Forschende in die Politik . 10 - Die längsten Höhlen der Welt . 24 Der Islam als Problem der ...

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Forschende in die Politik . 10 - Die längsten Höhlen der Welt . 24 Der Islam als Problem der ...
un
   Forsch
    olitik
Forschende in die Politik !?! ................................... 10
Die längsten Höhlen           Der Islam als Problem Sonderaufwand
der Welt ................. 24 der Gesellschaft ..... 34 Ebola ..................... 44
Forschende in die Politik . 10 - Die längsten Höhlen der Welt . 24 Der Islam als Problem der ...
Forschende ins Parlament!
«Forschende in die Politik !?!» lautet der Schwerpunkt dieser Ausgabe.
Über das Thema waren wir uns in der Redaktion schnell einig, nicht
aber über das Satzzeichen: Ausrufe- oder Fragezeichen? Ständerat
und Präventivmediziner Felix Gutzwiller (S. 13) würde wohl ein
Ausrufezeichen setzen, ebenso die italienische Senatorin und
Stammzellexpertin Elena Cattaneo (S. 19). Urs Hafner, der mit dem seit
über 100 Jahren aktuellen Soziologen Max Weber argumentiert, spricht
sich mindestens für ein Fragezeichen aus, wenn nicht gar für ein
zusätzliches «nicht»: Wissenschaft und Politik seien möglichst getrennt
zu halten – die stets gefährdete Autonomie der Wissenschaft sei gegen
den Einfluss von Politik und Wirtschaft zu verteidigen (S. 16).

Was nun? Es gilt wohl, die Gesellschaftsbereiche und die Menschen
auseinanderzuhalten. Tatsächlich verfolgen Wissenschaft und Politik
jeweils andere Ziele und gehorchen anderen Werten und Regeln.
Die Wissenschaft tut gut daran, auf ihre Autonomie zu pochen.
Politikerinnen werden aber nicht als Vertreterinnen einer Branche
gewählt. Gewählt wird die Person, mit ihren Einstellungen, Erfahrungen
und Fähigkeiten. Es ist einem Professor zuzutrauen, dass er im Labor
anders arbeitet als in der Wandelhalle. Falls es in der Politik mehr
Menschen braucht, welche die wissenschaftlichen Werte teilen, die
wissenschaftlichen Methoden anerkennen und über wissenschaftlich
fundiertes Wissen verfügen, dann muss es ohne Wenn und Aber
heissen: «Forschende in die Politik!» Und falls die wissenschaftlichen
Institutionen auch dieser Meinung sind, müssen sie überlegen, wie sie
dafür ein günstiges Umfeld schaffen können.

  Marcel Falk, Redaktor
Forschende in die Politik . 10 - Die längsten Höhlen der Welt . 24 Der Islam als Problem der ...
Horizonte – Das Schweizer Forschungsmagazin Nr. 104, März 2015

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    Forsch
     olitik
Forschende in die Politik . 10 - Die längsten Höhlen der Welt . 24 Der Islam als Problem der ...
Inhalt

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                                                                                          Richard Schmittner/Xibalba Dive Center
Keystone/EPA/STR

                     Schwerpunkt Forschende in die Politik !?!                                                                      Umwelt und Technik

              10  Forschende in die Politik !?!
                                                                                                                             24
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                                                                                                                             Den Mayas galt das Karsthöhlensystem
                                                                                                                             der Halbinsel Yukatan als Eingang zur
                                                                                                                             Unterwelt. Schweizer Forscher sind seiner
                                                                                                                             Entstehungsgeschichte auf der Spur.
              Die Politik ist immer stärker auf wissen-
                                                                                                                             26
              schaftliche Expertise angewiesen, doch                                                                             Die Erde von oben
                                                                                                                             Neue Computermodelle ermöglichen
              viele Forschende zögern, selber politisch                                                                      ­bessere Auswertungen von Satelliten­
                                                                                                                              bildern.
              aktiv zu werden. Drei Schlaglichter auf eine
                                                                                                                             27
              ­schwierige und notwendige Beziehung.                                                                                Komplexe blaue Laser
                                                                                                                                   Technik für Planetensuche
                                                                                                                                   Grönländische Eiswanderung
                   13
                        «Die Wichtigkeit von Forschenden in der Politik
                        wird ­unterschätzt»

                   16
                        «Keine Abstimmungsparolen ausgeben»

                   19
                        Wissenschaftler gegen Pseudowissenschaft

        4          Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Forschende in die Politik . 10 - Die längsten Höhlen der Welt . 24 Der Islam als Problem der ...
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Keystone/AP Photo/Manu Fernandez

                                                                                                                                               Timothée Brütsch
                                                                           Keystone/Peter Schneider

                                      Kultur und Gesellschaft                                            Wissen und Politik                                          Biologie und Medizin

                             28                                                                  34                                                          42
                                Separatistische Parteien machen                                     «Der Islam erscheint als Problem                           Auf dem Ameisenfriedhof
                                Nationalismus salonfähig                                            der Gesellschaft»                                        Ameisen verfügen über eine soziale
                             In Europa fordern mehrere reiche Regio-                             In Konflikten um Schulschwimmen oder                        Immunität und erstaunliche kollektive
                             nen ihre Unabhängigkeit. Die Rhetorik der                           Minarette wollen alle Beteiligten ihre                      Abwehrmechanismen.
                             politischen Parteien ist überall ähnlich.                           Strukturen ­absichern, sagt Islamwissen-
                                                                                                 schaftler Reinhard Schulze.                                 44
                             30                                                                                                                                 Sonderaufwand Ebola
                                «Wir schaffen Architektur,                                       37                                                          Ein Blick hinter die Kulissen eines späten,
                                und sie schafft uns»                                                Das Schwinden der Vielfalt                               aber umso entschiedeneren medizini­
                             Indem die Kunsthistorikerin Anna Minta                              Wer bei der Biodiversität nur auf Zahlen                    schen Grosseinsatzes.
                             repräsentative Bauten deutet, fühlt sie der                         schielt, schaut am Kern der Sache vorbei.
                             politischen Kultur den Puls.                                                                                                    46
                                                                                                 40                                                             Alles in Zucker
                             32                                                                    Bändiger der Informationsflut                             Eine neue Substanzklasse ist in den Fokus
                                Bluttaten in Boston und Basel                                    Durch die Digitalisierung rücken akade-                     der medizinischen Forschung gerückt.
                             Mord und Totschlag gibt es in den USA                               mische Bibliotheken näher und aktiver an
                             deutlich häufiger als in Europa. Das ist                            den Wissenschaftsbetrieb.                                   47
                             kein neues Phänomen.                                                                                                                  Krebsbehandlung bei Kindern
                                                                                                                                                                   Impfstoff-Mix gegen Malaria
                             33                                                                                                                                    Falsches Lächeln entlarven
                                    Soziale Basler Kelten
                                    Verkannte Versammlung
                                    Vom Babyboom zum Babybust

                                   Im Bild                                                            Vor Ort                                                     Wie funktionierts?
                             6                                                                   22                                                          49
                             Artus in Gold                                                       Nicht sehr sonnig                                           Verzerrte Wörter haben a­ usgedient

                                   kontrovers                                                         Leserbriefe                                                 Aus erster Hand
                             8                                                                   48                                                          50
                             Die Zukunft des Lexikons                                            Schadet Schaulaufen der Wissenschaft?                       Dauerhaftes Wissen schaffen

                                                                                                                                Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104       5
Forschende in die Politik . 10 - Die längsten Höhlen der Welt . 24 Der Islam als Problem der ...
Im Bild

6    Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Forschende in die Politik . 10 - Die längsten Höhlen der Welt . 24 Der Islam als Problem der ...
Artus in Gold
                               (Etwa 1,3-fach vergrössert)

                               «Im Krakauer Domschatz wird ein
                               goldenes Vortragekreuz aufbewahrt,
                               auf dem Fragmente zweier Kronen
                               aus dem zweiten Viertel des 13.
                               Jahrhunderts verarbeitet sind. An
                               der markanten Zackenkontur des
                               horizontalen Kreuzarms ist die ex-
                               klusivere der beiden Kronen deutlich
                               erkennbar. Da sie zusammenhängend
                               montiert ist, kann ihr hochkomplexes
                               Bildprogramm auch in der sekundä­
                               ren, sakralen Funktion weiterhin als
                               Erzählung gelesen werden. Es greift
                               den ersten deutschen Artusroman –
                               den ‹Erec› Hartmanns von Aue –
                               auf und gilt als älteste bekannte
                               Umsetzung eines mittelalterlichen
                               Romanstoffes in der Kleinkunst. Die
                               Krone zählt mit den fast gleichzeitig
                               entstandenen monumentalen Iwein-
                               Fresken auf Burg Rodenegg in Süd-
                               tirol zu den frühesten profanliterari-
                               schen Bildgegenständen überhaupt.
                               Wegen der liturgischen Verwendung
                               des Kronenkreuzes der Öffentlichkeit
                               entzogen, wird der Erec-Zyklus hier
                               erstmals umfassend erschlossen und
                               einem mediävistisch interessierten
                               Publikum zugänglich gemacht.»

