Forschende in die Politik . 10 - Die längsten Höhlen der Welt . 24 Der Islam als Problem der ...
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un Forsch olitik Forschende in die Politik !?! ................................... 10 Die längsten Höhlen Der Islam als Problem Sonderaufwand der Welt ................. 24 der Gesellschaft ..... 34 Ebola ..................... 44
Forschende ins Parlament! «Forschende in die Politik !?!» lautet der Schwerpunkt dieser Ausgabe. Über das Thema waren wir uns in der Redaktion schnell einig, nicht aber über das Satzzeichen: Ausrufe- oder Fragezeichen? Ständerat und Präventivmediziner Felix Gutzwiller (S. 13) würde wohl ein Ausrufezeichen setzen, ebenso die italienische Senatorin und Stammzellexpertin Elena Cattaneo (S. 19). Urs Hafner, der mit dem seit über 100 Jahren aktuellen Soziologen Max Weber argumentiert, spricht sich mindestens für ein Fragezeichen aus, wenn nicht gar für ein zusätzliches «nicht»: Wissenschaft und Politik seien möglichst getrennt zu halten – die stets gefährdete Autonomie der Wissenschaft sei gegen den Einfluss von Politik und Wirtschaft zu verteidigen (S. 16). Was nun? Es gilt wohl, die Gesellschaftsbereiche und die Menschen auseinanderzuhalten. Tatsächlich verfolgen Wissenschaft und Politik jeweils andere Ziele und gehorchen anderen Werten und Regeln. Die Wissenschaft tut gut daran, auf ihre Autonomie zu pochen. Politikerinnen werden aber nicht als Vertreterinnen einer Branche gewählt. Gewählt wird die Person, mit ihren Einstellungen, Erfahrungen und Fähigkeiten. Es ist einem Professor zuzutrauen, dass er im Labor anders arbeitet als in der Wandelhalle. Falls es in der Politik mehr Menschen braucht, welche die wissenschaftlichen Werte teilen, die wissenschaftlichen Methoden anerkennen und über wissenschaftlich fundiertes Wissen verfügen, dann muss es ohne Wenn und Aber heissen: «Forschende in die Politik!» Und falls die wissenschaftlichen Institutionen auch dieser Meinung sind, müssen sie überlegen, wie sie dafür ein günstiges Umfeld schaffen können. Marcel Falk, Redaktor
Inhalt 24 Richard Schmittner/Xibalba Dive Center Keystone/EPA/STR Schwerpunkt Forschende in die Politik !?! Umwelt und Technik 10 Forschende in die Politik !?! 24 Die längsten Höhlen der Welt Den Mayas galt das Karsthöhlensystem der Halbinsel Yukatan als Eingang zur Unterwelt. Schweizer Forscher sind seiner Entstehungsgeschichte auf der Spur. Die Politik ist immer stärker auf wissen- 26 schaftliche Expertise angewiesen, doch Die Erde von oben Neue Computermodelle ermöglichen viele Forschende zögern, selber politisch bessere Auswertungen von Satelliten bildern. aktiv zu werden. Drei Schlaglichter auf eine 27 schwierige und notwendige Beziehung. Komplexe blaue Laser Technik für Planetensuche Grönländische Eiswanderung 13 «Die Wichtigkeit von Forschenden in der Politik wird unterschätzt» 16 «Keine Abstimmungsparolen ausgeben» 19 Wissenschaftler gegen Pseudowissenschaft 4 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
28 34 42 Keystone/AP Photo/Manu Fernandez Timothée Brütsch Keystone/Peter Schneider Kultur und Gesellschaft Wissen und Politik Biologie und Medizin 28 34 42 Separatistische Parteien machen «Der Islam erscheint als Problem Auf dem Ameisenfriedhof Nationalismus salonfähig der Gesellschaft» Ameisen verfügen über eine soziale In Europa fordern mehrere reiche Regio- In Konflikten um Schulschwimmen oder Immunität und erstaunliche kollektive nen ihre Unabhängigkeit. Die Rhetorik der Minarette wollen alle Beteiligten ihre Abwehrmechanismen. politischen Parteien ist überall ähnlich. Strukturen absichern, sagt Islamwissen- schaftler Reinhard Schulze. 44 30 Sonderaufwand Ebola «Wir schaffen Architektur, 37 Ein Blick hinter die Kulissen eines späten, und sie schafft uns» Das Schwinden der Vielfalt aber umso entschiedeneren medizini Indem die Kunsthistorikerin Anna Minta Wer bei der Biodiversität nur auf Zahlen schen Grosseinsatzes. repräsentative Bauten deutet, fühlt sie der schielt, schaut am Kern der Sache vorbei. politischen Kultur den Puls. 46 40 Alles in Zucker 32 Bändiger der Informationsflut Eine neue Substanzklasse ist in den Fokus Bluttaten in Boston und Basel Durch die Digitalisierung rücken akade- der medizinischen Forschung gerückt. Mord und Totschlag gibt es in den USA mische Bibliotheken näher und aktiver an deutlich häufiger als in Europa. Das ist den Wissenschaftsbetrieb. 47 kein neues Phänomen. Krebsbehandlung bei Kindern Impfstoff-Mix gegen Malaria 33 Falsches Lächeln entlarven Soziale Basler Kelten Verkannte Versammlung Vom Babyboom zum Babybust Im Bild Vor Ort Wie funktionierts? 6 22 49 Artus in Gold Nicht sehr sonnig Verzerrte Wörter haben a usgedient kontrovers Leserbriefe Aus erster Hand 8 48 50 Die Zukunft des Lexikons Schadet Schaulaufen der Wissenschaft? Dauerhaftes Wissen schaffen Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104 5
Artus in Gold (Etwa 1,3-fach vergrössert) «Im Krakauer Domschatz wird ein goldenes Vortragekreuz aufbewahrt, auf dem Fragmente zweier Kronen aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts verarbeitet sind. An der markanten Zackenkontur des horizontalen Kreuzarms ist die ex- klusivere der beiden Kronen deutlich erkennbar. Da sie zusammenhängend montiert ist, kann ihr hochkomplexes Bildprogramm auch in der sekundä ren, sakralen Funktion weiterhin als Erzählung gelesen werden. Es greift den ersten deutschen Artusroman – den ‹Erec› Hartmanns von Aue – auf und gilt als älteste bekannte Umsetzung eines mittelalterlichen Romanstoffes in der Kleinkunst. Die Krone zählt mit den fast gleichzeitig entstandenen monumentalen Iwein- Fresken auf Burg Rodenegg in Süd- tirol zu den frühesten profanliterari- schen Bildgegenständen überhaupt. Wegen der liturgischen Verwendung des Kronenkreuzes der Öffentlichkeit entzogen, wird der Erec-Zyklus hier erstmals umfassend erschlossen und einem mediävistisch interessierten Publikum zugänglich gemacht.» Soweit der Klappentext eines monu- mentalen Buches über ein monu- mentales Kreuz – für an trockene, formlose Texte gewohnte Natur wissenschaftler kaum zu glauben, dass es sich um eine Dissertation handelt. Joanna Mühlemann hat an der Universität Freiburg doktoriert. Sie schreibt im Vorwort: «Mein Interesse am Kronenkreuz und am Erec-Zyklus auf dessen Querbalken wurzelt in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Königs- stadt Krakau, wo ich aufgewachsen bin, dem für einen Grenzgänger zwischen zwei Kulturen typischen Synthese-Bedürfnis sowie der Sensi- bilität für das Fremde im vermeintlich Vertrauten (und umgekehrt).» va J. Mühlemann (2013): Artus in Gold – Der Erec-Zyklus auf dem Krakauer Kronenkreuz. 368 Seiten, Michael-Imhof- Verlag. Bild: Stanislaw Michta Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104 7
