Umwelt - Bundesamt für Umwelt

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Umwelt - Bundesamt für Umwelt
DOSSIER WASSERQUALITÄT < umwelt 1/2017
1/2017

umwelt
Natürliche Ressourcen in der Schweiz

Wasserqualität
Dossier:   Gewässerschutz: Erfolge und Defizite > Lebensader Bach > Biodiversität im Wasser
           > Grundwasserfassungen unter Druck

Weitere Die Entwertung der Landschaft stoppen > Das Luftlabor macht Schule
Themen: > Umweltfreundliche Kantinen > Die Ressourcen dreimal effizienter nutzen
Umwelt - Bundesamt für Umwelt
umwelt 1/2017 > EDITORIAL

               Eine Erfolgsgeschichte wird
               gemeinsam weitergeschrieben
                               Bei der Wasserqualität von Flüssen, Bächen und Seen blicken
                               viele Länder auf die Schweiz. So auch die USA: In Boston etwa
                               nimmt man sich das urbane Schwimmen in unseren Städten
                               zum Vorbild – vom Rheinbad Breite in Basel über das Flussbad
                               Oberer Letten in Zürich bis zu den Bains des Pâquis in Genf –,
                               um dafür zu kämpfen, dass im heimischen Charles River wieder
                               gebadet werden kann.
                                 Auch hierzulande waren viele Gewässer jahrzehntelang
                 derart verschmutzt, dass niemand ans Baden dachte. Verbessert hat sich der
                 Zustand erst mit dem praktisch flächendeckenden Ausbau der Abwasserrei-
                 nigung. Und heute springen wir mit grösstem Vergnügen und ohne jegliche
                 Bedenken hinsichtlich unserer Gesundheit ins kühlende Nass.
                   Der Schweizer Gewässerschutz ist zweifellos eine Erfolgsgeschichte, aber
                 noch ist sie nicht zu Ende geschrieben, denn der Schein trügt. Nicht überall
                 ist die Wasserqualität so gut, wie sie sein müsste, damit unsere Gewässer
                 ihre ökologischen Leistungen auch wirklich erbringen können und damit
                 die Trinkwasserqualität einwandfrei bleibt. Wir haben es heute nämlich mit
                 neuen Verschmutzungen zu tun, den sogenannten Mikroverunreinigungen.
                 Rückstände von Hunderten von verschiedenen Stoffen, wie zum Beispiel
                 von Medikamenten, Kosmetika oder Pflanzenschutzmitteln, gelangen in die
                 Gewässer und können so die Wasserlebewesen negativ beeinflussen.
                   Diese Belastungen sind mit ein Grund, weshalb sich auf der Roten Liste der
                 gefährdeten Arten überdurchschnittlich viele Spezies finden, die im oder
                 nahe am Wasser leben: Fische, Amphibien, Kleinlebewesen, Wasserpflanzen.
                   Mit dieser Ausgabe wollen wir einen differenzierten Blick auf die Was-
                 serqualität werfen. Wir nehmen unter anderem den aktuellen Zustand der
                 Bäche und Seen sowie des Grundwassers unter die Lupe, denn sie bekom-
                 men die Auswirkungen der menschlichen Aktivitäten deutlich zu spüren.
                 Doch auch Lösungsansätze für eine Verbesserung der Wasserqualität sind
                 Gegenstand dieses Themenschwerpunkts: Seit einem Jahr werden die ersten
                 Abwasserreinigungsanlagen technisch aufgerüstet, um Mikroverunreinigun-
                 gen zu eliminieren. Und wenn die vielfältigen Massnahmen des Aktionsplans
                 «Pflanzenschutzmittel» umgesetzt werden, lassen sich die Risiken, die diese
                 Stoffe für die Umwelt darstellen, halbieren.
                   Dank gemeinsamer Anstrengungen werden wir die Erfolgsgeschichte einer
                 guten Wasserqualität unserer Gewässer weiterschreiben können.
                   Ich wünsche Ihnen eine informative Lektüre!

                                                          Franziska Schwarz, Vizedirektorin BAFU

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Umwelt - Bundesamt für Umwelt
umwelt 1/2017

                                             Dossier Wasserqualität
                                                               4 Vom lokalen Verbot zum umfassenden Schutz
                                                                 Meilensteine des Schweizer Gewässerschutzes
                                                               6 Das Glas Wasser ist erst halb voll
                                                                 Die Wasserqualität unserer Bäche, Flüsse und Seen
                                                              11 Viel Stress für Arten unter Wasser
                                                                 Im Wasser ist die Biodiversität besonders gefährdet.
                                                              14 Verschmutzungsquellen
                                                                 Überblick über mögliche Ursachen von Wasserverunreinigungen

                                               17      ____ Idyllisch plätschernde Lebensadern
                                                            Kleine Fliessgewässer unter Druck
Markus Forte, Ex-Press/BAFU

                                                              21 Ein Strauss von Massnahmen
                                                                 Innovative Ansätze in der Landwirtschaft
                                                              25 «Wir fühlen uns um die Früchte unserer Arbeit gebracht»
                                                                 Diskussion zur Zukunft der Trinkwasserinfrastruktur

                                                28      ____ Geflutete Kathedralen
                                                             Wasserreservoirs ins Bild gerückt

                                                              30 Den Schadstoffen im Rhein auf der Spur
                                                                 Hightech zur Überwachung der Wasserqualität
                                                              33 Trügerische Sicherheit im Wasserschloss
                                                                 Das Siedlungswachstum bedroht Grundwasserfassungen.
Silvio Maraini

                                             Weitere Themen
                                               39      ____ Ideen gegen die schleichende Entwertung der Landschaft
                                                            Den Landschaftswandel aktiv gestalten

                                                              44 Digitales Lehrmittel lockt die Schüler aus der Reserve
                                                                 Sensibilisierung von Jugendlichen mit dem Luftlabor
                                                              46 Umweltschutz in der Mittagspause
                                                                 Gut essen – und die Umwelt schonen
                                                              50 Mit vereinten Kräften für eine nachhaltige Wirtschaft
                                                                 Die Früchte des Dialogs zur Grünen Wirtschaft
Ruedi Helfenstein                                             54 Die grüne Marktmacht der öffentlichen Hand
                                                                 Die Schlüsselrolle der Güterbeschaffung

Herausgeber: Bundesamt für Umwelt BAFU • 3003 Bern • +41 58 462 99 11 • www.bafu.admin.ch • info@bafu.admin.ch
Gratisabo: umweltabo@bafu.admin.ch • Das Magazin im Internet: www.bafu.admin.ch/magazine2017-1

Titelbild: Michel Roggo/roggo.ch             Rubriken            36__ Vor Ort                        60__ Tipps
                                                                 38__ International                  61__ Impressum
                                                                 57__ Bildung                        62__ Intern
                                                                 58__ Recht                          63__ umwelt unterwegs
                                                                 58__ Publikationen

                                                                                                                                      3
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MEILENSTEINE DES GEWÄSSERSCHUTZES

                            Vom lokalen Verbot zum
Am Anfang stand die Angst vor Seuchen und bedrohten Fanggründen.        schrieben. Auch Schutzzonen bei Grundwasserfassungen zur Sicherung
Erste Gesetze zum Schutz der Gewässer um 1880 verboten das Einlei-      der Trinkwasserressourcen wurden Pflicht. Treibende Kraft war vielfach
ten von Schmutzwasser in Fischereigründe. Als klar wurde, dass ein      die Bevölkerung. Die Fischer etwa sorgten immer wieder für politischen
Zusammenhang besteht zwischen versickerndem Abwasser und Krank-         Druck. Die später zurückgezogene Volksinitiative «Lebendiges Wasser»
heiten, die über das Trinkwasser verbreitet werden, wurden vermehrt     führte 2009 zur Revision des Gewässerschutzgesetzes. Das Ziel: Flüs-
Quellen abseits der grossen Siedlungen genutzt. Ab den 1950er-Jahren,   se, Bäche und Seen sollen wieder naturnäher werden. Das bislang letz-
als Seen durch zu viele Nährstoffe am Algenwachstum erstickten und      te Kapitel in der Geschichte des Schweizer Gewässerschutzes ist eine
schäumende Flüsse Irritation hervorriefen, nahm der Gewässerschutz an   Strategie gegen Mikroverunreinigungen in den Gewässern, die zurzeit
Fahrt auf. 1971 wurde die Reinigung von Abwasser gesetzlich vorge-      umgesetzt wird. Text: Lucienne Rey

                                                                                       Die finanzielle Unterstüt-     Start der systema-
                                                                                       zung durch den Bund            tischen Erhebung
                                                                                       fördert den Bau von ARAs,      der Wasserqualität
                                                                                       von denen zu diesem            durch die «Nationale
                                                                                       Zeitpunkt rund 60 in           Dauerbeobachtung
                                                                                       Betrieb und an welche          Fliessgewässer
                                                                                       etwa 12 Prozent der            NADUF». Parallel dazu
                                                                                       Schweizer Bevölkerung          erheben auch die Kan-
 Zürich erlässt eine Verord-                                                           angeschlossen sind. Be-        tone weiterhin Daten
 nung «betreffend Reinhal-                                                             ginn der systematischen        zur Wasserqualität.
 tung der Gewässer», ausser-                 Im Norden der Stadt                       Erhebung der Wasser-

                                                                                                                                 1972
 dem liefert der Chemiker                    St. Gallen nimmt die                      qualität von Seen und
 Casimir Nienhaus-Meinau                     erste mechanisch-bio-                     Flüssen.