                               Soweit der Klappentext eines monu-
                               mentalen Buches über ein monu-
                               mentales Kreuz – für an trockene,
                               formlose Texte gewohnte Natur­
                               wissenschaftler kaum zu glauben,
                               dass es sich um eine Dissertation
                               handelt. Joanna Mühlemann hat an
                               der Universität Freiburg doktoriert.
                               Sie schreibt im Vorwort: «Mein
                               Interesse am Kronenkreuz und am
                               ­Erec-Zyklus auf dessen Querbalken
                                wurzelt in der Auseinandersetzung
                                mit der Vergangenheit der Königs-
                                stadt Krakau, wo ich aufgewachsen
                                bin, dem für einen Grenzgänger
                                zwischen zwei Kulturen typischen
                                Synthese-Bedürfnis sowie der Sensi-
                                bilität für das Fremde im vermeintlich
                                Vertrauten (und umgekehrt).» va

                               J. Mühlemann (2013): Artus in
                               Gold – Der Erec-Zyklus auf dem Krakauer
                               Kronenkreuz. 368 Seiten, Michael-Imhof-
                               Verlag.
                               Bild: Stanislaw Michta

Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104   7
Forschende in die Politik . 10 - Die längsten Höhlen der Welt . 24 Der Islam als Problem der ...
kontrovers

                                                                            Valérie Chételat (Fotomontage)
Die Zukunft
des Lexikons
Z – das «Historische Lexikon
der Schweiz» ist am Ende
des Alphabets. Ist das auch
das Ende des Lexikons?
Macht Wikipedia die von
Fachleuten geschriebenen
Wissenssammlungen
überflüssig? Keineswegs, findet
nicht nur François Vallotton,
Mitglied des Stiftungsrats
des historischen Lexikons,
sondern auch der langjährige
Wikipedianer Charles Andrès.

D
         er Zufall wollte es, dass jüngst zwei           ist nach wie vor absolut plausibel, vor allem                            Text einen Beitrag zum lexikografischen
         Meilensteine der Lexikografie zeit-             im Rückblick. Ein zweites Argument be-                                   Gesamtkonzept leisten.
         lich zusammenfielen: Erstens die                trifft die Optionen zum Recherchieren und                                   Vor dieser Herausforderung steht auch
         Eröffnung eines Insolvenzverfah-                Gruppieren von Informationen. Das Nach-                                  das neue Projekt des «Historischen Le-
rens gegen die renommierte «Encylopedia                  schlagen beschränkt sich hier nicht wie bei                              xikons der Schweiz», das derzeit in en-
Universalis» und zweitens die Veröffentli-               den meisten Online-Fachwörterbüchern                                     ger Verbindung mit der Schweizerischen
chung des dreizehnten und letzten Bandes                 auf eine Volltextsuche. Vielfältige Funk­tio­                            Akademie der Geistes- und Sozialwissen-
des «Historischen Lexikons der Schweiz»                  nen zur Indexierung und Semantisierung                                   schaften ausgearbeitet wird. Es bietet ein
als Abschluss eines monumentalen Projek-                                                                                          spannendes Labor für die gesamte Histo-
tes, das fast ein Vierteljahrhundert in An-                                                                                       rik-Gemeinschaft und eine Chance, eine
spruch nahm und seit 1998 nicht mehr nur                                                                                          jahrhundertealte schweizerische Tradition
auf Papier, sondern auch in elektronischer                  «Multimedia-Konzepte                                                  weiterzuführen.
Form erscheint.
   Bedeutet dies, dass Enzyklopädien nur                    müssen mit der Vorherrschaft                                          François Vallotton ist Professor für Zeitgeschichte
noch ein Relikt der Vergangenheit sind,                     des Textes über Bild und Ton                                          an der Universität Lausanne und Mitglied des
weil sie durch neue Recherchemöglichkei-                                                                                          Stiftungsrates des «Historischen Lexikons der
ten über das Internet verdrängt werden?                     brechen.»                                                             Schweiz». Vallotton ist auf die Geschichte des
Diesen Schluss zu ziehen wäre voreilig,                                                                      François Vallotton   Verlagswesens und der Medien spezialisiert.
denn es bleibt durchaus weiterhin Platz für
digitale Projekte mit hohem wissenschaft-
lichem Mehrwert, als Alternative, oder
vielleicht eher als Ergänzung, zu partizipa-             werden sich künftig als unverzichtbare
tiven Nachschlagewerken wie Wikipedia.                   Werkzeuge erweisen. Ebenso müssen Links
Dass solche Werke auch künftig ihre Be-                  zu gewissen Referenzdatenbanken in den
rechtigung haben werden, wenn sie denn                   jeweiligen Fachbereichen gewährleistet
gewisse Voraussetzungen erfüllen, möchte                 werden. Schliesslich herrscht zwar Einig-
ich am Beispiel des historischen Lexikons                keit darüber, dass Multimedia-Konzepte
aufzeigen.                                               attraktiv sind, sie müssen aber Gelegenheit
   Die Entwicklung eines in sich geschlos-               bieten, mit der Vorherrschaft des Textes
senen, kontrollierten lexikografischen                   über Bild und Ton zu brechen. Audiovisuel-
Konzepts, das mehr Gewicht auf Ausgewo-                  le Elemente dürfen nicht auf eine blosse Il-
genheit und systematische Einträge legt                  lustration des gedruckten Textes reduziert
als auf zufällige, subjektive Erweiterungen,             werden, sondern müssen ebenso wie der

8    Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Forschende in die Politik . 10 - Die längsten Höhlen der Welt . 24 Der Islam als Problem der ...
I
    m Allgemeinen wird lexikalisches           Presse gibt Wikipedia die Schuld, die Enzy-          Mit der Entwicklung des partizipativen
    Wissen mit dem Anfangsstadium des          klopädie konkurrenziert, in Schieflage und        Internets bieten sich den Nutzern neue
    Sprach­erwerbs assoziiert, beispielswei-   schliesslich zum Kentern gebracht zu ha-          Möglichkeiten. Sie können nicht nur Fra-
    se mit einem heranwachsenden Kind,         ben. Dies legt den Schluss nahe, dass eine        gen stellen, sondern beim Surfen nun auch
das versucht, mit den Personen in seinem       partizipative Enzyklopädie ein Gegenspie-         zum Aufbau gemeinsamer Werke wie Wiki-
Umfeld zu kommunizieren. Doch das Wis-         ler traditioneller Werke ist. Aber wird da-       pedia beitragen. Folgende Zahlen sprechen
sen um die Bedeutung einzelner Wörter          mit nicht eher das wirtschaftliche Modell         Bände, was die Effizienz des neuen Modells
spielt auch in der Erwachsenenwelt eine        dieser Werke in Frage gestellt?                   angeht: Wikipedia war Ende 2014 in über
Rolle, etwa wenn jemand eine Arbeitsstelle                                                       280 Sprachen mit einem Korpus von über
in einem Land annimmt, dessen Sprache                                                            30 Millionen Artikeln verfügbar.
er nicht beherrscht. Die Rolle des lexika-       «Die Zukunft der                                   Wikipedia ist nicht als Gegenpol zum
lischen Wissens besteht somit darin, die                                                         traditionellen Modell des Sammelns von
Menschen in die Lage zu versetzen, Gegen-        Nachschlagewerke liegt in                       lexikalischem Wissen zu sehen, sondern
stände und Konzepte zu identifizieren und        ihrer Fähigkeit, Bestandteil                    als Ergänzung. Durch die partizipative
darüber zu kommunizieren. Neu ist nicht                                                          Dimension spielen Fach- und Allgemein-
lexikalisches Wissen an sich, sondern dass       des Netzwerks des Wissens                       wissen zusammen. Mehrere zehntausend
es weltweit gespeist und verbreitet wird.        im Internet zu werden.»                         Artikel von Wikipedia auf Französisch,
   Im Lauf der Geschichte existierten zwei                                                       Deutsch und Italienisch zitieren das «His-
Formen von Wissen nebeneinander: Fach-                                     Charles Andrès        torische Lexikon der Schweiz» als Referenz
wissen und Allgemeinwissen. Das Fachwis-                                                         und verweisen auf die elektronische Ver-
sen wird von den Gelehrten definiert und                                                         sion des Nachlagewerks. Genau hier liegt
ist absolut in dem Sinne von «dies ist die        Mit dem Siegeszug des Internets ist das        die Zukunft solcher Nachschlagewerke: in
Bezeichnung für das», während das Allge-       lexikalische Wissen in das digitale Zeit­         ihrer Fähigkeit, Bestandteil des allgemei-
meinwissen im Alltag dominiert und sich        alter eingetreten und mit ihm auch die            nen Netzwerks des Wissens im Internet
dem Bedarf anpasst. Das lexikalische Wis-      Verbreitungsart. Wörterbücher und Enzy-           zu werden und damit zum ersten wirklich
sen wird somit von Fachleuten festgelegt       klopädien bieten nun auch Online-Ver­sio­         universellen lexikalischen Korpus der Welt
und in Wörterbüchern niedergeschrieben,        nen an, um mit der Entwicklung Schritt            beizutragen.
es wird aber auch auf der Strasse verwendet    zu halten und eine neue Kundschaft anzu-
von Menschen, die sich nicht unbedingt da-     sprechen. Diese Werke wurden entmate-             Charles Andrès schreibt seit 2007 für Wikipedia.
rum kümmern, ob der Sinn, den sie einem        rialisiert, der Inhalt ist aber gleich geblie-    Der Biologe arbeitet seit 2013 für Wikimedia
Wort geben, wirklich der richtige ist.         ben, ebenso der Preis, während die Kosten         Schweiz.
   Ende 2014 befand sich die «Encylopedia      um mehrere Grössenordnungen zurück­
Universalis» im Insolvenzverfahren. Die        gegangen sind.

