Gefürchtet und doch unentbehrlich: Der Stress ... 10 - Verführung durch den Schleier . 30 Wie Postdocs aus gebeutet werden . 34

 
WEITER LESEN
Gefürchtet und doch unentbehrlich: Der Stress ... 10 - Verführung durch den Schleier . 30 Wie Postdocs aus gebeutet werden . 34
Gefürchtet und doch unentbehrlich: Der Stress ... 10
Verführung durch            Wie Postdocs aus­       Auch Altersdemente
den Schleier ........... 30 gebeutet werden .... 34 waren einmal jung .. 40
Gefürchtet und doch unentbehrlich: Der Stress ... 10 - Verführung durch den Schleier . 30 Wie Postdocs aus gebeutet werden . 34
Anti-Stress
Licht und Dunkel, Krieg und Frieden: Wir denken gern in Gegensätzen.
Sie ordnen unsere Gedanken und helfen bei der Klärung von Begriffen.
Was ist das Gegenteil von Stress?

Was heute alles für gutes Geld als Anti-Stress erhältlich ist, wird
seinem Namen kaum je gerecht. Nichts gegen Massagen und
Heilpflanzenextrakte – aber wie oft vermögen sie Stress nachhaltig
aufzulösen? Das Gegenteil von Stress müsste also eher in vollkommener
Ruhe zu suchen sein: in der Abwesenheit jeglichen Zeit- und
Leistungsdrucks, dem Fernbleiben aller Ängste und Konflikte, einem
Zustand, der vielleicht mit dem buddhistischen Konzept des Nirwana
verwandt ist.

Doch die Natur des Menschen scheint nicht für diesen Zustand gemacht
zu sein. Oft halten wir die Ruhe gar nicht aus. Die meisten Menschen
nehmen lieber einen kleinen elektrischen Schock in Kauf, als eine
Viertelstunde mit ihren Gedanken allein zu sein, wie Forschende aus
den USA kürzlich in der Zeitschrift «Science» berichteten. Offensichtlich
stressen uns auch stressfreie Momente. Schon der Mathematiker und
Philosoph Blaise Pascal hielt vor über 350 Jahren fest, dass nichts
unerträglicher sei, als keine Zerstreuung und Beschäftigung zu haben.
Aus dem Grund der Seele steige dann ein Gefühl der Unzulänglichkeit
auf, der Leere, des Nichts – die Langeweile.

Weil Stress sich der binären Logik entzieht und kein Gegenpol
auszumachen ist, bleibt mir nur noch, Ihnen, liebe Leserinnen und
Leser, wenigstens das Gegenteil von Langeweile zu wünschen: Musse,
Heiterkeit und eine anregend-kurzweilige Lektüre dieses Hefts, das im
Schwerpunkt (ab Seite 10) verschiedene Aspekte von Stress beleuchtet.

  Ori Schipper, Redaktion
Gefürchtet und doch unentbehrlich: Der Stress ... 10 - Verführung durch den Schleier . 30 Wie Postdocs aus gebeutet werden . 34
horizonte
Horizonte – Das Schweizer Forschungsmagazin Nr. 102, September 2014
Gefürchtet und doch unentbehrlich: Der Stress ... 10 - Verführung durch den Schleier . 30 Wie Postdocs aus gebeutet werden . 34
Inhalt

                                                                                                                     26

                                                                                                   B Brown/Shutterstock
Keystone/Caro/Oberhaeuser

                              Schwerpunkt Stress                                                                           Umwelt und Technik

                       10Unter Druck
                                                                                                                     26
                                                                                                                        Falscher Alarm
                                                                                                                     Phosphor belastet die Umwelt, ist aber für
                                                                                                                     die Menschheit lebenswichtig.

                                                                                                                     28
                       Der Stress ist ein sozialpsychologisches                                                         Präventiver Fleiss
                                                                                                                     Eine Karte des Kaukasus soll Erdbeben
                       Konzept. Er verbindet den Menschen mit der                                                    vorhersehbar machen.

                       Ratte. Er macht krank und gewalttätig, soll                                                   29
                                                                                                                          Waldbrände präzise datieren
                       aber auch gesund sein. Was ist Stress?                                                             Raffinierte Verwandlung
                                                                                                                          Öl in den Wolken

                            13
                                 Die grosse Geschäftigkeit

                            15
                                 Die Belastung wegloben?

                            17
                                 Der Vater der Aggression

                            21
                                 Aus Ermüdung brechen

             4              Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102
Gefürchtet und doch unentbehrlich: Der Stress ... 10 - Verführung durch den Schleier . 30 Wie Postdocs aus gebeutet werden . 34
30                                                        34                                                                                       43
Maurizio Rippa Bonati/Valeria Finucci (ed.)

                                                                                                                                                 Keystone/Science Photo Library/Eye of Science
                                                                                    Valérie Chételat

                                                 Kultur und Gesellschaft                                  Wissen und Politik                                                                        Biologie und Medizin

                                        30                                                        34                                                                                       40
                                          Verhüllung und Entblössung                                 Die unsichtbaren Leistungsträger                                                         Wer war er, bevor er krank wurde?
                                        Der Schleier hat im Westen als Mittel der                 Ohne Postdocs keine Schweizer Forschung.                                                 Armin von Gunten schlägt eine erweiterte
                                        Verführung gedient.                                       Doch der wissenschaftliche Nachwuchs                                                     Sicht auf die Altersdemenz vor.
                                                                                                  arbeitet unter prekären Bedingungen.
                                        32                                                                                                                                                 43
                                           Die Politik kann warten                                38                                                                                         Missverstandenes Massaker
                                        Jungbürgerfeiern scheinen Jugendliche                       Keine Lust auf Big Brother                                                             Die Medizin bekämpft eine Magen­
                                        staatspolitisch kaum zu motivieren.                       Bedeutet mehr Sicherheit weniger Privat-                                                 mikrobe, die vor Allergien schützen
                                                                                                  sphäre? Vielen Bürgern passt das nicht.                                                  könnte.
                                        33
                                               Wenn die Mutter mit dem Kind                                                                                                                46
                                               Schöner warten                                                                                                                                 Was sich Hirn und Muskeln sagen
                                               Zwischen Gotthelf und Godard                                                                                                                Silvia Arber erforscht die Nervenverbin-
                                                                                                                                                                                           dungen zwischen Kopf und Körper.

                                                                                                                                                                                           48
                                                                                                                                                                                                  Schwarze Liste für invasive Arten
                                                                                                                                                                                                  Bienen als Experten für Landschaftsschutz
                                                                                                                                                                                                  Löten statt nähen

                                              Im Bild                                                  Vor Ort                                                                                   Aus erster Hand
                                        6                                                         24                                                                                       50
                                        Ein effizientes Transportvehikel                          Fehl­ernährung in Indien                                                                 Martin Vetterli zur Schweiz in Europa

                                              kontrovers                                               Wie funktionierts?                                                                        SNF und Akademien direkt
                                        8                                                         49                                                                                       51
                                        Zu viel direkte ­Demokratie?                              Gel – weder fest noch flüssig                                                            Öffentliches medizinisches Wissen

                                                                                                                                  Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102                                        5
Gefürchtet und doch unentbehrlich: Der Stress ... 10 - Verführung durch den Schleier . 30 Wie Postdocs aus gebeutet werden . 34
Im Bild

6    Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102
Gefürchtet und doch unentbehrlich: Der Stress ... 10 - Verführung durch den Schleier . 30 Wie Postdocs aus gebeutet werden . 34
Ein effizientes
                               Transportvehikel
                               Wenn ein Medikament zum richti-
                               gen Zeitpunkt und an der richtigen
                               Stelle freigesetzt wird, lassen sich die
                               Dosierung und gleichzeitig die un-
                               erwünschten Wirkungen reduzieren.
                               Dazu braucht es allerdings ein geeig-
                               netes Transportmittel. Ein vielverspre-
                               chender Kandidat ist das Liposom
                               (blau). Ähnlich wie eine Zelle besteht
                               es aus einer Membranhülle, die eine
                               Ladung aufnehmen kann.
                               Wie lässt sich nun bewerkstelligen,
                               dass die Ladung an den richtigen Ort
                               gelangt und sich die «Pforten» zum
                               richtigen Zeitpunkt öffnen? Forschen-
                               de des Adolphe-Merkle-Instituts
                               brachten dafür superparamagne-
                               tische Nanopartikel ins Innere der
                               Membran ein. Wenn die Nanopartikel
                               mit einem elektro­magnetischen Feld
                               erhitzt werden, reisst die Membran,
                               und der geladene Stoff wird frei-
                               gesetzt. Damit die Erwärmung für
                               den Bruch ausreicht, müssen die
                               Nanopartikel an einem präzisen Ort
                               lokalisiert werden. Die Forschen-
                               den konnten zeigen, dass die 6,5
                               Nanometer ­dünne Liposomenmem-
                               bran genügend flexibel ist, um ein
                               Nanopartikel-­Cluster mit dem fast
                               zehnfachen Durch­messer aufzuneh-
                               men.
                               Das Bild zeigt einen virtuellen
                               Schnitt durch ein Liposom, in dessen
                               Membran ein Nanopartikel-Aggregat
                               (rot) ein­gebaut ist. Darunter ist in
                               Schwarzweiss der Schnitt durch
                               ­dieses Liposom mit Cryo-Trans­
                                missions-Elektronenmikroskopie
                                dargestellt. ­pm
                               Bild: Alke Fink und Christophe Allan Monnier

Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102          7
Gefürchtet und doch unentbehrlich: Der Stress ... 10 - Verführung durch den Schleier . 30 Wie Postdocs aus gebeutet werden . 34
kontrovers

                                                                            Valérie Chételat, Uli Regenscheit (Fotomontage)
Zu direkt?
Immer wieder flammt die
­Diskussion über die direkte
 Demokratie auf. Hat die Schweiz
 zu viel davon? Andreas Auer
 möchte die Volksrechte nicht
 beschneiden, Anna Christmann
 dagegen würde Grenzen setzen.