                                                                                                             1971
 dem Schweizerischen Han-                    logische Abwasserreini-
 dels- und Landwirtschafts-                  gungsanlage (ARA) in
 Departement einen «Bericht
                                                                                       1963
                                             der Schweiz den Betrieb
                                                                                                              Erlass des zweiten Gewäs-
 über die Verunreinigung                     auf.
                                                                                                              serschutzgesetzes, das die

                                                                   1953
 des Rheines durch Abfall-
                                                                                                              Sanierung aller verunreinigen-
 stoffe der Fabriken im Basler
                                                                                                              den Einleitungen und Versi-

                                            1917
 Industrie-Bezirk».
                                                                   Die Bundesverfassung wird                  ckerungen bis 1987 verlangt.
                                                                   durch Artikel 24 quater er-                Rund 35 Prozent der Schweizer

                      1888                                         gänzt, der den Bund befugt,
                                                                   «gesetzliche Bestimmungen
                                                                                                              Bevölkerung sind an eine ARA
                                                                                                              angeschlossen. Grundwasser-

 1881                                                              zum Schutz der ober- und
                                                                   unterirdischen Gewässer
                                                                                                              schutzzonen werden zur Pflicht,
                                                                                                              damit Trinkwasserfassungen
                                                                   gegen Verunreinigung zu                    richtig geschützt werden.
                                                                   erlassen». Vier Jahre später
                                                                   tritt das erste Gewässer-
                                                                   schutzgesetz in Kraft,
                                                                   zeigt zunächst aber wenig
                                                                   Wirkung.

                      Das «Bundesgesetz betreffend
                      die Fischerei» wird erlassen.
                      In Artikel 21 hält es fest, Fa-
                      brikabwässer seien «in einer
                      dem Fischbestand unschädli-
                      chen Weise abzuleiten».

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Umwelt - Bundesamt für Umwelt
DOSSIER WASSERQUALITÄT < umwelt 1/2017

umfassenden Schutz
                                                                                                                 Bund und Kantone starten das koordinierte
                                                        Im dritten Gewässerschutzgesetz                          Programm «Nationale Beobachtung der
                                                        wird der Umgang mit Hofdün-                              Oberflächengewässerqualität NAWA». In
                  Mit der Verordnung über
                                                        gern zum Schutz der Gewässer                             Spezialkampagnen werden auch Mikrover-
                  den Schutz der Gewässer
                                                        geregelt. Zu den Bestimmungen                            unreinigungen untersucht.
                  vor wassergefährdenden
                                                        gehören eine ausgeglichene

                                                                                                                                               2016
                  Flüssigkeiten wird ganz
                  besonders das Grundwas-               Düngerbilanz sowie eine maxi-
                  ser besser vor Verunrei-              mal zulässige Düngermenge pro
                  nigungen durch lecke                  Hektare.
                                                                                                                  2011                         Die revidierte Gewässer-
                  Tankanlagen oder Unfälle
                  beim Benzin- und Heizöl-                                         1998                                                        schutzverordnung nennt die
                                                                                                                                               Kriterien für die Aufrüstung

                                                        1991
                  umschlag geschützt.                                                                                                          der ARAs mit einer zusätz-
                                                                                                                                               lichen Reinigungsstufe

                                     1986                                                                                                      gegen Mikroverunreini-
                                                                                                                                               gungen. Zudem schafft die

                  1981
                                                                                                                                               Verordnung die Basis für
                                                                                                                                               die Aufnahme von öko-

1975
                                                                                                                                               toxikologischen Quali-
                                                                                                                                               tätskriterien in Bezug auf
                                                                                                                                               Mikroverunreinigungen in
                                                                                                                                               Oberflächengewässern.
                                                                                  Die Gewässerschutzverord-                                    Zur Minderung des durch
                                                                                  nung legt ökologische Ziele für                              den Einsatz von Pflanzen-
                                                                                  Gewässer fest und verankert                                  schutzmitteln verursachten
                                                                                  neu numerische Anforderungen.                                Risikos wird ein Aktions-
                                     Brand einer Lagerhalle des                   Es gelten nun verbindliche                                   plan erarbeitet.
                                     Chemiewerks Sandoz in                        Höchstkonzentrationen für
                                     Schweizerhalle (BL). Das                     problematische Substanzen
                                     verschmutzte Löschwasser                     wie etwa Nitrat, Kupfer und
                                     führt zu einem grossen                       organische Pestizide in den
                                     Fischsterben im Rhein.                       Oberflächengewässern sowie
                                     Fünf Jahre später wird                       im als Trinkwasser genutzten
Die Verordnung über Abwasserein-
                                     die Störfallverordnung                       Grundwasser.
leitungen setzt für verschiedene
                                     erlassen, die Betrieben mit
Schad- und Nährstoffe numerische
                                     Gefahrenpotenzial stren-
Anforderungen als Qualitätsziele
                                     ge Kontrollen auferlegt.
für Fliessgewässer und Flussstaue
sowie Anforderungen an die Einlei-
tungen in ein Gewässer und in die
Kanalisation fest. Einige Kantone
beginnen, das Grundwasser –
unsere wichtigste Trinkwasser-
ressource – auf Menge und Qualität
hin zu untersuchen. Ab 1997
wird die nationale Grundwasser-
beobachtung NAQUA aufgebaut.
                                                               Bilder von links: Die Kanalisation in Zürich Stadelhofen geht auf das Jahr 1861 zurück; Ausschnitt aus dem Gesetzes-
Erst jetzt zeigt sich der schweiz-
                                                               text 1888; heutige mechanisch-biologische Abwasserreinigung (Archiv BAFU); Plakat von Hans Erni 1961; schäumende
weite Zustand des Grundwassers.                                Wasser in den1970er-Jahren; Protestmarsch nach dem Brand von Schweizerhalle (Keystone); durch Pestizide verur-
                                                               sachtes Fisch sterben; Ozondiffusor in der ARA Neugut (ARA Neugut). Bilder: aus Bundesbroschüren, ausser angegeben

                                                                                                                                                                                 5
Umwelt - Bundesamt für Umwelt
umwelt 1/2017 > DOSSIER WASSERQUALITÄT

ÜBERBLICK

Das Glas Wasser
ist erst halb voll
Die Schweiz hat beim Schutz ihrer Gewässer einiges erreicht. Jetzt gilt es, neue Herausforderun-
gen anzugehen. Vor allem in den kleinen Fliessgewässern besteht noch grosser Handlungsbedarf;
ihre Situation ist kritisch. Das Problem ist jedoch erkannt, und auf politischer Ebene werden
Massnahmen zur Sicherung oder Verbesserung der Wasserqualität diskutiert. Manche davon sind
bereits angelaufen. Text: Kaspar Meuli