                                                                               Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104   9
Forschende in die Politik . 10 - Die längsten Höhlen der Welt . 24 Der Islam als Problem der ...
Keystone/Christian Beutler
       Mehr Mobilität?

                                                                            Mehr Verdichtung?

10   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Schwerpunkt Forschende in die Politik !?!

         Forschende
         in die
         Politik
                                                 Felix Gutzwiller plädiert
                                                 dafür, dass Forschende im
                                                 Parlament stärker vertreten
                                                 sind. Denn die Politik wird
                                                 zunehmend mit grossen
                                                 Fragen der Wissenschaft
                                                 konfrontiert.

         Die Wissenschaften sollten
         ihre Autonomie verteidigen
         und die politische
         Dimension ihrer Arbeit
         bedenken, ohne sich in
         den politischen Kampf zu
         werfen, meint Urs Hafner.

                                            Italien ist ein gutes Beispiel,
                                            wie wichtig politisches
                                            Engagement von Forschenden
                                            ist, berichtet Mirko
                                            Bischofberger.

                                                  Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104   11
Keystone/Camera Press/Laura Smout
      Allergieprävention?

                                                                            Krankheitserreger?

12   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Schwerpunkt Forschende in die Politik !?!

   «Die Wichtigkeit von                                                                      zuversichtlich, dass die Wissenschaft hier
                                                                                             auch Antworten liefern wird, vorausgesetzt

   Forschenden in der Politik
                                                                                             die Politik bietet die richtigen Rahmen­
                                                                                             bedingungen.
                                                                                                  Sollten auch mehr Forschende ins

   wird unterschätzt»
                                                                                                 ­Parlament?
                                                                                             Die Wichtigkeit einer Präsenz von For-
                                                                                             schenden in der Politik und im Parlament
                                                                                             wird oft unterschätzt. Man denke zum Bei-
                                                                                             spiel an die Landwirtschaft, die im Parla-
   Ständerat und Präventiv­mediziner Felix                                                   ment deutlich besser vertreten ist als die
   Gutzwiller im Gespräch über lokale                                                        Wissenschaften. Und das trägt Früchte:
                                                                                             Die Landwirtschaft hat sich einen viel hö-
   Befindlichkeiten und den Anspruch auf                                                     heren Stellenwert im Parlament ergattern
   Weltbürgerlichkeit, den Stellenwert                                                       können. Es ist deshalb wichtig, dass auch
                                                                                             die Wissenschaft im Parlament vertre-
   der Wissenschaft in der Politik und                                                       ten ist. Ich bin überzeugt, dass es genug
   den Sinn zweckfreier Forschung.                                                           Forschende gibt, die bereit wären, in der
   Von ­Mirko ­Bischofberger                                                                 Öffentlichkeit aufzutreten. Doch sie müs-
                                                                                             sen dafür sensibilisiert werden. Auch der
                                                                                             Schweizerische Nationalfonds könnte mei-
                                                                                             nes Erachtens dazu beitragen, indem er die
                                              Herr Gutzwiller, sollen Ihrer Meinung          Mitglieder seines Forschungsrats stärker
                                              nach mehr Forschende in die Politik?           zu politischem Engagement auffordert.
                                            Ich denke schon. Für eine gut funktionie-            Wieso gibt es denn heute so wenig
                                            rende Demokratie ist es wichtig, dass in der         ­Forschende in der Politik?
                                            Politik alle Branchen vertreten sind. Wenn       Die Forschung in der Schweiz ist heute viel
                                            ich heute aber die Zusammensetzung des           internationaler als früher. So kommt gut
                                            Parlaments studiere, so muss ich zugeben,        die Hälfte unserer wissenschaftlichen Elite
                                            dass es nur sehr wenige Parlamentarier           aus dem Ausland. Das ist sehr gut für unse-
                                            gibt, die Forschungserfahrung haben. Ich         re Wettbewerbsfähigkeit. Doch es hat auch
                                            war über mehrere Jahre hinweg das einzi-         Nachteile: Viele Forschende kennen zum
                                            ge Mitglied einer universitären Fakultät im      Beispiel das politische System der Schweiz
                                            Ständerat!                                       zu wenig. Und sie verstehen vielleicht oft
                                              Wie kamen Sie denn in die Politik?             nicht, dass es am Schluss der Herr Mei-
                                            Als Epidemiologe und Präventivmediziner          er aus einer kleinen Gemeinde ist, der bei
                                            ist man relativ nah an politischen Themen.       einer Abstimmung entscheidet. Wissen-
                                            So habe ich mich zum Beispiel als Wissen-        schaftspolitik, wie jede Politik, hat also viel
                                            schaftler stark mit der Organisation des         mit dem lokalen Verständnis der direkt­
                                            Gesundheitswesens befasst, ein politisch         demokratischen Prozesse der Schweiz zu
                                            wichtiges Thema. Der Schritt von der For-        tun. Und da gibt es bei den Forschenden
                                            schung in die Politik war somit nicht allzu      sicher noch Optimierungsbedarf.
                                            gross im Vergleich zu anderen Forschen-              Sie denken dabei an die Annahme der
                                            den, die zum Beispiel im Bereich der Quan-           Masseneinwanderungsinitiative?
                                            tenphysik arbeiten.                              Auch, ja, aber nicht nur. Als wir in den
                                              Wie wichtig ist die Wissenschaft im            Zeiten der Gen-Schutz-Initiative in den
                                              ­politischen Alltag heute?                     90er Jahren zusammen mit dem Schwei-
                                            Sehr wichtig. Die Politik wird zunehmend         zer Nobel­preisträger Rolf Zinkernagel mit
                                            mit grossen Fragen der Wissenschaft kon-         politischen Plakaten die Bahnhofstrasse
                                            frontiert. Ich denke dabei an Fragen rund        herunterliefen, da waren die Leute be­
                                            um das Klima, die Energie, die Ernährung,        eindruckt! Es ist wichtig und glaubwürdig,
                                            die Epidemien und das Gesundheitswesen,          wenn Leute aus der Forschung politisch
                                            um nur einige zu nennen. Die Forschung           auftreten.
                                            wird in Zukunft somit ein wichtiges The-             Welche Rolle spielte die Forschung bei
                                            ma in der Politik sein und ein entschei-             der Masseneinwanderungsinitiative im
                                            dender Treiber des Wohlstands. Dies bietet           Februar 2014?
                                            gleichzeitig Raum und Potenzial für Inno-        Die Masseneinwanderungsinitiative sprach
                                            vation und Fortschritt. Und ich bin sehr         in der Bevölkerung ein wichtiges Thema

                                                                          Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104   13
Schwerpunkt Forschende in die Politik !?!
Keystone/Steffen Schmidt