E
      s weht ein rauer Wind im Land der                  den. Die grossen Polparteien, die wahrlich                                          keitserklärung von Volksinitiativen zu ver-
      Direktdemokratie. Nach einer Hand-                 über genügend Einfluss auf Parlament und                                            schaffen. So wird die direkte Demokratie
      voll menschenrechtlich problema-                   Regierung verfügen, nehmen das Volk un-                                             zum Spielball der Tagespolitik in Fragen,
      tischer Volksentscheide und ange-                  geniert in Beschlag, indem sie, vor allem                                           für die das Parlament funktionell grund-
sichts einer noch nie dagewesenen Flut                   mit Blick auf die nächsten Wahlen, reihen-                                          sätzlich nicht zuständig ist. Ob eine Volks-
von angekündigten und eingereichten                      weise Volksinitiativen lancieren, um ihre                                           initiative gegen Menschenrechte verstösst,
Volksinitiativen werden im In- und Aus-                  Stammkunden bei der Stange zu halten.                                               ob sie mit dem Völkerrecht kollidiert oder
land immer mehr Stimmen laut, die eine                   Die sogenannten Durchsetzungsinitiati-                                              unverhältnismässig ist, kann verbindlich
Einschränkung der Volksrechte fordern.                   ven machen der Bundesversammlung mit                                                nicht durch einen abstrakten politischen
   Hat die Schweiz zu viel direkte Demo-                 Erfolg ihre unersetzbare Rolle bei der Um-                                          Mehrheitsentscheid, sondern nur im kon-
kratie? Nein. Im Bund wie in den Kantonen                setzung der Volksinitiativen streitig und                                           kreten Einzelfall vom Richter entschieden
sind die Institutionen der direkten De-                  dienen gleichzeitig der vorauseilenden                                              werden. Dem Richter aber will das eigen-
mokratie nicht von oben diktiert, sondern                                                                                                    mächtige Parlament auf keinen Fall mehr
von unten angestossen worden und haben                                                                                                       Macht erteilen. Die Mär vom Richterstaat
sich differenziert auf der Ebene der Verfas-                «Kann die direkte                                                                dient der Machterhaltung.
sung, der Gesetze und der Staatsverträge                                                                                                        Und schliesslich: Kann die direkte De-
durchgesetzt. Volksabstimmungen kön-                        ­Demokratie eingeschränkt                                                        mokratie eingeschränkt werden? Ja, aber
nen von den Behörden weder angezettelt                       ­werden? Ja, aber nur vom                                                       nur vom Volk selbst. Die schweizerische
noch verhindert werden. Wir stimmen ab                                                                                                       Direkt­demokratie ist, frei nach Dürren-
über alle Verfassungsänderungen, die vom                      Volk selbst.»                                                                  matt, ein vom Volk bewachtes Gefängnis.
Parlament oder mit gültigen Volksinitia-                                                                                      Andreas Auer
tiven vorgeschlagen werden, sowie über                                                                                                       Andreas Auer, emeritierter Professor für öffent-
Gesetze und Verträge, gegen die vom Volk                                                                                                     liches Recht der Universität Zürich und Mit­
das Referendum ergriffen wurde. Verschie-                Verunglimpfung der gewählten Behörden.                                              begründer des Zentrums für Demokratie Aarau, ist
dene Vorschläge einer Ausweitung der                     Hehre Heilsverkünder in heiklen Moral­                                              Konsulent bei Umbricht Rechtsanwälte.
Volksrechte in Richtung Gesetzesinitiati-                fragen appellieren an den Ausschluss­
ve, Finanz­referendum, Konsultativabstim-                instinkt gegenüber allem Fremden, Un-
mung oder Ausbau des Staatsvertragsrefe-                 geläufigen, Unbeliebten und verschreiben
rendums wurden verworfen.                                den Behörden rechtsstaatlich unwürdige
   Um zu leben, müssen die Institutio-                   Automatismen. Der Volkswille wird ab-
nen der direkten Demokratie gebraucht                    solutistisch in den Himmel gehoben und
werden. Tun die Schweizerinnen dies                      über die Verfassung gesetzt.
zu intensiv? Während langer Jahrzehnte                      Soll deswegen die direkte Demokratie
war das nicht der Fall. Zurzeit aber kann                eingeschränkt werden? Nein. Die meisten
ein punktueller Missbrauch des Initiativ-                Reformvorschläge laufen darauf hinaus,
rechts nicht von der Hand gewiesen wer-                  dem Parlament mehr Raum zur Ungültig-

8    Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102
Gefürchtet und doch unentbehrlich: Der Stress ... 10 - Verführung durch den Schleier . 30 Wie Postdocs aus gebeutet werden . 34
M
          asseneinwanderung, Ausschaf-          John Locke die Bürger voreinander und vor       termassen das Volk das letzte Wort, eine
          fung, Minarettverbot: Warum           dem Staat zu schützen und um die schon          Verfassungsgerichtsbarkeit gibt es nicht.
          stören sich das Ausland und ein       von Theodor Heuss befürchtete «Tyran-              Gerade weil die Tradition der Volksrech-
          guter Teil der Schweizerinnen         nei der ­Mehrheit» zu verhindern. Es kann       te in der Schweiz so lang ist, würde eine
und Schweizer an Entscheiden, die doch          also nicht darum gehen, immer «mehr»            schärfere Prüfung von Initiativen auf die
durch eine Volksmehrheit demokratisch           Demokratie zu haben – ein Gleichgewicht         Verträglichkeit mit Grund- und Menschen-
legitimiert sind? Zu viel Demokratie – kann     zwischen demokratischen Mehrheits­              rechten oder auch mit internationalem
es das überhaupt geben?                         elementen und Grundrechtsschutz ist ent-        Recht die direkte Demokratie als solche
   Direkte Demokratie ist zunächst völlig       scheidend.                                      nicht ins Wanken bringen. Hier ist mehr
zu Recht ein sehr beliebtes Instrument.            Eine ausgebaute direkte Demokratie bei       Mut gefragt – zum Beispiel zu einer ver-
Die europäischen Nachbarn blicken in der        gleichzeitig schwacher rechtsstaatlicher        bindlichen Verfassungsgerichtsbarkeit.
Regel voller Neid auf die umfangreichen         Kontrolle kann dieses Gleichgewicht aus-           Eine strengere Kontrolle würde zudem
Beteiligungsrechte auf allen politischen                                                        ein weiteres Imageproblem lösen. Derzeit
Ebenen der Schweiz. Manche der letzten                                                          neigen Bundesrat und Parlament dazu,
Volksentscheide haben den guten Ruf der           «Gefragt ist mehr Mut,                        problematische Initiativen nicht vollstän-
weltweit einmaligen halbdirekten Demo-                                                          dig umzusetzen. Die Alpeninitiative von
kratie der Eidgenossenschaft jedoch ge-           zum Beispiel zu einer                         1994 wartet bis heute auf ihr Inkrafttreten.
trübt. Warum werden sie als «schlechte»           ­verbindlichen Verfassungs-                   Über Volksinitiativen abzustimmen, de-
Ergebnisse direktdemokratischer Abstim-                                                         ren Umsetzung das Parlament dann nach
mungen empfunden und diskreditieren                gerichtsbarkeit.»                            politischen Abwägungen statt nach recht-
damit das Instrument selbst?                                         Anna Christmann            lichen Massgaben gestaltet, führt zu Frus-
   In der Demokratie gibt es an sich keine                                                      tration.
richtigen oder falschen Entscheidungen.                                                            Rechtliche Grenzen hingegen schwä-
Umgesetzt wird der Vorschlag, der eine          hebeln. Die Auswirkungen können wir im          chen direkte Demokratie nicht – sie garan-
politische Mehrheit bekommt – nicht der,        Vergleich der Schweiz mit dem US-Bundes­        tieren Funktionalität und Effektivität.
der «richtig» ist. Das gilt grundsätzlich für   staat Kalifornien beobachten. In beiden
eine repräsentative Demokratie genauso          Staaten haben Volksinitiativen, die Grund-      Die Politologin Anna Christmann hat bis 2013 am
wie für Volksentscheide. Nach jahrhun-          oder Minderheitenrechte beschneiden,            Zentrum für Demokratie der Universität Zürich in
dertelanger Erfahrung hat sich in den           eine überdurchschnittlich hohe Annah-           Aarau geforscht. Sie arbeitet im Wissenschafts-
etablierten Demokratien jedoch eine spe-        mequote. Direkte Demokratie stellt also         ministerium des Landes Baden-Württemberg in
zifische Form herauskristallisiert: die li-     eine latente Gefährdung von Grundrechten        Stuttgart.
berale Demokratie, auch demokratischer          dar. In Kalifornien wird daher ein Gross-
Rechtsstaat genannt. Ein demokratischer         teil bereits angenommener Initiativen von
Rechtsstaat besteht heute nicht nur aus         Gerichten gekippt, das jüngste Beispiel ist
Mehrheitsentscheiden, er besteht auch           die Einführung der gleichgeschlechtlichen
aus garantierten Grundrechten, die nach         Ehe. In der Schweiz hat hingegen bekann-

                                                                              Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102   9
Gefürchtet und doch unentbehrlich: Der Stress ... 10 - Verführung durch den Schleier . 30 Wie Postdocs aus gebeutet werden . 34
10   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102
Schwerpunkt Stress

                     Unter Druck
                       Alle klagen über Stress und wollen
                       ihn doch nicht missen. Er macht
                       krank, soll aber auch gesund sein. Er
                       bricht die Knochen und macht auch
                       Ratten aggressiv. Was ist Stress?