Zwei Dutzend Medienleute, vom Reporter der          Wasserforschungsinstituts Eawag zeigt, ein allzu
«Tagesschau» bis zur Journalistin des «Journal du   positives Bild des Gewässerzustands. Über 80 Pro-
Jura», reisten im Sommer 2016 an den Fluss Lim-     zent der Befragten erachten die Wasserqualität
pach im bernisch-solothurnischen Grenzgebiet,       in der Schweiz als uneingeschränkt «sehr gut»
um über das Wohlergehen von Schweizer Flüssen       oder als «gut». Erstaunlich ist diese Einschätzung
und Bächen zu berichten. An einer der Messstel-     nicht, denn die Bilder von schäumenden Bächen
len der Nationalen Beobachtung Oberflächenge-       und algenverseuchten Seen, welche die Schweiz
wässerqualität NAWA präsentierte das BAFU die       noch in den 1980er- Jahren aufrüttelten, sind
Resultate einer grossangelegten Untersuchung        längst verschwunden. Die schweizerische Ge-
zum Gewässerzustand. Die Bilanz war durchzo-        wässerschutzpolitik ist eine Erfolgsgeschichte.
gen: Erfreulicherweise habe die Belastung mit       Dank grosser Investitionen, mit denen ab 1950
Phosphat und Nitrat abgenommen, erfuhren            ein praktisch flächendeckendes Netz von Abwas-
die Medien, doch die Mikroverunreinigungen in       serreinigungsanlagen (ARAs) entstand, werden
den Gewässern würden an Bedeutung gewinnen,         heute viele Schmutz- und Schadstoffe von den
und deren biologischer Zustand weise zum Teil       Gewässern ferngehalten.
«erhebliche Defizite» auf.                            «Diese Leistungen sind unbestritten, und wir
  Dementsprechend war das Echo in den Medien.       können stolz darauf sein», sagt Yael Schindler
«20 Minuten» etwa titelte: «Den Schweizer Bächen    von der Sektion Wasserqualität des BAFU. «Doch
und Flüssen geht es schlecht». Der Artikel löste    obwohl der schweizerische Gewässerschutz das
in der Online-Ausgabe der Gratiszeitung eine        Ziel möglichst naturnaher Bäche und Flüsse
Lawine von zum Teil heftigen Kommentaren            verfolgt, sind heute viele Gewässer weit von
aus. Die Tonlage schwankte zwischen genervt         diesem Zustand entfernt.» Bei der Analyse des
(«Dieses Gejammer haben wir langsam satt!»)         Gewässerzustands sei deshalb ein «differenzierter
                                                                                                                 Quelle: Bundesamt für Landestopografie
bis zu analytisch («Das hat auch mit verfehlten     Blick» gefragt, so die Gewässerspezialistin. Viele
politischen Anreizen zu tun»).                      Wasserlebewesen reagieren beispielsweise auf die
                                                    Belastung mit Mikroverunreinigungen viel emp-
Schäumende Bäche sind verschwunden                  findlicher als wir Menschen. Die Bedingungen für
Das Interesse der Öffentlichkeit am Zustand         diese Tiere und Pflanzen sind schlecht, und ihr
der Gewässer zeigt, dass den Menschen in der        Überleben ist mancherorts gefährdet. Was aber
Schweiz ihre Bäche, Flüsse und Seen wichtig sind.   nicht heissen will, dass Baden in Flüssen und
Die Bevölkerung fühlt sich durch Wasserfragen       Seen unsicher wäre. «Die Sache ist vielschichti-
offensichtlich persönlich angesprochen. Aller-      ger», gibt Yael Schindler zu bedenken.
dings macht sie sich, wie eine Untersuchung des                                        Fortsetzung auf Seite 9

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Umwelt - Bundesamt für Umwelt
Jona      Tänlerbächli
                                                              DOSSIER WASSERQUALITÄT < umwelt 1/2017
                                         Hessenwegbächli
                                                   Tüfentobelbach
                                                        Oberfeisterbach
                                      Stocktobelbach        Tonacherbach Binzholzbächli        Hinderhessenbach
                                    Schürlibach         Vordergiessenbach        Mettlenbach
                                               Hirschlenbach      Rouswegbächli Unterhaltbergbach
                                     Dieterswilerbach           Hindergiessenbächli
                                        Hinterer Elbatobelbach                      Cholrütibach
                                           Väsperousbach                    Forholzweidbach Langwisbach
                                                    Hinderväsperousbächli           Breitenriedweidbach
                                                                Neuwegbächli
                                             Usserbergbach                     Breitenrietbach
                                      Chusterbach      Saumwegbächli                Rossrainbach
                                             Haltbergholzbach             Schochenradbach Bodenweidbach
                                           Haltbergweidli       Tösshaldenbächli        Hundsruggenbach
                                                          Hischwilerbach
                                      Grenzbächli      Hundsruggentöbelibach        Hischwilerhaldenbach
                                     Überzüttbach               Jakobsbächli Ramselbächli
                                          Hinderscheideggbach          Aatalbächli
                                             Haltbergbächli    Huebhansenbach
                                       Haltbergholzbächli
                                    Tannereggbach                                   Hintererlibach
                                              Hüttenbodenbächli                     Blattenbach
                                                                Houenbächli
                                                Stockenmattbach Mülrütibach             Momilchgubelbach

                                            Kiesbächli           Ufrütibächli        Bödenbächli
                                    Nüholzbächli                           Steinchramenbach
                                           Hindertöss                                Hinternordbach
                                    Haldenweidbächli                             Vorderbachscheidibächli
                                     Nordholzbach                              Staldenhölzlibächli
                                         Hinderbach
                                                                                     Felsenkeller
                                    Büelbach
                                     Ebnetbächli           Sännenbergbächli
                                          Chrumtobelbächli                  Brugglenba
                                          Lochbach                Chatzensprungbächli
                                              Chängelbach Eggschwändibach             Bogenbächli
                                        Pfaffenholzbach           Altrütibach           Schwämibächli
                                       Rütelibach          Beizibergbächli        Gubelbächli
                                                 Chefibach        Hinderbrandeggbach            Mettlenbach
                                        Schlipfbach     Forsterbergbach               Grossweierrietbach
                                     Silmattbächli                Vorderbrandeggbach            Rossweidbach
                                             Schmittenbach                  Meierisliböölbach
                                       Langhaldenbach        Lättenbach               Dachseggbächli
                                              Vorderwaldbach                Beizibach
                                          Hiltisbergbach          Lättenrietbach      Nasenbächli
                                              Tannenbodenbächli             Oberhaltbergbach
                                     Nasenholzbach Diezikonerbach                             Büntertöbelibach
                                              Schwarzenbodenbach                      Hubertingerbach
                                         Luegetbach         Grundbach       Bärenhölzlibach
                                              Hinderwaldbach                          Spitzrütibächli Auenbach
                                         Hirschacherbach                    Wissenbach          Altweidbach
                                     Niederholzbach           Tannereggbach                     Frohbergerbach
                                                        Bleuelholzbächli Blegiholzbach
                                              Diezikonertöbelibach                    Chängelholzbach
                                     Blegiböölbächli Faltigbergbach       Josenbergbach
                                              Vordertöss          Ziegelhüttenbach       Gerenbach ...

Das Schweizer Gewässernetz besteht aus 65 000 Kilometern Bächen und Flüssen und rund 7000 Seen. Wie
vielfältig sich das Gewässernetz beim genauen Hinschauen präsentiert, zeigt das Beispiel der Gemeinde Wald
(ZH). Hier fliessen sage und schreibe 171 Bäche, Flüsschen und Rinnsale.

                                                                                                             7
Umwelt - Bundesamt für Umwelt
umwelt 1/2017 > DOSSIER WASSERQUALITÄT

                            FAKTOREN, DIE DEN BIOLOGISCHEN ZUSTAND UNSERER GEWÄSSER BEEINFLUSSEN

                 Lebensraum                                                            Wasser- und Geschiebemenge

                       Wasserqualität
                                                                                                                       Wasserqualität
                                                                                                                       Die Gesundheit unserer Flüsse, Bä-
                                                                                                                       che und Seen – oder mit anderen
                                                                                                                       Worten, der ökologische Zustand
                                                                                                                       unserer Gewässer – hängt von
                                                                                                                       mehreren Faktoren ab. Einer da-
                                                   Grundwasser                                                         von ist die Wasserqualität, dem
                                                                                                                       dieses umwelt-Dossier gewidmet
                                                                                                                       ist. Darunter werden «stoff liche
                                                                                                                       Einträge» in die ober- und unter-
                                                                        Quelle: BAFU, AWEL; Bilder: BAFU Archiv        irdischen Gewässer verstanden.
                                                                                                                       Art und Herkunft von Verschmut-
                            INDIKATOREN FÜR DIE GEWÄSSERQUALITÄT                                                       zungen erläutert die Grafik auf
                                                                                                                       den Seiten 14/15. Der Schutz
                                                                                                                       vor Verunreinigungen steht beim
                90 %           87 %                                                                                    Grundwasser, unserer wichtigsten
                                                                                                                       Trinkwasserressource, im Vorder-
                                        68 %                                                                           grund. Zusätzlich zur Wasser-
                                                           62 %                   62 %
                                                                                                                       qualität wirken sich zwei weitere
                                   N P                                                                                 Bereiche auf die Gewässerbiologie
                                                                                                                       aus: Lebensraum sowie Was-
                                                                                                          27 %         ser- und Geschiebeführung. Der
                                                                                                                       Lebensraum vieler Gewässer ist
Messstellen

                                                                                                                       durch Verbauungen stark beein-
                                                                                                                       trächtigt. Ein gesundes Gewässer
 Indikatoren
                                                                                                                       braucht aber auch genügend Was-
                                                                                                                       ser und Geschiebe. Vor allem die
              Kieselalgen    Nitrat/Phosphat            Wirbellose         Wasserpflanzen               Fische         Wasserkraftnutzung wirkt sich
                                                                       Quelle: Zustand der Schweizer Fliessgewässer,   negativ auf diese Aspekte aus. In
                              Ergebnisse der Nationalen Beobachtung Oberflächengewässerqualität NAWA (2011–2014)       ihrer Kombination haben die drei
                                                                                                                       Bereiche positive oder negative
Nicht alle Standorte der Nationalen Beobachtung Oberflächengewässerqualität NAWA                                       Folgen für das Wohlergehen von
schneiden gleich gut ab: Prozentangaben zum Anteil der NAWA-Messstellen mit guter                                      Flora und Fauna.
bis sehr guter Gewässerqualität in Bezug auf verschiedene Indikatoren.