kontrovers Valérie Chételat (Fotomontage) Die Zukunft des Lexikons Z – das «Historische Lexikon der Schweiz» ist am Ende des Alphabets. Ist das auch das Ende des Lexikons? Macht Wikipedia die von Fachleuten geschriebenen Wissenssammlungen überflüssig? Keineswegs, findet nicht nur François Vallotton, Mitglied des Stiftungsrats des historischen Lexikons, sondern auch der langjährige Wikipedianer Charles Andrès. D er Zufall wollte es, dass jüngst zwei ist nach wie vor absolut plausibel, vor allem Text einen Beitrag zum lexikografischen Meilensteine der Lexikografie zeit- im Rückblick. Ein zweites Argument be- Gesamtkonzept leisten. lich zusammenfielen: Erstens die trifft die Optionen zum Recherchieren und Vor dieser Herausforderung steht auch Eröffnung eines Insolvenzverfah- Gruppieren von Informationen. Das Nach- das neue Projekt des «Historischen Le- rens gegen die renommierte «Encylopedia schlagen beschränkt sich hier nicht wie bei xikons der Schweiz», das derzeit in en- Universalis» und zweitens die Veröffentli- den meisten Online-Fachwörterbüchern ger Verbindung mit der Schweizerischen chung des dreizehnten und letzten Bandes auf eine Volltextsuche. Vielfältige Funktio Akademie der Geistes- und Sozialwissen- des «Historischen Lexikons der Schweiz» nen zur Indexierung und Semantisierung schaften ausgearbeitet wird. Es bietet ein als Abschluss eines monumentalen Projek- spannendes Labor für die gesamte Histo- tes, das fast ein Vierteljahrhundert in An- rik-Gemeinschaft und eine Chance, eine spruch nahm und seit 1998 nicht mehr nur jahrhundertealte schweizerische Tradition auf Papier, sondern auch in elektronischer «Multimedia-Konzepte weiterzuführen. Form erscheint. Bedeutet dies, dass Enzyklopädien nur müssen mit der Vorherrschaft François Vallotton ist Professor für Zeitgeschichte noch ein Relikt der Vergangenheit sind, des Textes über Bild und Ton an der Universität Lausanne und Mitglied des weil sie durch neue Recherchemöglichkei- Stiftungsrates des «Historischen Lexikons der ten über das Internet verdrängt werden? brechen.» Schweiz». Vallotton ist auf die Geschichte des Diesen Schluss zu ziehen wäre voreilig, François Vallotton Verlagswesens und der Medien spezialisiert. denn es bleibt durchaus weiterhin Platz für digitale Projekte mit hohem wissenschaft- lichem Mehrwert, als Alternative, oder vielleicht eher als Ergänzung, zu partizipa- werden sich künftig als unverzichtbare tiven Nachschlagewerken wie Wikipedia. Werkzeuge erweisen. Ebenso müssen Links Dass solche Werke auch künftig ihre Be- zu gewissen Referenzdatenbanken in den rechtigung haben werden, wenn sie denn jeweiligen Fachbereichen gewährleistet gewisse Voraussetzungen erfüllen, möchte werden. Schliesslich herrscht zwar Einig- ich am Beispiel des historischen Lexikons keit darüber, dass Multimedia-Konzepte aufzeigen. attraktiv sind, sie müssen aber Gelegenheit Die Entwicklung eines in sich geschlos- bieten, mit der Vorherrschaft des Textes senen, kontrollierten lexikografischen über Bild und Ton zu brechen. Audiovisuel- Konzepts, das mehr Gewicht auf Ausgewo- le Elemente dürfen nicht auf eine blosse Il- genheit und systematische Einträge legt lustration des gedruckten Textes reduziert als auf zufällige, subjektive Erweiterungen, werden, sondern müssen ebenso wie der 8 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
I m Allgemeinen wird lexikalisches Presse gibt Wikipedia die Schuld, die Enzy- Mit der Entwicklung des partizipativen Wissen mit dem Anfangsstadium des klopädie konkurrenziert, in Schieflage und Internets bieten sich den Nutzern neue Spracherwerbs assoziiert, beispielswei- schliesslich zum Kentern gebracht zu ha- Möglichkeiten. Sie können nicht nur Fra- se mit einem heranwachsenden Kind, ben. Dies legt den Schluss nahe, dass eine gen stellen, sondern beim Surfen nun auch das versucht, mit den Personen in seinem partizipative Enzyklopädie ein Gegenspie- zum Aufbau gemeinsamer Werke wie Wiki- Umfeld zu kommunizieren. Doch das Wis- ler traditioneller Werke ist. Aber wird da- pedia beitragen. Folgende Zahlen sprechen sen um die Bedeutung einzelner Wörter mit nicht eher das wirtschaftliche Modell Bände, was die Effizienz des neuen Modells spielt auch in der Erwachsenenwelt eine dieser Werke in Frage gestellt? angeht: Wikipedia war Ende 2014 in über Rolle, etwa wenn jemand eine Arbeitsstelle 280 Sprachen mit einem Korpus von über in einem Land annimmt, dessen Sprache 30 Millionen Artikeln verfügbar. er nicht beherrscht. Die Rolle des lexika- «Die Zukunft der Wikipedia ist nicht als Gegenpol zum lischen Wissens besteht somit darin, die traditionellen Modell des Sammelns von Menschen in die Lage zu versetzen, Gegen- Nachschlagewerke liegt in lexikalischem Wissen zu sehen, sondern stände und Konzepte zu identifizieren und ihrer Fähigkeit, Bestandteil als Ergänzung. Durch die partizipative darüber zu kommunizieren. Neu ist nicht Dimension spielen Fach- und Allgemein- lexikalisches Wissen an sich, sondern dass des Netzwerks des Wissens wissen zusammen. Mehrere zehntausend es weltweit gespeist und verbreitet wird. im Internet zu werden.» Artikel von Wikipedia auf Französisch, Im Lauf der Geschichte existierten zwei Deutsch und Italienisch zitieren das «His- Formen von Wissen nebeneinander: Fach- Charles Andrès torische Lexikon der Schweiz» als Referenz wissen und Allgemeinwissen. Das Fachwis- und verweisen auf die elektronische Ver- sen wird von den Gelehrten definiert und sion des Nachlagewerks. Genau hier liegt ist absolut in dem Sinne von «dies ist die Mit dem Siegeszug des Internets ist das die Zukunft solcher Nachschlagewerke: in Bezeichnung für das», während das Allge- lexikalische Wissen in das digitale Zeit ihrer Fähigkeit, Bestandteil des allgemei- meinwissen im Alltag dominiert und sich alter eingetreten und mit ihm auch die nen Netzwerks des Wissens im Internet dem Bedarf anpasst. Das lexikalische Wis- Verbreitungsart. Wörterbücher und Enzy- zu werden und damit zum ersten wirklich sen wird somit von Fachleuten festgelegt klopädien bieten nun auch Online-Versio universellen lexikalischen Korpus der Welt und in Wörterbüchern niedergeschrieben, nen an, um mit der Entwicklung Schritt beizutragen. es wird aber auch auf der Strasse verwendet zu halten und eine neue Kundschaft anzu- von Menschen, die sich nicht unbedingt da- sprechen. Diese Werke wurden entmate- Charles Andrès schreibt seit 2007 für Wikipedia. rum kümmern, ob der Sinn, den sie einem rialisiert, der Inhalt ist aber gleich geblie- Der Biologe arbeitet seit 2013 für Wikimedia Wort geben, wirklich der richtige ist. ben, ebenso der Preis, während die Kosten Schweiz. Ende 2014 befand sich die «Encylopedia um mehrere Grössenordnungen zurück Universalis» im Insolvenzverfahren. Die gegangen sind. Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104 9