                                             Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102   11
nde
gs-
 (ETH

        12   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102
Schwerpunkt Stress

Die grosse Geschäftigkeit
Ohne Soldaten im Krieg und ohne                                                   kein Zuckerschlecken.» Die Steigerungs-
Ratten im Labor gäbe es das ­moderne                                              form des Stresses ist das mit ihm verwand-
                                                                                  te Burnout. Diese Krankheit ist, anders als
Stresskonzept nicht – und würden                                                  die Depression, salonfähig. Wer ein Burn-
wir uns nicht «gestresst» fühlen. Laut                                            out hat, ist – temporär – gescheitert vor
                                                                                  allem, weil zu viele Anforderungen an ihn
neuen Forschungen aber soll Stress                                                herangetragen wurden, nicht weil er un-
gesund sein. Von Urs Hafner                                                       fähig ist. Er ist ein Opfer der wildgeworde-
                                                                                  nen Arbeitswelt, aber auf hohem Niveau.
                                                                                  Der erschöpfte Autobahnarbeiter hat kein
                                                                                  Burnout, sondern physische und allenfalls
                                                                                  psychosomatische Rückenschmerzen.
                                                                                     In der soziologischen Zeitdiagnose sind
                                                                                  die Befunde der Beschleunigung, Flexi-
                                                                                  bilisierung, Entsolidarisierung und Indi-
                                                                                  vidualisierung der Gesellschaft seit den
                                                                                  neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts
                                                                                  Legion. Richard Sennett, Axel Honneth und
                                                                                  Alain Ehrenberg etwa haben das Bild einer
                                                                                  durch einen dynamisch-aggressiven Kapi-
                                                                                  talismus geprägten Gesellschaft gezeich-
                                                                                  net, in der der Einzelne – und vor allem der
                                                                                  Einzelne, der über wenig ökonomisches,
                                                                                  soziales und kulturelles Kapital verfügt –
                                                                                  zunehmend unter Druck gerät. So gesehen
                                                                                  dringt in der Rede vom steten Stress nicht
                                                                                  nur das Bemühen der Betroffenen durch,

                               D
                                                                                  ihre unverminderte Leistungsfähigkeit zu
                                        ie Konjunktur eines Begriffs – sein       bezeugen, sondern auch das verbreitete
                                        Aufstieg, seine Verbreitung, später       Unbehagen, in einer Gesellschaft zu leben,
                                        dann und unvermeidlich sein Nie-          die die Leistung über alles stellt und für
                                        dergang – sagt auch etwas über die        jene, die den Anforderungen – aus welchen
                                mentale Disposition des Kollektivs aus,           Gründen auch immer – nicht genügen, kei-
                                das diesen Begriff benutzt. Zum Beispiel          nen Platz hat.
                                das «Waldsterben»: Heute wird das Wort
                                als Beweis für die Macht der Medien und              Verdächtige Ruhe
                                die Hysterie der öffentlichen Meinung in          Neologismen wie «Dichtestress» und
                                den 1980er Jahren angeführt. Doch das             «Stresstest» weiten das Stressphänomen
                                ist zu kurz gegriffen. Auch wenn es das           gar aus: Nicht mehr nur die Arbeit oder das
                                «Waldsterben» in der damals befürchteten          Familienleben setzt den Einzelnen unter
                                Drastik nicht gab: Die Wortkarriere zeigt,        Druck, sondern die schiere Anwesenheit
                                dass eine grosse Sorge um die Zerstörung          vieler Menschen; und prüfend «stressen»
                                der Lebens­grundlagen sich breitmachte –          kann man nicht bloss Menschen, sondern
                                kaum zu Unrecht. Der Wald als quasi na-           auch Institutionen und Materialien. In die-
                                türlicher Sehnsuchtsort wirkte im Atom-           ser Gesellschaft, so signalisiert die Karriere
                                bombenzeitalter, das manche als drohende          des Stressbegriffs, wird pausenlos getestet
                                Apokalypse erlebten, wie ein Magnet kol-          und selektioniert, es herrscht permanenter
                                lektiver Ängste.                                  Druck – oder muss man wenigstens so tun,
                                   Heute ist der «Stress» ein terminologi-        als ob dem so wäre. Nichts ist einer auf Ge-
                                scher Spitzenreiter. Es gehört nachgerade         schäftigkeit fixierten Zeit verdächtiger als
                                zum guten Ton, sich «gestresst» zu fühlen         Ruhe und Musse.
                                und mit Yoga dagegen anzukämpfen. Stress             Sicher haben sich auch die Menschen
                                gilt als ungesund und krankheitsverursa-          früherer Zeiten unter Druck gefühlt und
                                chend. Wer sich gestresst fühlt, bringt zum       physische Stresssymptome gezeitigt –
                                Ausdruck, dass er stark im Einsatz und viel       wenn der Nachbar an der Pest starb, der
                                beschäftigt sei. Der «Stress» ist das S­ ignum    Feind sich vor den Stadttoren sammelte
                                einer Zeit, die den Einzelnen schon im            oder die Ernte gründlich verregnet wurde.
                                Kindergarten auf den Überlebenskampf              Als Inbegriff einer – auch von den Zeit-
                                einstimmt: «Du wirst sehen, das Leben ist         genossen so bezeichneten – «nervösen»