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Umwelt - Bundesamt für Umwelt
DOSSIER WASSERQUALITÄT < umwelt 1/2017

             Gewässer sind zum Teil mit Umweltgiften belastet     dass die Belastung der Badegewässer mit krank-
             Zurück an den Ortstermin am Limpach. Sein            heitserregenden Keimen gering ist. Zu Recht also
             Zustand ist aus ökologischer Sicht kritisch. Der     baden wir Sommer für Sommer mit grösstem
             unscheinbare, nicht eben idyllische Limpach          Vergnügen in Bodensee, Aare und Lago Maggiore
             zeigt gemäss NAWA-Monitoring ein ähnliches           – und dies oft mitten in der Stadt. Ausländische
             Bild wie viele der Bäche im Schweizer Mittel-        Besucher trauen bei diesem Anblick ihren
             land. Bezogen auf die ganze Schweiz belegen die      Augen nicht. Die Charles River Conservancy etwa,
             NAWA-Untersuchungen, dass die Belastung mit          eine Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat,
             Nährstoffen in kleinen und mittleren Bächen und      «urban swimming» in Boston zu ermöglichen,
             Flüssen punktuell immer noch zu hoch ist, ob-        schrieb nach einer Studienreise in die Schweiz:
             wohl heute weniger Nitrat und vor allem weniger      «Aus dieser Erfolgsgeschichte können wir lernen,
             Phosphat in die Oberflächengewässer gelangen,        was es braucht, um eine amerikanische Premi-
             als vor dem Bau des ARA-Netzes. Mit Umweltgif-       ere zu schaffen: einen Charles River, der sauber
             ten belastet sind die Gewässer vor allem, wenn sie   genug ist für Fische und für eine Rückkehr des
                                                                  öffentlichen Schwimmens.»
                                                                    Neben dem Zustand von Seen und Flüssen ist
Neben dem Zustand von Seen und Flüssen ist die                    die Qualität des Grundwassers von unmittelbarer
Qualität des Grundwassers von unmittelbarer und                   und grosser Bedeutung für die Schweiz. Verbor-
                                                                  gen im Untergrund, ist es unsere wichtigste Trink-
grosser Bedeutung für die Schweiz.                                wasserressource – mehr als 80 Prozent davon
                                                                  werden aus Grundwasser gewonnen. Im Gegen-
             Pestizide aufnehmen. Problematisch sind auch         satz zu Flüssen und Bächen ist dieses von Natur
             zu viele Nährstoffe aus der Landwirtschaft oder      aus durch intakten Boden relativ gut geschützt
             ungenügend verdünntes gereinigtes Abwasser.          und besitzt eine «insgesamt gute Qualität», wie
             Dieses Wasser ist zwar von den herkömmlichen         die landesweit repräsentativen Daten der Natio-
             Schmutz- und Schadstoffen gereinigt, enthält         nalen Grundwasserbeobachtung NAQUA zeigen.
             aber immer noch Mikroverunreinigungen. Dabei
             handelt es sich unter anderem um Rückstände          Lebenswichtige und verletzliche Ressource
             von Pestiziden, Medikamenten, Kosmetikproduk-        Beim genauen Hinschauen zeigen sich auch hier
             ten oder Holzschutzmitteln.                          Probleme. «Substanzen, die besonders langlebig
               So weit der Blick auf Bäche und Flüsse, doch       und gleichzeitig sehr mobil sind, können auch
             wie steht es um die Wasserqualität der Schweizer     bis ins Grundwasser gelangen», sagt Miriam
             Seen? Auch bei diesen ist die Belastung mit Nähr-    Reinhardt, die in der Sektion Hydrogeologische
             stoffen stark zurückgegangen. Allerdings sind        Grundlagen des BAFU für die Grundwasserquali-
             einzelne von ihnen in Gebieten mit intensiver        tät verantwortlich ist. So finde man hauptsäch-
             Viehmast noch immer allzu stark mit Phosphat         lich in Ballungsräumen und landwirtschaftlich
             belastet. Das gilt zum Beispiel für den Baldegger-   intensiv genutzten Gebieten Spuren von Fremd-
             und den Zugersee. Phosphat führt zu starkem          und Schadstoffen im Grundwasser. «Vor allem
             Wachstum von Algen. Nach ihrem Absterben             Rückstände von Düngemitteln und Pestiziden
             wird beim Abbau viel Sauerstoff verbraucht, der      gelangen durch den Boden ins Grundwasser und
             den Seen in der Folge fehlt und zu einer Verar-      beeinträchtigen die Wasserqualität nachhaltig»,
             mung der Artenvielfalt führt. Als Gegenmass-         stellt die Koordinatorin des NAQUA-Monitorings
             nahme werden verschiedene Gewässer künstlich         fest. Landesweit sind die Werte von Nitrat oder
             belüftet – zum Teil seit Jahrzehnten. «Rund die      von Pestizidrückständen an rund 30 Prozent der
             Hälfte der grössten Seen erfüllt die gesetzlichen    NAQUA-Messstellen signifikant erhöht.
             Vorgaben zum Sauerstoffgehalt nicht», sagt Ge-          Und auch die Siedlungsentwässerung hinter-
             wässerspezialistin Yael Schindler.                   lässt lokal unübersehbare Spuren im Grundwas-
                                                                  ser. Zum Beispiel, wenn über die Kläranlagen
             Baden ist bedenkenlos möglich                        Rückstände einzelner Arzneimittel in die Fliess-
             Allen Defiziten zum Trotz ist «die hygienische       gewässer und von dort bis ins ufernahe Grund-
             Wasserqualität der Schweizer Seen und Flüsse         wasser gelangen. Für punktuelle Einträge von
             sehr gut», wie das BAFU in seinen Informationen      chlorierten Kohlenwasserstoffen sind dagegen
             zur Badewasserqualität festhält. Das bedeutet,       meist Altlasten verantwortlich. Deren Sanierung

                                                                                                                  9
Umwelt - Bundesamt für Umwelt
umwelt 1/2017 > DOSSIER WASSERQUALITÄT

ist gesetzlich vorgeschrieben und stellt ein Mehr-     beseitigt. Die Investitionen in das Innenleben
generationenprojekt dar. Da sich Grundwasser im        des Wasserschlosses Schweiz gewissermassen.
Gegensatz zu Bächen und Flüssen nur langsam            Bloss nützen all diese Anstrengungen zur Ver-
erneuert, werden Verunreinigungen kaum oder            besserung der Qualität des Wassers wenig, wenn
nur sehr langsam abgebaut. «Umso wichtiger ist         nicht auch die Lebensräume aufgewertet werden.
es», so Miriam Reinhardt, «problematische Sub-         Ein von Pestiziden befreiter Bach bleibt für Tiere
stanzen frühzeitig zu erkennen und das Grund-          und Pflanzen eine lebensfeindliche Umgebung,
wasser nach dem Vorsorgeprinzip bestmöglich            wenn er durch ein Betonkorsett eingeengt ist.
vor dem Eintrag von Fremdstoffen zu schützen.»         Darum sollen unter anderem bis Ende dieses
   Der Schweizer Gewässerschutz hat viele seiner       Jahrhunderts 4000 Kilometer Fliessgewässer
Ziele erreicht. Doch was ist zu tun, damit diese       revitalisiert werden – eine Herkulesaufgabe.
Geschichte auch erfolgreich weitergeschrieben
wird? Handlungsbedarf besteht vor allem in zwei           Der Klimawandel wird sich mit grosser
grossen Bereichen. Einerseits müssen wir etwas
gegen die Mikroverunreinigungen aus den dicht             Wahrscheinlichkeit negativ auf die aquatischen
besiedelten Gebieten tun. Andererseits geht es            Ökosysteme auswirken.
um die Rückstände von Pestiziden und Dünge-
mitteln, die direkt oder indirekt über Drainagen
von den Feldern in Flüsse und Bäche eingetragen        Und noch einen Aspekt gilt es zu beachten:
werden.                                                die Folgen des Klimawandels. Er wird sich mit
   «Bei den Mikroverunreinigungen aus den dicht        grosser Wahrscheinlichkeit negativ auf die aqua-
besiedelten Gebieten liegt der Weg bereits klar        tischen Ökosysteme auswirken. Auch vor diesem
vor uns», erklärt Yael Schindler. «Das Parlament       Hintergrund müssen unsere Bäche, Flüsse und
hat beschlossen, die Abwasserreinigungsanla-           Seen naturnäher und damit widerstandsfähiger
gen technisch so aufzurüsten, dass sich diese          werden. «Nur in gutem Zustand können die
Belastungen zu einem grossen Teil eliminieren          Gewässer all ihre Funktionen erfüllen», erklärte
lassen.» Ziel ist, mehr als die Hälfte des Schweizer   BAFU-Direktor Marc Chardonnens den am Lim-
Abwassers mit einem weiter gehenden Verfahren          pach versammelten Medienleuten. «Sei es als
zur Elimination von Mikroverunreinigungen zu           Trinkwasserlieferanten, als Naherholungsgebiete
behandeln. Dazu werden in den kommenden                für die Bevölkerung oder als Lebensräume für
Jahren die wichtigsten Anlagen ausgebaut.              Pflanzen und Tiere.»
Deutlich schwieriger sieht die Situation bei den
Pflanzenschutzmitteln aus. Um zu verhindern,
                                                       Weiterführende Links zum Artikel:
dass kleinere und mittlere Bäche und Flüsse stark
                                                       www.bafu.admin.ch/magazin2017-1-01
belastet werden, braucht es grosse Anstrengun-
gen in der Landwirtschaft. Aus diesem Grund
wurde ein Aktionsplan zur Risikoreduktion
und zur nachhaltigen Anwendung von Pflan-
zenschutzmitteln erarbeitet. Um die Risiken von
Pflanzenschutzmitteln massgeblich einzudäm-
men, ist eine Vielzahl von Massnahmen gefragt
(siehe Beitrag auf Seite 21 ff.).

