Ankommen in Deutschland - Erziehung & Wissenschaft 12/2018 - GEW
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Gewerkscha Erziehung und Wissenscha Erziehung & Wissenschaft 12/2018 Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW Ankommen in Deutschland
2 GASTKOMMENTAR Foto: Sebastian Gollnow Foto: Nina Pieroth NAIKA KATARINA FOROUTAN STJEPANDIĆ Brücken schlagen Wir leben in einer Gesellschaft, in der beinahe ein Viertel tremistischer Bewegungen – ganz gleich ob religiös-funda- der Bevölkerung (19,3 Millionen Menschen) Migrationshin- mentalistisch oder völkisch-nationalistisch: Sie spalten die tergrund hat. Der Anteil der Schulkinder in Deutschland mit Gesellschaften in gegensätzliche Lager und tragen maßgeb- Migrationsgeschichte liegt bei fast 40 Prozent. Vor allem in lich dazu bei, dass sich Positionen polarisieren. Für welche den westdeutschen Großstädten wie Hamburg hat laut Sta- Seite man sich entscheidet, bemisst sich an der Haltung zur tistischem Bundesamt fast jedes zweite Kind einen Migrati- Pluralität wie zur realen Ungleichheit, nicht an der Herkunft. onshintergrund, in Frankfurt am Main sind es sogar knapp Wenn beispielsweise bereits ein Viertel der Gesellschaft Mi- 70 Prozent der schulpflichtigen Kinder. Jede dritte Familie in grationshintergrund hat, dann ist es nicht legitim und nicht diesem Land hat eine Migrationsgeschichte. Tendenz stei- vertretbar, dass sich dies weder in der Politik noch bei den gend. Herkunft als identitätsstiftendes Kriterium verwischt, Lehrkräften, in den Medien oder sonstigen Bereichen des Gesellschaften werden vielfältiger und das nicht erst seit öffentlichen Lebens widerspiegelt. Missstände können aber 2015, sondern als Folge historischer Zusammenhänge und nicht behoben werden, wenn sich nur diejenigen wehren, die Kontinuitäten. Dennoch wird Migration als etwas Unerwarte- davon betroffen sind. Deshalb brauchen wir Gemeinsamkei- tes, Neues und daher Unruhestiftendes wahrgenommen und ten, die weit über die Herkunft hinaus gesellschaftlichen Zu- problematisiert. Dabei erscheint die Fiktion von Homogenität, sammenhalt fördern können. Das bedeutet, dass wir für das Kontrolle und Eindeutigkeit als letzte Bastion gegen Migration. Eintreten des demokratischen Gleichheitsgrundsatzes einen Selbstverständlich bedeutet Einwanderung Veränderungen Konsens herstellen müssen, der nicht auf nationalen, ethni- – sowohl für die Ankommenden als auch für die sogenannte schen, kulturellen und religiösen Zuschreibungen basiert. Der Mehrheitsgesellschaft, die in sich alles andere als homogen aber auch in der Lage ist, Partikularinteressen zumindest zeit- ist. Deshalb sprechen wir von postmigrantischen Gesellschaf- weise zurückzustellen. Wir plädieren daher zum einen für die ten (durch Migration verändert sich die Zusammensetzung Bereitschaft, Vielfalt als gemeinsame Erfahrung anzuerken- der Bevölkerung nachhaltig – Anm. d. Red.) und richten das nen, zum anderen dafür, Allianzen auf der Grundlage einer Augenmerk nicht auf Migration selbst, sondern vielmehr auf gemeinsamen Haltung zur pluralen Demokratie zu schließen. das, was nach ihr und durch sie geschieht. Auf Prozesse und Nur so kann es gelingen, Brücken zwischen unterschiedlichen die Konflikte, die durch das Einfordern von Zugehörigkeit, Par- Akteurs- und Interessengruppen zu schlagen, der Diversität tizipation und gleichen Rechten Folgen für die gesamte Ge- gerecht zu werden und ein Gegengewicht zu antidemokrati- sellschaft haben. schen Strömungen zu setzen. Dabei beobachten wir, dass die Migrationsfrage oft als Vor- wand dient, um gesellschaftliche Missstände neu Hinzuge- Naika Foroutan, kommenen zuzuschreiben – als wären Ungleichheit, Rassis- Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der mus, Antisemitismus oder Sexismus erst durch Einwanderung Humboldt-Universität zu Berlin entstanden. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir in ei- ner pluralen Demokratie miteinander leben wollen. Welche Katarina Stjepandić, gemeinsamen Ziele wir definieren können. Insbesondere vor wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Institut für empirische dem Hintergrund zunehmender sozialer Ungleichheiten, ex- Integrations- und Migrationsforschung Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
INHALT 3 Prämie Inhalt des Monat s Seite 5 Gastkommentar Brücken schlagen Seite 2 IMPRESSUM Impressum Seite 3 Erziehung und Wissenschaft Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung · 70. Jg. Auf einen Blick Seite 4 Herausgeberin: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Prämie des Monats Seite 5 im Deutschen Gewerkschaftsbund Vorsitzende: Marlis Tepe Schwerpunkt: Ankommen in Deutschland Redaktionsleiter: Ulf Rödde Redakteurin: Helga Haas-Rietschel 1. Die Alhameadis – ein Porträt Seite 6 Redaktionsassistentin: Katja Wenzel 2. Konzepte für Bildungserfolge: Hausbesuche und Lobanrufe Seite 9 Postanschrift der Redaktion: Reifenberger Straße 21 3. Zugewanderte separat unterrichten? Mehr als nur Deutsch lernen Seite 12 60489 Frankfurt am Main 4. Interview mit Prof. Kai Maaz: Durchgängige Förderung Seite 14 Telefon 069 78973-0 Fax 069 78973-202 5. Sprachsensibler Unterricht in der Berufsbildung: Jede Stunde 20 neue Begriffe Seite 16 katja.wenzel@gew.de 6. Interview mit Prof. Aladin El-Mafaalani: Integration führt zu Konflikten … Seite 18 www.gew.de 7. Integrationskurse – zwei Protokolle: „600 Stunden sind zu wenig“ Seite 20 facebook.com/GEW.DieBildungsgewerkschaft twitter.com/gew_bund Internationales Redaktionsschluss ist in der Regel GEW-Delegation besucht Projekte in Nordsyrien: Schulen für Rojava Seite 21 der 7. eines jeden Monats. Erziehung und Wissenschaft erscheint elfmal jährlich. Länderserie Fachkräftemangel Nachdruck, Aufnahme in Onlinedienste und Internet sowie Vervielfältigung auf Datenträger der „Erziehung Bayern: Individuelle Förderung? Fehlanzeige! Seite 22 und Wissenschaft“ auch auszugweise nur nach vorheri- ger schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Initiative „Bildung. Weiter denken!“ Gestaltung: Ende der GEW-Sommertour in Bayern: Vormittags wie nachmittags Seite 25 Werbeagentur Zimmermann, Heddernheimer Landstraße 144 Schule 60439 Frankfurt 1. Interview mit Peter Daschner: Stiefkind der Bildungspolitik Seite 26 Für die Mitglieder ist der Bezugspreis im Mitglieds- 2. Politische Bildung gegen Rechtsruck: Wann, wenn nicht jetzt? Seite 28 beitrag enthalten. Für Nichtmitglieder beträgt der Bezugspreis jährlich Euro 7,20 zuzüglich Euro 11,30 Hochschule Zustellgebühr inkl. MwSt. Für die Mitglieder der Landesverbände Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, GEW-Wissenschaftskonferenz: Die reine Lehre Seite 30 Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen werden die Berufliche Bildung und Weiterbildung jeweiligen Landeszeitungen der E&W beigelegt. Für un- 1. GEW-Herbstakademie: „… ein gravierendes Fachkräfteproblem!