                                                               Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102   13
Schwerpunkt Stress

­ poche gilt die vorletzte Jahrhundertwen-
E                                                       begriff noch immer, der also von der Natur-    kaum «gesund». Vielleicht können die Re-
de. Da man allerdings in der Vormoderne                 wissenschaft über die Sozialwissenschaf-       sultate eine Hilfe sein, die Anforderungen
den Begriff Stress nicht kannte und auch                ten in die Alltagssprache diffundiert ist.     der Arbeitswelt gelassener zu nehmen, sie
nicht die damit verbundenen Vorstellun-                 Er kann sowohl die durch äusseren Druck        gar als Stimulans zu sehen – falls man eine
gen, fühlte man sich kaum «gestresst» –                 und alle möglichen Reize hervor­gerufenen      Arbeit ausführt, die diesen Spielraum ge-
nicht einmal vor der postmortalen Hölle.                Reaktionen als auch dadurch verursach-         währt. Oder passt die Renaissance des «gu-
Die in der Vormoderne unter der länd­                   te physische und psychische Krankheiten        ten Stresses» ganz einfach bestens in eine
lichen Bevölkerung verbreitete Angst vor                bezeichnen. Fast alles kann heute «Stress»     Gesellschaft, die nichts so verpönt wie das
dem Übersinnlichen war ein anderer, kaum                bewirken, sogar die Langeweile, und um­        süsse Nichtstun – ausser, man bestreite die
mehr zu rekonstruierender emotionaler                   gekehrt finden sich in fast jeder Erkran-      selbstverständlich stressfreien Ferien?
Zustand, vielleicht ein dumpfer Grundton,               kung Elemente von Stress. Von Stress
der im Gebets- oder Festakt der Erleichte-              spricht der Psychologe, die Soziologin, der    Urs Hafner ist Wissenschaftsredaktor des SNF.
rung wich.                                              Mediziner, die Biologin, auch der Physiker
                                                        und die Ökonomin und natürlich jeder sich
   Der Stresstod                                        «gestresst» Fühlende.
So wie jede Zeit ihre Krankheiten kennt,                    In den letzten Jahren hat das Konzept
kennt jede Zeit ihre Gefühle. Wenn auch                 des «guten Stresses» in der naturwissen-
Emotionen wie Angst, Freude und Wut                     schaftlichen Forschung Aufschwung er-
universell verbreitet sind, so sind sie doch            halten. Anders als in der Alltags­   sprache
immer in soziale Zusammenhänge ein­                     nämlich und in der soziologischen Zeit-
gebettet, die ihnen erst ihre Bedeutung                 diagnose besitzt der Begriff in den Natur­
verleihen, wie die Historikerin Ute Frevert             wissenschaften neben der negativen
festgestellt hat («Vergängliche Gefühle»,               eine positive Seite. Schon Hans Selye
2013). Im 19. Jahrhundert musste ein deut-              unterschied zwischen «Disstress» und
sches Mädchen im Gesicht rot anlaufen,                  «Eu­ stress». Der schlechte Stress gilt als
wenn in seiner Gegenwart das Wort «Hose»                ­Verursacher von Herzkreislaufstörungen,
fiel; es musste peinlich berührt sein, viel-             Autoimmunerkrankungen, Depressionen
leicht sogar sich «gestresst» fühlen. Tat es             und kognitivem Zerfall. Der gute Stress da-
dies nicht, war an seiner moralischen Inte-              gegen kommt zustande, wenn der Organis-
grität zu zweifeln.                                      mus durch «Stressoren» positiv beeinflusst
   Als «Erfinder» des Stresskonzepts gilt                wird. Er nutzt quasi – evolutionsbiologisch
der Mediziner und Chemiker Hans Selye,                   gesehen schon immer – sein Erregungs­
wie der Historiker Patrick Kury in seiner                potenzial, um Gefahren zu erkennen und
Wissens­ geschichte des Stresses schreibt                sich in Sicherheit zu bringen, etwa vor dem
(«Der überforderte Mensch», 2012). In den                anrückenden Löwen.
dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts
stiess Selye bei Experimenten mit Ratten                   Gesund?
auf das sogenannte Anpassungssyndrom:                   Forscher sind zum Schluss gekommen,
Wenn er den Tieren giftige Substanzen                   dass Stress sogar «gesund» sein soll – un-
spritzte oder sie pausenlos in einer Tret-              ter der Bedingung, dass er nicht chronisch
mühle laufen liess, stellte er hormonelle               lastet, sondern kurzfristig aufputscht.
Reaktionen fest, die zu ihrem Tod führten,              So erfolgte bei Patienten, die durch eine
dem «Stresstod». Während des Zweiten                    Operation gestresst wurden, eine Aktivie-
Weltkriegs dann benutzten angelsäch-                    rung der Immunzellen, was zu einer be-
sische Militärmediziner den Begriff, um                 schleunigten Wundheilung oder der Ein-
die hohen Belastungen der Piloten zu be-                dämmung der Krebszellen führte. Und ein
schreiben. Die im Labor gequälten Ratten,               mit Ratten durchgeführtes – und für diese
die im Krieg eingesetzten Piloten: Ohne sie             nicht nur stressig, sondern tödlich verlau-
gäbe es die Belastung «Stress» nicht, unter             fenes – Experiment gab Anlass zur Vermu-
der heute fast alle leiden oder zu leiden vor-          tung, dass die vermehrte Ausschüttung des
geben.                                                  Stresshormons Cortisol die Hirnplastizität
   Selyes Stresskonzept war freilich ein                erhöhe, was es dem Betroffenen erlaube,
physiologisch-endokrinologisches. In den                besser zu lernen.
fünfziger Jahren wurde das Konzept durch                   Die Resultate sind wohl mit Vorsicht
den schwedischen Sozialmediziner Lennart                zu geniessen. Gesundheit ist relativ. Wer
Levi erweitert: Er stellte einen Zusammen-              effizient lernt und also ein erfolgreicher
hang zwischen psychisch, sozial und kul-                Schüler ist, aber seinen Mitmenschen ge-
turell bedingtem Stress und Erkrankungen                genüber destruktiv handelt oder von un-
her. Diese Vieldeutigkeit besitzt der Stress-           bewussten Ängsten gequält wird, ist wohl

14   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102
Die Belastung wegloben?
Ein Lob von der Chefin,
eine anerkennende Geste
des ­Betriebs – das wirkt wie
­Labsal. Mitarbeitende, die
 Wertschätzung erfahren,
 ­können besser mit Stress
  ­umgehen. Von Susanne Wenger

           B
                    etriebliche Gesundheitsförderung          ­ ibliotheksverbunds, eines Industrie- und
                                                              B
                    gilt als moderne Unternehmensstra-        eines Telekommunikationsbetriebs so-
                    tegie. Eine ganze Berater­  industrie     wie zweier kantonaler Ämter beteiligt.
                    lebt davon. Doch e­ igentlich gäbe es     Die Forscher befragten die Beschäftig-
            eine ziemlich einfache Methode, um Beleg-         ten während eines halben Jahres dreimal
            schaften fit und produktiv zu halten: Wert-       nach Wertschätzungserlebnissen, zudem
            schätzung ausdrücken. Dass die Mitarbei-          waren Frage­  bögen zu Arbeitsbedingun-
            tenden das wichtigste Gut seien, schreibe         gen und Wohlbefinden auszufüllen. Dabei
            zwar jedes Unternehmen ins Leitbild, sagt         wurde klar: Es gibt durchaus Ansätze einer
            Nicola Jacobshagen vom Institut für Psy-          Wertschätzungskultur – mit zuverlässiger
            chologie der Universität Bern: «Doch in           Wirkung: Motivation, Zufriedenheit und
            Wirklichkeit herrscht oft eine ‹Null-Feed-        Bindung ans Unternehmen wuchsen, die
            back-Kultur› vor.» Für die Beschäftigten          Leistung verbesserte sich.
            gelte: Solange ich nichts höre, ist alles in          Doch Nicola Jacobshagen sieht Optimie-
            Ordnung, erst wenn ich einen Fehler ma-           rungsbedarf. Am meisten Anerkennung
            che, kommt eine Reaktion. Dahinter stecke         erfahre, wer Zusatzleistungen erbringe –
            nicht zwingend eine Haltung, die Mitarbei-        eine «gefährliche Spirale», die in konstante
            tende ungenügend würdigt, weiss Jacobs­           Überforderung münden könne, warnt die
            hagen: «Vielfach merken die Führungs-             Forscherin. Auch brauche es nicht immer
            kräfte gar nicht, wie sie wirken.»                die grosse Dankesgeste des Unternehmens,
               Eine verpasste Chance, wie eine neue           wie den Personalausflug oder den saftigen
            Studie des Instituts für Psychologie auf-         Bonus. Vorgesetzte fänden im Arbeitsalltag
            zeigt: Gelebte Wertschätzung ist auf lan-         genug Gelegenheiten, um Wertschätzung
            ge Sicht ein wichtiger Faktor fürs Wohl­          auszudrücken. Die Zeit, die dies koste, sei
            befinden am Arbeitsplatz. Zwar kennt die          gut investiert, sagt die Psychologin. Dabei
            Stressforschung bereits Zusammenhänge             gehe es nicht nur um Lob. Wertschätzung
            zwischen mangelnder Wertschätzung und             bedeute auch, der Mitarbeiterin eine neue,
            Befinden. Wer sich immer nur verausgabt           interessante Aufgabe zu übertragen. Oder
            und dafür kaum Belohnung erhält, wird             das Computerproblem des Mitarbeiters
            krank. Doch der bisher wenig untersuchte          rasch lösen zu helfen.
            Umkehrschluss gilt ebenso, wie die Ber-               Wertschätzung durch Arbeitskollegen
            ner Psychologen nun anhand von Unter­             ist ebenfalls ein Riesenmotivator, ganz zu
            suchungen in sechs Betrieben aus vier             schweigen vom Lob der Kundschaft, mit
            Kantonen belegen: Wertschätzung am                der man es zu tun hat. Auch Führungs-
            Arbeitsplatz mindert das Stresserleben            kräfte selber dürsten nach Wertschätzung,
            und hilft uns, auf die Dauer mit stressigen       erhalten sie aber nur selten. Man könne
            Situa­tionen besser umzugehen.                    Mitarbeitende nur ermuntern, auch ein-
                                                              mal den Vorgesetzten zu loben, sagt Jacobs­
               Kraftvolle Ressource                           hagen: «Man erhält dafür einen stressresis-
            Weil Wertschätzung unser Selbstwert-              tenten Chef.»
            gefühl beflügelt, ist sie laut Jacobshagen
            «eine kraftvolle Ressource» in der Stress-        Susanne Wenger ist freie Wissenschaftsjourna-
            bewältigung, mindestens so wirkungsvoll           listin.
            wie andere Stresspuffer am Arbeitsplatz,
            zum Beispiel Autonomie bei der Arbeits-
            gestaltung. An der Berner Studie waren
            rund 200 Mitarbeitende eines Spitals, e­ ines

                                           Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102   15
16   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102
Schwerpunkt Stress

            Der Vater der Aggression
            In ihrer Reaktion auf Stress                                           ­ ereit­gestellte Energie nicht abbauen und
                                                                                   b
            sind sich Ratten und Menschen                                          zielführend nutzen kann, leidet. «Das Re-
                                                                                   sultat von chronischem Stress ist Depres-
            ähnlicher, als man denkt. Die                                          sion», sagt Sandi.
            Gewalt in ihrer biologischen                                              Depressive hätten oft Zornausbrüche,
                                                                                   fährt sie fort. Ähnliches beobachtet Sandi
            Dimension verbindet sie.                                               auch bei den Versuchen an Ratten, mit de-
            Von Ori Schipper                                                       nen sie die Auswirkungen von Stress auf das
                                                                                   soziale Verhalten erhellt. Ihre Forschungs-
                                                                                   interessen haben sich in den letzten Jah-
                                                                                   ren vom Einfluss des Stresses auf das Den-