Die Herausforderungen
Handlungsbedarf gibt es auch beim Schutz
unserer wichtigsten Trinkwasserressource, des
Grundwassers. Weil die Siedlungsentwicklung
weitgehend ungebremst voranschreitet, kom-
men Grundwasserfassungen immer stärker                              KONTAKTE
unter Druck (siehe Beitrag auf Seite 33 ff.). Und                   Yael Schindler Wildhaber                Miriam Reinhardt
                                                                    Sektion Wasserqualität                  Sektion Hydrogeologische Grundlagen
schliesslich müssen wir auch dafür sorgen, dass
                                                                    BAFU                                    BAFU
die Infrastruktur unterhalten wird, die uns mit                     +41 58 462 52 26                        +41 58 464 56 34
Trinkwasser versorgt – und unser Abwasser                           yael.schindler@bafu.admin.ch            miriam.reinhardt@bafu.admin.ch

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DOSSIER WASSERQUALITÄT < umwelt 1/2017

                                                         Die Groppe ist ein guter Indikator für die Gesundheit von Bächen und Flüssen.
                                                         Der Fisch benötigt strukturreiche Gewässer mit sauberem, sauerstoffreichem
                                                         und eher kühlem Wasser.                                      Bild: Michel Roggo/roggo.ch

BIODIVERSITÄT

Viel Stress für Arten unter Wasser
Auf der Roten Liste der gefährdeten Arten der Schweiz sind Gewässertiere und -pflanzen übervertreten.
Das hat nicht nur, aber auch mit der Wasserqualität zu tun. Text: Hansjakob Baumgartner

Sie ist ein Sonderling unter den hiesigen Fischen:        tung Oberflächengewässerqualität (NAWA) angewandt
Nicht einmal richtig schwimmen kann die Groppe. Sie       wird (siehe Artikel Seite 6 ff.): Wo die Groppe in ihren
bewegt sich mehr hüpfend vorwärts und ist deshalb         angestammten Habitaten in gesunden Beständen lebt,
an den Gewässergrund gebunden. Auch ist sie nicht         ist die Welt noch heil, auch für andere Wasserorga-
stumm wie ein Fisch: Groppen verteidigen ihr Revier       nismen. Kommt sie hingegen nur spärlich oder gar
mit Drohlauten.                                           nicht vor, muss daraus geschlossen werden, dass das
  Und doch ist die Art eine wichtige Vertreterin der      fragliche Gewässer keine günstigen Lebensbedingungen
Schweizer Fischfauna: Die Groppe benötigt strukturrei-    für Wassertiere bietet.
che Gewässer mit sauberem, sauerstoffreichem und eher        In der Urtenen, die am Moossee nördlich von Bern
kühlem Wasser. Zusammen mit 16 weiteren Fischen ist       entspringt und bei Bätterkinden (BE) in die Emme mün-
sie deshalb eine Indikatorart im Modul «Fische» des       det, ist sie noch zugegen. 2012 wurden beim Abfischen
Modul-Stufen-Konzepts, das in der Nationalen Beobach-     der NAWA-Probestrecke bei Schalunen (BE) mittels eines

                                                                                                                                             11
umwelt 1/2017 > DOSSIER WASSERQUALITÄT

               Elektrofanggerätes auch Groppen gefangen, allerdings         im 2011 erschienenen BAFU-Synthesebericht zu den
               nur wenige. Offenbar ist dieser Bach hier kein beson-        Roten Listen.
               ders guter Fischlebensraum. Tatsächlich ist auch die           Das Problem hat viele Ursachen: die Strukturarmut in
               Artenvielfalt der Fische in der beprobten Strecke stark      den verbauten Bächen und Flüssen; Wanderhindernisse
               eingeschränkt: Nur 5 Fischarten fanden sich hier.            durch Flusskraftwerke, Wehre und künstliche Schwel-
               Die für den fraglichen Gewässertyp charakteristische         len; der vielfach ungenügend grosse Gewässerraum; die
               Äsche fehlte, dafür dominierte der standortfremde,           fehlende Dynamik; der gestörte Geschiebehaushalt; die
               anspruchslose Stichling.                                     unnatürliche Wasserführung mit Schwall und Sunk;
                                                                            die steigenden Wassertemperaturen infolge des Klima-
               Fischfauna unter Druck                                       wandels – sowie die schlechte Wasserqualität.
               Allgemein haben es die Fische in den hiesigen Ge-
               wässern schwer. Gemäss Roter Liste sind 58 Prozent           Sauerstoffmangel in den Seen
               der einheimischen Arten bedroht. Die Fische gehören          Letztere gilt gemäss Roten Listen für alle Artengruppen
               damit zu den Tieren mit einem überdurchschnittlich           als einer von mehreren Bedrohungsfaktoren – nicht
               hohen Anteil an gefährdeten Arten.                           nur in Bächen und Flüssen, sondern auch in Seen.
                 Und wie steht es um die anderen Wasserorganis-             Viele Wasserorganismen, die auf der Roten Liste ver-
               men? Am Gewässergrund leben unzählige wirbellose             zeichnet sind, sind Leidtragende der Eutrophierung
               Tiere: Insekten, Spinnentiere, Schnecken, Muscheln,          unserer Gewässer durch Nährstoffeinträge, die in den
               Krebse, Würmer, Egel. Wirbellose Arten, die von blos-        1970er- und den frühen 1980er-Jahren ihren Höhepunkt
               sem Auge sichtbar sind, werden unter dem Begriff             erreichte. Dies führte periodisch zu einem Sauerstoff-
               Makrozoobenthos zusammengefasst.                             schwund in der Tiefe der Seen, wodurch das Leben am
                                                                            Gewässergrund erstickte. Aus manchen Gewässern ist
               Schlechte Zeiten für Wasserorganismen                        zum Beispiel ein Grossteil der Wasserschnecken und
               Von der Artengemeinschaft des Makrozoobenthos                Muscheln deswegen gänzlich verschwunden. Ähnli-
               sind die Köcher-, Eintags- und Steinfliegen, die ihr         ches gilt für das Makrozoobenthos, und auch mehrere
               Larvenstadium im Wasser verbringen, sowie die                Felchenarten haben die Zeit der Überdüngung unserer
               Wasserschnecken und Muscheln in der Roten Liste              Seen nicht überlebt.
               der Schweiz erfasst. Bei den Ersteren liegt der Anteil         Der Ausbau der Abwasserreinigungsanlagen (ARAs),
               der gefährdeten Arten zwischen 40 und 51 Prozent.            das Phosphatverbot in Textilwaschmitteln sowie die
               Bei den Wasserschnecken und Muscheln sind es                 Ökologisierung der Landwirtschaft brachten unseren
               43 Prozent.                                                  Gewässern die dringend benötigte Abmagerungskur.
                 Noch schlechter als bei der Tierwelt unserer Gewäs-        Doch eine Wiederbesiedlung kann nur mobilen Or-
               ser ist die Situation bei den Wasserpflanzen. Mehr           ganismen gelingen, die in erreichbarer Nähe noch
               als 60 Prozent sind mehr oder weniger akut bedroht.          vitale Bestände haben. Wanderbarrieren verhindern
                 Insgesamt wiesen die Gewässerorganismen den
               höchsten Anteil an in der Schweiz ausgestorbenen
               oder vom Aussterben bedrohten Arten auf, heisst es