“ Seite 32 verlangt eingesandte Manuskripte und Rezensionsexem- plare wird keine Verantwortung übernommen. Die mit 2. Reform des Berufsbildungsgesetzes: Berufliche Bildung neu ordnen Seite 34 dem Namen des Verfassers gekennzeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder Gesellschaftspolitik der Herausgeberin dar. 1. Interview mit Prof. Hajo Funke: Völkische Achse dominiert Seite 36 Verlag mit Anzeigenabteilung: 2. Bildungspolitische Strategie der AfD: Kurs hart rechts Seite 38 Stamm Verlag GmbH Goldammerweg 16 fair childhood 45134 Essen Verantwortlich für Anzeigen: Mathias Müller 1. Simbabwe: Schule statt Plantage Seite 40 Telefon 0201 84300-0 2. GEW-Kommentar: Licht im Advent Seite 42 Fax 0201 472590 anzeigen@stamm.de Frauen www.erziehungundwissenschaft.de gültige Anzeigenpreisliste Nr. 40 GEW-Frauenkonferenz: Mammutagenda Zukunft Seite 43 vom 01.01.2017, Anzeigenschluss GEW-Intern ca. am 5. des Vormonats 1. Junge GEW diskutiert über die 68er: Zwischen Utopie und Zwang Seite 44 Erfüllungsort und Gerichtsstand: Frankfurt am Main 2. Deutsch-polnische Sprachakademie 2019: Auf nach Ustroń! Seite 44 Leserforum Seite 45 Diesmal Seite 48 ISSN 0342-0671 Titel: Werbeagentur Zimmermann Die E&W wird auf 100 Prozent chlorfrei gebleichtem Recyclingpapier gedruckt. Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
4 AUF EINEN BLICK Kooperationsverbot ade? UNESCO fest. Und geflüchtete Minderjährige? Für diese, kriti- Der Bund soll Länder und Kommunen künftig bei Investitionen siert die Kulturorganisation, gebe es oft – auch in Deutschland – in die Qualität und die Infrastruktur der Schulen finanziell unter- spezielle Bildungsangebote. Damit würden jedoch Parallelsys stützen dürfen. Darauf haben sich die Fraktionsspitzen von CDU/ teme geschaffen. Bildung müsse aber „inklusiv“ sein, Kitas CSU, SPD, FDP und Grünen verständigt. Im Klartext: Das Koope- und Schulen seien „Orte der Integration“, betonten UNESCO- rationsverbot, das bisher Bundesausgaben für die Bildungsauf- Vertreter während der Veröffentlichung des Reports in Berlin. gaben der Länder verhindert, soll stärker gelockert werden, als In Deutschland besuchten im vergangenen Jahr 30 Prozent im Koalitionsvertrag von Union und SPD vereinbart. Für diese der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, die jünger Öffnung muss das Grundgesetz geändert werden. Die Große als 16 Jahre waren, und fast 85 Prozent, die älter waren, Son- Koalition musste sich mit den Oppositionsparteien einigen, weil derklassen. für die Grundgesetzänderung im Bundestag ebenso wie im Bun- desrat eine Zweidrittelmehrheit nötig ist. Beide Abstimmungen standen bei Drucklegung der E&W noch aus. Nach einer positi- Mehr Druck für „JA13“ Foto: Inge Kleemann ven Entscheidung von Bundestag und -rat ist die entscheidende Mit bundesweiten Aktionen hat Hürde genommen, damit der geplante Digitalpakt zwischen Bund die GEW ab Mitte November den und Ländern umgesetzt werden kann. Der Pakt sieht vor, dass Druck auf Kultus- und Finanzmi- der Bund ab 2019 in einem Zeitraum von fünf Jahren fünf Milli- nister erhöht, sich für gleiche Be- arden Euro für die Digitalisierung an Schulen bereitstellt. Strittig zahlung aller vollausgebildeten Die Bremer GEW-Kolle- war zwischen Regierung und Opposition vor allem, wie weit das Lehrkräfte einzusetzen. ginnen und -Kollegen Kooperationsverbot gelockert werden soll. Jetzt sollen dem Bund In den Landesverbänden schwin zünden „eine letzte Investitionen in die kommunale Infrastruktur und die Qualität des det mittlerweile die Geduld. Zum Laterne“ an – als Warn Bildungswesens ermöglicht werden. Beispiel in Bremen: Dort haben zeichen für den Senat. Lehrkräfte mit A12-Besoldung er- neut gefordert, nach A13 bezahlt Personalnot an Berufsschulen zu werden (s. E&W 10/ und 11/2018) – und eine „letzte Laterne“ Der Mangel an Berufsschullehrkräften ist größer als prog- als Warnzeichen entzündet. Landesvorstandssprecherin Ina von nostiziert. Das geht aus der kürzlich veröffentlichten Studie Boetticher appellierte an die Verantwortlichen: Wenn der Senat „Prognose der Schülerzahl und des Lehrkräftebedarfs an be- nicht zügig handele, werde von Kolleginnen und Kollegen „der rufsbildenden Schulen in den Ländern bis 2030“ hervor, die Wechsel in andere Bundesländer ernsthaft erwogen“. die Wissenschaftler Dieter Dohmen und Maren Thomsen im Mit einer symbolischen Aktion vor dem Landtag in Düsseldorf Auftrag der GEW erstellt haben. „2030 werden etwa 240.000 unter dem Motto „Mein Stück vom Kuchen“ hat auch die GEW Schülerinnen und Schüler mehr an beruflichen Schulen ler- Nordrhein-Westfalen den Druck für bessere Bezahlung aller nen, als die Kultusministerkonferenz noch im Mai vorausbe- vollausgebildeten Lehrkräfte erhöht. Es gebe „keine sachli- rechnet hatte“, sagte GEW-Vorstandsmitglied Ansgar Klinger. chen Gründe, Pädagoginnen und Pädagogen an Grundschulen Mehr zum Thema in der Januar-Ausgabe der E&W. und Schulformen der Sek I schlechter zu bezahlen“ als etwa an Gymnasien, sagte Landesvorsitzende Dorothea Schäfer. Die Differenz im Einstiegsgehalt – nach GEW-Berechnungen Lehrkräfte gewinnen liegt diese zwischen A12 und A13 bei über 500 Euro – sei nicht Die GEW hat ein 10-Punkte-Programm vorgelegt, um den zu rechtfertigen. Lehrkräftemangel zu beheben. Die Gewerkschaft schlägt bei- spielsweise bessere Arbeitsbedingungen für Lehrerinnen und Lehrer vor. So sollen Arbeitszeit und Klassengrößen reduziert, Beamtenstreikrecht: Kläger ziehen zum EGMR Ausgleichsstunden und Altersermäßigung angeboten werden. Das Streikrecht für Beamtinnen und Beamte wollen elf Multiprofessionelle Teams – etwa mit Psychologen, Sozialpäda Klägerinnen und Kläger mit Rechtsschutz der GEW vor gogen oder herkunftssprachlichen Lehrkräften – und zusätzliche dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Verwaltungskräfte sollen Lehrerinnen und Lehrer entlasten und (EGMR) erstreiten. Am 12. Juni hatte das Bundesverfas- zu Qualitätsverbesserungen beitragen. Damit der Beruf attrakti- sungsgericht (BVerfG) die Klagen von vier Lehrerinnen ver wird, verlangt die GEW eine bessere Bezahlung aller vollaus- und Lehrern zurückgewiesen (s. E&W 2/, 6/, 7-8/2018). gebildeten Lehrkräfte nach A13 (Beamte) bzw. E13 (Angestellte). Damit wurde der Weg zum EGMR nach Straßburg frei. Die Zudem soll die Zahl der Plätze in den Lehramtsstudiengängen GEW vertritt die auch im Völkerrecht verankerte Auffas- und im Vorbereitungsdienst deutlich erhöht werden. sung, dass es ein Menschenrecht gibt, Arbeitsbedingun- Weitere Infos unter: www.gew.de/10-punkte-lehrkraeftemangel gen kollektiv auszuhandeln, was Streiks einschließt. Dem BVerfG hält die Gewerkschaft vor, es versäumt zu haben, das Grundgesetz europa- und menschenrechtsfreundlich UNESCO: gemeinsam lernen auszulegen. Das habe den Gesetzgeber daran gehindert, 264 Millionen Kinder und Jugendliche haben weltweit keinen deutsches und internationales Recht anzugleichen. Zugang zu Bildung, stellt der aktuelle Weltbildungsbericht der Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