                               S
                                                                                   ken zu den Ursachen von Gewalt verlagert.
                                          tress ist ein schillernder und           Wie Menschen, die in jungen Jahren trau-
                                          schwer zu fassender Begriff. Die         matische Ereignisse erleben mussten, öfter
                                          Biologie hat ihn von der Physik          zu Gewalttätigkeiten neigen als Personen,
                                          übernommen. Im weitesten Sinn            die in einer liebevollen und wohlbehüteten
                                geht es dabei um eine unspezifische Re-            Umgebung aufwachsen durften, wird auch
                                aktion des Körpers auf jegliche Anforde-           das Verhalten von Ratten durch belastende
                                rung. Unter diese Definition fällt etwa der        Erfahrungen geprägt.
                                in Dürre­gebieten vorherrschende Wasser-              Bei den Versuchen werden die Ratten
                                stress, dem Kakteen und andere sukkulen-           im Alter von vier bis sieben Wochen – also
                                te ­Pflanzen gut widerstehen können, weil          während ihrer Pubertät – an sieben ver-
                                sie sich im Lauf ihrer Stammesgeschichte           schiedenen Tagen jeweils während einer
                                an die Trockenheit angepasst haben.                halben Stunde auf zwei verschiedene Arten
                                    Bei Tieren – zum Beispiel dem Men-             gestresst. Entweder stellen die Forschen-
                                schen – stehen die körperlichen und geisti-        den die Ratten auf eine knapp meterhohe,
                                gen Antworten auf eine Gefahr im Vorder-           offene Plattform. Das belastet sie, weil sie
                                grund. Wenn es um Leben oder Tod geht,             Höhenangst und eine angeborene Abnei-
                                schaltet der Körper einen anderen Gang             gung gegen ungeschützte Plätze haben.
                                ein. Hormone versetzen den Organismus              Oder die Forschenden legen ein Dufttüch-
                                in Alarmzustand, der Puls beschleunigt             lein in den Käfig, auf das sie Trimethyl-
                                und der Blickwinkel verengt sich – die             thiazolin geträufelt haben, einen Duftstoff,
                                Frage lautet letztlich: Kampf oder Flucht,         der nach Fuchsexkrementen riecht und
                                «fight or flight»?                                 bei den Ratten eine ebenfalls angeborene
                                    «Stress mobilisiert die Energie­reserven»,     Angst­reaktion hervorruft.
                                sagt Carmen Sandi, die das Labor für Ver-
                                haltensgenetik an der Eidgenössischen                 Abnormal und aggressiv
                                Technischen Hochschule in Lausanne lei-            Im Vergleich zu Ratten, die sieben Mal
                                tet. Die zusätzliche Energie hilft, besondere      eine halbe Stunde lang gestreichelt wur-
                                Leistungen zu erbringen und schwierige             den, interessierten sich die gestressten
                                Situationen zu meistern. Belebender Stress         Ratten im Erwachsenenalter weniger für
                                und damit einhergehende Erfolgserlebnis-           neue Artgenossen oder Objekte, sie waren
                                se wirken sich positiv aus. (Damit ist nicht       kontaktscheuer und weniger sozial. Gleich-
                                nur die Produktivität am Arbeitsplatz ge-          zeitig aber verhielten sie sich viel aggres-
                                meint, sondern etwa auch die Tatsache,             siver gegenüber Eindringlingen, die die
                                dass sich der Darmkrebs bei Mäusen in              Forschenden in ihren Käfig gaben. Wäh-
                                einer abwechslungsreichen Umgebung
                                ­                                                  rend die sorglos aufgewachsenen Ratten in
                                weniger rasch ausbreitet als bei Mäusen            knapp 60 Prozent der Fälle in Streit gerie-
                                in einem kahlen Käfig.) Dass Erfolgserleb-         ten, bekämpften die gestressten Ratten die
                                nisse für die positive Wirkung notwendig           Eindringlinge in über 80 Prozent der Fälle.
                                sind, stimmt aber nicht für alle. «Es gibt         Mehr noch: Die gestressten Ratten legten,
                                Indivi­duen, die sehr gut Misserfolge weg-         wie die Forschenden schreiben, «ein abnor-
                                stecken können», sagt Sandi.                       mal aggressives Verhalten» an den Tag, was
                                                                                   sich darin zeigte, dass sie viel öfter als die
                                   Erschöpfte Energien                             anderen Ratten in besonders verletzliche
                                Woran es liegt, dass eine Ratte oder eine          Stellen ihres Gegners bissen, auch wenn
                                Person besonders gut mit Stress umgehen            sich dieser unterwürfig verhielt oder so-
                                kann oder umgekehrt besonders anfäl-               gar betäubt und reglos in den Käfig gelegt
                                lig für ihn ist, ist noch weitgehend unklar        wurde.
                                und wird zurzeit intensiv erforscht. Klar          «Das Verhalten der gestressten Ratten
                                ist aber, dass zu viel Stress schadet. Wer         gleicht auch in einem anderen Punkt dem-
                                seine Energien bei einer langfristigen Be-         jenigen menschlicher Psychopathen», sagt
                                lastung allmählich erschöpft oder wer die          Sandi. Im Erwachsenenalter reagierten die

                                                                Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102   17
Schwerpunkt Stress

                                                        Tiere nur schwach auf erneuten Stress (also           Doch neuerdings geht das Team um
                                                        etwa auf den Fuchskotgeruch). «Sie sind ab-       S­ andi einer anderen Spur nach. Wenn Stress
                                                        gestumpft», sagt Sandi. Das sind auch viele        dazu führt, dass mehr anregende als hem-
                                                        Menschen mit einer aggressiven Persön-             mende Reize durch das Hirn fliessen, heisst
                                                        lichkeitsstörung, denen es an Einfühlungs-         das, dass das Hirn mehr Energie braucht,
                                                        vermögen und Mitgefühl fehlt.                      weil anregende Reize die Nervenzellen zu
                                                            Selbstverständlich sei beim Vergleich          mehr Aktivität verleiten. Doch Nerven­
                                                        von Ratten und Menschen Vorsicht gebo-             zellen sind für ihre Energieversorgung auf
                                                        ten, sagt Sandi. Doch sie ist überzeugt, dass      kleine spezialisierte Zellteile angewiesen.
                                                        die beobachteten Gemeinsamkeiten nicht             Die sogenannten Mitochondrien werden
                                                        zufällig sind. Viel eher zeigten sie, dass die     oft auch als Batterien oder Kraftwerke der
                                                        Gewalttätigkeit, die oft auf traumatische          Zellen bezeichnet.
                                                        Erlebnisse in der Jugend folgt, auch auf              Kann es nun sein, dass die Anfälligkeit
                                                        biologische Komponenten zurückzuführen             für Stress etwa von der Funktionstüchtig-
                                                        ist. «Die vorherrschenden psychosozialen           keit dieser Kraftwerke und also davon ab-
                                                        Erklärungsmuster müssen erweitert und              hängt, wie gut das Hirn Energie erzeugen
                                                        mit der Biologie der Gewalt ergänzt wer-           kann? Dass Gewalttaten also nicht nur mit
                                                        den», findet Sandi.                                Stress, sondern in letzter Konsequenz auch
                                                            Diese Sichtweise würde es der Gesell-          mit der biophysikalischen Kapazität des
                                                        schaft erleichtern, Täter auch als Opfer           Hirns zu tun haben könnten? Erste Belege
                                                        zu sehen. «Zum Beispiel Anders Behring             für diese Spekulation findet Sandi etwa in
                                                        ­Breivik», sagt Sandi. Der rechtsextremis-         den Arbeiten anderer Forschungsgruppen,
                                                         tische Attentäter legte 2011 als 32-Jähriger      die Gefängnisinsassen untersucht haben:
                                                         eine Bombe im Regierungsviertel von Oslo          Das aggressive Verhalten der Häftlinge hat
                                                         und fuhr dann als Polizist verkleidet auf         sich gebessert, nachdem ihnen Nahrungs-
                                                         eine Ferieninsel, wo er im Zeltlager einer        ergänzungsmittel – also Pillen mit Vitami-
                                                         sozialdemokratischen ­Jugendorganisation          nen, Mineralien und essenziellen Fettsäu-
                                                         69 Teilnehmer erschoss. Schon 1983, als           ren – verabreicht wurden.
                                                         Breivik vier Jahre alt war, hielt ein nach der       Ob solche Pillen dereinst ­Gewaltexzesse
                                                         frühen Scheidung seiner Eltern hinzugezo-         verhindern helfen, muss sich allerdings
                                                         gener Kinderpsychiater fest, dass ­Breivik        weisen. Unklar ist auch, wie wünschens-
                                                         «so vernachlässigt wird, dass die Gefahr          wert das wäre.
                                                         besteht, dass sich eine schwere psychische
                                                         Störung entwickelt».                             Ori Schipper ist Wissenschaftsredaktor des SNF.