Keystone/Christian Beutler Mehr Mobilität? Mehr Verdichtung? 10 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Schwerpunkt Forschende in die Politik !?! Forschende in die Politik Felix Gutzwiller plädiert dafür, dass Forschende im Parlament stärker vertreten sind. Denn die Politik wird zunehmend mit grossen Fragen der Wissenschaft konfrontiert. Die Wissenschaften sollten ihre Autonomie verteidigen und die politische Dimension ihrer Arbeit bedenken, ohne sich in den politischen Kampf zu werfen, meint Urs Hafner. Italien ist ein gutes Beispiel, wie wichtig politisches Engagement von Forschenden ist, berichtet Mirko Bischofberger. Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104 11
Keystone/Camera Press/Laura Smout Allergieprävention? Krankheitserreger? 12 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Schwerpunkt Forschende in die Politik !?! «Die Wichtigkeit von zuversichtlich, dass die Wissenschaft hier auch Antworten liefern wird, vorausgesetzt Forschenden in der Politik die Politik bietet die richtigen Rahmen bedingungen. Sollten auch mehr Forschende ins wird unterschätzt» Parlament? Die Wichtigkeit einer Präsenz von For- schenden in der Politik und im Parlament wird oft unterschätzt. Man denke zum Bei- spiel an die Landwirtschaft, die im Parla- Ständerat und Präventivmediziner Felix ment deutlich besser vertreten ist als die Gutzwiller im Gespräch über lokale Wissenschaften. Und das trägt Früchte: Die Landwirtschaft hat sich einen viel hö- Befindlichkeiten und den Anspruch auf heren Stellenwert im Parlament ergattern Weltbürgerlichkeit, den Stellenwert können. Es ist deshalb wichtig, dass auch die Wissenschaft im Parlament vertre- der Wissenschaft in der Politik und ten ist. Ich bin überzeugt, dass es genug den Sinn zweckfreier Forschung. Forschende gibt, die bereit wären, in der Von Mirko Bischofberger Öffentlichkeit aufzutreten. Doch sie müs- sen dafür sensibilisiert werden. Auch der Schweizerische Nationalfonds könnte mei- nes Erachtens dazu beitragen, indem er die Herr Gutzwiller, sollen Ihrer Meinung Mitglieder seines Forschungsrats stärker nach mehr Forschende in die Politik? zu politischem Engagement auffordert. Ich denke schon. Für eine gut funktionie- Wieso gibt es denn heute so wenig rende Demokratie ist es wichtig, dass in der Forschende in der Politik? Politik alle Branchen vertreten sind. Wenn Die Forschung in der Schweiz ist heute viel ich heute aber die Zusammensetzung des internationaler als früher. So kommt gut Parlaments studiere, so muss ich zugeben, die Hälfte unserer wissenschaftlichen Elite dass es nur sehr wenige Parlamentarier aus dem Ausland. Das ist sehr gut für unse- gibt, die Forschungserfahrung haben. Ich re Wettbewerbsfähigkeit. Doch es hat auch war über mehrere Jahre hinweg das einzi- Nachteile: Viele Forschende kennen zum ge Mitglied einer universitären Fakultät im Beispiel das politische System der Schweiz Ständerat! zu wenig. Und sie verstehen vielleicht oft Wie kamen Sie denn in die Politik? nicht, dass es am Schluss der Herr Mei- Als Epidemiologe und Präventivmediziner er aus einer kleinen Gemeinde ist, der bei ist man relativ nah an politischen Themen. einer Abstimmung entscheidet. Wissen- So habe ich mich zum Beispiel als Wissen- schaftspolitik, wie jede Politik, hat also viel schaftler stark mit der Organisation des mit dem lokalen Verständnis der direkt Gesundheitswesens befasst, ein politisch demokratischen Prozesse der Schweiz zu wichtiges Thema. Der Schritt von der For- tun. Und da gibt es bei den Forschenden schung in die Politik war somit nicht allzu sicher noch Optimierungsbedarf. gross im Vergleich zu anderen Forschen- Sie denken dabei an die Annahme der den, die zum Beispiel im Bereich der Quan- Masseneinwanderungsinitiative? tenphysik arbeiten. Auch, ja, aber nicht nur. Als wir in den Wie wichtig ist die Wissenschaft im Zeiten der Gen-Schutz-Initiative in den politischen Alltag heute? 90er Jahren zusammen mit dem Schwei- Sehr wichtig. Die Politik wird zunehmend zer Nobelpreisträger Rolf Zinkernagel mit mit grossen Fragen der Wissenschaft kon- politischen Plakaten die Bahnhofstrasse frontiert. Ich denke dabei an Fragen rund herunterliefen, da waren die Leute be um das Klima, die Energie, die Ernährung, eindruckt! Es ist wichtig und glaubwürdig, die Epidemien und das Gesundheitswesen, wenn Leute aus der Forschung politisch um nur einige zu nennen. Die Forschung auftreten. wird in Zukunft somit ein wichtiges The- Welche Rolle spielte die Forschung bei ma in der Politik sein und ein entschei- der Masseneinwanderungsinitiative im dender Treiber des Wohlstands. Dies bietet Februar 2014? gleichzeitig Raum und Potenzial für Inno- Die Masseneinwanderungsinitiative sprach vation und Fortschritt. Und ich bin sehr in der Bevölkerung ein wichtiges Thema Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104 13
Schwerpunkt Forschende in die Politik !?! Keystone/Steffen Schmidt an, das weit über die Forschung hinaus standen werden, für die Zivilgesellschaft geht. Das Spannungsfeld besteht zwischen im Bereich der Ethik und der Philosophie lokalen und regionalen Befindlichkeiten zum Beispiel. Das ist oft viel wichtiger als einerseits und dem Anspruch auf Weltbür- wirtschaftliche Produkte. Man darf den gerlichkeit andererseits. So eröffnet sich Begriff der Nützlichkeit nicht zu eng defi- ein politisch fundamentaler Widerspruch nieren. zwischen dem Zugang zu internationalem Wird der Begriff auch auf politischer Wissen einerseits und einem rein nationa- Ebene so verstanden? «Eine Nationalisierung des len Nutzen auf der anderen Seite. Ich denke schon. Auch in dem eidgenössi- Forschungsraums Schweiz wäre Was ist die Lösung? schen Departement, das seit Anfang 2013 Eine schwierige Frage. Die Bürger werden für Wirtschaft, Bildung und Forschung ein Riesenrückschritt für die sich wohl daran gewöhnen müssen, dass zuständig ist, scheint dies klar zu sein. So Forschung.» man nicht beides gleichzeitig haben kann. herrscht in meinen Augen auch Einigkeit Der Wohlstand in einem ressourcenarmen darüber, dass eine zunächst oft als zweck- Land wie der Schweiz gründet auf Innova- frei erscheinende Forschung häufig die tion und Forschung. Und diese wiederum Grundlage ist für spätere Innovationen in leben von einer gewissen Öffnung nach der Wirtschaft. aussen. Zu denken, dass die Schweiz eine Was ist denn das Ziel zweckfreier lokale Innovation auf nationaler Ebene ha- Forschung? ben könne, das ist meiner Meinung nach (Lacht.) In einem seiner Theaterstücke völlig falsch. Genau deshalb wird es in den legt Bertolt Brecht folgende Aussage in den kommenden Jahren auch entscheidend Mund von Galilei: «Ich halte dafür, dass sein, ob die