                                                                                an, das weit über die Forschung hinaus          standen werden, für die Zivilgesellschaft
                                                                                geht. Das Spannungsfeld besteht zwischen        im Bereich der Ethik und der Philosophie
                                                                                lokalen und regionalen Befindlichkeiten         zum Beispiel. Das ist oft viel wichtiger als
                                                                                einerseits und dem Anspruch auf Weltbür-        wirtschaftliche Produkte. Man darf den
                                                                                gerlichkeit andererseits. So eröffnet sich      Begriff der Nützlichkeit nicht zu eng defi-
                                                                                ein politisch fundamentaler Widerspruch         nieren.
                                                                                zwischen dem Zugang zu internationalem             Wird der Begriff auch auf politischer
                                                                                Wissen einerseits und einem rein nationa-          Ebene so verstanden?
                      «Eine Nationalisierung des                                len Nutzen auf der anderen Seite.               Ich denke schon. Auch in dem eidgenössi-
                      Forschungsraums Schweiz wäre                                  Was ist die Lösung?                         schen Departement, das seit Anfang 2013
                                                                                Eine schwierige Frage. Die Bürger werden        für Wirtschaft, Bildung und Forschung
                      ein Riesenrückschritt für die                             sich wohl daran gewöhnen müssen, dass           zuständig ist, scheint dies klar zu sein. So
                      Forschung.»                                               man nicht beides gleichzeitig haben kann.       herrscht in meinen Augen auch Einigkeit
                                                                                Der Wohlstand in einem ressourcenarmen          darüber, dass eine zunächst oft als zweck-
                                                                                Land wie der Schweiz gründet auf Innova-        frei erscheinende Forschung häufig die
                                                                                tion und Forschung. Und diese wiederum          Grundlage ist für spätere Innovationen in
                                                                                leben von einer gewissen Öffnung nach           der Wirtschaft.
                                                                                aussen. Zu denken, dass die Schweiz eine            Was ist denn das Ziel zweckfreier
                                                                                lokale Innovation auf nationaler Ebene ha-         ­Forschung?
                                                                                ben könne, das ist meiner Meinung nach          (Lacht.) In einem seiner Theaterstücke
                                                                                völlig falsch. Genau deshalb wird es in den     legt Bertolt Brecht folgende Aussage in den
                                                                                kommenden Jahren auch entscheidend              Mund von Galilei: «Ich halte dafür, dass
                                                                                sein, ob die Schweiz in den europäischen        das einzige Ziel der Wissenschaft darin be-
                                                                                Wissenschaftsraum integriert sein wird          steht, die Mühseligkeit der menschlichen
                                                                                oder nicht. Eine Nationalisierung des For-      Existenz zu erleichtern.» Ich verstehe die-
                                                                                schungsraums Schweiz wäre ein Riesen-           sen Spruch in dem Kontext des Buches als
                                                                                rückschritt für die Forschung!                  einen sehr angewandten Nützlichkeits­
                                                                                    Aber die Schweiz befindet sich doch         begriff, mit einem ultimativen und prakti-
                                                                                    heute an der Spitze der Weltforschung,      schen Endzweck. Dies scheint mir aber zu
                                                                                    vor allem was Patente und Innovation        kurz zu greifen. Denn auch alles, was schön,
                                                                                    anbelangt.                                  wichtig und ethisch ist, sollte in dem Nütz-
                                                                                In der Tat. Und mir scheint auch, dass jun-     lichkeitsbegriff enthalten sein. Auch eine
                                                                                ge Forschende heute mehr unternehme-            Entdeckung eines Planeten ausserhalb un-
                                                                                rische Visionen haben als früher. Die Be-       seres Sonnensystems vermag vielleicht die
                                                                                reitschaft ist heute deutlich höher, sich zu    Mühseligkeit der mensch­lichen Existenz
                                                                                überlegen, wie man Ideen zum Nutzen der         ein wenig zu erleichtern.
                                                                                Gesellschaft umsetzen kann, in Form von
                                                                                Spin-offs zum Beispiel. Zumindest in mei-       Mirko ­Bischofberger ist wissenschaftlicher
                                                                                nem Umfeld scheint mir das so. Das finde        ­Mitarbeiter des Forschungsratspräsidenten
                                                                                ich äusserst positiv.                            des SNF.
                                                                                    Haben Sie sich auch einmal selbst­
                                                                                    ständig gemacht?
                                                                                Nein, das habe ich leider verpasst (lacht).
                                                                                Das ist in meinem Bereich aber auch nicht
                                                                                ganz einfach. Ich habe viel im Nonprofit­
                                                                                bereich mit aufgebaut, wie zum Beispiel im
                                                                                Bereich von Gesundheitsorganisationen
                                                                                auf der Ebene von Gemeinden.
                                                                                    Ist heute ein Trend zu mehr Nützlichkeit
                                                                                    der Forschung beobachtbar?                    Felix Gutzwiller
                                                                                Es ist wichtig, dass die Sektoren Wirtschaft
                                                                                und Wissenschaft zusammenarbeiten.                Felix Gutzwiller ist Politiker und Professor für
                                                                                Aber es darf natürlich nicht sein, dass die       Medizin. Er war von 1988 bis 2013 Direktor
                                                                                Wissenschaft durch die Wirtschaft instru-         des Instituts für Sozial- und Präventiv­medizin
                                                                                mentalisiert wird. Zudem ist Nützlichkeit         der Universität Zürich. 1999 wurde G  ­ utzwiller
                                                                                ein Begriff, der sehr viel weiter geht als im     in den Nationalrat gewählt. Seit 2007 ist er
                                                                                wirtschaftlichen Sinn. Nützlich sollte auch       Ständerat und Mitglied der Kommission für
                                                                                im geisteswissenschaftlichen Sinn ver-            Wissenschaft, Bildung und Kultur.

                      14     Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Keystone/Martin Ruetschi

                           Dünger?

                                                                                             Biogas?

                                     Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104   15
Schwerpunkt Forschende in die Politik !?!

                                                                                                       dieren würden, damit ihr wissenschaft­
                                                                                                       liches Wissen direkt in die Politik einflösse
                                                                                                       oder – umgekehrt – dieses Wissen vermehrt
                                                                                                       unter praktischem Gesichtspunkt hervor-

«Keine                                                                                                 gebracht würde? Kaum. Der grosse Sozio-
                                                                                                       loge Max Weber hat schon zu Beginn des

Abstimmungsparolen
                                                                                                       20. Jahrhunderts festgestellt, dass Wis-
                                                                                                       senschaft und Politik in einem parlamen-
                                                                                                       tarischen System zwei Paar Schuhe seien.

ausgeben»
                                                                                                       Der Befund ist noch immer gültig: Politi-
                                                                                                       ker kämpfen mit fast allen Mitteln um die
                                                                                                       Durchsetzung ihrer Macht und ihrer Wer-
                                                                                                       te, Wissenschaftler dagegen verschreiben
                                                                                                       sich möglichst wertfrei der Erkenntnis und
             Wissenschaft ist immer politisch.                                                         der Analyse einer Sache. Sie sind der Wahr-
             Das heisst aber nicht zwingend,                                                           heit verpflichtet. Welcher Welt­anschauung
                                                                                                       sie folgen, sollte sekundär sein. Fliesst
             dass Wissenschaftler in die Politik                                                       ihre Gesinnung in ihr Tun ein, was oft un­
             gehen sollen, auch wenn die Grenze                                                        vermeidbar und manchmal sogar befruch-
                                                                                                       tend ist, sollten sie sich bemühen, diese zu
             zwischen den beiden Bereichen                                                             sublimieren oder mit ihr als einer Erkennt-
             einmal durchlässig war. Facetten                                                          nisbedingung zu rechnen.
             einer schwierigen Beziehung.                                                                 Doch obschon Wissenschaft und Politik
                                                                                                       zwei unterschiedliche Systeme bilden, die
             Von Urs Hafner                                                                            eigenen Währungen folgen (der Wahrheit
                                                                                                       beziehungsweise bestimmten Werten),
                                                                                                       sind sie in der «Wissensgesellschaft» enger

                                                       E
                                                                                                       denn je ineinander verschränkt. Der Staat
                                                                ine Professorin im Parlament, die      nimmt die Wissenschaften seit ihrem Ent-
                                                                vehement die SVP-Volksinitiative       stehen in die Pflicht. Ohne die Arbeiten
                                                                «Schweizer Recht geht fremdem          patriotischer Historiker hätte die entste-
                                                                Recht vor» bekämpft? An einer Hand     hende Nation keine einigende Mythologie
                                                        sind die Forscher abzuzählen, die in der Po-   entwickelt, ohne die Kenntnisse der Hyd-
                                                        litik tätig sind, und nicht viel zahlreicher   rologen und Geologen, die sich in den wis-
                                                        sind jene, die sich in der Öffentlichkeit      senschaftlichen Akademien engagierten,
                                                        politisch engagieren. Politik und Wissen-      wären keine Landkarten entstanden, die
                                                        schaft, das scheint in einer liberalen Demo-   nicht bloss dem Wanderer zur Freude ge-
                                                        kratie nicht zusammenzupassen.                 reichen und dem Militär die Orientierung
                                                            Das war im 19. Jahrhundert, unter der      erleichtern, sondern die Bevölkerung zur
                                                        zerfallenden Alten Eidgenossenschaft,          Herausbildung einer räumlichen Vorstel-
                                                        anders. Als das moderne Wissenschafts­         lung ihres Landes ermuntern.
                                                        system noch in den Anfängen steckte, wa-
                                                        ren Gelehrte oft Politiker und umgekehrt;         Osmotischer Austausch
                                                        man denke etwa an den Mitbegründer             Die Indienstnahme ist für die Wissen-
                                                        der heuer zweihundertjährigen Akademie         schaften eine Gratwanderung. Sie werden
                                                        der Naturwissenschaften Schweiz, an den        vom Staat, ohne den sie nicht gedeihen
                                                        unerschrockenen Zürcher Demokraten             können, unterstützt, aber sie müssen dar-
                                                        Paul Usteri. Der Botaniker und Mediziner       auf bedacht sein, ihre Autonomie zu wah-
                                                        war Redaktionsleiter der «Neuen Zürcher        ren, auch im postnationalen Zeitalter. Heu-
                                                        Zeitung», mit der er unermüdlich für die       te sind anhand von Preisen, Publikationen
                                                        Pressefreiheit kämpfte, und sass für die Li-   und Patenten gemessene Erfolge und volks-
                                                        beralen im Zürcher Parlament. Kurz nach        wirtschaftlich nützliche Resultate gefragt.
                                                        seiner Wahl zum Bürgermeister starb er         Die Gesellschaft sei auf das praktische Wis-
                                                        (1831). Mit der neuen Akademie engagierte      sen der Wissenschaften angewiesen, lautet
                                                        er sich für den Fortschritt der Wissenschaf-   die Forderung der Stunde. Als Experten lie-
                                                        ten und für die entstehende Nation. Glei-      fern Forschende denn auch Grundlagen für
                                                        ches tat der Waadtländer Anti-Aristokrat,      politische Entscheidungen, kommentieren
                                                        Geograf und Historiker Frédéric-César de       alle möglichen Geschehnisse und führen
                                                        La Harpe, der die Schweiz vor zweihundert      Meinungsumfragen durch.
                                                        Jahren am Wiener Kongress vertrat. Beides,        Doch Wissenschaft ist eine genuin kri-
                                                        Wissenschaft und Politik, schien damals        tische Tätigkeit. Sie stellt zunächst keine
                                                        zusammenzugehören.                             Lösungen zur Verfügung, sondern sie prob-
                                                            Wäre es also wünschenswert, dass sich      lematisiert bestehende Routinen. Daher ist
                                                        heutige Wissenschaftler an Usteri und de       sie wesentlich unpraktisch. Wissenschaft
                                                        La Harpe ein Beispiel nähmen, politisch        baut Komplexität auf, nicht ab. Wer von ihr
                                                        Farbe bekennen und für ein Amt kandi-          einfach umzusetzende Lösungen erwartet,