                                                            Vererbte Verhaltensmuster
                                                        Sandi glaubt nicht, dass Konflikte immer
                                                        durch rationales Vorgehen gelöst werden
                                                        können. «Aggressives Verhalten hat mit
                                                        Angst zu tun. Und Angst ist oft irrational»,
                                                        sagt Sandi. Doch ihr vielleicht am meisten
                                                        beunruhigender Befund ist, dass sich ag-
                                                        gressive Verhaltensmuster vererben. Die
                                                        Nachkommen von gestressten männlichen
                                                        Ratten sind genauso kontaktscheu und
                                                        angriffslustig wie ihre Väter, auch wenn
                                                        sie keinerlei Kontakt mit ihnen hatten
                                                        (und also nicht von ihnen abschauen oder
                                                        ­lernen konnten). Für Sandi haben Gewalt-
                                                         probleme also nicht nur mit dem kulturel-          Literatur:
                                                         len Umfeld, sondern auch mit Anpassungs­
                                                         mechanismen im Hirn zu tun.                        M.I. Cordero et al. (2012): Evidence for
                                                            «Im Gehirn herrscht ein Gleichgewicht           ­biological roots in the ­transgenerational
                                                         zwischen anregenden und hemmenden                   transmission of intimate partner ­violence.
                                                         Nervenreizen. Chronischer Stress ver­lagert         Translational Psychiatry 2, e106;
                                                         dieses Gleichgewicht zu Gunsten der anre-           doi:10.1038/tp.2012.32.
                                                         genden Schaltkreise», sagt Sandi. Mit ihrer
                                                         Gruppe hat sie gezeigt, dass die Behandlung        C. Márquez et al. (2013): Peripuberty stress
                                                         der erwachsenen gestressten Ratten mit             leads to abnormal aggression, altered
                                                         einem Antidepressivum die Verhaltensstö-           amygdala and orbitofrontal reactivity and
                                                         rungen lindert. Das Heilmittel ermögliche          increased prefrontal MAOA gene expression.
                                                         die Umprogrammierung der traumatisch               Translational Psychiatry (2013) 3, e216;
                                                         geprägten Schaltkreise im Hirn, sagt Sandi.        doi:10.1038/tp.2012.144.

18   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102
Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102   19
20   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102
Schwerpunkt Stress

                             Aus Ermüdung brechen
                     Wenn Knochen wiederholt                                  intensiven Ausdauertraining betroffen. In
                     stark belastet und also ge-                              solchen Situa­tio­nen ist die Selbstreparatur
                                                                              des Knochens nicht schnell genug, und die
                     stresst werden, treten Mikro­                            ­Risse akkumulieren sich.»
                     risse auf. Diese bleiben oft                                 Von solchen Brüchen sind aber nicht nur
                                                                               Sporttreibende betroffen. Das Risiko steigt
                     unentdeckt, bis der Knochen                               auch mit dem Alter, bei einer verminderten
                     bricht. Wie können die ­Risse                             Knochendichte (Osteoporose), bei Krank-
                     verhindert und behandelt                                  heiten wie Osteogenesis imperfecta (die
                                                                               sogenannte «Glasknochenkrankheit») oder
                     ­werden? Von Anton Vos                                    paradoxerweise auch bei der lang­zeitigen
                                                                               Einnahme bestimmter Osteoporose-Medi-
                                                                               kamente.
                                                                                 Selbstreparatur
                                                                              Weil sich die Risse mit klassischen Rönt-
                                                                              genaufnahmen nicht nachweisen lassen,
                                                                              sind die Mechanismen ihrer Entstehung
                                                                              und Ausbreitung in der komplexen Mik-
                                                                              rostruktur des Knochens weitgehend un­

                            F
                                                                              bekannt. Experimente mit lebenden Tieren
                                   ast zwanzig Prozent aller Sport­           sind deshalb die einzige Möglichkeit, Ge-
                                   verletzungen gehen auf das Konto           naueres über diese Risse sowie die Wider-
                                   von Ermüdungsbrüchen. Das Prob-            standskraft und Selbstreparatur der Kno-
                                   lem: Die Vorboten solcher Brüche, die      chen zu erfahren.
                             durch ständig wiederholte mechanische               Claire Acevedo wählte als Studienobjekt
                             Belastung des Skeletts auftreten, sind feine     die Maus. «Zwar wäre die Mikrostruktur
                             Risse, die sich mit medizinischen Röntgen-       der Knochen von Schweinen oder Hun-
                             bildern kaum aufspüren lassen, bevor es          den derjenigen von Menschen ähnlicher»,
                             zu spät ist. Die Entstehung der Risse und        räumt die Forscherin ein. «Die Experimen-
                             die Mechanismen ihrer Ausbreitung im             te wären jedoch viel schwieriger und zeit-
                             Knochengewebe hat Claire Acevedo, Post-          aufwändiger gewesen als mit den Nagern.»
                             Doktorandin an der University of Berkeley           Die Tierversuche wurden in Zusammen-
                             (Kalifornien), kürzlich experimentell mit        arbeit mit der AO Foundation in Davos und
                             Mäusen untersucht, mit denen sich Mikro­         der ETH Lausanne durchgeführt. In einer
                             risse reproduzierbar herbeiführen und ana-       ersten Testserie mit toten Mäusen konn-
                             lysieren lassen.                                 ten die Parameter zur Widerstandsfähig-
                                «Die Ermüdungsfrakturen sind so               keit des Schienbeins bei zyklischen Kraft­
                             heimtückisch, weil sie gesunde Knochen           einwirkungen bestimmt werden, wie sie
                             betreffen und ihnen keine ausgeprägten           bei der täglichen Belastung des Skeletts
                             Krafteinwirkungen vorausgehen», erklärt          beim Sport auftreten.
                             Claire Acevedo. «Die Mikrorisse treten              Mit deutlich besser aufgelösten Rönt-
                             im All­gemeinen bei Knochen auf, die das         genbildern, die mit Hilfe eines Teilchen-
                             Körpergewicht tragen, wie Schienbein,            beschleunigers erzeugt wurden, konn-
                             Wadenbein oder Mittelfussknochen. Sie            ten der Beginn und das Fortschreiten
                             sind so fein wie Haare und breiten sich          der Mikro­ risse beobachtet werden. Par-
                             langsam aus. Am häufigsten sind Hoch-            allel dazu entwickelte Claire Acevedo ein
                             leistungssportler, zum Beispiel Läufer und       drei­dimensionales Computermodell der
                             Tänzerinnen, oder Armeeangehörige im             Mäuse­schienbeine. Sie konnte zeigen, dass

                                                           Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102   21
Schwerpunkt Stress

                                                        die hoch belasteten Bereiche, in denen          frühzeitig erkannt oder sogar behandelt
                                                        die Ermüdungsrisse entstehen, durch die         werden können, bevor es zu einem Er­
                                                        Form sowie die Mikroarchitektur der Kno-        müdungsbruch kommt. Noch ist dieses Ziel
                                                        chen bestimmt werden.                           Zukunftsmusik, aber Claire Acevedo konn-
                                                           Ausserdem stellte sie fest, dass die Risse   te mit dem Tierversuch zeigen, dass sich
                                                        von Unebenheiten an der Oberfläche des          bestimmte Ermüdungserscheinungen des
                                                        kompakten Knochens ausgehen, insbe-             Knochens reproduzierbar herbeiführen las-
                                                        sondere von den feinen Kanälen, in denen        sen – und dies in relativ kurzer Zeit. Mit die-
                                                        die Nerven und Blutgefässe verlaufen. Von       sem Werkzeug wird sich die Forschungs­
                                                        dort breiten sie sich über andere Kanäle        arbeit fortführen und das Wissen über diese
                                                        und Hohlräume auf die empfindlichsten           Vorgänge vertiefen lassen.
                                                        Bereiche aus. Durch seine ausgeklügelte             «Die einzige heute verfügbare wirk­same
                                                        Mikrostruktur gelingt es dem Knochen im         Behandlung ist die totale Ruhe, bei der
                                                        Allgemeinen, das Fortschreiten der Risse        sich die Knochen selbst reparieren», betont
                                                        zu stoppen oder abzulenken.                     sie. «Nicht nur während eines oder zweier
                                                           Als nächstes setzte die Forscherin ein       ­Tage, sondern während mehrerer Wochen.
                                                        Dutzend lebende – aber anästhesierte –           Eine von Mikrorissen betroffene Person
                                                        Mäuse einer ähnlichen mechanischen               verspürt zwar in einem bestimmten Sta-
                                                        Belastung aus, die aber deutlich vor dem         dium als eine Art Warnsignal des Körpers
                                                        Knochenbruch gestoppt wurde. Die Na-             beträchtliche Schmerzen. Wenn sie jedoch
                                                        ger wurden nun nach unterschiedlichen            nicht mit dem Training aufhört, sondern
                                                        Er­
                                                          holungszeiten (zwischen null und 14            einfach ein Schmerzmittel nimmt und un-
                                                        Tagen) für die Untersuchung des Skeletts         beirrt weitermacht, akkumulieren sich die
                                                        getötet. «Da wir mit dem Röntgengerät            Risse, bis es zum Bruch kommt.»
                                                        im Labor die mikroskopisch feinen Risse
                                                        nicht feststellen konnten, war es, solange      Anton Vos ist Wissenschaftsjournalist, unter
                                                        die Mäuse noch lebten, schwierig abzu-          anderem für die Universität Genf.
                                                        schätzen, ob die Schienbeine bereits Risse
                                                        aufwiesen», erklärt die Wissenschaftlerin.
                                                        «Glücklicherweise erreichten wir dieses
                                                        Ziel bereits beim ersten Anlauf.»
                                                            Zukunftsmusik
                                                        Tatsächlich konnte die Forscherin mit
                                                        ­einem Lasermikroskop diffuse Schäden in
                                                         verschiedenen Entwicklungsstadien, die
                                                         am Beginn von Ermüdungsrissen stehen,
                                                         und die Produktion von Knochenmaterial
                                                         im Rahmen der selbstreparierenden Pro-
                                                         zesse nachweisen. «Das ist für unsere For-
                                                         schung ein wichtiges Ergebnis», freut sie
                                                         sich. «Es weist darauf hin, dass selbst sehr
                                                         feine und diffuse Schäden bereits zur Akti-
                                                         vierung der Selbstreparatur des Knochens
                                                         ausreichen.»
                                                            Das Ziel der Studien besteht darin, eine
                                                         Methode zu entwickeln, mit der solche
                                                         Mikrorisse beim Menschen verhindert,