Schweiz in den europäischen das einzige Ziel der Wissenschaft darin be- Wissenschaftsraum integriert sein wird steht, die Mühseligkeit der menschlichen oder nicht. Eine Nationalisierung des For- Existenz zu erleichtern.» Ich verstehe die- schungsraums Schweiz wäre ein Riesen- sen Spruch in dem Kontext des Buches als rückschritt für die Forschung! einen sehr angewandten Nützlichkeits Aber die Schweiz befindet sich doch begriff, mit einem ultimativen und prakti- heute an der Spitze der Weltforschung, schen Endzweck. Dies scheint mir aber zu vor allem was Patente und Innovation kurz zu greifen. Denn auch alles, was schön, anbelangt. wichtig und ethisch ist, sollte in dem Nütz- In der Tat. Und mir scheint auch, dass jun- lichkeitsbegriff enthalten sein. Auch eine ge Forschende heute mehr unternehme- Entdeckung eines Planeten ausserhalb un- rische Visionen haben als früher. Die Be- seres Sonnensystems vermag vielleicht die reitschaft ist heute deutlich höher, sich zu Mühseligkeit der menschlichen Existenz überlegen, wie man Ideen zum Nutzen der ein wenig zu erleichtern. Gesellschaft umsetzen kann, in Form von Spin-offs zum Beispiel. Zumindest in mei- Mirko Bischofberger ist wissenschaftlicher nem Umfeld scheint mir das so. Das finde Mitarbeiter des Forschungsratspräsidenten ich äusserst positiv. des SNF. Haben Sie sich auch einmal selbst ständig gemacht? Nein, das habe ich leider verpasst (lacht). Das ist in meinem Bereich aber auch nicht ganz einfach. Ich habe viel im Nonprofit bereich mit aufgebaut, wie zum Beispiel im Bereich von Gesundheitsorganisationen auf der Ebene von Gemeinden. Ist heute ein Trend zu mehr Nützlichkeit der Forschung beobachtbar? Felix Gutzwiller Es ist wichtig, dass die Sektoren Wirtschaft und Wissenschaft zusammenarbeiten. Felix Gutzwiller ist Politiker und Professor für Aber es darf natürlich nicht sein, dass die Medizin. Er war von 1988 bis 2013 Direktor Wissenschaft durch die Wirtschaft instru- des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin mentalisiert wird. Zudem ist Nützlichkeit der Universität Zürich. 1999 wurde G utzwiller ein Begriff, der sehr viel weiter geht als im in den Nationalrat gewählt. Seit 2007 ist er wirtschaftlichen Sinn. Nützlich sollte auch Ständerat und Mitglied der Kommission für im geisteswissenschaftlichen Sinn ver- Wissenschaft, Bildung und Kultur. 14 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Keystone/Martin Ruetschi Dünger? Biogas? Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104 15
Schwerpunkt Forschende in die Politik !?! dieren würden, damit ihr wissenschaft liches Wissen direkt in die Politik einflösse oder – umgekehrt – dieses Wissen vermehrt unter praktischem Gesichtspunkt hervor- «Keine gebracht würde? Kaum. Der grosse Sozio- loge Max Weber hat schon zu Beginn des Abstimmungsparolen 20. Jahrhunderts festgestellt, dass Wis- senschaft und Politik in einem parlamen- tarischen System zwei Paar Schuhe seien. ausgeben» Der Befund ist noch immer gültig: Politi- ker kämpfen mit fast allen Mitteln um die Durchsetzung ihrer Macht und ihrer Wer- te, Wissenschaftler dagegen verschreiben sich möglichst wertfrei der Erkenntnis und Wissenschaft ist immer politisch. der Analyse einer Sache. Sie sind der Wahr- Das heisst aber nicht zwingend, heit verpflichtet. Welcher Weltanschauung sie folgen, sollte sekundär sein. Fliesst dass Wissenschaftler in die Politik ihre Gesinnung in ihr Tun ein, was oft un gehen sollen, auch wenn die Grenze vermeidbar und manchmal sogar befruch- tend ist, sollten sie sich bemühen, diese zu zwischen den beiden Bereichen sublimieren oder mit ihr als einer Erkennt- einmal durchlässig war. Facetten nisbedingung zu rechnen. einer schwierigen Beziehung. Doch obschon Wissenschaft und Politik zwei unterschiedliche Systeme bilden, die Von Urs Hafner eigenen Währungen folgen (der Wahrheit beziehungsweise bestimmten Werten), sind sie in der «Wissensgesellschaft» enger E denn je ineinander verschränkt. Der Staat ine Professorin im Parlament, die nimmt die Wissenschaften seit ihrem Ent- vehement die SVP-Volksinitiative stehen in die Pflicht. Ohne die Arbeiten «Schweizer Recht geht fremdem patriotischer Historiker hätte die entste- Recht vor» bekämpft? An einer Hand hende Nation keine einigende Mythologie sind die Forscher abzuzählen, die in der Po- entwickelt, ohne die Kenntnisse der Hyd- litik tätig sind, und nicht viel zahlreicher rologen und Geologen, die sich in den wis- sind jene, die sich in der Öffentlichkeit senschaftlichen Akademien engagierten, politisch engagieren. Politik und Wissen- wären keine Landkarten entstanden, die schaft, das scheint in einer liberalen Demo- nicht bloss dem Wanderer zur Freude ge- kratie nicht zusammenzupassen. reichen und dem Militär die Orientierung Das war im 19. Jahrhundert, unter der erleichtern, sondern die Bevölkerung zur zerfallenden Alten Eidgenossenschaft, Herausbildung einer räumlichen Vorstel- anders. Als das moderne Wissenschafts lung ihres Landes ermuntern. system noch in den Anfängen steckte, wa- ren Gelehrte oft Politiker und umgekehrt; Osmotischer Austausch man denke etwa an den Mitbegründer Die Indienstnahme ist für die Wissen- der heuer zweihundertjährigen Akademie schaften eine Gratwanderung. Sie werden der Naturwissenschaften Schweiz, an den vom Staat, ohne den sie nicht gedeihen unerschrockenen Zürcher Demokraten können, unterstützt, aber sie müssen dar- Paul Usteri. Der Botaniker und Mediziner auf bedacht sein, ihre Autonomie zu wah- war Redaktionsleiter der «Neuen Zürcher ren, auch im postnationalen Zeitalter. Heu- Zeitung», mit der er unermüdlich für die te sind anhand von Preisen, Publikationen Pressefreiheit kämpfte, und sass für die Li- und Patenten gemessene Erfolge und volks- beralen im Zürcher Parlament. Kurz nach wirtschaftlich nützliche Resultate gefragt. seiner Wahl zum Bürgermeister starb er Die Gesellschaft sei auf das praktische Wis- (1831). Mit der neuen Akademie engagierte sen der Wissenschaften angewiesen, lautet er sich für den Fortschritt der Wissenschaf- die Forderung der Stunde. Als Experten lie- ten und für die entstehende Nation. Glei- fern Forschende denn auch Grundlagen für ches tat der Waadtländer Anti-Aristokrat, politische Entscheidungen, kommentieren Geograf und Historiker Frédéric-César de alle möglichen Geschehnisse und führen La Harpe, der die Schweiz vor zweihundert Meinungsumfragen durch. Jahren am Wiener Kongress vertrat. Beides, Doch Wissenschaft ist eine genuin kri- Wissenschaft und Politik, schien damals tische Tätigkeit. Sie stellt zunächst keine zusammenzugehören. Lösungen zur Verfügung, sondern sie prob- Wäre es also wünschenswert, dass sich lematisiert bestehende Routinen. Daher ist heutige Wissenschaftler an Usteri und de sie wesentlich unpraktisch. Wissenschaft La Harpe ein Beispiel nähmen, politisch baut Komplexität auf, nicht ab. Wer von ihr Farbe bekennen und für ein Amt kandi- einfach umzusetzende Lösungen erwartet, 16 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