16   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
wird enttäuscht. Genau dies versprechen         von der als ­neutral angesehenen Schweiz
aber die angewandte und die anwendungs-         aus sowohl mit deutschen Anthropologen,
orientierte Forschung. Forschung indes, die     die im Dienst der Nationalsozialisten ar-
umstandslos angewandt werden könne, sei         beiteten, als auch mit wissenschaftlichen
keine Forschung, sondern Dienstleistung,        Gegnern des ­arischen Rassismus zu ko-                  Politik und Naturwissenschaften
sagt der Soziologe Peter Schallberger von       operieren. Die Reputation der Schule blieb
der Fachhochschule St. Gallen.                 ­unbeschädigt.                                           Wissenschaft, Politik und Wirtschaft gehen
   Forschung ist immer politisch, auch             Die wissenschaftliche Autonomie, wie                 seit langem auf eng verwobenen Wegen. Das
dann, wenn ihr dies nicht bewusst ist. Sie      sie Max Weber definiert hat, ist stets pre-             illustriert der von den Historikern Patrick
steht mit der Welt ausserhalb des Elfen-        kär. Sie wird von der Politik und der Wirt-             Kupper und Bernhard C. Schär zusammen­
beinturms in einem permanenten osmo-            schaft bedroht, welche die Wissenschaften               gestellte Band «Die Naturforschenden» –
tischen Austausch. Ein Beispiel dafür ist       für ihre Zwecke einspannen wollen. Diese                ein Pionierwerk, weil die Geschichte der
die Zürcher «Rassenforschung», die sich         Autonomie muss geschützt werden. Wenn                   ­Schweizer Naturwissenschaften wenig
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts       die Wissenschaften jedoch glauben, ihre                  erforscht ist. Das Buch wirft fünfzehn Streif-
als international führende Schule der bio­      Autonomie bestehe darin, dass sie gänzlich               lichter auf die Geschichte der Naturwissen-
logischen Anthropologie etablierte; der         unbeeinflusst von der politischen Sphäre                 schaften seit dem Jahr 1800. Demnach war
Historiker Pascal Germann porträtiert sie       arbeiteten, und wenn sie ihre ausserwis-                 die Schweizerische Naturforschende Gesell-
im neuen, anlässlich des runden Jubiläums       senschaftlichen Beziehungen nicht reflek-                schaft, die heutige Akademie der Naturwis-
der Akademie der Naturwissenschaften er-        tieren, dann riskieren sie, in die Falle poli-           senschaften, schon bei der Gründung 1815
scheinenden Buch «Die Naturforschenden»         tischer Ideologien zu tappen. Nicht nur die              nicht nur eine wissenschaftliche, sondern
(siehe Kasten). Die bedeutendsten Protago-      Existenz der «Rassen», auch beispielsweise               auch eine politische Organisation. Es war
nisten dieser Schule waren Rudolf Martin,       die Differenz zwischen dem männlichen                    die Zeit der einsetzenden Restauration, die
der 1899 in Zürich den ersten Lehrstuhl         und dem weiblichen Geschlecht, die im 19.                reaktionären Kräfte hatten Oberhand. In der
für Anthropologie der Schweiz erhielt, und      Jahrhundert von der Medizin exakt in der                 Naturforschenden Gesellschaft formierten
sein Nachfolger Otto Schlaginhaufen. Die        Gebärmutter und im Hirn nachgewiesen                     sich die vielen Fraktionen der patriotischen
beiden verstanden sich als Naturwissen-         wurde, ist eine solche Falle.                            Gegenbewegung neu.
schaftler, die mit exakten Methoden eine                                                                 Schon bald begann die Naturforschende
wissenschaftliche Systematik der mensch-          Attacken von Rechtspopulisten                          Gesellschaft, Kommissionen zu bilden,
lichen Spezies erstellen wollten. Die letzte   Die Professorin solle im Hörsaal zwar kei-                um Fragen aus der Politik zu beantwor-
Neuauflage ihres erstmals 1914 erschiene-      ne Abstimmungsparolen ausgeben, aber                      ten. Ein frühes Beispiel ist die Einsetzung
nen «Lehrbuchs der Anthropologie», einer       sie solle den Studierenden zeigen, dass wis-              einer Kommission zur «Untersuchung und
technischen Anleitung zum Vermessen            senschaftliche Arbeit immer politische Re-                Vergleichung Schweizerischer Masse und
von Körpern, kam 1992 heraus.                  levanz habe, sagt die Historikerin Caro­line              Gewichte» im Jahr 1822, die zur Vereinheit-
                                               Arni von der Universität Basel. Die Wis-                  lichung der M­ asse und Gewichte führte.
    Die Falle politischer Ideologien           senschaften sollten also ihre Autonomie                   Die geologischen Karten waren wichtig für
Der Plan der Anthropologen war einfach,        verteidigen und zugleich die politische Di-               die Eisenbahn- und Strassenbauprojekte
doch die Durchführung schwierig: Sie           mension ihrer Arbeit bedenken, ohne sich                  des Bundes, und die meteorologischen und
mussten viele Menschen vermessen, um           in den politischen Kampf zu werfen. Unter-                hydrologischen Forschungen verbesser-
ihr Wissen über die «Rassen» – deren Exis-     stützt werden sie dabei vor allem von den                 ten die Wettervorhersagen. So waren die
tenz schien ihnen unumstösslich zu sein –      Akademien der Wissenschaften Schweiz,                     Kommissionen oft auch Vorläufer der sich
zu komplettieren. Dabei interessierten sie     die sich als Thinktank und Interessen­                    im Aufbau befindlichen Bundesverwaltung,
sich nicht nur für Schädelumfänge und          organisation mit der strukturell schwieri-                etwa von Swisstopo oder Meteo Schweiz. Die
Beinlängen, sondern auch für die Farbe des     gen Beziehung von Wissenschaft und Ge-                    Naturschutzkommission wurde Wegbereite-
Anus und der Schleimhäute der Genitalien.      sellschaft beschäftigen. Dabei gilt es nicht              rin des organisierten Naturschutzes in der
Nur so, glaubten sie, sei die menschliche      bloss für die Wissenschaften gute Arbeits-                Schweiz. Sie gründete den Schweizerischen
Hautfarbe zweifelsfrei festzulegen. Natür-     bedingungen zu schaffen und der Politik                   Nationalpark sowie zu dessen Finanzierung
lich partizipierte niemand freiwillig an       Expertise zu übermitteln, sondern auch die                im Jahr 1909 den Schweizerischen Bund für
diesen peniblen Untersuchungen. Solang         Wissenschaften vor den Zumutungen der                     Naturschutz, die heutige Pro Natura.
die Anthropologen in den von europäi-          Politik und den Angriffen ihrer Gegner zu                 Das Buch «Die Naturforschenden» erscheint
schen Mächten kolonisierten Gebieten for-      schützen.                                                 im Mai 2015. Es wurde von der Akademie
schen konnten, standen ihnen genügend             Vielleicht müssen die wissenschaft­                    der Naturwissenschaften Schweiz initiiert
unterschiedliche Menschen zur Verfügung.       lichen Institutionen dies in Zukunft noch                 und ist Teil der Aktivitäten zu ihrem 200-Jahr-
Nach der Dekolonisierung mussten sich          stärker tun, wenn nämlich der politi-                     Jubiläum. mf
die Wissenschaftler vermehrt mit schwei-       sche Druck auf die Wissenschaften weiter
zerischen Rekruten begnügen.                   wachsen sollte. Ein Beispiel sind die poli-
    Die Wissenschaftler waren überzeugt,       tisch motivierten Attacken von Boulevard­
nur als Wissenschaftler zu handeln, die        medien und von Rechtspopulisten auf                      Literatur:
nichts als die reine Wahrheit verfolgten.      missliebige Intellektuelle. Wenn die Ins-
Dass eine Rassentheorie per se rassis-         titutionen die Angegriffenen nicht in den                P. Kupper & B. C. Schär (Hg.; 2015): Die
tisch ist, dass mit ihrer Theorie der «Ras-    Medien verteidigen, lassen sie zu, dass auch             Natur­forschenden. Auf der Suche nach
sen» deren Bewertung einherging und            ihre Glaubwürdigkeit diskreditiert wird.                 Wissen über die Schweiz und die Welt,
dass sie mit ihrer Praxis die menschliche                                                               1800–2015. Verlag Hier und Jetzt, Baden.
Integrität verletzten, war ihnen nicht be-     Urs Hafner ist Historiker und Wissenschafts­
wusst oder wollten sie nicht wissen. Die       journalist.                                               Programm 200 Jahre Akademie der
Zürcher Schule definierte sich als unpo-                                                                ­Naturwissenschaften Schweiz unter
litische Institution. Das ermöglichte ihr,                                                               www.forschung-live.ch

                                                                                  Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104     17
Keystone/Laif/Spohler
      Schutz der Privatsphäre?