Mitmachen lohnt sich ... ... mit jedem neu geworbenen GEW-Mitglied können Sie andere aktiv unterstützen.* Prämie des Monats Dezember: 30-Euro-Spende Eine Spende in Höhe von 30 Euro für die GEW-Stiftung „fair childhood“ oder den Heinrich-Rodenstein-Fonds für verfolgte Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter Neues Mitglied werben und Prämie online anfordern www.gew.de/praemienwerbung *Dieses Angebot gilt nicht für Mitglieder des GEW-Landesverbandes Niedersachsen. Keine Lust auf unser Online-Formular? Fordern Sie den Prämienkatalog an! Per E-Mail: mitglied-werden@gew.de | Per Telefon: 0 69 / 7 89 73-211 oder per Coupon: E&W-Prämie des Monats Dezember 2018/Spende Bitte in Druckschrift ausfüllen. Vorname/Name GEW-Landesverband Straße/Nr. Telefon Fax PLZ/Ort E-Mail Bitte den Coupon vollständig ausfüllen und an folgende Adresse senden: # Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Reifenberger Straße 21, 60489 Frankfurt a. M., Fax: 0 69 / 7 89 73-102
6 ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND Die Alhame // Seit drei Jahren lebt die syri- sche Familie – Mutter, Vater, drei hatten Anette und Samantha sie am Frankfurter Hauptbahnhof empfan- 45 Tagen per Bus, mit Schlauchboot, Schiff, Taxi und zu Fuß über die Balkan- Kinder – in Deutschland. Ob ihre gen – Manal, ihren Mann Loay und die route nach Deutschland gekommen. Reise damit zu Ende ist, ist unge- Kinder Obay, May und Alma. Über dem Die 21.000 Euro für die Schlepper, zu- wiss. Ein Besuch. // Sofa hängt ein Bild mit Alpenpanorama. sammengekratzt von Verwandten und Vom Flohmarkt. Es bedeute, dass „wir Freunden, zahlen sie bis heute zurück. Das Schild steht immer noch auf dem jetzt hier ein neues Leben haben“, be- Auf dem Fußmarsch zur österreichi- Wohnzimmerschrank: „Welcome to Bo tonen Manal und Loay. Mitte Septem- schen Grenze stießen sie auf Marija, die ckenheim, Family Alhameadi“. Damit ber 2015 ist die syrische Familie nach einer Wiener Freiwilligen-Organisation Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND 7 Angekommen in Frankfurt am Main: wir auch getan“, sagt Manal leise. Und erinnert sie der Stadtteil an ihr Her- die syrische Familie Alhameadi: ebenso leise: „Im Militärgefängnis in kunftsland. „A very open place“, lobt Vater Loay und Mutter Manal Budapest waren wir zwei Tage wie Vieh Obay. „A lot of my friends are Turkish.“ mit ihren Kindern May (links), in einem Lager mit zirka 1.500 Men- Die zehnjährige May liebt das Fahrrad- Alma (Mitte) und Obay (rechts). schen eingepfercht mit zwei Toiletten.“ fahren am Main und ihren Turnverein. Beginn eines neuen Lebens. Auch hier kaum eine Mahlzeit. Handys Ihre Schwester, die neunjährige Alma, wurden einkassiert, Fingerabdrücke ab- ist Mitglied im Höchster Schwimmclub. genommen. Manal will trotzdem umziehen, weg aus der unmittelbaren Nähe des S-Bahnhofs, Endlich wieder Mensch wo abends Haschisch angeboten werde. In Wien habe er sich zum ersten Mal Wohin? Am liebsten nach Bockenheim, wieder als Mensch gefühlt, erzählt Loay. antwortet die zierliche Frau mit strah- Essen stand bereit, Datteln und Nüsse. lenden Augen. Sie hätten dort „viele Ein Zimmer zum Übernachten. Ein Bad. nette Menschen“ kennengelernt, die sie Marija vermittelte auch den Kontakt zu sehr unterstützten, und Freunde gewor- Anette in Frankfurt am Main, die die Fa- den seien. Hilfe, gibt Manal zu, habe sie milie vorübergehend als Gäste in ihrer weniger in den Moscheen als bei den Kir- Bockenheimer WG aufnahm. Nächste chen gefunden. Weil es dort „Willkom- Station: Gießen, die hessische Außen- menspartys“ gegeben habe, sagt May stelle des Bundesamtes für Migration begeistert. Kinderfeste. Flohmärkte. und Flüchtlinge (BAMF). Antrag auf poli- Das Jahr, das bis zur Erteilung des Auf- tisches Asyl. Ankunft in einem nordhes- enthaltsrechts verging, haben die Al- sischen Aufnahmelager. hameadis gut genutzt. Bereits Ende Sechs Wochen verbrachte die Familie 2015 besuchten die Kinder Schulen und in der Notunterkunft Beberbeck, einem Hort, lernten schnell Deutsch. Manal Stadtteil Hofgeismars, Landkreis Kas- und Loay wollten nicht warten, bis sie sel, zusammen mit etwa 200 Geflüch- an einem Integrationskurs teilnehmen teten. Ein ehemaliger Gutshof, abge- konnten. Dank der Initiative „Teachers legen am Waldrand. Kein angenehmer on the Road“, die Zugewanderten kos- Aufenthalt, dennoch: „We know, we tenlos Deutschkenntnisse vermittelt, are safe“, sagt der 14-jährige Obay. Das paukten sie Basiswissen. Notierten die Schlimmste sei das Warten gewesen. Konjugationen auf einem Plakat und Darauf, dass es weitergeht, auf Unter- hängten es sich zu Hause an die Wand. Foto: Alexander Paul Englert richt, auf die Chance, Deutsch zu ler- Am 13. September 2016 kam der positi- nen. Trotz aller Widrigkeiten, sagt sei- ve Asylbescheid, zunächst befristet auf ne Mutter, habe sie das Camp gemocht. drei Jahre. Die Aussichten auf Verlänge- Sie hatten zu essen, eine Bleibe – und rung sind günstig. eadis etwas zu tun: Sie und ihr Mann über- Manal und Loay mussten sich während setzten für andere Camp-Bewohner dieser Zeit um vieles kümmern: Einschu- vom Arabischen ins Englische, bei Arzt- lung der Kinder, Gespräche mit dem besuchen, im Krankenhaus. „Wir waren städtischen Schulamt, mit Schulleitun- froh, helfen zu können“, erinnert sich gen. Anmeldung bei Integrationskur- die 45-Jährige. „Gar nichts zu tun und sen, die das Jobcenter finanziert. Wie- nicht zu wissen, was wird“ sei nicht der viele Anträge. Alles Amtsdeutsch. leicht zu ertragen, fügt ihr gleichaltri- Ohne Hilfe blicke da keiner durch, meint ger Mann hinzu. Loay. Zum Glück fand sich im Frankfur- Mit viel Glück gelang es der Familie, ter Freundeskreis immer jemand, der wieder nach Frankfurt zu kommen. sie auf Behördengängen begleitete, angehört. Ihr gelang es, die Familie nach Das BAMF quartierte sie in die Cordier- übersetzte, ihre Lage erklärte. Einmal Wien zu bringen. In Sicherheit. siedlung ein, zum Abriss vorgesehene hätten sie sechs Stunden gebraucht, Ihre schlimmste Fluchterfahrung? Die Sozialwohnungen im Gallus, dem alten allein um ein Formular vom Jobcenter Gefängnisaufenthalte in der Türkei, in Arbeiterviertel der Bankenstadt – und auszufüllen. „So viel Bürokratie“, stöhnt Griechenland und Ungarn. In der griechi- temporäre Unterkunft für Geflüchtete. Manal rückblickend. Wer als Zugewan- schen Haft hätten sie zwei Tage nichts zu Mit Hilfe von Freunden fanden sie eine derter keinen Menschen habe, der ihn essen und zu trinken gehabt, berichtet eigene Wohnung in Frankfurt-Höchst. unterstütze, müsse zu einem Überset- Loay. „Ihr könnt ja Wasser aus der Toilet- Mit seinen orientalischen Läden und zungsbüro, meint Loay. Teuer, und eine tenspülung trinken“, hieß es. „Das haben den unterschiedlichen Nationalitäten zusätzliche Hürde. Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