wird enttäuscht. Genau dies versprechen von der als neutral angesehenen Schweiz aber die angewandte und die anwendungs- aus sowohl mit deutschen Anthropologen, orientierte Forschung. Forschung indes, die die im Dienst der Nationalsozialisten ar- umstandslos angewandt werden könne, sei beiteten, als auch mit wissenschaftlichen keine Forschung, sondern Dienstleistung, Gegnern des arischen Rassismus zu ko- Politik und Naturwissenschaften sagt der Soziologe Peter Schallberger von operieren. Die Reputation der Schule blieb der Fachhochschule St. Gallen. unbeschädigt. Wissenschaft, Politik und Wirtschaft gehen Forschung ist immer politisch, auch Die wissenschaftliche Autonomie, wie seit langem auf eng verwobenen Wegen. Das dann, wenn ihr dies nicht bewusst ist. Sie sie Max Weber definiert hat, ist stets pre- illustriert der von den Historikern Patrick steht mit der Welt ausserhalb des Elfen- kär. Sie wird von der Politik und der Wirt- Kupper und Bernhard C. Schär zusammen beinturms in einem permanenten osmo- schaft bedroht, welche die Wissenschaften gestellte Band «Die Naturforschenden» – tischen Austausch. Ein Beispiel dafür ist für ihre Zwecke einspannen wollen. Diese ein Pionierwerk, weil die Geschichte der die Zürcher «Rassenforschung», die sich Autonomie muss geschützt werden. Wenn Schweizer Naturwissenschaften wenig in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Wissenschaften jedoch glauben, ihre erforscht ist. Das Buch wirft fünfzehn Streif- als international führende Schule der bio Autonomie bestehe darin, dass sie gänzlich lichter auf die Geschichte der Naturwissen- logischen Anthropologie etablierte; der unbeeinflusst von der politischen Sphäre schaften seit dem Jahr 1800. Demnach war Historiker Pascal Germann porträtiert sie arbeiteten, und wenn sie ihre ausserwis- die Schweizerische Naturforschende Gesell- im neuen, anlässlich des runden Jubiläums senschaftlichen Beziehungen nicht reflek- schaft, die heutige Akademie der Naturwis- der Akademie der Naturwissenschaften er- tieren, dann riskieren sie, in die Falle poli- senschaften, schon bei der Gründung 1815 scheinenden Buch «Die Naturforschenden» tischer Ideologien zu tappen. Nicht nur die nicht nur eine wissenschaftliche, sondern (siehe Kasten). Die bedeutendsten Protago- Existenz der «Rassen», auch beispielsweise auch eine politische Organisation. Es war nisten dieser Schule waren Rudolf Martin, die Differenz zwischen dem männlichen die Zeit der einsetzenden Restauration, die der 1899 in Zürich den ersten Lehrstuhl und dem weiblichen Geschlecht, die im 19. reaktionären Kräfte hatten Oberhand. In der für Anthropologie der Schweiz erhielt, und Jahrhundert von der Medizin exakt in der Naturforschenden Gesellschaft formierten sein Nachfolger Otto Schlaginhaufen. Die Gebärmutter und im Hirn nachgewiesen sich die vielen Fraktionen der patriotischen beiden verstanden sich als Naturwissen- wurde, ist eine solche Falle. Gegenbewegung neu. schaftler, die mit exakten Methoden eine Schon bald begann die Naturforschende wissenschaftliche Systematik der mensch- Attacken von Rechtspopulisten Gesellschaft, Kommissionen zu bilden, lichen Spezies erstellen wollten. Die letzte Die Professorin solle im Hörsaal zwar kei- um Fragen aus der Politik zu beantwor- Neuauflage ihres erstmals 1914 erschiene- ne Abstimmungsparolen ausgeben, aber ten. Ein frühes Beispiel ist die Einsetzung nen «Lehrbuchs der Anthropologie», einer sie solle den Studierenden zeigen, dass wis- einer Kommission zur «Untersuchung und technischen Anleitung zum Vermessen senschaftliche Arbeit immer politische Re- Vergleichung Schweizerischer Masse und von Körpern, kam 1992 heraus. levanz habe, sagt die Historikerin Caroline Gewichte» im Jahr 1822, die zur Vereinheit- Arni von der Universität Basel. Die Wis- lichung der M asse und Gewichte führte. Die Falle politischer Ideologien senschaften sollten also ihre Autonomie Die geologischen Karten waren wichtig für Der Plan der Anthropologen war einfach, verteidigen und zugleich die politische Di- die Eisenbahn- und Strassenbauprojekte doch die Durchführung schwierig: Sie mension ihrer Arbeit bedenken, ohne sich des Bundes, und die meteorologischen und mussten viele Menschen vermessen, um in den politischen Kampf zu werfen. Unter- hydrologischen Forschungen verbesser- ihr Wissen über die «Rassen» – deren Exis- stützt werden sie dabei vor allem von den ten die Wettervorhersagen. So waren die tenz schien ihnen unumstösslich zu sein – Akademien der Wissenschaften Schweiz, Kommissionen oft auch Vorläufer der sich zu komplettieren. Dabei interessierten sie die sich als Thinktank und Interessen im Aufbau befindlichen Bundesverwaltung, sich nicht nur für Schädelumfänge und organisation mit der strukturell schwieri- etwa von Swisstopo oder Meteo Schweiz. Die Beinlängen, sondern auch für die Farbe des gen Beziehung von Wissenschaft und Ge- Naturschutzkommission wurde Wegbereite- Anus und der Schleimhäute der Genitalien. sellschaft beschäftigen. Dabei gilt es nicht rin des organisierten Naturschutzes in der Nur so, glaubten sie, sei die menschliche bloss für die Wissenschaften gute Arbeits- Schweiz. Sie gründete den Schweizerischen Hautfarbe zweifelsfrei festzulegen. Natür- bedingungen zu schaffen und der Politik Nationalpark sowie zu dessen Finanzierung lich partizipierte niemand freiwillig an Expertise zu übermitteln, sondern auch die im Jahr 1909 den Schweizerischen Bund für diesen peniblen Untersuchungen. Solang Wissenschaften vor den Zumutungen der Naturschutz, die heutige Pro Natura. die Anthropologen in den von europäi- Politik und den Angriffen ihrer Gegner zu Das Buch «Die Naturforschenden» erscheint schen Mächten kolonisierten Gebieten for- schützen. im Mai 2015. Es wurde von der Akademie schen konnten, standen ihnen genügend Vielleicht müssen die wissenschaft der Naturwissenschaften Schweiz initiiert unterschiedliche Menschen zur Verfügung. lichen Institutionen dies in Zukunft noch und ist Teil der Aktivitäten zu ihrem 200-Jahr- Nach der Dekolonisierung mussten sich stärker tun, wenn nämlich der politi- Jubiläum. mf die Wissenschaftler vermehrt mit schwei- sche Druck auf die Wissenschaften weiter zerischen Rekruten begnügen. wachsen sollte. Ein Beispiel sind die poli- Die Wissenschaftler waren überzeugt, tisch motivierten Attacken von Boulevard nur als Wissenschaftler zu handeln, die medien und von Rechtspopulisten auf Literatur: nichts als die reine Wahrheit verfolgten. missliebige Intellektuelle. Wenn die Ins- Dass eine Rassentheorie per se rassis- titutionen die Angegriffenen nicht in den P. Kupper & B. C. Schär (Hg.; 2015): Die tisch ist, dass mit ihrer Theorie der «Ras- Medien verteidigen, lassen sie zu, dass auch Naturforschenden. Auf der Suche nach sen» deren Bewertung einherging und ihre Glaubwürdigkeit diskreditiert wird. Wissen über die Schweiz und die Welt, dass sie mit ihrer Praxis die menschliche 1800–2015. Verlag Hier und Jetzt, Baden. Integrität verletzten, war ihnen nicht be- Urs Hafner ist Historiker und Wissenschafts wusst oder wollten sie nicht wissen. Die journalist. Programm 200 Jahre Akademie der Zürcher Schule definierte sich als unpo- Naturwissenschaften Schweiz unter litische Institution. Das ermöglichte ihr, www.forschung-live.ch Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104 17