22   Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102
Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102   23
Vor Ort

                     Die doppelte Last                                                                                                                                                                            Farbenfroh und kalorienarm: ein
                                                                                                                                                                                                                  Markt in Bangalore, Indien. Isabelle

                     der Fehlernährung
                                                                                                                                                                                                                  Aeberli (rechts oben) wohnte in
                                                                                                                                                                                                                  einer ­abgeschlossenen Siedlung der
                                                                                                                                                                                                                  Stadt (oben). Fettleibigkeit ist vor
                                                                                                                                                                                                                  allem ein Phänomen der Frauen der
                                                                                                                                                                                                                  wachsenden Mittelschicht.
                     Wieso nehmen übergewichtige                                                                                                                                                                  Bilder: Isabelle Aeberli, Philip Herter

                     Menschen zwar zu viele ­Kalorien,
                     aber oft auch zu wenig Eisen auf?
                     Die ­Lebensmittelingenieurin
                     ­Isabelle Aeberli suchte im ­indischen
        0˚   15˚E   30˚E     45˚E      60˚E            75˚E    90˚E            105˚E       120˚E   135˚E   150˚E            165˚E               180˚

                                                                 A r c t i c       O c e a n

                      ­Bangalore nach ­Antworten.
                                                                                                                                                             75˚N

                                                                                                                                                                    «
                                                                                                                                                             60˚N

                                                                                                                                                                          Die Unterschiede zwischen arm und       lore kannte ich schon, weil wir in gemein-
                                                                                                                                                                          reich sind in Banga­lore extrem. Wäh-   samen Projekten zusammengearbeitet
                                                                                                                                                             45˚N

                                                                                                                                                                          rend meines vierzehnmonatigen For-      hatten. Mit Hilfe seines Teams haben wir
                                                                                                                                                                          schungsaufenthalts habe ich dort in     150 Frauen untersucht, hauptsächlich Stu-
                                                                                                                                                                    einem geschlossenen Wohnkomplex ge-           dentinnen oder Angestellte des Spitals.
                                                                                                                                                             30˚N

                                                                                                                   P a c i fi c O c e a n

                                                                                                                                                             15˚N
                                                                                                                                                                    wohnt mit einem Schwimmbecken in der             Tatsächlich weisen fettleibige im Ver-
                                                                                                                                                                    Mitte und sogar einem Fitnesscenter. Doch     gleich zu normalgewichtigen Frauen ein
                                                                                                                                                                    es gibt Menschen, die für ein paar Dollar     erhöhtes Risiko für Eisenmangel auf. Das
                                                                                                                                                             0˚

                                                                                       Neu-De lh i
                                              Indian

Ocean
                                                                                                                                                             15˚S
                                                                                                                                                                    tagtäglich von Hand die Strassen reinigen.    liegt aber vermutlich nicht daran, dass ihre
                                                                                                                                                                    Auch ein technischer Mitarbeiter im Labor     Nahrung zu wenig Eisen enthält, sondern
                                                                                                                                                                    verdient nicht annähernd genug, um sich       daran, dass übergewichtige Menschen es
                                                                                                                                                             30˚S

                                                                  Ocean

                                                                      I N D I E N                                                                            45˚S
                                                                                                                                                                    eine Wohnung in einer solchen Siedlung        schlechter aufnehmen. Der Körper kont-
                                                                                                                                                                    leisten zu können.                            rolliert genau, wie viel Eisen er aufnimmt,
        0˚   15˚E   30˚E     45˚E      60˚E            75˚E    90˚E            105˚E       120˚E   135˚E   150˚E            165˚E               180˚                    Insgesamt steigen die Löhne der in-       weil er überschüssiges nicht ausscheiden
                                                                                                                                                                    dischen Mittelschicht in wirtschaftlich       kann und zu viel davon schädlich ist. Die-
                                                                                                                                0               1000 Miles

                                                                                                                                0     1000 Km

                                                              Mumbai
                                                                                                                                                                    blühenden Städten wie Bangalore aber an.      se Kontrolle übernimmt ein Eiweiss, das in
                                                                                                                                                                    Gleichzeitig nimmt der Anteil an Über­        der Leber hergestellt wird und die Eisen-
                                                                                                                                                                    gewichtigen und Fettleibigen rasant zu –      aufnahme aus der Nahrung bremst – solan-
                                                                      Ba n ga l o re
                                                                                                                                                                    das war früher nur in Ländern mit hohem       ge genügend Eisen vorhanden ist. Grössere
                                                                                                                                                                    Lebens­ standard ein Problem. Viele Fett­     Mengen des Eiweisses bildet die Leber aber
                                                                                                                                                                    leibige nehmen zwar mehr Kalorien zu          auch bei chronischen Entzündungen auf-
                                                                                                                                                                    sich, als sie verbrauchen, trotzdem feh-      grund etwa von andauerndem Stress oder
                                                                                                                                                                    len ihnen oft Nährstoffe wie zum Beispiel     eben Übergewicht. Fettleibige Frauen neh-
                                                                                                                                                                    ­Vitamine, Zink oder Eisen. Diese Doppel­     men also wahrscheinlich zu wenig Eisen
                                                                                                                                                                     belastung – das Übergewicht und der Man-     aus der Nahrung auf, weil ihre Leber zu viel
                            500 km
                                                                                                                                                                     gel an Mikro­  nährstoffen – interessiert    Kontroll-Eiweiss produziert.
                                                                                                                                                                     mich. Bisher wurde diese doppelte Last in       Eigentlich wollten wir messen, wie
                                                                                                                                                                     westlichen Ländern untersucht. Doch wie      viel Eisen die Frauen mit ihrer Nahrung
                                                                                                                                                                     sind übergewichtige Frauen in Indien da-     zu sich führten. Das war aber leider un-
                                                                                                                                                                     von betroffen?                               möglich: Die Probandinnen schätzten
                                                                                                                                                                        Dieser Frage nahm ich mich mit Anura      ihre tägliche Kalorienzufuhr häufig zu
                                                                                                                                                                     V. Kurpad an. Den Professor für Human­       tief ein und unterschlugen etwa den Kaf-
Indian                                                                                                                                                               ernährung am St. John’s Hospital in Banga­   fee mit drei Stück Z ­ ucker und die Kekse,

                     24             Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102
die sie z­wischendurch zu sich nahmen.
In e­ iner zweiten Studie wollten wir klä-
ren, ob eine ausgewogene Ernährung zwei
Probleme auf einmal lösen würde, also ob
sich die Eisenversorgung der Frauen ver-
besserte, wenn sie abnähmen. Aufgrund
des Gewichts­verlusts müssten die Entzün-
dungswerte im Blut der Frauen sinken und
ihre Eisenaufnahme wieder normal funk-
tionieren. Leider mussten wir den Versuch
abbrechen, da die Umsetzung auch hier
komplizierter war, als wir an­genommen
hatten.
   Das Auswerten der Proben hat lange ge-
dauert, und die letzten Resultate habe ich
erst nach meiner Rückkehr in die Schweiz
erhalten. Durch meinen Aufenthalt in Ban-
galore ist mir bewusst geworden, dass es in
Schwellen- und Entwicklungsländern trotz
gründlichem Planen passieren kann, dass
eine Sache nicht zustande kommt. Diese
Erkenntnis erleichtert mir heute meine
Arbeit im Labor für Humanernährung an

                                      »
der ETH Zürich, wo ich als Oberassistentin
tätig bin. Auch wenn sie manchmal
viel Geduld erfordert hat, möchte
ich die Zeit in Indien auf keinen Fall
missen.

Aufgezeichnet von Anna-Katharina Ehlert,
akademische Assistentin beim Schweizerischen
Nationalfonds.