8 ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND Es ist nicht einfach, sich zurechtzufin- Ein Plakat mit Fotos: Alexander Paul Englert den, aber die Alhameadis beißen sich Konjugationen hing durch. Ihre Chance: Sie sind gut ausge- an der Wand der ersten bildet. Und sehr rührig. Manal besucht Frankfurter Wohnung die Teestuben der Kirchen, Treffpunkte der Alhameadis. für Geflüchtete, trifft auf viel Hilfsbe- reitschaft – und hilft selbst, wo sie kann. Drei pensionierte Lehrerinnen lesen bei einem Ölunternehmen in Katar ge- scheinlich werde er doch Arzt oder und reden mit den Kindern nachmittags arbeitet. Die Kinder gingen auf engli- Ingenieur wie sein Vater. Die Gymnasi- noch zusätzlich deutsch. Unterricht al- sche Schulen. Manal machte in einem astin May spielt nach dem Nachmittags- lein, ob in Schule oder Integrationskurs, Fernstudium ihr IT-Diplom. Bis man die kaffee Geige. Das Instrument ist ein Ge- reiche nicht aus, Kommunikation sei Alhameadis 2013 aus Katar auswies, schenk einer Freundin der Familie. Was wichtig, wissen die Eltern. weil sie Syrer waren. sie mal werden will? „Schauspielerin“, Obay ging vier Monate in eine Eingliede- sagt sie selbstbewusst. Alma zieht es rungsklasse einer Hauptschule. Sprach- Für eine bessere Bildung eher in Richtung Pferde. förderung. Wechselte dann, weil er In Syrien gab es keine Arbeit. Es war Das große Thema, der große Druck: besser Englisch spricht, auf eine interna- Krieg, die Familie lebte nahe der liba unbefristete Arbeitsverhältnisse. Auf tionale Schule. Eigentlich zu teuer für die nesischen Grenze von Erspartem. Un- keinen Fall wieder vom Jobcenter ab- Familie. Aber eine Freundin der Familie terricht war nicht möglich. Die meisten hängig sein. Loay bemüht sich darum, setzte sich dafür ein, dass Obay dort ei- Schulen lagen in Trümmern. Als Loay dass die hessische Ingenieurskammer nen Platz und ein Stipendium erhält. beinahe einem Selbstmordanschlag sein Diplom akzeptiert. Manals Ba- May besucht jetzt die 5. Klasse eines zum Opfer fiel, entschloss sie sich, das chelor in Anglistik ist mittlerweile in Gymnasiums. Alma die 4. Klasse einer Land zu verlassen. Ihr Ziel: Deutschland. Deutschland anerkannt. Zurzeit arbei- Grundschule in Höchst. Alma ist stiller als Obay: „Wegen des Fußballs.“ Seine El- tet sie bei einem Wohlfahrtsverband ihre Geschwister, verlässt das Zimmer, tern: „Wegen des Bildungssystems, der als Seminarassistentin. „Ein Mini-Job.“ wenn die Eltern von der Flucht erzählen. Universitäten.“ Obay, der Deutsch gut Zu Hause büffelt die ausgebildete In- Knapp ein Jahr lang war die Familie vom versteht, aber lieber auf Englisch ant- formatikerin am PC für ihre Fortbildung Jobcenter abhängig. Schwierig für sie. wortet, hat „mixed feelings“, „gemisch- als Software-Entwicklerin. Anfang 2019 Die Eltern wollten selbst Geld verdie- te Gefühle“, wenn er sich daran erin- wollen Manal und Loay das C1-Zertifi- nen. Bei einem Stromnetzwerkanbieter nert, wen er alles zurücklassen musste: kat für Deutsch schaffen. Sie wollen in Darmstadt fand Loay eine Stelle als Großeltern, Verwandte, Freunde, die er eine gute Perspektive – hier. Dafür tun Verantwortlicher für Wartungsarbei- nur noch per Skype sieht. sie viel. ten, befristet auf ein halbes Jahr. Ein Wie wird es weitergehen? Obay träumt Anfang. Der schlanke Mann hat in Syri- davon, Rapper zu werden, hat schon Helga Haas-Rietschel, en Petrochemie studiert, als Ingenieur Songtexte geschrieben. Aber wahr- Redakteurin der „Erziehung & Wissenschaft“ Obay träumt davon, Rapper zu werden. Realistischer sei aber Arzt oder Ingenieur. Mays Zukunftstraum: Schauspielerin. Ihre jüngere Schwester Alma zieht es eher in Richtung Pferde. Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND 9 Hausbesuche und Lobanrufe // Kinder und Jugendliche aus kommt der Nationale Bildungsbericht**, dungserfolg und Herkunft, bei der meist zugewanderten Familien haben der alle zwei Jahre auf Grundlage amtli- sozioökonomische und migrationsbe noch immer nicht die gleichen cher Statistiken und wissenschaftlicher zogene Problemlagen zusammenfallen. Chancen wie Gleichaltrige ohne Studien erstellt wird. Weiterhin bestehe Trotz aller Anstrengungen sei es bisher Migrationshintergrund. Bildungs- ein enger Zusammenhang zwischen Bil- nicht gelungen, Bildungsungleichheiten erfolge erzielen Schulen, die ein Sprachförderkonzept haben, im Stadtteil verwurzelt sind und die „Sprachförderung läuft Eltern einbeziehen. // im Fachunterricht immer mit“, sagt Biologielehrer Hussein* hebt das eiförmige Blatt em- Ceyhan Cüce von der por und betrachtet es eingehend. Dann Gretel Bergmann Schule fährt er mit dem Zeigefinger über den in Hamburg. Bildschirm seines Tablets und mustert die Abbildungen auf der Webseite zur Blattbestimmung. „Herr Cüce, ist das eine Grauerle?“, wendet er sich an den Klassenlehrer. „Bestimm doch zuerst die Gattung“, antwortet Ceyhan Cüce und deutet auf das Whiteboard. Dort hat er die für das Projekt „Mein Herba- rium“ wichtigen Begriffe wie Gattung, Stängel oder Blattader mit den zugehö- rigen Artikeln notiert. „Sprachförderung läuft auch im Fach- unterricht immer mit“, erläutert Cüce. Viele Kinder führen Vokabelhefte, in die sie neue Fachbegriffe und Verben eintragen. In der 6. Klasse der Gretel Bergmann Schule im Hamburger Stadt- teil Neuallermöhe haben drei von vier Schülerinnen und Schülern einen Migra tionshintergrund. Ihre Eltern sind Spät- aussiedler aus der ehemaligen Sowjet- union oder Zuwanderer aus der Türkei und Polen. Einige Kinder sind selbst im Ausland geboren, haben aber schon eine Hamburger Grundschule besucht oder sind wie Hussein aus einem Krisengebiet des Nahen Ostens geflüchtet und waren zuvor in einer Vorbereitungsklasse. „Die individuellen Lese- und Schreibkompe- tenzen unterscheiden sich erheblich“, beschreibt der Pädagoge die Heteroge- nität seiner Klasse. Für die meisten Schulen in westdeut- schen und Berliner Ballungszentren ge hört die Integration von Schülerinnen Foto: Babette Brandenburg und Schülern mit Migrationsgeschichte längst zum Alltag. Dennoch erreichen diese noch immer nicht dieselben Bil- dungserfolge wie Gleichaltrige ohne Mi- grationshintergrund. Zu diesem Schluss Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
