Ankommen in Deutschland - Erziehung & Wissenschaft 12/2018 - GEW

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Ankommen in Deutschland - Erziehung & Wissenschaft 12/2018 - GEW
Gewerkscha
                                                Erziehung und Wissenscha

Erziehung & Wissenschaft        12/2018
Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW

                                           Ankommen
                                           in Deutschland
Ankommen in Deutschland - Erziehung & Wissenschaft 12/2018 - GEW
2 GASTKOMMENTAR

                                                                                                                 Foto: Sebastian Gollnow
                                         Foto: Nina Pieroth

                  NAIKA                                                                                                                    KATARINA
              FOROUTAN                                                                                                                     STJEPANDIĆ

              Brücken schlagen
               Wir leben in einer Gesellschaft, in der beinahe ein Viertel       tremistischer Bewegungen – ganz gleich ob religiös-funda-
               der Bevölkerung (19,3 Millionen Menschen) Migrationshin-          mentalistisch oder völkisch-nationalistisch: Sie spalten die
               tergrund hat. Der Anteil der Schulkinder in Deutschland mit       Gesellschaften in gegensätzliche Lager und tragen maßgeb-
               Migrationsgeschichte liegt bei fast 40 Prozent. Vor allem in      lich dazu bei, dass sich Positionen polarisieren. Für welche
               den westdeutschen Großstädten wie Hamburg hat laut Sta-           Seite man sich entscheidet, bemisst sich an der Haltung zur
               tistischem Bundesamt fast jedes zweite Kind einen Migrati-        Pluralität wie zur realen Ungleichheit, nicht an der Herkunft.
               onshintergrund, in Frankfurt am Main sind es sogar knapp          Wenn beispielsweise bereits ein Viertel der Gesellschaft Mi-
               70 Prozent der schulpflichtigen Kinder. Jede dritte Familie in    grationshintergrund hat, dann ist es nicht legitim und nicht
               diesem Land hat eine Migrationsgeschichte. Tendenz stei-          vertretbar, dass sich dies weder in der Politik noch bei den
               gend. Herkunft als identitätsstiftendes Kriterium verwischt,      Lehrkräften, in den Medien oder sonstigen Bereichen des
               Gesellschaften werden vielfältiger und das nicht erst seit        öffentlichen Lebens widerspiegelt. Missstände können aber
               2015, sondern als Folge historischer Zusammenhänge und            nicht behoben werden, wenn sich nur diejenigen wehren, die
               Kontinuitäten. Dennoch wird Migration als etwas Unerwarte-        davon betroffen sind. Deshalb brauchen wir Gemeinsamkei-
               tes, Neues und daher Unruhestiftendes wahrgenommen und            ten, die weit über die Herkunft hinaus gesellschaftlichen Zu-
               problematisiert. Dabei erscheint die Fiktion von Homogenität,     sammenhalt fördern können. Das bedeutet, dass wir für das
               Kontrolle und Eindeutigkeit als letzte Bastion gegen Migration.   Eintreten des demokratischen Gleichheitsgrundsatzes einen
               Selbstverständlich bedeutet Einwanderung Veränderungen            Konsens herstellen müssen, der nicht auf nationalen, ethni-
               – sowohl für die Ankommenden als auch für die sogenannte          schen, kulturellen und religiösen Zuschreibungen basiert. Der
               Mehrheitsgesellschaft, die in sich alles andere als homogen       aber auch in der Lage ist, Partikularinteressen zumindest zeit-
               ist. Deshalb sprechen wir von postmigrantischen Gesellschaf-      weise zurückzustellen. Wir plädieren daher zum einen für die
               ten (durch Migration verändert sich die Zusammensetzung           Bereitschaft, Vielfalt als gemeinsame Erfahrung anzuerken-
               der Bevölkerung nachhaltig – Anm. d. Red.) und richten das        nen, zum anderen dafür, Allianzen auf der Grundlage einer
               Augenmerk nicht auf Migration selbst, sondern vielmehr auf        gemeinsamen Haltung zur pluralen Demokratie zu schließen.
               das, was nach ihr und durch sie geschieht. Auf Prozesse und       Nur so kann es gelingen, Brücken zwischen unterschiedlichen
               die Konflikte, die durch das Einfordern von Zugehörigkeit, Par-   Akteurs- und Interessengruppen zu schlagen, der Diversität
               tizipation und gleichen Rechten Folgen für die gesamte Ge-        gerecht zu werden und ein Gegengewicht zu antidemokrati-
               sellschaft haben.                                                 schen Strömungen zu setzen.
               Dabei beobachten wir, dass die Migrationsfrage oft als Vor-
               wand dient, um gesellschaftliche Missstände neu Hinzuge-          Naika Foroutan,
               kommenen zuzuschreiben – als wären Ungleichheit, Rassis-          Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der
               mus, Antisemitismus oder Sexismus erst durch Einwanderung         Humboldt-Universität zu Berlin
               entstanden. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir in ei-
               ner pluralen Demokratie miteinander leben wollen. Welche          Katarina Stjepandić,
               gemeinsamen Ziele wir definieren können. Insbesondere vor         wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Institut für empirische
               dem Hintergrund zunehmender sozialer Ungleichheiten, ex-          Integrations- und Migrationsforschung

  Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
Ankommen in Deutschland - Erziehung & Wissenschaft 12/2018 - GEW
INHALT     3