                                                                            Innere Sicherheit?

18   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Schwerpunkt Forschende in die Politik !?!

           Wissenschaftler                                                                  liche wissenschaftliche Grundlage; es gab

           gegen
                                                                                            weder solide Forschungspublikationen,
                                                                                            noch wurden klinische Studien durch­
                                                                                            geführt. Die Medienarbeit war jedoch so er-

           Pseudowissenschaft
                                                                                            folgreich und der Druck der Öffentlichkeit
                                                                                            so gross, dass mehrere Richter schliesslich
                                                                                            verordneten, die Therapie in den lokalen
                                                                                            Gesundheitszentren durchzuführen und
                                                                                            sie damit allen zugänglich zu machen. Vie-
Forschung und medizinische Versorgung                                                       le Patienten wurden entsprechend behan-
eines Landes funktionieren am                                                               delt, obwohl die Therapie ernsthafte Ne-
                                                                                            benwirkungen aufwies. Erst nachdem sich
besten, wenn wissenschaftspolitische                                                        anerkannte italienische Krebsforscher in
Entscheidungen transparent sind und                                                         der Sache stark engagiert hatten, setzte der
                                                                                            damalige Gesundheitsminister doch noch
auf wissenschaftlicher Evidenz basieren.                                                    die Regeln des Handwerks durch und for-
Andernfalls wuchern schnell Willkür                                                         derte eine klinische Evaluation.
und Pseudowissenschaft. Ein Blick                                                              Ein jüngeres Beispiel kommt aus dem
                                                                                            Umfeld der italienischen Stammzellfor-
nach Italien zeigt, wie rasch es soweit                                                     schung. So bot eine fragwürdige Firma mit
kommen kann. Von Mirko Bischofberger                                                        dem Namen Stamina Foundation bereits
                                                                                            2009 eine auf Stammzellen basierende
                                                                                            Therapie an. Der Gründer Davide Vannoni,
                                                                                            ein Psychologe, der niemals selber in ­einer
                                                                                            Fachzeitschrift über Stammzellen publi-

                                            E
                                                                                            ziert hatte, versprach seinen Patienten,
                                                   s gibt immer noch Skeptiker, die         durch das Einspritzen von Stammzellen
                                                   den Zusammenhang zwischen der            gleich mehrere Krankheiten wie Parkin-
                                                   Krankheit Aids und dem HI-Virus in       son, Muskeldystrophie und spinale Mus-
                                                   Frage stellen – auch unter Wissen-       kelatrophie zu lindern oder gar zu heilen.
                                            schaftlern. Das ist ihr gutes Recht. Doch       Obwohl der Nutzen und vor allem die Risi-
                                            auch diese Minderheit lässt sich allmäh-        ken der Therapie nicht untersucht waren,
                                            lich von sauber durchgeführten Studien          fand die Therapie ihren Weg in mehrere
                                            und stichhaltigen Argumenten überzeu-           Gesundheitszentren. In den darauffolgen-
                                            gen. Denn die Skepsis basiert in diesem         den Jahren wurden Hunderte von Patien-
                                            und oft auch in anderen Fällen auf Be-          ten mit dieser Methode behandelt. Davide
                                            hauptungen, die wissenschaftlicher Über-        Vannoni war auch an der Gründung einer
                                            prüfung nicht standhalten. Leider kommt         Stammzellen-Firma in der Schweiz betei-
                                            es trotzdem überall auf der Welt vor, dass      ligt (siehe Kasten).
                                            die Öffentlichkeit und die Politik gut ver-
                                            kauften Wissenschaftsfiktionen auf den             Kein Anspruch auf Wundertherapien
                                            Leim gehen. So gibt es in unserem Nach-         Als die Stammzellexpertin Elena Cattaneo
                                            barland Italien, nur zwei Autostunden von       von der Universität Mailand von dieser The-
                                            Bern entfernt, immer wieder einen stark         rapie hörte, brachte sie die Geschichte ans
                                            verzerrten Umgang mit der wissenschaft-         Licht. Zusammen mit andern Fachkolle-
                                            lichen Arbeitsweise – vor allem im medi-        gen verfasste sie Artikel in Tageszeitungen
                                            zinischen Umfeld. Italien ist aber auch ein     und Fachzeitschriften, brachte das Thema
                                            gutes Beispiel dafür, wie erfolgreich und       an Konferenzen auf, führte Telefongesprä-
                                            wichtig wissenschaftspolitisches Engage-        che mit Politikern, gab Interviews und
                                            ment von Forschenden sein kann.                 tauschte sich mit Patientenorganisationen
                                               Im Jahr 1997 berichteten die italie-         und Spitälern aus. Die Forscher erhielten
                                            nischen Medien zum Beispiel über eine           auch Unterstützung vom japanischen No-
                                            neue Wundertherapie gegen Krebs. Die            belpreisträger und Stammzellenpionier
                                            so­genann­  te Di-Bella-Multitherapie, ein      Shinya Yamanaka. Im Jahr 2013 entschied
                                            Cocktail aus Vitaminen, Medikamenten            das italienische Parlament, dem Thema
                                            und Hormonen, wurde von Luigi Di Bella          mit einer klinischen Studie auf den Grund
                                            entwickelt, Professor an der Universität        zu gehen. Der Entscheid war umstritten, da
                                            Modena. Der Therapie fehlte allerdings jeg-     es keine Studien gab, die üblicherweise vor

                                                                         Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104   19
Schwerpunkt Forschende in die Politik !?!

                                 «Schlechte Wissenschaft
                                 wuchert, wenn gute
                                 Wissenschaftler nichts tun.»
                                                            Elena Cattaneo