                                                                                                         Steinfliegenlarve   Jakob Forster/waldzeit.ch

Köcherfliegenlarven           Michel Roggo/roggo.ch

                                                      Eintagsfliegenlarve    Jakob Forster/waldzeit.ch

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DOSSIER WASSERQUALITÄT < umwelt 1/2017

aber, dass sich isolierte Kleinbestände bedrohter Arten   die Abwasserreinigungsanlagen sowie Abschwem-
wieder ausbreiten und erholen können. Und was an          mungen von Strassen und landwirtschaftlich genutz-
Artenvielfalt einmal verloren gegangen ist, kann nicht    ten Flächen führten immer wieder zu kurzzeitigen
wieder zurückgebracht werden.                             Spitzenbelastungen, die «ein erhöhtes Risiko für das
                                                          Ökosystem» darstellen, heisst es dazu im 2004 erschie-
Insektizide töten Wasserinsekten                          nenen Schlussbericht. Hormonaktive Substanzen, die
Eine neuere Bedrohung für Gewässerorganismen sind         eine Verweiblichung männlicher Fische verursachen
Mikroverunreinigungen durch Schadstoffe wie hor-          können, erreichten unterhalb von ARAs mit grossem
monaktive Substanzen oder Pestizide. Gemäss Roten         Einzugsgebiet und geringer Verdünnung «Konzentra-
Listen sind Arten aller Gruppen von Wassertieren von      tionen im Bereich der Wirkschwelle».
diesen Schadstoffen betroffen.
  Erhebungen über den Zustand des Makrozoobenthos         Sauberes Wasser in naturnahen Bächen
im Rahmen der NAWA zeigten, dass Arten, die emp-          Um den aquatischen Organismen das Überleben zu
findlich auf Pestizide reagieren, besonders unter Druck   erleichtern, braucht es somit zweierlei: Gewässerre-
stehen. Das sind vor allem die Larven von Insekten wie    vitalisierung und eine Verbesserung der Wasserqua-
Köcher-, Eintags- und Steinfliegen, denen Rückstände      lität. Das eine hilft dem anderen: Extensiv genutzte
von Insektengiften im Wasser zusetzen. Ihre Häufig-       Gewässerräume mit intakter Vegetation vermindern
keit und Vielfalt ist stärker eingeschränkt als bei den   den Eintrag von Schadstoffen.
Arten, die Pestizide besser ertragen. Auch hat sich          An der Urtenen hat man denn auch beides getan,
gezeigt, dass ihre Präsenz umso geringer ist, je höher    allerdings nicht an der NAWA-Probestrecke, sondern
die Anteile von Ackerflächen im Einzugsgebiet eines       weiter oben. 2001 wurde die ARA Holzmühle oberhalb
Gewässers sind. Ist das Einzugsgebiet bewaldet, deutet    von Kernenried (BE) saniert. Dies bewirkte eine spürba-
dies auf relativ geringe menschliche Einflüsse hin.       re Verbesserung der Wasserqualität. Danach erfolgte
  In die gleiche Richtung weisen die Ergebnisse einer     die Revitalisierung des fast vollständig verbauten
schweizweiten Studie über das Makrozoobenthos, bei        Gewässerabschnitts. Seither hat der Bach hier wieder
der ausschliesslich Proben aus kleinen Fliessgewässern    ein reich strukturiertes Gerinne. An flachen Ufern
hauptsächlich aus dem Schweizer Mittelland analy-         können Sand- und Kiesbänke entstehen, an Steilufern
siert wurden (siehe Artikel Seite 16 ff.). Kleinbäche     Anrisse. Die Ufer sind vielfältig bewachsen.
bilden streckenmässig 75 Prozent des hiesigen Gewäs-         Eine 2008 durchgeführte Erfolgskontrolle zeigte hier
sernetzes. Für die Fauna und Flora sind sie von hoher     einen deutlichen Anstieg der Fischbestände. Zuvor
Bedeutung. Für etliche Arten des Makrozoobenthos          fehlende Arten wie die Barbe waren zurückgekehrt,
bilden sie den Hauptlebensraum, und manchen Fi-           und die Bachforelle pflanzt sich im revitalisierten
schen dienen sie als Laichgewässer und Kinderstuben       Abschnitt wieder erfolgreich fort. Dies ganz im Un-
sowie als Refugien, in die sie sich bei Hochwasser oder   terschied zum eingangs beschriebenen Abschnitt der
Gewässerverschmutzungen zurückziehen können.              Urtenen bachabwärts. Dort leben, wie gesagt, gerade
  Die Analyse von über 700 Makrozoobenthosproben          mal 5 Fischarten, darunter vor allem der anspruchslose
aus kleinen Fliessgewässern ergab, dass in diesen die     Stichling, der an diesem Standort eigentlich gar nicht
Welt der wirbellosen Wassertiere noch stärker be-         heimisch ist.
einträchtigt ist als in grösseren Bächen und Flüssen.
Und auch hier weisen die Untersuchungen vor allem
                                                          Weiterführende Links zum Artikel:
in tiefer gelegenen, intensiv genutzten Gebieten auf
                                                          www.bafu.admin.ch/magazin2017-1-02
eine Pestizidbelastung hin.
                                                                      KONTAKTE
Fische leiden unter Mikroverunreinigungen                             Gregor Thomas
Mit dem Einfluss der Wasserqualität auf das Wohl und                  Sektion Revitalisierung und
Wehe der Fische befasste sich das Forschungsprojekt                   Gewässerbewirtschaftung
                                                                      BAFU
«Fischnetz». Dieses wurde Ende der 1990er-Jahre lan-
                                                                      +41 58 465 41 35
ciert, um die Ursachen des dramatischen Rückgangs                     gregor.thomas@bafu.admin.ch
der Bestände mehrerer Fischarten, namentlich der
Forelle, zu ergründen.                                                Andreas Knutti
                                                                      Sektion Lebensraum Gewässer
  Das Projekt prüfte verschiedene Hypothesen. Davon
                                                                      BAFU
betraf eine die ungenügende Wasserqualität. Die Ein-                  +41 58 464 72 83
träge von Siedlungs- und Industriechemikalien über                    andreas.knutti@bafu.admin.ch

                                                                                                                              13
umwelt 1/2017 > DOSSIER WASSERQUALITÄT

        HAUSHALTE: INNEN- UND AUSSENRÄUME                             SPITÄLER            INDUSTRIE UND GEWERBE: PRODUKTION UND BAU

                                                                       H
     z. B. Arzneimittel, Biozide   z. B. Pflanzenschutzmittel,      z. B. Arzneimittel     z. B. Industriechemikalien,   z. B. Biozide,
                                   Biozide                                                 Schwermetalle                 Industriechemikalien

                        KANALISATION

                                                                                         Mischwasser Überläufe           Regenwasser      Industrie
               ALTLASTEN UND DEPONIEN                                                                                       Kanäle        Einleitung

                                                                                         Leckage Kanalisation

                                                                                 ARA

       Oberflächenabfluss            Sickerwassereinleitung

                                                                                                                 GRUNDWASSERFASSUNG

         Verschmutzungsquellen
         Seen, Flüsse und Bäche, aber auch das
         Grundwasser werden aus unterschiedlichen             BODEN
         Quellen belastet. Diese Grafik bietet einen
         Überblick über die wichtigsten Verursacher                               VERSICKERUNG
         solcher Verschmutzungen. Sie zeigt, auf
         welchen Wegen Nähr- und Schadstoffe ins
         Wasser gelangen, und illustriert die unter-
         schiedlichen Verbreitungswege sowie die                 GRUNDWASSER
         Auswirkungen auf die Umwelt.

