonders niger umweltfreundlichen – Strom beziehen möch- appetitlich und an strategisch günstiger Stelle te, kann dies tun, muss aber die Voreinstellung präsentiert. ändern. Kundinnen und Kunden werden also in Richtung der ökologischen Option gestupst. Die Viel Kleines summiert sich Wirkung ist nicht zu unterschätzen: Zwischen Hannah Scheuthle kennt zahlreiche weitere Bei- 70 und 85 Prozent der Haushalte lassen den spiele für umweltfreundliches Nudging: Wird in Default-Wert unverändert. einem Hotel darauf hingewiesen, dass 90 Prozent der Gäste ihre Badetücher mehrmals verwenden, Am Gängelband des Guten? bestärkt das neu Eingetroffene, sich der Mehrheit Die Bestrebungen, das Verhalten der Bevölkerung anzuschliessen. Smarte Messgeräte, die Strom- und sachte in eine bestimmte Richtung zu lenken, ohne Wasserverbrauch erheben und dabei auch die mitt- dafür klassische direktive Regulierungen einzu- leren Verbrauchswerte im Wohnquartier anzeigen, setzen, rufen indes auch Kritik hervor. Intranspa- können den Ehrgeiz der Nutzenden wecken, die rent, manipulativ und bevormundend seien solche Ressourcen sparsamer zu verwenden als der Stupser, wird moniert. Durchschnitt – umso mehr, wenn ein spielerisches Element hinzukommt und ein Smiley die Anstren- gungen belohnt. Freilich vermag Nudging allein die drängenden «Wer weniger umweltfreundlichen Umweltprobleme nicht zu lösen. «Je weniger uns eine Sache bedeutet, desto empfänglicher sind wir Strom beziehen möchte, muss für Nudging», weiss Hannah Scheuthle. Den ideal die Voreinstellung ändern. Kunden platzierten Abfalleimer zu nutzen, statt den Ein- wegbecher auf den Boden fallen zu lassen, erfor- werden also in Richtung der dert weder Anstrengung noch Opfer. Aber jemand, ökologischen Option gestupst.» der sich auf seinen Urlaub in Übersee freut, wird sich kaum zum Verzicht auf seinen Flug in die USA Hannah Scheuthle | BAFU stupsen lassen. Ein weiterer Nachteil aus Sicht der Fachfrau: Nudging ist auf kurzfristige Verhaltens- änderungen angelegt. Sobald die entsprechende Präsentation, Hinweistafel oder Animation fehlt, Hannah Scheuthle schliesst sich der negativen Be- entfällt auch der Stups. Wer also auf einen länger urteilung nicht an. «In der Regel ist die Akzeptanz anhaltenden Effekt abzielt, kommt um Sensibilisie- für ‹Stupser› hoch, wenn das Ziel demokratisch rung nicht herum. die umwelt 1 | 20
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