                                               Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102   25
Umwelt und Technik

 Wertvolle Exkremente: In Peru
 sammeln Arbeiter den Mist von
­See­vögeln ein (Ballestas-Inseln,
 2011). Er enthält P
                   ­ hosphat und
 Nitrat.
Bild: Keystone/Laif/Dado Galdieri

                                                         Falscher Alarm
                                                         Phosphor ist ein l­ ebenswichtiges
                                                         Element, belastet aber die ­Umwelt.
                                                         Auch wenn die ­Reserven länger
                                                         reichen werden, als behauptet wird,
                                                         sollten wir den ­Umgang mit dem
                                                         kost­baren Rohstoff überdenken.
                                                         Von Felix Würsten

26    Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 101
Im Gegensatz zum Erdöl, das sich durch         den hingegen nicht weiterverfolgt – mit
                                               andere Energieträger ersetzen lässt, wäre         fatalen Folgen für die Umwelt: Vielerorts
                                               es beim Phosphor viel kritischer, wenn die        setzt die Landwirtschaft Phosphor nach
                                               Vorräte schon bald zur Neige gehen wür-           wie vor verschwenderisch ein und belastet
                                               den. Denn Phosphor lässt sich nicht erset-        so unnötig die Gewässer.
                                               zen, es ist ein essenzielles Element, ohne           Dabei gäbe es durchaus verschiedene
                                               das Tiere und Pflanzen nicht existieren           Ansatzpunkte: So würde etwa der bewuss-
                                               können. Es entscheidet unter anderem da-          tere Umgang mit dem Essen dazu führen,
                                               rüber, wie hoch die Erträge der Landwirt-         dass in den Industrieländern weniger
                                               schaft sind. Können die Bauern ihre Felder        Lebens­mittel weggeworfen würden. Und
                                               nicht mit Phosphordünger bewirtschaften,          durch einen gezielteren Düngereinsatz
                                               wäre die Nahrungsmittelproduktion in der          und eine effektivere Düngernutzung durch
                                               heutigen Form nicht mehr möglich.                 Pflanzen oder Tiere liesse sich nicht nur
                                                  Doch wie ernsthaft ist die angesagte           der Verbrauch drosseln, sondern auch die
                                               Krise tatsächlich? «Die Situation ist nicht       Belastung der Umwelt eindämmen. Nicht
                                               so dramatisch, wie sie teilweise dar­gestellt     zuletzt sieht Ulrich auch im Recycling eine
                                               wird», erklärt Andrea Ulrich von der ETH          Notwendigkeit: «Wenn wir aus dem Klär-
                                               Zürich. Sie hat in ihrer Doktorarbeit am          schlamm und Abwasser Phosphat zurück-
                                               Institut für Umweltentscheidungen die             gewinnen, ist dies ein wichtiger Beitrag für
                                               Problematik beleuchtet. Dabei zeigt sich:         eine nachhaltigere Phorsphornutzung.»
                                               Diskussionen, wie lange die Rohphosphat-
                                               vorkommen, aus denen mineralischer                   Dünger und Kernkraftwerke
                                               Phosphordünger gewonnen wird, reichen             Ulrich plädiert aber auch dafür, das Roh-
                                               würden, gab es schon in den 1930er und            phosphat besser zu nutzen. Dazu macht sie
                                               1970er Jahren.                                    einen brisanten Vorschlag: Rohphosphat
                                                  Wann die Vorräte zur Neige gehen wer-          enthält teilweise beachtliche Mengen an
                                               den, lässt sich nicht so einfach berechnen,       Uran. Würde man das Uran bei der Auf-
                                               hängt die Lebensdauer der Weltreserven,           bereitung separieren, könnte man nicht
                                               von denen vier Länder – Marokko, China,           nur umweltfreundlicheren Dünger her-
                                               Algerien und die USA – zusammen 85 Pro-           stellen, sondern auch die Uranversorgung
                                               zent besitzen, doch von vielen Faktoren ab.       der Kernkraftwerke längerfristig sichern.
                                               Der Preis, die Nachfrage und das Angebot          Denn auch beim Uran sind die leicht ab-
                                               spielen etwa eine Rolle, aber auch tech-          baubaren Vorräte beschränkt. Dabei geht
                                               nische Innovationen beim Abbau und das            es um beachtliche Mengen: Allein im Jahr
                                               politische Umfeld. Massgebend für die Be-         2010 wäre es im Prinzip möglich gewesen,
                                               rechnung der Reservedauer ist nicht, was          11 000 Tonnen Uran aus Rohphosphat zu
                                               physikalisch vorhanden ist, sondern unter         gewinnen – immerhin ein Fünftel der glo-
                                               welchen ökonomischen Bedingungen das              balen Uranproduktion. Auch dieser Vor-
                                               Rohphosphat abgebaut wird. Denn dies              schlag wurde bereits in den 1950er und
                                               entscheidet, ob ein Vorkommen abbauwür-           1970er Jahren diskutiert, man baute sogar
                                               dig ist oder nicht.                               entsprechende Anlagen. Doch als nach
                                                                                                 dem Zusammenbruch der Sowjetunion

E
                                                  Irreführende Diskussion                        plötzlich grosse Mengen an überschüssi-
       s ist noch nicht lange her, da sorgte   Gerade auch aus diesem Grund ist die ge-          gem Uran auf den Markt kamen, geriet die-
       Phosphor hierzulande für unlieb­        genwärtige Peak-Diskussion wenig hilf-            se Idee in den Hintergrund.
       same Schlagzeilen. Nach dem Zwei-       reich, vermittelt sie doch ein falsches Bild.        Nach Ansicht von Ulrich braucht es nun
       ten Weltkrieg nahm der Phosphor-        «Wenn wir das Problem ernsthaft angehen           einen Ansatz, der auf verschiedenen Ebe-
gehalt in den Gewässern immer mehr zu,         wollen, müssen wir das ganze System im            nen ansetzt. «Ideal wäre, wenn alle Betei-
mit teilweise bedenklichen ökologischen        Auge behalten und beispielsweise auch             ligten – die Industrie, die Behörden, NGOs
Folgen. Erst gegen Ende der 1980er Jahre       die Phorsphorverfügbarkeit im Boden be-           sowie die Wissenschaft – miteinander in
verringerte sich die Belastung, dank dem       rücksichtigen», ist Ulrich überzeugt. Ein         einen Dialog kämen.» Dies wäre auch des-
Ausbau der Abwasserreinigung, dem Ver-         erster Schritt dazu wäre, die Datenlage zu        halb wichtig, weil es grundlegende Ver-
bot von Phosphat in Waschmitteln und der       verbessern, damit die Diskussion auf eine         teilungsfragen zu klären gilt. So kann in
Ökologisierung der Landwirtschaft.             solidere Grundlage gestellt werden kann.          bestimmten Weltgegenden das landwirt-
   Inzwischen sorgt Phosphor in ­anderer       Immerhin: Es gibt in der Literatur bereits        schaftliche Potenzial nicht ausgeschöpft
Hinsicht für Aufregung: «Das Lebens­elixier    verlässliche Zahlen, und diese zeigen, dass       werden, weil dort nicht genügend Phos-
geht zur Neige», «Die Phosphor-Krise: Das      die heutigen Reserven noch für rund 350           phordünger zur Verfügung steht. Tatsäch-
Ende der Menschheit?» – mit solchen            Jahre reichen sollten.                            lich wurden in der letzten Zeit verschiede-
Schlagzeilen griffen die Medien in den letz-      Der Blick in die Vergangenheit ist noch        ne Initiativen gegründet, die das Problem
ten Jahren eine scheinbar neue These auf,      aus einem anderen Grund hilfreich: «Schon         auf nationaler und internationaler Ebene
die von verschiedenen Forschern mit gros-      früher hat man über mögliche notwendige           angehen wollen. Dennoch ortet Ulrich eine
ser Dringlichkeit vorgebracht wurde, näm-      Massnahmen gesprochen. So wichtig neue            institutionelle Lücke: «Sowohl das Um-
lich dass uns der lebensnotwendige Roh-        Lösungsansätze sind: Wir sollten das Rad          weltprogramm als auch die Ernährungs-
stoff Phosphor in absehbarer Zeit ausgehen     nicht immer wieder neu erfinden, sondern          und Landwirtschaftsorganisation der Uno
wird. Ähnlich wie beim Erdöl, wo es eine       das bereits erarbeitete Wissen gezielt nut-       sehen sich nur teilweise als zuständig an.
lebhafte Diskussion gab, wann die globale      zen», findet die Forscherin. Bemerkenswert        Letzlich fehlt also eine Institution, welche
Produktion das Maximum erreichen wür-          ist, dass die immer wieder geführte Diskus-       die Fäden zusammenhält und das vorhan-
de, skizzierten diese Forscher auch beim       sion um die Begrenztheit des Phosphors            dene Wissen bündelt.»
Rohphosphat ein Szenario, wonach bereits       letztlich zu einer Ausweitung der Reser-
in gut zwanzig Jahren die Produktion ih-       ven führte. Andere Lösungsvorschläge wie          Felix Würsten ist freier Wissenschaftsjournalist.
ren «Peak» erreicht haben würde.               etwa die Drosselung des Verbrauchs wur-

                                                                              Schweizerischer Nationalfonds – Akademien Schweiz: Horizonte Nr. 102   27
Sie können auch lesen