Keystone/Laif/Spohler Schutz der Privatsphäre? Innere Sicherheit? 18 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Schwerpunkt Forschende in die Politik !?! Wissenschaftler liche wissenschaftliche Grundlage; es gab gegen weder solide Forschungspublikationen, noch wurden klinische Studien durch geführt. Die Medienarbeit war jedoch so er- Pseudowissenschaft folgreich und der Druck der Öffentlichkeit so gross, dass mehrere Richter schliesslich verordneten, die Therapie in den lokalen Gesundheitszentren durchzuführen und sie damit allen zugänglich zu machen. Vie- Forschung und medizinische Versorgung le Patienten wurden entsprechend behan- eines Landes funktionieren am delt, obwohl die Therapie ernsthafte Ne- benwirkungen aufwies. Erst nachdem sich besten, wenn wissenschaftspolitische anerkannte italienische Krebsforscher in Entscheidungen transparent sind und der Sache stark engagiert hatten, setzte der damalige Gesundheitsminister doch noch auf wissenschaftlicher Evidenz basieren. die Regeln des Handwerks durch und for- Andernfalls wuchern schnell Willkür derte eine klinische Evaluation. und Pseudowissenschaft. Ein Blick Ein jüngeres Beispiel kommt aus dem Umfeld der italienischen Stammzellfor- nach Italien zeigt, wie rasch es soweit schung. So bot eine fragwürdige Firma mit kommen kann. Von Mirko Bischofberger dem Namen Stamina Foundation bereits 2009 eine auf Stammzellen basierende Therapie an. Der Gründer Davide Vannoni, ein Psychologe, der niemals selber in einer Fachzeitschrift über Stammzellen publi- E ziert hatte, versprach seinen Patienten, s gibt immer noch Skeptiker, die durch das Einspritzen von Stammzellen den Zusammenhang zwischen der gleich mehrere Krankheiten wie Parkin- Krankheit Aids und dem HI-Virus in son, Muskeldystrophie und spinale Mus- Frage stellen – auch unter Wissen- kelatrophie zu lindern oder gar zu heilen. schaftlern. Das ist ihr gutes Recht. Doch Obwohl der Nutzen und vor allem die Risi- auch diese Minderheit lässt sich allmäh- ken der Therapie nicht untersucht waren, lich von sauber durchgeführten Studien fand die Therapie ihren Weg in mehrere und stichhaltigen Argumenten überzeu- Gesundheitszentren. In den darauffolgen- gen. Denn die Skepsis basiert in diesem den Jahren wurden Hunderte von Patien- und oft auch in anderen Fällen auf Be- ten mit dieser Methode behandelt. Davide hauptungen, die wissenschaftlicher Über- Vannoni war auch an der Gründung einer prüfung nicht standhalten. Leider kommt Stammzellen-Firma in der Schweiz betei- es trotzdem überall auf der Welt vor, dass ligt (siehe Kasten). die Öffentlichkeit und die Politik gut ver- kauften Wissenschaftsfiktionen auf den Kein Anspruch auf Wundertherapien Leim gehen. So gibt es in unserem Nach- Als die Stammzellexpertin Elena Cattaneo barland Italien, nur zwei Autostunden von von der Universität Mailand von dieser The- Bern entfernt, immer wieder einen stark rapie hörte, brachte sie die Geschichte ans verzerrten Umgang mit der wissenschaft- Licht. Zusammen mit andern Fachkolle- lichen Arbeitsweise – vor allem im medi- gen verfasste sie Artikel in Tageszeitungen zinischen Umfeld. Italien ist aber auch ein und Fachzeitschriften, brachte das Thema gutes Beispiel dafür, wie erfolgreich und an Konferenzen auf, führte Telefongesprä- wichtig wissenschaftspolitisches Engage- che mit Politikern, gab Interviews und ment von Forschenden sein kann. tauschte sich mit Patientenorganisationen Im Jahr 1997 berichteten die italie- und Spitälern aus. Die Forscher erhielten nischen Medien zum Beispiel über eine auch Unterstützung vom japanischen No- neue Wundertherapie gegen Krebs. Die belpreisträger und Stammzellenpionier sogenann te Di-Bella-Multitherapie, ein Shinya Yamanaka. Im Jahr 2013 entschied Cocktail aus Vitaminen, Medikamenten das italienische Parlament, dem Thema und Hormonen, wurde von Luigi Di Bella mit einer klinischen Studie auf den Grund entwickelt, Professor an der Universität zu gehen. Der Entscheid war umstritten, da Modena. Der Therapie fehlte allerdings jeg- es keine Studien gab, die üblicherweise vor Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104 19
Schwerpunkt Forschende in die Politik !?! «Schlechte Wissenschaft wuchert, wenn gute Wissenschaftler nichts tun.» Elena Cattaneo Christian Lüscher der Durchführung einer klinischen Studie Die italienische Stammzellforscherin gefordert sind, wie zum Beispiel Experi- Elena Cattaneo prangert die Pseudo- mente an Mäusen, die Hinweise geben, ob wissenschaft in Italien an. die Therapie auch beim Menschen funk tionieren könnte. Andererseits würde eine klinische Studie die Therapie definitiv als Vergabe von Forschungsgeldern selber er- Unfug entlarven können; die Studie koste- lebt. Im Jahr 2009 schrieb das nationale te den italienischen Staat schliesslich drei Gesundheitsamt Forschungsgelder für den Millionen Euro. Im Mai 2014 befand dann Bereich Stammzellen aus. In letzter Minu- der Europäische Gerichtshof für Men- te entschied es sich jedoch, embryonale schenrechte, dass Patienten kein Anrecht Stammzellen des Menschen von der Förde- auf eine Therapie hätten, für die es keine rung auszuschliessen – ohne ersichtliche wissenschaftlichen Grundlagen gibt. Das wissenschaftliche Grundlage. Für Elena italienische Verfassungsgericht schloss Cattaneo bedeutete das den kompletten sich diesem Urteil an. Somit können in Zu- Ausschluss aus dem Bewerbungsverfahren. kunft Wundertherapien, wie diejenige von Die oben genannte Stamina Foundation Di Bella, unterbunden werden, bis wissen- erhielt hingegen die jahrelange staatliche Stammzelltherapien in der Schweiz schaftliche Evidenz vorhanden ist. Förderung. Elena Cattaneo reichte beim Gericht Beschwerde ein, um die Förderung Auch in der Schweiz gibt es medizinische Senatorin auf Lebenszeit der Stamina Foundation anzufechten – der Behandlungen ohne jegliche wissenschaft Auch bei der Verteilung von Forschungs Entscheid über die Beschwerde ist hängig. liche Grundlage: zum Beispiel Angebote, die