10 ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND entscheidend zu verringern. Im Gegen- den laut Sprachlernberaterin Angelika sprachliche Hürden abzubauen, werden teil: Der Bericht warnt, dass die Kluft Förster „gern angenommen“. seit vielen Jahren Dolmetscher zu Lern- künftig größer wird. Ohnehin biete der Ganztag mit seinem entwicklungs- und Elterngesprächen hin breiten Kursangebot „neben einem zugezogen. Kürzlich fand zum ersten Mal Jedes Kind betrachten deutschsprachigen Umfeld gute Mög- ein Teil des Elternabends jahrgangsüber- Dass die Heterogenität in den Klassen- lichkeiten, sich in die Schulgemeinschaft greifend in sechs Sprachen statt. zimmern durch Inklusion und Migration zu integrieren“, so Schulleiter Kruse. Hier „Letztlich läuft hier alles über Bezie- weiter zunimmt, beobachten auch die sei Raum, sich mit „Dingen zu beschäfti- hungsarbeit“, stellt Waldmann fest. Je- Lehrkräfte der Gretel Bergmann Schule. gen, die sie können und mögen – von Ko- doch würden „Hausbesuche, Lobanrufe Sie setzen deshalb auf Stärkung der Res- chen über Musik bis Mannschaftssport“. oder telefonische Erreichbarkeit kaum ilienz ihrer mehr als 1.000 Schülerinnen Die Jugendlichen schlössen Freundschaf- im Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte ab- und Schüler. „Wir betrachten jedes Kind ten und „empfinden sich schnell als Teil gebildet und deshalb meist zusätzlich und schauen, was es kann und was es der Schule“. Identifikation und soziales geleistet“, kritisiert er. Schulleiter Kruse braucht“, erklärt Schulleiter Karlheinz Wohlbefinden sind für Kruse eine wich- bereitet eine weitere Entwicklung Kopf- Kruse. Ausgehend von höchst unter- tige Voraussetzung, um Lernfortschrit- zerbrechen. Er beobachtet, dass die Zahl schiedlichen Lernvoraussetzungen wer- te zu erzielen. In anderen Schulen wird der Kinder aus belasteten Familien stei- de es von multiprofessionellen Teams dies nicht so hoch bewertet: So kam die ge und die Ganztagsschule „zunehmend „nach seinen Möglichkeiten begleitet Organisation für wirtschaftliche Zusam- die Probleme und Erziehungsaufgaben und gefördert“. Im Zentrum steht die menarbeit und Entwicklung (OECD) in ei- im Stadtteil“ übernehme. Deshalb hat Sprachförderung als fester Teil des Re- ner Sonderauswertung der PISA-Ergeb er alle Institutionen und Organisatio- gelunterrichts. Regelmäßig werden die nisse – im Oktober veröffentlicht (s. E&W nen zu einer Bildungskonferenz einge- Schreib- und Lesekompetenzen der 11/2018) – zu dem Ergebnis, dass Kinder laden, um über ein Stützsystem für die Kinder getestet; entsprechend ihres und Jugendliche mit Migrationshinter- Schule zu beraten – unabhängig von den Bedarfs werden sie im Deutschen ge- grund häufiger das Gefühl haben, in der langjährigen engen Kooperationen mit fördert – möglichst von Deutschlehr Schule nicht dazuzugehören und über Sportvereinen und Jugendeinrichtun- kräften ihrer Klasse. Schülerinnen und schulbezogene Ängste klagen. gen. Im Gegenzug öffne sich die Schule Schüler der Vorbereitungsklassen erhal- Als Sohn türkischer Arbeitsmigranten in den Stadtteil und werde „ein Ort der ten in den zwei anschließenden Schul weiß Lehrer Cüce aus eigener Erfah- Gemeinwesenarbeit“, so Kruse. jahren zusätzlich Unterricht in Deutsch rung, welche Erwartungen auf den Kin- Die Gretel Bergmann Schule zeigt, dass als Zweitsprache (DaZ). Dieser findet als dern lasten. Häufig seien diese „hoff- eine engagierte Schulgemeinschaft He Wahlpflichtkurs unter denselben Bedin- nungslos überzogen“. ranwachsenden aus zugewanderten gungen statt wie die zweiten Fremd- Familien zu Bildungserfolgen verhelfen sprachen Russisch, Spanisch oder Fran- Kontakt zu den Eltern kann. Fast jeder Zweite schließt die Schu- zösisch. Wem das nicht reicht, der kann An der Gretel Bergmann Schule arbeiten le mit dem Abitur ab – obwohl keiner Förderkurse im Rahmen des Ganztags 16 Lehrkräfte mit Migrationsgeschich- eine Gymnasialempfehlung hatte. Doch belegen. Die freiwilligen Angebote wer- te. Diese, erzählt Cüce, hätten „durch Schulen können die Integration nicht Sprache, Aussehen, ähnliche Sozialisa- allein stemmen – sie sind auf Unterstüt- tion und Erfahrungen einen einfache- zung durch die Politik angewiesen. „Wir ren Zugang zu den Jugendlichen und brauchen deutlich kleinere Lerngruppen ihren Eltern“. Er selbst hat zu Beginn der und mehr Zeit für zusätzliche, kommu- 5. Klasse seine Schülerinnen und Schü- nikative Aufgaben“, fordert GEW-Schul- ler zu Hause besucht und mit den Eltern expertin Ilka Hoffmann. Als ebenso am Wohnzimmertisch gesprochen. So wichtig bewertet sie den Ausbau eines habe sich ein guter Kontakt aufbauen internen und externen Hilfesystems können. Sein Kollege Ole Waldmann hat durch Schulpsychologen, Jugendhilfe DaZ-Unterricht, mit einer Arbeitsgruppe im Zuge der und andere Fach- und Beratungsstellen: 6. Klasse, in der Schulentwicklung ein Konzept für „Lob „Viele Schulen fühlen sich angesichts Gretel Bergmann anrufe“ erarbeitet, die er selbst schon der Mammutaufgabe Zuwanderung von Schule. Mit spiele- lange praktiziert. „Ich rufe nicht an, um der Politik allein gelassen.“ rischen Methoden über eine schlechte Note zu sprechen – fördert das sondern über ein erfreuliches Ereignis“, Michaela Ludwig, Kollegium das berichtet der Pädagoge. Die Eltern fass- freie Journalistin Foto: Babette Brandenburg Deutschlernen. ten Vertrauen; so sei es einfacher, Infor- mationen über das Kind auszutauschen. Auch auf Schulebene arbeite man an ei- *Name geändert nem intensiveren Kontakt zu den Eltern, **Nationaler Bildungsbericht 2018: bestätigt der aktive Gewerkschafter. Um bit.ly/dipf-bildung-2018 Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