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DOSSIER WASSERQUALITÄT < umwelt 1/2017

LANDWIRTSCHAFT: TIERHALTUNG UND PFLANZENBAU                                   VERKEHR: STRASSE UND BAHN

  z. B. natürliche Östrogene, z. B. Pflanzenschutzmittel,   z. B. PAK (polyzyklische aromatische     z. B. Herbizide, Schwermetalle
  Arzneimittel                Schwermetalle                 Kohlenwasserstoffe), Schwermetalle

                 Drainage Abdrift    Oberflächenabfluss                                            Verkehrswegeentwässerung

                                                               FLORA UND FAUNA
                     FLIESSGEWÄSSER

                                                                                                     STEHENDES GEWÄSSER

          INFILTRATION
                                                            SICHERE TRINKWASSERRESSOURCEN

                                                                                                                                      15
umwelt 1/2017 > DOSSIER WASSERQUALITÄT

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DOSSIER WASSERQUALITÄT < umwelt 1/2017

KLEINE FLIESSGEWÄSSER

Idyllisch plätschernde
Lebensadern
Bäche und Flüsse sind aus ökologischer Sicht besonders wertvoll. Für manche Tiere und Pflanzen
stellen sie gar den wichtigsten Lebensraum dar. Und die kleinen Fliessgewässer reagieren ganz
besonders empfindlich auf Belastungen durch menschliche Aktivitäten, wie eine Tour durch den
Kanton St. Gallen zeigt. Text: Kaspar Meuli; Bilder: Markus Forte, Ex-Press/BAFU

Ein Lächeln huscht über Vera Leibs Gesicht.                kroverunreinigungen, entdecken auch noch so
«Da geht mir das Herz auf», sagt die Biologin,             aufmerksame Fischer und Spaziergängerinnen
greift sich eine grosse Steinfliegenlarve aus dem          nicht. Doch davon später.
Netz und setzt sich das Tierchen auf die Hand.
«Manchmal vergesse ich ganz, dass es so etwas              Seltene Lebewesen – gesunder Bach
gibt.» Wir befinden uns in einem Wald keine                Nun setzt die Biologin zu einem zweiten Fangzug
15 Autominuten von St. Gallen entfernt. Ange-              an. Sie legt ihr Netz auf der Sohle des Hörlen-
nehm kühl ist es an diesem Sommermorgen, und               bachs aus, bewegt mit ihrem rechten Fuss einen
auf dem sanft dahinplätschernden Bach, in dem              Stein, scheucht so die Wasserlebewesen auf und
wir stehen, spielen Sonnenstrahlen.                        hebt dann die Beute sorgfältig aus dem Wasser.
  Vera Leib, die Spezialistin für kleine Fliess-           «Zuerst denkt man immer, man finde nichts, aber
gewässer im Amt für Umwelt und Energie des                 beim genaueren Hinsehen zeigt sich sofort, dass
Kantons St. Gallen, hat den quicklebendigen                sich etwas bewegt.» Tatsächlich. Im Fanggut, das
Hörlenbach erst vor Kurzem entdeckt. Meistens              Vera Leib in eine Laborschale geschüttet hat, ent-
hat sie es nicht mit Vorzeigegewässern zu tun,
sondern mit Problemfällen. Und davon gibt es
genug. Rund fünfzig Mal im Jahr werden dem
                                                              «Wenn ich sehr grosse Steinf liegenlarven
Schadendienst ihres Amtes Gewässerverschmut-                  finde, kann ich mit Sicherheit sagen, dass
zungen gemeldet, nicht selten auch Fischsterben.
Die wichtigsten Ursachen für die Schadensfälle                die Wasserqualität eines Baches während der
liegen bei Industrie- und Gewerbebetrieben,                   letzten Jahre gut war.»         Vera Leib, AFU St. Gallen
landwirtschaftlichen Tätigkeiten oder auf den
Strassen. Viele Verschmutzungen werden aller-
dings gar nicht gemeldet. Und einen weiteren               deckt sie weitere Steinfliegenlarven, etwa einen
wichtigen Grund für den schlechten Zustand                 Zentimeter lang, hellbraun gefärbt und mit den
von Bächen, nämlich die Belastung durch Mi-                charakteristischen Schwanzfäden ausgestattet. Die
                                                           Gewässerspezialistin ist mehr als zufrieden: «Wenn
                                                           ich sehr grosse Larven dieser Art finde, kann ich
                                                           mit Sicherheit sagen, dass die Wasserqualität eines
Die Biologin Verena Leib beprobt den Hörlenbach in         Baches während der letzten Jahre gut war.»
der Nähe von St. Gallen. Die Steinfliegenlarven, die sie     Der Grund für eine derart präzise Aussage: Die
dabei unter anderem findet, sind Zeichen einer sehr        Larven der Steinfliege wachsen während einer
guten Wasserqualität.                                      Zeitspanne von bis zu drei Jahren im Wasser

                                                                                                                                 17
umwelt 1/2017 > DOSSIER WASSERQUALITÄT

                       heran, und sie reagieren sehr empfindlich auf        in den sie sich bei Hochwasser oder nach Ver-
                       Verschmutzungen. Genau deshalb eignen sie sich       schmutzungen grösserer Gewässer zurückziehen
                       wie die anderen wirbellosen Wassertiere – auch       können. Sterben nach solchen Störungen Fische
                       Makrozoobenthos genannt – als Indikatoren für        oder kleinere Gewässertiere in den Hauptgewäs-
                       den biologischen Zustand eines Gewässers. Am         sern aus, ist eine Wiederbesiedlung nur dank
                       aussagekräftigsten für Vera Leibs Beurteilungen      intakter Seitenbäche möglich.
                       sind neben der Steinfliege die Eintagsfliege, die      Bäche erfüllen nicht nur grundlegende ökolo-
                       Köcherfliege und der Flohkrebs. Die Biologin do-     gische Funktionen, sie reagieren auch besonders
                       kumentiert das Vorkommen und die Häufigkeit          empfindlich auf Belastungen. Und die sind in
                       dieser Arten in regelmässigen Abständen, vor         kleinen Fliessgewässern etwa durch Pestizidrück-
                       allem in Gebieten mit hohem Nutzungsdruck,           stände besonders hoch. Der Grad der Verschmut-
                       und bildet so die mehr oder weniger gute Befind-     zung schwankt allerdings je nach Ort und Zeit
                       lichkeit der St. Galler Bäche ab. Kombiniert mit     stark. Am problematischsten ist die Situation,
                       den chemischen Untersuchungen der Gewässer           wenn Pflanzenschutzmittel nach einem starken
                       ergibt sich daraus folgendes besorgniserregendes     Regen direkt vom Feld in einen Bach gelangen.
                       Bild: 35 von 50 untersuchten Bächen im Kanton        Dann treten bei den Mikroverunreinigungen
                       zeigen erhebliche Mängel punkto Qualität und         Konzentrationsspitzen auf, die um ein Vielfaches
                       erfüllen die Anforderungen der eidgenössischen       höher sind als in Flüssen.
                       Gewässerschutzverordnung nicht – ganz im               «Im stark genutzten Mittelland kann eine
                       Unterschied zu den grossen Bächen und Flüssen,       Vielzahl der Bäche ihre wichtigen natürlichen
                       deren Qualität in St. Gallen gut ist.                Aufgaben nicht mehr erfüllen», bilanziert
                                                                            Christian Leu und zieht einen Vergleich mit dem
                                                                            Sandoz-Unfall in Schweizerhalle, der die Men-
        Bäche erfüllen nicht nur grundlegende                               schen in der Schweiz vor 30 Jahren aufrüttelte
        ökologische Funktionen, sie reagieren auch                          und verschiedene Massnahmen zur Verbesserung
                                                                            der Wasserqualität des Rheins auslöste. «Heute
        besonders empfindlich auf Belastungen.                              finden in unserem Land fast täglich kleinere
                                                                            und grössere Verschmutzungen statt, die im
                                                                            Kleinen ähnlich schwerwiegende Folgen für
                                                                            unsere Bäche haben. Es ist an der Zeit, etwas
                       Defizite von Öffentlichkeit kaum bemerkt             gegen diesen Missstand zu unternehmen.» Denn
                       Wie eine schweizweite Untersuchung im Auftrag        längst ist klar, wie sich die stoffliche Belastung
                       des BAFU zeigt, unterscheidet sich der Zustand der   senken lässt. Bei Abwasserreinigungsanlagen
                       kleinen Bäche stark. Von solchen in naturnahem       (ARAs) existieren dafür technische Massnahmen,
                       Zustand bis zu überaus stark beeinträchtigten        doch diese leiten das gereinigte Wasser praktisch
                       findet sich die gesamte Bandbreite. Die Hälfte       ausschliesslich in mittlere und grosse Gewässer.
                       der untersuchten Bäche, so das Ergebnis von über     Zur Verbesserung der Wasserqualität der kleinen
                       700 Makrozoobenthos-Untersuchungen, befin-           Gewässer hingegen braucht es eine ganze Palette
                       det sich in einem ungenügenden Zustand. Am           von Massnahmen (siehe Artikel 21 ff.).
                       grössten sind die Defizite in intensiv genutzten
                       Regionen mit viel Siedlung, Landwirtschaft und       Naturnahe Bäche besser schützen
                       Verkehr. «Der Zustand vieler Bäche ist bedenklich    «Eine zentrale Voraussetzung für die Umsetzung
                       und wird in der Öffentlichkeit kaum wahrge-          dieser Massnahmen», sagt Christian Leu, «ist, dass
                       nommen», erklärt Christian Leu, der Leiter der                                             Fortsetzung auf Seite 20
                       Sektion Wasserqualität im BAFU. Allzu schlecht
                       bekannt sei auch, welch wichtige Rolle die Bäche
                       spielten. Sie machen nicht nur drei Viertel des      Die Wasserqualität des Sickerkanals (rechts) bei
                       65 000 Kilometer langen Fliessgewässernetzes der     Diepoldsau (SG) lässt stark zu wünschen übrig. Ein
                       Schweiz aus, sie sind aus ökologischer Sicht auch    klares Indiz dafür sind die vielen Schlammröhren-
                       besonders wertvoll. Für manche wirbellosen Was-      würmer. Sie bilden eine rote Spur im Wasser (oben
                       sertiere stellen sie gar den wichtigsten Lebens-     links), die von blossem Auge sichtbar ist. Auch Schaum
                       raum dar. Aber auch viele Fische nutzen sie zum      (oben rechts) kann auf eine starke Belastung eines
                       Laichen, Heranwachsen und als Rückzugsraum,          Gewässers mit organischen Stoffen hindeuten.