                                                                                                     Christian Lüscher
der Durchführung einer klinischen Studie                Die italienische Stammzell­forscherin
gefordert sind, wie zum Beispiel Experi-                Elena Cattaneo prangert die Pseudo-
mente an Mäusen, die Hinweise geben, ob                 wissenschaft in Italien an.
die Therapie auch beim Menschen funk­
tio­nieren könnte. Andererseits würde eine
klinische Studie die Therapie definitiv als             Vergabe von Forschungsgeldern selber er-
Unfug entlarven können; die Studie koste-               lebt. Im Jahr 2009 schrieb das nationale
te den italienischen Staat schliesslich drei            ­Gesundheitsamt Forschungsgelder für den
Millionen Euro. Im Mai 2014 befand dann                  Bereich Stammzellen aus. In letzter Minu-
der Europäische Gerichtshof für Men-                     te entschied es sich jedoch, embryonale
schenrechte, dass Patienten kein Anrecht                 Stammzellen des Menschen von der Förde-
auf eine Therapie hätten, für die es keine               rung auszuschliessen – ohne ersichtliche
wissenschaftlichen Grundlagen gibt. Das                  wissenschaftliche Grundlage. Für Elena
italienische Verfassungsgericht schloss                  Cattaneo bedeutete das den kompletten
sich diesem Urteil an. Somit können in Zu-               Ausschluss aus dem Bewerbungsverfahren.
kunft Wundertherapien, wie diejenige von                 Die oben genannte Stamina Foundation
Di Bella, unterbunden werden, bis wissen-                erhielt hingegen die jahrelange staatliche                      Stammzelltherapien in der Schweiz
schaftliche Evidenz vorhanden ist.                       Förderung. Elena Cattaneo reichte beim
                                                         Gericht Beschwerde ein, um die Förderung                        Auch in der Schweiz gibt es medizinische
    Senatorin auf Lebenszeit                             der Stamina Foundation anzufechten – der                        ­Behandlungen ohne jegliche wissenschaft­
Auch bei der Verteilung von Forschungs­                  Entscheid über die Beschwerde ist hängig.                        liche Grundlage: zum Beispiel Angebote, die
geldern und wissenschaftlichen Arbeits-                     Die genannten Fälle zeigen auf, dass es                       eine Heilung neuronaler Krankheiten durch
stellen herrscht in Italien oft Willkür.                 Forschende braucht, die bereit sind, an die                      das Einspritzen völlig ungetesteter Stamm-
Roberto Perotti, der an der Columbia Uni-                Öffentlichkeit zu gehen und sich auf poli-                       zellen versprechen. So bot die Firma Beike
versity in New York und an der Bocconi-                  tischer Ebene für eine transparente und                          aus Lugano für 50 000 Schweizer Franken
Universität in Mailand lehrt, hat in einem               evidenzbasierte Wissenschaft einzuset-                           einen medizinischen Transfer nach China an,
Buch viele Beispiele über Italiens Vettern-              zen. Das ist natürlich vor allem bei medi-                       wo den Patienten die Stammzellen verab-
wirtschaft in der Forschung gesammelt.                   zinischen Themen augenfällig, weil die Ge-                       reicht wurden. Auch die Firma Biogenesis
Ein prominenter Fall betrifft Fabrizia La-               sundheit der Patienten auf dem Spiel steht.                      Tech versprach dies, ebenfalls im Tessin;
pecorella: Die Ökonomin hatte sich im                    Zudem können Forschende durch ihren                              Mitgründer war Davide Vannoni, der in Italien
Jahr 2002 an der Universität Bari für eine               Einsatz auch private Erfolge verbuchen.                          die Stamina Foundation aufgebaut hatte.
Professur beworben. Sie erhielt die Posi­                So wurde die Stammzellforscherin Elena                           Die Biogenesis Tech ist im Handelsregister
tion, obwohl sie keine einzige Publikation               Cattaneo aufgrund ihres politischen Enga-                        immer noch als aktiv eingetragen.
in den 160 wichtigsten internationalen                   gements im August 2013 vom italienischen
Zeitschriften ihres Fachs aufweisen konn-                Präsidenten zur Senatorin auf Lebenszeit
te, keine Publikation in den 20 wichtigsten              erkoren, zusammen mit dem Nobelpreis-
italienischen Zeitschriften und keine Mit-               träger für Physik Carlo Rubbia, dem Archi-                      Literatur:
arbeit bei einem Buch. Die zweitklassierte               tekten Renzo Piano und dem Dirigenten
Bewerberin hatte hingegen ein Doktorat an                Claudio Abbado. Sie ist nun die jüngste                         E. Cattaneo & G. Corbellini (2014):
der London School of Economics gemacht                   Senatorin auf Lebenszeit der italienischen                      Taking a stand against pseudoscience.
und zehn Publikationen in den wichtigs-                  Geschichte und setzt sich im Senat für Ent-                     Nature 510: 333–335.
ten Zeitschriften der Welt veröffentlicht.               scheidungen auf Grundlage wissenschaft-
Inzwischen leitet Fabrizia Lapecorella das               licher Evidenz ein.                                             R. Perotti (2008): L’università truccata.
Finanzdepartement der italienischen Re-                                                                                  Einaudi.
gierung.                                                Mirko Bischofberger ist wissenschaftlicher
    Die Mailänder Stammzellforscherin                   ­Mitarbeiter des Forschungsratspräsidenten                       M. Roselli & M. Tagliabue (2014):
Elena Cattaneo hat die Willkür bei der                   des SNF.                                                        Affari s­ taminali. RSI Falò.

20   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Keystone/AP Photo/Roberto Pfeil

                                  Besserer Sonnenschutzfilter?

                                                                                              Gesundheitsrisiko durch Nanopartikel?

                                                                 Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104   21
Vor Ort

                                                                                                             Auch meine Ausstattung kann sich se-
                                                                                                        hen lassen: stereoskopisches Panorama-
                                                                                                        Kamerasystem, Temperaturmess-Harpu-
                                                                                                        nen, viel «Made in Switzerland». Übrigens
                                                                                                        auch die Düse auf meinem Rücken, die
                                                                                                        nicht so drückte, wie sie sollte: Schweizer
                                                                                                        Fabrikat.
                                                                                                             Nicht nur wegen der Düse bin ich noch
                                                                                                        ein wissenschaftliches Leichtgewicht.
                                                                                                        Auch das Forschungsumfeld ist nicht so
                                                                                                        sonnig wie versprochen. Ich konnte mich

Nicht sehr sonnig                                                                                       bisher kaum etablieren, zu eisig ist der
                                                                                                        Untergrund. Was nützt einem ein Sonnen­
                                                                                                        untergang alle 13 Stunden, wenn man hin-
                                                                                                        ter einem Felsen steht? Und keine Spur von
Der Lander Philae von der Europäischen                                                                  langfristigem Support: Nur zweieinhalb
Weltraumorganisation (ESA) berichtet vom                                                                Tage Zeit hatte ich für meine ersten eige-
                                                                                                        nen Experimente.
Kometen und von seinem Mutterschiff.                                                                         Stabile Position? Eine planbare Karrie-
                                                                                                        re bräuchte eine anständige Umlaufbahn.
                                                                                                        Aber alle paar Jahrzehnte kommt Chur­
                                                                                                        yumov–Gerasimenko dem Jupiter zu nahe,
                                                                                                        und danach fliegt er auf einmal wieder

                                                     «
                                                                                                        Hunderte Millionen Kilometer näher an
                                                               Ich habe, was viele gerne hätten: eine   der Sonne vorbei. Ich will gar nicht wissen,
                                                               feste Forschungsstelle.Wenn alles gut    wohin uns das noch führt. Wenn’s heis-
                                                               geht, wird sich an meiner Position in    ser wird, blasen mich die Ausgasungen
                                                               den nächsten fünf Milliarden Jahren      des K  ­ ometen vielleicht in den Kometen-
                                                        nichts ändern. Dafür musste ich das übli-       schweif. Aber was heisst schon heiss? Im
                                                        che Opfer bringen: meine Chefin Rosetta         Moment ist es hier minus 70 Grad.
                                                        zehn Jahre lang durch ziemlich dünne Luft            Und die eigenständige Forschung?
                                                        begleiten. Nach kurzen Forschungsaufent-        Rosetta hat bei allem das letzte Wort.
                                                                                                        ­
                                                        halten bei zwei Asteroiden in den Jahren        ­Meine gesamte Kommunikation zur Erde
                                                        2008 und 2010 wurde Rosetta im August            läuft über ihre Signalverstärker. ­«Rosetta»
                                                        2014 an den Kometen Churyumov–Gerasi-            hat in Google 46 Millionen Treffer. Die
                                                        menko berufen. Dort versprach sie mir eine       Süddeutsche Zeitung schreibt über mei-
                                                        stabile Position mit langfristigem Support       ne Forschungstätigkeit: «Rosetta selbst
                                                        und viel Zeit für eigenständige Forschung.       ist deutlich produktiver.» Und natürlich

                                                                                                                                              »
                                                            Es fiel mir zunächst nicht leicht, Chur­     ­hatte Rosetta gerade wieder eine ganze
                                                        y­u­mov–Gerasimenko zusammenhängend               Reihe Science-Papers, ohne mich
                                                        zu artikulieren. Der Name ist so hantel­          ­darin auch nur zu erwähnen.
                                                        förmig wie der Komet. Aber die Medien-               Mir reicht’s. Ich lege ein Bein
                                                        arbeit hat sich gelohnt: Inzwischen wird           hoch und schalte ab.
                                                        über jeden meiner Funkkontakte weltweit
                                                        berichtet. Googeln Sie nach «Philae», und
                                                        Sie erhalten 13 Millionen Treffer.              Aufgezeichnet von Valentin Amrhein.

22   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
Im Uhrzeigersinn: Start am 2. März   Bilder: ESA–S. Corvaja; ESA–C. Carreau/
2004; Rosetta entlässt Philae am     ATG medialab; ESA, 2008 MPS for OSIRIS
12. November 2014 in die Selbst-     Team MPS/UPD/LAM/IAA/RSSD/INTA/UPM/
ständigkeit (Zeichnung); Rosetta     DASP/IDA; processing by T. Stryk; ESA/
fotografiert beim Vorbeifliegen am   Rosetta/­NAVCAM – CC BY-SA IGO 3.0; ESA/ATG
5. September 2008 den Asteroiden     ­media­lab; ESA/Rosetta/Philae/CIVA
Šteins, von der ESA bezeichnet als
«diamond in the sky»; Churyumov-
Gerasimenko, fotografiert von
Rosetta; Philae beim Anflug auf
den Kometen (Zeichnung); Philaes
erstes Foto vom Landeplatz, links
unten ein Fuss von Philae.