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12 ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND Giuseppe Tartaro, Lehrer an der Frankfurter Ernst-Reuter-Gesamt- schule II, selbst Kind von Einwan derern, hat viel Verständnis für die Foto: Christoph Boeckheler Sprachprobleme seiner Schülerinnen und Schüler. Aber er redet auch Klartext: „Ihr wollt Deutsch lernen? Dann müsst ihr mehr dafür tun.“ Mehr als nur Deutsch lernen // Sollen neu zugewanderte ist selbst Kind von Einwanderern. Er hat Wochen“, erzählt der 38-Jährige. Ein an- Kinder in separaten Klassen Verständnis für die Sprachprobleme deres Kind wurde in Frankfurt geboren, oder im Regelunterricht Deutsch seiner Schüler. Trotzdem redet er jetzt lebte dann einige Jahre im Herkunfts- lernen? Für beide Modelle gibt Klartext: „Ihr wollt Deutsch lernen? land der Eltern und kehrte schließlich es gute Argumente. Die meisten Dann müsst ihr mehr dafür tun.“ zurück nach Hessen. Bundesländer verbinden beides 16 Kinder sitzen in Tartaros Intensivklas- miteinander. // se, so nennt man in Hessen die Vorbe- „Partielle Integration“ reitungsklassen für neu Zugewanderte. Vor ein bis zwei Jahren saßen in Tartaros Die Schülerinnen und Schüler der Inten- Der Jüngste ist neun, der Älteste 15 Jah- Klasse vor allem Flüchtlinge aus Kriegs- sivklasse haben eine Woche lang auf ih- re alt. „Das ist eine große Herausforde- gebieten. Heute kommen die meisten ren Lehrer verzichten müssen. Giuseppe rung“, sagt Tartaro, der eine Zusatzaus- Schülerinnen und Schüler aus Südost- Tartaro, Pädagoge an der Ernst-Reuter- bildung in „Deutsch als Zweitsprache“ europa oder Asien. „Es gibt weniger Gesamtschule II in Frankfurt am Main, (DaZ) hat. Damit meint er nicht nur die Kinder, die durch die Flucht traumati- war mit anderen Kindern auf Klassen- Altersunterschiede, sondern auch das siert sind“, sagt der Sport- und Italie- fahrt. Jetzt, in der ersten Stunde nach unterschiedliche Sprachniveau und die nischlehrer. Seine Aufgabe ist dennoch seiner Reise, gibt es viel zu besprechen, innere Differenzierung im Unterricht. nicht leichter geworden. „Mein Ziel ist, auch Unangenehmes. Das letzte Diktat „Ein Schüler aus Spanien hat gar keine dass die Kinder sich in die deutsche Ge- ist ziemlich schlecht ausgefallen. Tartaro Deutschkenntnisse, er kam erst vor drei sellschaft integrieren können. Es geht Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND 13 hier um sehr viel mehr als ‚nur‘ Deutsch und Mitschüler. Doch nicht immer steht aufgabe von Sprachförderung und In- lernen.“ hinter einer solchen Einzelintegration tegration allein gelassen. Sie wünschen Maximal zwei Jahre können die Kinder ein durchdachtes Konzept. Oft hat sie or- sich mehr Unterstützung von Politik, und Jugendlichen in der Intensivklasse ganisatorische Gründe, weil es zu wenige Schulträgern und Wissenschaftlern. Sie bleiben, bis sie in die Regelklasse wech- Kinder für eine eigene Intensivklasse gibt suchen nach valider Orientierung bei der seln. Vielen gelingt das aber schon frü- oder die nächste geeignete Schule zu Entscheidung, wie sie Kinder am besten her. Die Ernst-Reuter-Schule arbeitet weit weg ist. Baden-Württemberg geht fördern und mit welchen Instrumenten. wie viele Schulen in Hessen mit einem hier einen anderen Weg und beschult Von Dewitz kennt das Problem. Die teilintegrativen Modell, Tartaro nennt Zugewanderte auch im Grundschulalter bisherigen Verfahren zur Sprachstands es „partielle Integration“. Das heißt: Die grundsätzlich in separaten Vorberei- erhebung seien zu wenig auf die Ziel Schüler bleiben zwar in der Intensivklas- tungsklassen. gruppe der neu Angekommenen zu se, können aber in einzelnen Fächern in geschnitten, räumt die Expertin ein. „Es die Regelklasse wechseln. Vorteil des „Sprachbads“ geht ja nicht nur darum, wie gut ein Kind Ein gutes Modell? Tartaro tut sich schwer Sprachwissenschaftler sehen separie- alphabetisiert ist. Es geht auch um all- mit einem klaren Ja oder Nein. Eigentlich rende Modelle ganz ohne Kontakt zu gemeine schulische Vorerfahrung und präferiert er die direkte Integration in Regelklassen eher skeptisch. Sie gehen Kenntnisse in bestimmten Fächern.“ Au- die Regelklasse, anstatt Kinder in Extra- davon aus, dass der tägliche Umgang ßerdem sei es mit einer einmaligen Er- klassen zu separieren. Er weiß aber auch, mit deutschsprachigen Mitschülern viel hebung zu Beginn nicht getan, sagt von dass ein Einheitsmodell für alle nicht bewirken kann – vorausgesetzt, die Kin- Dewitz: „Wir brauchen eine fortlaufen- wirkt, sondern die Zugewanderten indi- der bekommen eine gute Begleitung. de Dokumentation der Sprachentwick- viduell zugeschnittene Lösungen brau- Das Mercator-Institut für Sprachförde- lung, die Lehrerinnen und Lehrer bei ih- chen. Deshalb versucht seine Schule, rung und Deutsch als Zweitsprache an ren Entscheidungen unterstützen kann.“ möglichst flexibel zu reagieren. der Universität Köln befasst sich seit Tartaro, der Lehrer der Frankfurter In- Wie Hessen setzen auch die meisten an- Jahren mit verschiedenen Konzepten. tensivklasse, will nicht so lange war- deren Bundesländer weder ausschließ- Im Frühjahr zogen die Experten bei ei- ten, bis Forscher beziehungsweise der lich auf separate Sprachförderung, noch ner Tagung eine Zwischenbilanz. Das Schulträger ihm solche Instrumente zur auf ein hundertprozentig inklusives Fazit des Institutsdirektors Michael Verfügung stellen. Er arbeitet an einem Modell, bei dem deutschsprachige und Becker-Mrotzek: „Es hilft nicht, Kinder eigenen Kriterienkatalog für den Wech- zugewanderte Kinder von Anfang an lange in Extraklassen zu lassen. Besser sel in die Regelklasse, an dem sich dann gemeinsam lernen. Meistens findet sich ist, sie zumindest teilweise in den Regel- auch andere Kolleginnen und Kollegen eine Mischung schulorganisatorischer unterricht zu integrieren. Dann bekom- orientieren können. Denn zu oft, so sei- Modelle. Diese wiederum unterscheiden men sie nämlich neuen Input durch ihre ne Kritik, entscheide das „Bauchgefühl“ sich je nach Standort, Schulform und Al- Mitschüler und den Fachunterricht.“ Ob darüber, ob und wann ein Kind in die ter der Kinder. der Wechsel in die Regelklasse gelingt, Regelklasse wechselt. Für die Zukunft Zwar gibt es Bundesländer – etwa hängt nach Ansicht des Experten so- hofft Tartaro auf Unterstützung durch Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-West- wohl vom jeweiligen Konzept der Schu- Sprachwissenschaftler und andere Fach- falen –, die prinzipiell auf eine direkte le als auch von Personal-Ressourcen ab. leute: „Wir brauchen weitere Testver- Aufnahme neu zugewanderter Kinder Seine Kollegin Nora von Dewitz sieht fahren für jedes Kind – aber das können in die Regelklassen setzen und dies mit das ähnlich. Da sie weiß, wie unter- wir Lehrer nicht zusätzlich leisten, das zusätzlicher Sprachförderung beglei- schiedlich Bundesländer, Schulträger müssten wir den Experten überlassen.