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DOSSIER WASSERQUALITÄT < umwelt 1/2017

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umwelt 1/2017 > DOSSIER WASSERQUALITÄT

wir uns der Verantwortung gegenüber diesem            Schlammröhrenwürmern, die sich blitzschnell in
wichtigen Lebensraum bewusst werden und ent-          ihre Röhrenbehausungen zurückziehen, sobald
sprechend handeln.» Allerdings nicht nur beim         sie sich gestört fühlen. Doch die Gewässerspezi-
Umgang mit Chemikalien, sondern auch indem            alistin packt ihr Netz gar nicht erst aus, die Indi-
wir den kleinen Gewässern den Raum geben, den         katoren für die Wasserqualität sind von blossem
sie brauchen, um ihre vielfältigen Funktionen         Auge sichtbar. «Die roten Spuren sind ein klares
wahrzunehmen. Wichtig sei auch, sich nicht            Zeichen für eine Verschmutzung», erklärt sie. «In
nur auf die Gewässer in schlechtem Zustand            sauberen Bächen kommen diese Würmer nie so
zu konzentrieren. Es müssten konsequent auch          massiv, sondern nur vereinzelt vor.»
diejenigen Bäche geschützt werden, die sich noch        Messungen haben ergeben, dass der Sicker-
in naturnahem Zustand befänden.                       kanal mit Ammoniumstickstoff belastet ist. Die
   Vor dem Hintergrund dieser Fakten ist der Hör-     vorgefundenen Konzentrationen liegen deutlich
lenbach in den Hügeln oberhalb von St. Gallen         über dem Grenzwert. Der schädliche Stoff ist
ein richtiger Glücksfall. Er schlängelt sich nicht    Bestandteil von Gülle und kann über die Drai-
nur idyllisch durch Mischwald und Grasland, er        nageleitungen direkt ins Gewässer gelangen.
ist auch aus biologischer Sicht intakt. Bei unserer
Beurteilungstour findet Vera Leib nur Tierchen,       Schnelles und entschiedenes Handeln gefragt
die für gesundes Wasser sprechen. Und auch            Bei ihren Touren über Land kommt die Gewässer-
die einfachen chemischen und physikalischen           spezialistin oft mit Leuten ins Gespräch, und dann
Messungen, die sie direkt vor Ort ausführt, be-       betont sie jeweils die ökologische Bedeutung der
stärken den Befund: «Wir haben es hier wirklich       kleinen Gewässer. «Ich versuche immer, die Leute
mit einem wunderbaren Bächlein zu tun.»               zu sensibilisieren und ihnen aufzuzeigen, welche
   Doch weshalb geht es dem Hörlenbach im             Folgen der unsorgfältige Umgang mit Gülle oder
Unterschied zu anderen Bächen eigentlich so           Abwasser haben kann.» Doch bei offensichtlichen
gut? Die Antwort lässt sich so zusammenfassen:        Verstössen gegen gesetzliche Vorschriften sei es
Der Bach ist noch jung, wir befinden uns nur          nicht mit gutem Zureden getan, dann greife der
wenige hundert Meter unterhalb der Quelle, er         Kanton auch hart durch.
fliesst vor allem durch den Wald, und in seinem         Weil die Zeit drängt. Vera Leib ist überzeugt,
Einzugsgebiet liegt bloss ein einziger Bauernhof.     dass wir alle schnell und entschieden handeln
                                                      müssen, um die unzähligen belasteten Bäche
Rote Würmer im Sickerkanal                            zu dem zu machen, was sie eigentlich sein
Wir ziehen unsere Gummistiefel aus, steigen ins       sollten: wichtige Lebensräume der Schweiz für
Auto und fahren mit der Biologin zu unserem           Flora und Fauna. Gefordert ist das Handeln von
zweiten Ortstermin. Er liegt im Rheintal ganz im      Privatpersonen, die zur Belastung mit Mikrover-
Osten des Kantons. Genauer bei Diepoldsau, der        unreinigungen beitragen, wenn sie mit Giften
einzigen Schweizer Gemeinde auf der rechten           nicht sorgsam genug umgehen. Oder auf dem
Flussseite des Alpenrheins. Das kleine Gewässer,      Bau, wenn schädliches Betonwasser bedenkenlos
das uns Vera Leib zeigen will, gehört zu ihren        in einen Bach geleitet wird. Und handeln müssen
Sorgenkindern und trägt nicht einmal einen            natürlich auch die Bauern und Bäuerinnen. «Mit
richtigen Namen. Schnurgerade zieht sich der          einer guten und sorgfältigen Pflanzenschutz- und
«Sickerkanal rechts» entlang von grossen Mais-        Düngepraxis», weiss die Biologin, «können die
feldern und Kunstwiesen dahin, eingezwängt            Landwirte viel für die kleinen Bäche bewirken.»
zwischen Betonmauern und einer mit Brettern
beplankten Sohle.
   Im St. Galler Rheintal wird an vielen Orten in-    Weiterführende Links zum Artikel:
tensiv Landwirtschaft betrieben, denn die ehema-      www.bafu.admin.ch/magazin2017-1-03
ligen Moorflächen sind topfeben und fruchtbar.
Wegen des hohen Grundwasserspiegels muss der
Boden allerdings mithilfe von Drainageleitungen                    KONTAKT
entwässert werden. Die Biologin marschiert auf                     Christian Leu
                                                                   Sektionschef Wasserqualität
eine Stelle zu, an der eines der Entwässerungs-
                                                                   BAFU
rohre in den Kanal mündet, und deutet auf rote                     +41 58 463 71 77
Farbflecken im Wasser: Ansammlungen von                            christian.leu@bafu.admin.ch

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DOSSIER WASSERQUALITÄT < umwelt 1/2017

LANDWIRTSCHAFT UND MIKROVERUNREINIGUNGEN

Ein Strauss von Massnahmen
Den Schweizer Bächen und Flüssen machen Mikroverunreinigungen zu schaffen. Um diese Belastun-
gen zu verringern, gibt es einerseits technische Lösungen bei der Abwasserreinigung. Auf der anderen
Seite aber braucht es eine ganze Palette von Massnahmen, um zu verhindern, dass beispielsweise
Pflanzenschutzmittel ausserhalb der Siedlungen in die Fliessgewässer gelangen. Innovative Methoden
dazu gibt es viele, sie müssen bloss angewendet werden. Text: Cornélia Mühlberger de Preux; Bilder:
Flurin Bertschinger, Ex-Press/BAFU

                                                Winzerin Emilienne Hutin spült in der Reinigungsanlage von Dardagny (GE)
                                                ein Spritzgerät zum Ausbringen von Pflanzenschutzmitteln.

Ein heisser Tag im August auf dem «Domaine Les Hutins»   hen. Doch diese Ruhe täuscht. Die Reben sind nämlich
in Dardagny (GE). An diesem Morgen sind die Rebberge     allerhand Gefahren ausgesetzt: Pilzen, Schadinsekten
beidseits des bewaldeten Tals, durch das sich ein Bach   und Witterungseinflüssen. 2016 war wegen der starken
– der Ruisseau des Charmilles – schlängelt, menschen-    Regenfälle ein besonders schwieriges Jahr. «Die Heraus-
leer. Chardonnay, Weissburgunder und Savagnin Rose       forderung ist gross: Es gilt, die Risiken einzudämmen
können in aller Ruhe reifen. Heute sind weder Unkraut-   und gleichzeitig den Bach zu schonen», erklärt Emi-
bekämpfung noch irgendwelche Behandlungen vorgese-       lienne Hutin, Leiterin des Rebgutes. Dabei versucht die

                                                                                                                     21
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