geldern und wissenschaftlichen Arbeits- Die genannten Fälle zeigen auf, dass es eine Heilung neuronaler Krankheiten durch stellen herrscht in Italien oft Willkür. Forschende braucht, die bereit sind, an die das Einspritzen völlig ungetesteter Stamm- Roberto Perotti, der an der Columbia Uni- Öffentlichkeit zu gehen und sich auf poli- zellen versprechen. So bot die Firma Beike versity in New York und an der Bocconi- tischer Ebene für eine transparente und aus Lugano für 50 000 Schweizer Franken Universität in Mailand lehrt, hat in einem evidenzbasierte Wissenschaft einzuset- einen medizinischen Transfer nach China an, Buch viele Beispiele über Italiens Vettern- zen. Das ist natürlich vor allem bei medi- wo den Patienten die Stammzellen verab- wirtschaft in der Forschung gesammelt. zinischen Themen augenfällig, weil die Ge- reicht wurden. Auch die Firma Biogenesis Ein prominenter Fall betrifft Fabrizia La- sundheit der Patienten auf dem Spiel steht. Tech versprach dies, ebenfalls im Tessin; pecorella: Die Ökonomin hatte sich im Zudem können Forschende durch ihren Mitgründer war Davide Vannoni, der in Italien Jahr 2002 an der Universität Bari für eine Einsatz auch private Erfolge verbuchen. die Stamina Foundation aufgebaut hatte. Professur beworben. Sie erhielt die Posi So wurde die Stammzellforscherin Elena Die Biogenesis Tech ist im Handelsregister tion, obwohl sie keine einzige Publikation Cattaneo aufgrund ihres politischen Enga- immer noch als aktiv eingetragen. in den 160 wichtigsten internationalen gements im August 2013 vom italienischen Zeitschriften ihres Fachs aufweisen konn- Präsidenten zur Senatorin auf Lebenszeit te, keine Publikation in den 20 wichtigsten erkoren, zusammen mit dem Nobelpreis- italienischen Zeitschriften und keine Mit- träger für Physik Carlo Rubbia, dem Archi- Literatur: arbeit bei einem Buch. Die zweitklassierte tekten Renzo Piano und dem Dirigenten Bewerberin hatte hingegen ein Doktorat an Claudio Abbado. Sie ist nun die jüngste E. Cattaneo & G. Corbellini (2014): der London School of Economics gemacht Senatorin auf Lebenszeit der italienischen Taking a stand against pseudoscience. und zehn Publikationen in den wichtigs- Geschichte und setzt sich im Senat für Ent- Nature 510: 333–335. ten Zeitschriften der Welt veröffentlicht. scheidungen auf Grundlage wissenschaft- Inzwischen leitet Fabrizia Lapecorella das licher Evidenz ein. R. Perotti (2008): L’università truccata. Finanzdepartement der italienischen Re- Einaudi. gierung. Mirko Bischofberger ist wissenschaftlicher Die Mailänder Stammzellforscherin Mitarbeiter des Forschungsratspräsidenten M. Roselli & M. Tagliabue (2014): Elena Cattaneo hat die Willkür bei der des SNF. Affari s taminali. RSI Falò. 20 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Keystone/AP Photo/Roberto Pfeil Besserer Sonnenschutzfilter? Gesundheitsrisiko durch Nanopartikel? Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104 21
Vor Ort Auch meine Ausstattung kann sich se- hen lassen: stereoskopisches Panorama- Kamerasystem, Temperaturmess-Harpu- nen, viel «Made in Switzerland». Übrigens auch die Düse auf meinem Rücken, die nicht so drückte, wie sie sollte: Schweizer Fabrikat. Nicht nur wegen der Düse bin ich noch ein wissenschaftliches Leichtgewicht. Auch das Forschungsumfeld ist nicht so sonnig wie versprochen. Ich konnte mich Nicht sehr sonnig bisher kaum etablieren, zu eisig ist der Untergrund. Was nützt einem ein Sonnen untergang alle 13 Stunden, wenn man hin- ter einem Felsen steht? Und keine Spur von Der Lander Philae von der Europäischen langfristigem Support: Nur zweieinhalb Weltraumorganisation (ESA) berichtet vom Tage Zeit hatte ich für meine ersten eige- nen Experimente. Kometen und von seinem Mutterschiff. Stabile Position? Eine planbare Karrie- re bräuchte eine anständige Umlaufbahn. Aber alle paar Jahrzehnte kommt Chur yumov–Gerasimenko dem Jupiter zu nahe, und danach fliegt er auf einmal wieder « Hunderte Millionen Kilometer näher an Ich habe, was viele gerne hätten: eine der Sonne vorbei. Ich will gar nicht wissen, feste Forschungsstelle.Wenn alles gut wohin uns das noch führt. Wenn’s heis- geht, wird sich an meiner Position in ser wird, blasen mich die Ausgasungen den nächsten fünf Milliarden Jahren des K ometen vielleicht in den Kometen- nichts ändern. Dafür musste ich das übli- schweif. Aber was heisst schon heiss? Im che Opfer bringen: meine Chefin Rosetta Moment ist es hier minus 70 Grad. zehn Jahre lang durch ziemlich dünne Luft Und die eigenständige Forschung? begleiten. Nach kurzen Forschungsaufent- Rosetta hat bei allem das letzte Wort. halten bei zwei Asteroiden in den Jahren Meine gesamte Kommunikation zur Erde 2008 und 2010 wurde Rosetta im August läuft über ihre Signalverstärker. «Rosetta» 2014 an den Kometen Churyumov–Gerasi- hat in Google 46 Millionen Treffer. Die menko berufen. Dort versprach sie mir eine Süddeutsche Zeitung schreibt über mei- stabile Position mit langfristigem Support ne Forschungstätigkeit: «Rosetta selbst und viel Zeit für eigenständige Forschung. ist deutlich produktiver.» Und natürlich » Es fiel mir zunächst nicht leicht, Chur hatte Rosetta gerade wieder eine ganze yumov–Gerasimenko zusammenhängend Reihe Science-Papers, ohne mich zu artikulieren. Der Name ist so hantel darin auch nur zu erwähnen. förmig wie der Komet. Aber die Medien- Mir reicht’s. Ich lege ein Bein arbeit hat sich gelohnt: Inzwischen wird hoch und schalte ab. über jeden meiner Funkkontakte weltweit berichtet. Googeln Sie nach «Philae», und Sie erhalten 13 Millionen Treffer. Aufgezeichnet von Valentin Amrhein. 22 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Im Uhrzeigersinn: Start am 2. März Bilder: ESA–S. Corvaja; ESA–C. Carreau/ 2004; Rosetta entlässt Philae am ATG medialab; ESA, 2008 MPS for OSIRIS 12. November 2014 in die Selbst- Team MPS/UPD/LAM/IAA/RSSD/INTA/UPM/ ständigkeit (Zeichnung); Rosetta DASP/IDA; processing by T. Stryk; ESA/ fotografiert beim Vorbeifliegen am Rosetta/NAVCAM – CC BY-SA IGO 3.0; ESA/ATG 5. September 2008 den Asteroiden medialab; ESA/Rosetta/Philae/CIVA Šteins, von der ESA bezeichnet als «diamond in the sky»; Churyumov- Gerasimenko, fotografiert von Rosetta; Philae beim Anflug auf den Kometen (Zeichnung); Philaes erstes Foto vom Landeplatz, links unten ein Fuss von Philae. Philae und Rosetta auf Twitter: @Philae2014 @ESA_Rosetta Rosetta-Sonderheft in Science: www.sciencemag.org/site/special/rosetta Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104 23