“ ten. Was aber nicht heißt, dass es dort und Schulen selbst die Sprachförderung überhaupt keine separate Beschulung handhaben, fällt es ihr schwer, ein be- Katja Irle, gibt. Für die meisten Bundesländer gilt: stimmtes Modell zu empfehlen. „Wel- freie Journalistin Je jünger Neuankömmlinge sind, desto che Förderung die beste ist, hängt im- eher lernen sie von Beginn an in der mer von den Rahmenbedingungen vor Regelklasse zusammen mit anderen. Ort und vom jeweiligen Kind ab“, sagt „Neuzugewanderte und Bildung. Eine Bremen etwa arbeitet bei Grundschüle- die Sprachwissenschaftlerin und nennt interdisziplinäre Perspektive auf Über- rinnen und -schülern mit einem teilinte- ein Beispiel: „Wenn die Lehrkräfte einer gänge im deutschen Bildungssystem“, grativen Modell. Zugewanderte lernen Regelklasse es nicht als ihre Aufgabe an- hrsg. von Nora von Dewitz u. a., in sogenannten Vorkursen – in der Regel sehen oder nicht dafür qualifiziert sind, Beltz 2018 sechs Monate – Deutsch, nehmen aber sprachsensibel zu unterrichten und auf „Sprachliche Bildung und Zuwanderung: gleichzeitig an Regelangeboten teil. die Bedürfnisse neu Zugewanderter eine Zwischenbilanz“, Mercator-Institut In fast allen Ländern gibt es gerade im einzugehen, kann die Beschulung in ei- 2018: bit.ly/mercator-sprachbildung Primarbereich auch die direkte Integra- ner separaten Klasse für einen begrenz- Themenportal „Integration durch tion einzelner Kinder in die Regelklasse. ten Zeitraum sinnvoller sein.“ Bildung“ mit einem Überblick über Häufig funktioniert die Methode des Viele Lehrerinnen und Lehrer wiederum einzelne Bundesländer, Friedrich-Ebert- „Sprachbads“ durch Mitschülerinnen fühlen sich mit der gewaltigen Doppel- Stiftung: bit.ly/fes-bildung-integration Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
14 ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND Durchgängige Förderung // Wird die Bildungspolitik den vielfältigen Heraus- ve Sprachförderung auch in der Berufsbildung wären für alle forderungen, die eine Migrationsgesellschaft an sie jungen Menschen wünschenswert – unabhängig von ihrer stellt, gerecht? Prof. Kai Maaz, Sprecher der Autoren- Herkunft. Es genügt nicht, wenn sich Auszubildende mit Mi- gruppe des Nationalen Bildungsberichts, ist skep- grationshintergrund mühelos auf Deutsch ein Brötchen kau- tisch – auch wenn er einiges in Bewegung sieht. // fen oder mit deutschen Alterskollegen für das Wochenende verabreden können. Es braucht auch das Beherrschen der E&W: Nicht erst seit 2015 ist klar, dass Migration „eine mul- berufsspezifischen Fachsprache. tidimensionale Herausforderung“ für das deutsche Bildungs- E&W: Dazu gehört aber auch mehr pädagogisches Personal, system ist, zugleich aber auch eine gewaltige Chance – wie zudem mit Kompetenz in der Vermittlung der deutschen Spra- Sie es unlängst wieder betonten. Sind Sie sicher, dass die Bil- che. Also mehr Erzieherinnen und Erzieher, mehr Lehrerinnen dungspolitik das inzwischen erkannt hat – und Konsequenzen und Lehrer, mehr Schulsozialarbeit. Woher sollen diese Fach- folgen? kräfte so schnell herkommen? Kai Maaz: Schwierige Frage. Ich sage dazu weder Ja noch Nein. Maaz: Wir haben unabhängig von den schon zuvor zugewan- Vieles ist in Bewegung geraten. Viel bewusster wird das inzwi- derten jungen Menschen und der aktuell großen Zahl der schen vor allem im Kita-Bereich angegangen. Und allen ist da- Schutz- und Asylsuchenden einen Mehrbedarf an Lehrkräf bei klar, welche wichtige Rolle ten – das „sonstige“ pädagogische Personal ist hierbei noch die frühe Aneignung sprach- gar nicht berücksichtigt. Das muss zum einen Auswirkungen licher Kompetenzen für den auf das Lehramtsstudium an den Hochschulen haben. Zugleich späteren Bildungserfolg spielt. brauchen wir kreative Ideen für das Gewinnen von pädagogi- Mittlerweile werden auch ver- schem Personal – auch jenseits der klassischen Ausbildungs- schiedene Sprachprogramme wege, bei gleichzeitiger Qualitätssicherung. Ohne Seitenein- in den 16 Bundesländern eva- steiger wird das nicht gehen. Wichtig ist deren Vorbereitung luiert und kritisch hinterfragt. auf den Einsatz und ihre begleitende Weiterqualifizierung. Dabei ist eine neue Dynamik Sinnvoll finde ich hier auch zivilgesellschaftliche Initiativen, entstanden. Zum Beispiel zum Beispiel von Stiftungen, die junge Menschen mit Migra- weckt das Hamburger Modell* tionshintergrund auf ihrem Weg in den pädagogischen Beruf mit seinen frühen Sprachtests unterstützen. und anschließender Förderung E&W: Sie haben unlängst gefordert, den Begriff der individu- Hoffnungen. Allerdings fehlt ellen Förderung zu „entzaubern“. Was meinen Sie damit? hier noch eine bundesweite Maaz: Ich finde individuelle Förderung sehr wichtig. In Dis- Koordinierung der Aktivitäten. kussionen wird der Ausdruck aber leider nur als Worthülse E&W: Bildungserfolg und das benutzt. Zum einen müssen wir die Lehrkräfte dazu auch in Erlernen von Grundkompe- die Lage versetzen, also ihnen Zeit geben, sich um den Lerner- tenzen sind bei Migrantinnen folg des jeweiligen Kindes individuell zu kümmern. Zum ande- und Migranten ähnlich wie ren darf man der Öffentlichkeit beziehungsweise den Eltern Foto: Tom Baerwald für DIPF bei jungen Deutschen extrem nicht suggerieren, dass sich damit alle Probleme auf einmal abhängig von ihrer sozialen lösen ließen. Wir brauchen eine flächendeckende Umsetzung Herkunft. Die Zahl der Schul- eines individuell fördernden Unterrichts. Wichtig ist dabei, abgängerinnen und Schulab- zunächst Rückstände in den Basiskompetenzen zu kompen- gänger ohne Hauptschulab- sieren. Ziel muss es aber sein, alle Kinder auf mehr als nur das Prof. Kai Maaz, Bildungsforscher beim Deutschen schluss steigt nach Jahren des Grundniveau zu bringen. Institut für Internationale Pädagogische Forschung Rückgangs wieder leicht an, (DIPF), Sprecher der Autorengruppe des Nationa- ebenso die Zahl junger Men- Interview: Karl-Heinz Reith, len Bildungsberichts von Bund und Ländern schen, die im nicht unumstrit- freier Journalist tenen Übergangssystem zur beruflichen Bildung landen. Maaz: Für gelungene Integration gibt es keine Patentrezepte. *Das Hamburger Modell bündelt Maßnahmen der Sprachför- Klar ist aber, dass sprachliche Kompetenzen eine Grundvor- derung sowohl für Kinder und Jugendliche mit Migrationshin- aussetzung sind. Je älter Kinder und Jugendliche sind, desto tergrund als auch für gleichaltrige deutschstämmige Mädchen herausfordernder wird ihre Integration. Ein 18-Jähriger be- und Jungen mit Schwierigkeiten in der Sprachentwicklung nötigt eine andere Unterstützung als ein sechsjähriges Kind. – von der Kita bis zur Berufsbildung. Die frühe Diagnostik ist Eine frühe Diagnose, gefolgt von einer durchgängigen sprach- systematisiert, eine höhere Verbindlichkeit und Berichtspflicht lichen Förderung in allen Schulfächern sowie eine integrati- von Schulen und Behörden vorgeschrieben. Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