  Philae und Rosetta auf Twitter:
  @Philae2014
  @ESA_Rosetta

  Rosetta-Sonderheft in Science:
  www.sciencemag.org/site/special/rosetta

                                                                                   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104   23
Umwelt und Technik

Die längsten Höhlen
                                                                            U
                                                                                     rwald, überall Urwald. Es ist tro­
                                                                                     pisch warm und feucht im mexika­

der Welt
                                                                                     nischen Bundesstaat Quintana Roo
                                                                                     im Nordosten der Halbinsel Yuka­
                                                                            tan, die wie ein riesiges Horn vom Festland
                                                                            Mittelamerikas in die Karibik ragt. Doch
                                                                            den Regen- und Mangrovenwäldern zum
Den Mayas galt das riesige                                                  Trotz: Wer die 400 Kilometer von Cancún
Karsthöhlensystem der                                                       an der äussersten Spitze Yukatans bis zur
                                                                            Grenze zwischen Mexiko und Belize unter
mittelamerikanischen Halbinsel                                              die Räder nimmt, wird keine einzige Brü­
Yukatan als Eingang zur Unterwelt.                                          cke überqueren. Es ist ein Land ohne Flüs­
                                                                            se und Bäche. Zumindest ohne sichtbare
Schweizer Forscher sind seiner                                              ­Flüsse: Das Wasser fliesst unterirdisch.
Entstehungsgeschichte auf der                                                   Denn der Untergrund Yukatans ist
Spur – mit Tauchgängen und                                                   durchzogen von einem gigantischen Höh­
                                                                             lengeflecht. Hunderte Hohlräume, Kanäle
mit mathematischen Formeln.                                                  und Tunnel gibt es hier, die meisten davon
Von Simon Koechlin                                                           gefüllt mit Wasser. Über der Erde zeugen
                                                                             einzig die so genannten Cenoten von die­

24   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104
sem verborgenen Labyrinth: Löcher, die       Modelle zu entwickeln, die erklären, wie                           schickt elektromagnetische Wellen in den
entstehen, wenn die Decken der Höhlen        solche Höhlenlabyrinthe entstanden sind                            Untergrund. Weil Kalkstein und Wasser die
einstürzen. Über 3000 dieser von der Na­     und wie sie funktionieren.                                         Signale unterschiedlich gut leiten, können
tur geformten Zisternen finden sich in Yu­                                                                      die Forschenden mit dieser Methode was­
katan. Für die Maya, die in Yukatan viele       Auflösende Kalksteine                                           sergefüllte Höhlen recht genau orten.
Zentren ihrer Hochkultur errichtet hatten,   Die Grundvoraussetzung für löchrigen Un­                              Um die Höhlen zu vermessen, haben
waren die Cenoten die Tore zur Unterwelt.    tergrund ist das entsprechende Gestein:                            die Wissenschaftler ein Unterwassergerät
   Eines dieser Maya-Zentren war die Stadt   Die Halbinsel Yukatan ist eine riesige                             entwickelt, das aus einem Laser und einer
Tulum. Hier liegen die zweitlängste und      Kalksteinplatte. Sie entstand über Jahr­                           Kamera besteht. Spezialisierte Höhlen­
die viertlängste Höhle der Welt. «Höchst­    millionen, als das Gebiet noch unter dem                           taucher wagen sich damit in die Grotten
wahrscheinlich sind sie sogar mitein­        Meeresspiegel lag. Aus abgestorbenen Ko­                           vor und bestimmen deren Dimensionen.
ander verbunden, was sie zum grössten        rallen wuchs eine über zwei Kilometer di­                          «Die Taucher haben uns auch dabei gehol­
Höhlensystem der Welt machen würde»,         cke Kalksteintafel. Der Kalk zersetzt sich                         fen, Sensoren in den Höhlen anzubringen,
sagt Philippe Renard, Hydrogeologe an der    relativ rasch, wenn er mit in Wasser gelös­                        um den Wasserdurchfluss zu bestimmen»,
Universität Neuenburg. Er untersucht ge­     ter Kohlensäure in Kontakt kommt. So ent­                          sagt Renard. Andere Sensoren geben Hin­
meinsam mit Kollegen der Geologischen        stehen Klüfte, Poren und Höhlen.                                   weise darauf, wie sich der Wasserstand im
Bundesanstalt Österreichs eines dieser          Heute sind die Höhlen so lang, dass das                         Karstsystem verändert, und wieder ande­
Höhlensysteme, das rund 250 Kilometer        Meerwasser in ihnen zum Teil Dutzende                              re Geräte sammeln Daten über die Eigen­
lange Ox-Bel-Ha-System. Das Hauptziel des    von Kilometern landeinwärts fliesst. «In                           schaften der Karstfelsen. «Wir nutzen
Forschungsprojektes ist, mathematische       küstennahen Gebieten wie in der Region                             natür­lich auch Informationen, die bereits
                                             Tulum führt ein Mix aus Salz- und Süss­                            andere Forscher publiziert haben», erklärt
                                             wasser dazu, dass sich die Gesteine im                             Renard. «Um Aussagen über die Langzeit­
                                             Lauf der Jahrtausende auflösen», sagt Phi­                         entwicklung des Karstsystems machen zu
                                             lippe Renard. Weil Salzwasser eine grössere                        können, sind zum Beispiel die Fluktuatio­
                                             Dichte aufweist als Süsswasser, liegt es in                        nen des Meeresspiegels während der letz­
                                             den Wasserkörpern in der unteren Schicht.                          ten Eiszeit wichtig.»
                                             Regenwasser versickert im durchlässi­
                                             gen Kalkboden rasch und fliesst auf das                               250 Meter Sichtweite
                                             Salz­wasser. Die beiden Wassertypen ver­                           Für definitive Resultate ist es laut ­Renard
                                             mischen sich nicht vollständig, sondern                            noch zu früh. Die mathematischen M  ­ odelle,
                                             nur in einer Zwischenschicht. «Man geht                            die von seinen Doktoranden ­       Axayacatl
                                             davon aus, dass die Auflösung des Kalk­                            Maqueda und Martin Hendrick erstellt
                                                                                                                ­
                                             steins entlang dieser Zwischenschicht er­                          werden, seien noch nicht fertig. «Wir ver­
                                             höht ist», sagt Renard.                                            stehen aber heute die Grundwasser­chemie
                                                Zwar wollen Renard und seine Kollegen                           in der Region besser als zuvor», sagt er. Che­
                                             die Entstehung der Höhlensysteme mit                               mische Analysen in dem Projekt hätten
                                             Hilfe von Rechenmodellen ergründen, da­                            zum Beispiel gezeigt, dass das Süsswasser
                                             für aber sind längst nicht nur mathemati­                          schon allein, ohne die Vermischung mit
                                             sche Fähigkeiten gefragt. Die Forschenden                          dem Salzwasser, viel aggressiver sei als
                                             sind auf Daten angewiesen, mit denen sie                           bislang angenommen. Der hohe Grund­
                                             ihre Modelle füttern und deren Plausibilität                       wasserspiegel, das tropische Klima und die
                                             testen. Denn Karstsysteme sind komplex.                            intensive biologische Aktivität erhöhen die
                                             Eine ganze Reihe von Faktoren bestimmen                            Produktion von Kohlendioxid, was wieder­
                                             das Ausmass und die Geschwindigkeit der                            um zu stärkerer Zersetzung führt.
                                             Zersetzung: Woraus genau besteht das Ge­                              Zwar ist das Erstellen der Modelle
                                             stein, wie ist das Wasser zusammengesetzt,                         Grundlagenforschung. Trotzdem könnten
                                             und wie interagieren die beiden Elemen­                            aus dem Projekt auch praktische Anwen­
                                             te? Welche Stoffe und Sedimente werden                             dungen entstehen – zum Beispiel in der
                                             durch die Poren und Ritzen des Gesteins                            Vorbeugung gegen Wasserverschmutzung.
                                             transportiert?                                                     Den Bewohnern Yukatans dienen die Ce­
                                                Zuerst müssen die Wissenschaftler aber                          noten nämlich schon seit Maya-Zeiten als
                                             natürlich wissen, wo sich Höhlen befin­                            Trinkwasser-Reservoire. Das Wasser in
                                             den und wie gross sie sind. Denn längst                            eini­gen dieser «Brunnenstuben» ist derart
                                             noch nicht alle sind auf Karten verzeich­                          sauber, dass die Sichtweite bis zu 250 Me­
                                             net. «Unbekannte Höhlen spüren unsere                              ter beträgt. Allerdings schiessen in Tulum
                                             österreichischen Kollegen mit elektro­                             seit einigen Jahren Hotels und andere tou­
                                             magnetischen Messungen per Helikopter                              ristische Anlagen aus dem Boden. Riesige
                                             auf», erklärt Renard. Der Helikopter fliegt                        Mengen von Abwasser könnten deshalb in
                                             über das urwaldbedeckte Karstgebiet und                            naher Zukunft durch den porösen Karst­
                                                                                                                untergrund in die Trinkwasserreservoire
                                                                                                                eindringen. Geeignete Schutzmassnahmen
                                                                                                                für diese einzigartige geologische Land­
                                             Höhlentaucher vermessen die                                        schaft kann nur ergreifen, wer genau weiss,
                                             Grotten unterhalb des Meeres­                                      wie die Höhlensysteme funktionieren.
                                             spiegels mit einem neuen Gerät, das
                                             aus einem Laser und einer Kamera                                   Simon Koechlin ist Chefredaktor der «Tierwelt»
                                             besteht.                                                           und Wissenschaftsjournalist.
                                             Bild: Arnulf Schiller, Austrian Geological Survey

                                                                                             Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 104   25
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