Umwelt und Technik Die längsten Höhlen U rwald, überall Urwald. Es ist tro pisch warm und feucht im mexika der Welt nischen Bundesstaat Quintana Roo im Nordosten der Halbinsel Yuka tan, die wie ein riesiges Horn vom Festland Mittelamerikas in die Karibik ragt. Doch den Regen- und Mangrovenwäldern zum Den Mayas galt das riesige Trotz: Wer die 400 Kilometer von Cancún Karsthöhlensystem der an der äussersten Spitze Yukatans bis zur Grenze zwischen Mexiko und Belize unter mittelamerikanischen Halbinsel die Räder nimmt, wird keine einzige Brü Yukatan als Eingang zur Unterwelt. cke überqueren. Es ist ein Land ohne Flüs se und Bäche. Zumindest ohne sichtbare Schweizer Forscher sind seiner Flüsse: Das Wasser fliesst unterirdisch. Entstehungsgeschichte auf der Denn der Untergrund Yukatans ist Spur – mit Tauchgängen und durchzogen von einem gigantischen Höh lengeflecht. Hunderte Hohlräume, Kanäle mit mathematischen Formeln. und Tunnel gibt es hier, die meisten davon Von Simon Koechlin gefüllt mit Wasser. Über der Erde zeugen einzig die so genannten Cenoten von die 24 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
sem verborgenen Labyrinth: Löcher, die Modelle zu entwickeln, die erklären, wie schickt elektromagnetische Wellen in den entstehen, wenn die Decken der Höhlen solche Höhlenlabyrinthe entstanden sind Untergrund. Weil Kalkstein und Wasser die einstürzen. Über 3000 dieser von der Na und wie sie funktionieren. Signale unterschiedlich gut leiten, können tur geformten Zisternen finden sich in Yu die Forschenden mit dieser Methode was katan. Für die Maya, die in Yukatan viele Auflösende Kalksteine sergefüllte Höhlen recht genau orten. Zentren ihrer Hochkultur errichtet hatten, Die Grundvoraussetzung für löchrigen Un Um die Höhlen zu vermessen, haben waren die Cenoten die Tore zur Unterwelt. tergrund ist das entsprechende Gestein: die Wissenschaftler ein Unterwassergerät Eines dieser Maya-Zentren war die Stadt Die Halbinsel Yukatan ist eine riesige entwickelt, das aus einem Laser und einer Tulum. Hier liegen die zweitlängste und Kalksteinplatte. Sie entstand über Jahr Kamera besteht. Spezialisierte Höhlen die viertlängste Höhle der Welt. «Höchst millionen, als das Gebiet noch unter dem taucher wagen sich damit in die Grotten wahrscheinlich sind sie sogar mitein Meeresspiegel lag. Aus abgestorbenen Ko vor und bestimmen deren Dimensionen. ander verbunden, was sie zum grössten rallen wuchs eine über zwei Kilometer di «Die Taucher haben uns auch dabei gehol Höhlensystem der Welt machen würde», cke Kalksteintafel. Der Kalk zersetzt sich fen, Sensoren in den Höhlen anzubringen, sagt Philippe Renard, Hydrogeologe an der relativ rasch, wenn er mit in Wasser gelös um den Wasserdurchfluss zu bestimmen», Universität Neuenburg. Er untersucht ge ter Kohlensäure in Kontakt kommt. So ent sagt Renard. Andere Sensoren geben Hin meinsam mit Kollegen der Geologischen stehen Klüfte, Poren und Höhlen. weise darauf, wie sich der Wasserstand im Bundesanstalt Österreichs eines dieser Heute sind die Höhlen so lang, dass das Karstsystem verändert, und wieder ande Höhlensysteme, das rund 250 Kilometer Meerwasser in ihnen zum Teil Dutzende re Geräte sammeln Daten über die Eigen lange Ox-Bel-Ha-System. Das Hauptziel des von Kilometern landeinwärts fliesst. «In schaften der Karstfelsen. «Wir nutzen Forschungsprojektes ist, mathematische küstennahen Gebieten wie in der Region natürlich auch Informationen, die bereits Tulum führt ein Mix aus Salz- und Süss andere Forscher publiziert haben», erklärt wasser dazu, dass sich die Gesteine im Renard. «Um Aussagen über die Langzeit Lauf der Jahrtausende auflösen», sagt Phi entwicklung des Karstsystems machen zu lippe Renard. Weil Salzwasser eine grössere können, sind zum Beispiel die Fluktuatio Dichte aufweist als Süsswasser, liegt es in nen des Meeresspiegels während der letz den Wasserkörpern in der unteren Schicht. ten Eiszeit wichtig.» Regenwasser versickert im durchlässi gen Kalkboden rasch und fliesst auf das 250 Meter Sichtweite Salzwasser. Die beiden Wassertypen ver Für definitive Resultate ist es laut Renard mischen sich nicht vollständig, sondern noch zu früh. Die mathematischen M odelle, nur in einer Zwischenschicht. «Man geht die von seinen Doktoranden Axayacatl davon aus, dass die Auflösung des Kalk Maqueda und Martin Hendrick erstellt steins entlang dieser Zwischenschicht er werden, seien noch nicht fertig. «Wir ver höht ist», sagt Renard. stehen aber heute die Grundwasserchemie Zwar wollen Renard und seine Kollegen in der Region besser als zuvor», sagt er. Che die Entstehung der Höhlensysteme mit mische Analysen in dem Projekt hätten Hilfe von Rechenmodellen ergründen, da zum Beispiel gezeigt, dass das Süsswasser für aber sind längst nicht nur mathemati schon allein, ohne die Vermischung mit sche Fähigkeiten gefragt. Die Forschenden dem Salzwasser, viel aggressiver sei als sind auf Daten angewiesen, mit denen sie bislang angenommen. Der hohe Grund ihre Modelle füttern und deren Plausibilität wasserspiegel, das tropische Klima und die testen. Denn Karstsysteme sind komplex. intensive biologische Aktivität erhöhen die Eine ganze Reihe von Faktoren bestimmen Produktion von Kohlendioxid, was wieder das Ausmass und die Geschwindigkeit der um zu stärkerer Zersetzung führt. Zersetzung: Woraus genau besteht das Ge Zwar ist das Erstellen der Modelle stein, wie ist das Wasser zusammengesetzt, Grundlagenforschung. Trotzdem könnten und wie interagieren die beiden Elemen aus dem Projekt auch praktische Anwen te? Welche Stoffe und Sedimente werden dungen entstehen – zum Beispiel in der durch die Poren und Ritzen des Gesteins Vorbeugung gegen Wasserverschmutzung. transportiert? Den Bewohnern Yukatans dienen die Ce Zuerst müssen die Wissenschaftler aber noten nämlich schon seit Maya-Zeiten als natürlich wissen, wo sich Höhlen befin Trinkwasser-Reservoire. Das Wasser in den und wie gross sie sind. Denn längst einigen dieser «Brunnenstuben» ist derart noch nicht alle sind auf Karten verzeich sauber, dass die Sichtweite bis zu 250 Me net. «Unbekannte Höhlen spüren unsere ter beträgt. Allerdings schiessen in Tulum österreichischen Kollegen mit elektro seit einigen Jahren Hotels und andere tou magnetischen Messungen per Helikopter ristische Anlagen aus dem Boden. Riesige auf», erklärt Renard. Der Helikopter fliegt Mengen von Abwasser könnten deshalb in über das urwaldbedeckte Karstgebiet und naher Zukunft durch den porösen Karst untergrund in die Trinkwasserreservoire eindringen. Geeignete Schutzmassnahmen für diese einzigartige geologische Land Höhlentaucher vermessen die schaft kann nur ergreifen, wer genau weiss, Grotten unterhalb des Meeres wie die Höhlensysteme funktionieren. spiegels mit einem neuen Gerät, das aus einem Laser und einer Kamera Simon Koechlin ist Chefredaktor der «Tierwelt» besteht. und Wissenschaftsjournalist. Bild: Arnulf Schiller, Austrian Geological Survey Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104 25
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