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16 ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND Wer die Förderklasse des Gertrud-Bäumer-Berufs- kollegs (GBBK) in Duisburg erfolgreich durchlaufen hat, wechselt in den Regelunterricht. Doch dann gibt es neue Hürden. Fotos: Bert Butzke Jede Stunde 20 neue Begriffe // Damit sie an berufsbildenden um das Deutschlernen geht? Ganz ein- Schneider berät Schulen im Regierungs- Schulen nicht scheitern, brauchen fach. Lehrerin Angela Ronge vermittelt bezirk Düsseldorf, wie dieser Unterricht junge Geflüchtete viel Unter- darin auch Vokabeln wie „Bleistift“, „Por- aussehen sollte. stützung. Von sprachsensiblem trät“ oder „Horizontlinie“. Zugleich üben Darum kümmert sich auch Jan Boland Fachunterricht profitieren auch die jungen Einwanderer die Alltagsspra- von der Landesweiten Koordinierungs- alle anderen Schülerinnen und che – untereinander. „Als Brücke zwi- stelle (LaKI) in Dortmund, die die 54 Schüler. // schen ihnen gibt es nur Deutsch“, sagt Kommunalen Integrationszentren in die 29-jährige Lehrerin. Nordrhein-Westfalen (NRW) berät und Mit ihrem Selbstporträt ist sie nicht Wer die Förderklasse erfolgreich durch- begleitet. Lehrkräfte sollten überlegen, zufrieden. „Die Nase ist ein bisschen laufen hat, wechselt in den Regelunter- wo in Fachtexten sprachliche Hürden dick“, findet Esranur aus der Türkei. Die richt. sind und verschachtelte Sätze oder 16-Jährige greift zum Radiergummi. Ihr komplizierte Formulierungen gestrichen Mitschüler Osasere aus Nigeria übt der- Hürden in Fachtexten werden könnten, sagt er. Außerdem weil perspektivisches Zeichnen: dicke Viele Schülerinnen und Schüler stehen rät Boland, selbst Berufsschullehrer, Blockbuchstaben, die das Wort Jesus dann vor neuen Hürden: Jedes Fach, Kollegien an berufsbildenden Schulen, ergeben. „Ich bin ein Christ“, erklärt er. ob duale Ausbildung, Berufsfach- oder „sprachsensible“ Arbeitsblätter zu er- Und was „Vogelperspektive“ bedeutet, Fachoberschule, hat ein eigenes Voka- stellen. Auch Vokabellisten seien nütz- weiß Osasere inzwischen auch. bular. „In Biologie werden pro Unter- lich, betont der 37-Jährige: Davon pro- Kunstunterricht in der „Internationalen richtsstunde 20 neue Begriffe vermit- fitierten nicht nur Zugewanderte. Denn Förderklasse“ am Gertrud-Bäumer-Be- telt“, erklärt Erik Schneider, Lehrer für auch viele Jugendliche ohne Migra rufskolleg (GBBK) in Duisburg. An einem Deutsch und Biologie am GBBK. „Wer tionshintergrund verstünden Fachtexte langen Tisch sitzen 14 Schülerinnen und nur 2 Prozent davon nicht kennt, hat nicht: „Sprachsensibler Unterricht tut Schüler aus zugewanderten Familien, Schwierigkeiten, einen Fachtext zu ver- allen gut.“ Allerdings hätten viele Fach- deren Deutsch für den Regelunterricht stehen“, so der 52-Jährige. Erforderlich lehrkräfte Vorbehalte, räumt Boland ein nicht ausreicht. Warum Kunst, wenn es sei „sprachsensibler Fachunterricht“. – nach dem Motto: „Geh mir weg mit Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND 17 Sprache.“ Dann sei Überzeugungsarbeit sich zurückzuziehen: „Zum Lernen brau- zu leisten. „Unterrichtsmaterial kann che ich Ruhe.“ mit wenigen Handgriffen sprachsensi- Welche Rahmenbedingungen sind nötig, bel weiterentwickelt werden“, betont damit Zugewanderte eine berufliche Aus- er. Es gehe auch um Haltungsfragen: bildung erfolgreich durchlaufen können? „Bin ich bereit, meine Lehre so zu ge- Damit befasste sich auch die GEW bei ih- stalten?“ Sprachsensibler Unterricht sei rem Gewerkschaftstag 2017 in Freiburg zwar an der Mehrzahl der berufsbilden- im Breisgau.** Von „zentraler Bedeu- den Schulen in NRW ein Thema. Doch tung“ seien die berufsbildenden Schulen. es brauche Zeit, „um dessen Vorteile Auch die Bildungsgewerkschaft macht hervorzuheben“. sich für eine „sprachsensible Gestaltung der Abschlussprüfungen“ sowie entspre- Ein Drittel in Ausbildung chende Fortbildungsangebote für Lehr- Auf die „enorme Bedeutung kontinu- Schülerin Esranur im Kunstunterricht der kräfte stark. Zudem müsse die maximale ierlicher Sprachförderung“ verweist internationalen Förderklasse am GBBK. Klassengröße in der Ausbildungsvorberei- auch eine Studie, die das Bundesinstitut Warum Kunst, wenn es ums Deutschler- tung bei zwölf Schülerinnen und Schülern für Berufsbildung (BIBB) und die Bun- nen geht? Weil nicht nur Vokabeln wie liegen, und es brauche viele Betriebsprak- desagentur für Arbeit (BA) in Auftrag „Bleistift“ gelernt werden, sondern auch tika. Ebenfalls wichtig für den Bildungs- gegeben haben.* BIBB und BA wollten Alltagssprache geübt wird. erfolg: ein gesicherter Aufenthaltsstatus 2016 wissen: Was wurde aus jenen Ju „bis zum Abschluss einer Berufsausbil- gendlichen nichtdeutscher Staatsange- dung und anschließender mindestens hörigkeit, die bei der BA als Bewerber tionalen Förderklasse zugeteilt. „Dort dreijähriger Berufsausübung“. für eine duale, eine schulische Aus- habe ich Umgangssprache gelernt“, bildung oder eine Weiterbildung ge- erzählt der 20-Jährige. 2017 absolvier- Matthias Holland-Letz, meldet waren? Ergebnis: Immerhin 31 te er ein Jahrespraktikum in einer Kli- freier Journalist Prozent der jungen Geflüchteten hatten nik, drei Tage pro Woche. Dort stand eine duale Ausbildung begonnen. Und Mohammad vor neuen Sprachbarrie- welche Faktoren führen dazu, dass der ren. „Blutdruck, Blutzucker oder Pflas- *Stephanie Matthes, Verena Eberhard Einstieg in die berufliche Ausbildung ter – davon hatte ich noch nie gehört.“ u. a.: „Junge Geflüchtete auf dem Weg gelingt? Zu nennen sind laut BIBB und Er war gezwungen, schnell zu lernen. in Ausbildung. Ergebnisse der BA/BIBB- BA „insbesondere praktische Erfahrun- „Wenn ich zu den Patienten gehe, muss Migrationsstudie 2016“, Bonn 2018. gen im Betrieb“, etwa durch Praktika; ich mit ihnen sprechen.“ Heute besucht Download: außerdem die „individuelle Betreuung Mohammad die Abschlussklasse der bit.ly/bibb-migrationsstudie2016 durch Mentoren bzw. Mentorinnen“. Fachoberschule, Schwerpunkt Gesund- **Beschluss 3.7 des 28. GEW-Gewerk- Keine Rolle spielten hingegen berufliche heit. Sein ehrgeiziges Ziel: „Ich will Me- schaftstages: „Bildung in der Migrations- Erfahrungen aus dem Herkunftsland. dizin studieren.“ gesellschaft – Forderungen zum Bereich Und: Auch jene, die einen Ausbildungs- Lehrer und Sprachexperte Schneider berufliche Bildung und berufsbildende platz gefunden hatten, äußerten „gro- nennt weitere Faktoren, damit Ge- Schulen“: www.gew.de/beschluss-3-7-pdf ßen Unterstützungsbedarf“. flüchtete am Berufskolleg klarkommen. Konzepte und Materialien von Josef In Duisburg treffen wir Mohammad. Wichtig sei, dass das häusliche Umfeld Leisen, Professor für Didaktik der 2015 floh er von Syrien nach Deutsch- stimmt. Wer in einer Sammelunterkunft Physik, Uni Mainz (em.): land, am GBBK wurde er der Interna- leben muss, habe keine Möglichkeiten, www.sprachsensiblerfachunterricht.de 0800 - 8664422 Mehrfachgeneralagentur Finanzvermittlung Andreas Wendholt Prälat-Höing-Str. 19 · 46325 Borken-Weseke Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
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