                                                                   Prämie
Inhalt                                                           des Monat
                                                                           s
                                                                       Seite 5
Gastkommentar
Brücken schlagen                                                                     Seite 2    IMPRESSUM
Impressum                                                                            Seite 3    Erziehung und Wissenschaft
                                                                                                 Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung · 70. Jg.
Auf einen Blick                                                                      Seite 4    Herausgeberin:
                                                                                                 Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
Prämie des Monats                                                                    Seite 5    im Deutschen Gewerkschaftsbund
                                                                                                 Vorsitzende: Marlis Tepe
Schwerpunkt: Ankommen in Deutschland                                                             Redaktionsleiter: Ulf Rödde
                                                                                                 Redakteurin: Helga Haas-Rietschel
1.   Die Alhameadis – ein Porträt	                                                   Seite 6    Redaktionsassistentin: Katja Wenzel
2.   Konzepte für Bildungserfolge: Hausbesuche und Lobanrufe	                        Seite 9    Postanschrift der Redaktion:
                                                                                                 Reifenberger Straße 21
3.   Zugewanderte separat unterrichten? Mehr als nur Deutsch lernen	                 Seite 12   60489 Frankfurt am Main
4.   Interview mit Prof. Kai Maaz: Durchgängige Förderung	                           Seite 14   Telefon 069 78973-0
                                                                                                 Fax 069 78973-202
5.   Sprachsensibler Unterricht in der Berufsbildung: Jede Stunde 20 neue Begriffe   Seite 16   katja.wenzel@gew.de
6.   Interview mit Prof. Aladin El-Mafaalani: Integration führt zu Konflikten …	     Seite 18   www.gew.de
7.   Integrationskurse – zwei Protokolle: „600 Stunden sind zu wenig“	               Seite 20   facebook.com/GEW.DieBildungsgewerkschaft
                                                                                                 twitter.com/gew_bund
Internationales                                                                                  Redaktionsschluss ist in der Regel
GEW-Delegation besucht Projekte in Nordsyrien: Schulen für Rojava	                   Seite 21   der 7. eines jeden Monats.
                                                                                                 Erziehung und Wissenschaft erscheint elfmal jährlich.
Länderserie Fachkräftemangel                                                                     Nachdruck, Aufnahme in Onlinedienste und Internet
                                                                                                 ­sowie Vervielfältigung auf Datenträger der „Erziehung
Bayern: Individuelle Förderung? Fehlanzeige!	                                        Seite 22    und Wissenschaft“ auch auszugweise nur nach vorheri-
                                                                                                  ger schriftlicher Genehmigung der Redaktion.
Initiative „Bildung. Weiter denken!“
                                                                                                 Gestaltung:
Ende der GEW-Sommertour in Bayern: Vormittags wie nachmittags	                       Seite 25   Werbeagentur Zimmermann,
                                                                                                 Heddernheimer Landstraße 144
Schule                                                                                           60439 Frankfurt
1. Interview mit Peter Daschner: Stiefkind der Bildungspolitik	                      Seite 26
                                                                                                 Für die Mitglieder ist der Bezugspreis im Mitglieds-
2. Politische Bildung gegen Rechtsruck: Wann, wenn nicht jetzt?	                     Seite 28   beitrag enthalten. Für Nichtmitglieder beträgt der
                                                                                                 Bezugspreis jährlich Euro 7,20 zuzüglich Euro 11,30
Hochschule                                                                                       Zustellgebühr inkl. MwSt. Für die Mitglieder der
                                                                                                 Landesverbände Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen,
GEW-Wissenschaftskonferenz: Die reine Lehre	                                         Seite 30   Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland,
                                                                                                 Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen werden die
Berufliche Bildung und Weiterbildung                                                             jeweiligen Landeszeitungen der E&W beigelegt. Für un-
1. GEW-Herbstakademie: „… ein gravierendes Fachkräfteproblem!“	                      Seite 32   verlangt eingesandte Manuskripte und Rezensionsexem-
                                                                                                 plare wird keine Verantwortung übernommen. Die mit
2. Reform des Berufsbildungsgesetzes: Berufliche Bildung neu ordnen	                 Seite 34   dem Namen des Verfassers gekennzeichneten Beiträge
                                                                                                 stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder
Gesellschaftspolitik                                                                             der Herausgeberin dar.
1. Interview mit Prof. Hajo Funke: Völkische Achse dominiert	                        Seite 36
                                                                                                 Verlag mit Anzeigenabteilung:
2. Bildungspolitische Strategie der AfD: Kurs hart rechts	                           Seite 38   Stamm Verlag GmbH
                                                                                                 Goldammerweg 16
fair childhood                                                                                   45134 Essen
                                                                                                 Verantwortlich für Anzeigen: Mathias Müller
1. Simbabwe: Schule statt Plantage	                                                  Seite 40   Telefon 0201 84300-0
2. GEW-Kommentar: Licht im Advent	                                                   Seite 42   Fax 0201 472590
                                                                                                 anzeigen@stamm.de
Frauen                                                                                           www.erziehungundwissenschaft.de
                                                                                                 gültige Anzeigenpreisliste Nr. 40
GEW-Frauenkonferenz: Mammutagenda Zukunft	                                           Seite 43   vom 01.01.2017,
                                                                                                 Anzeigenschluss
GEW-Intern                                                                                       ca. am 5. des Vormonats
1. Junge GEW diskutiert über die 68er: Zwischen Utopie und Zwang	                    Seite 44   Erfüllungsort und Gerichtsstand: Frankfurt am Main
2. Deutsch-polnische Sprachakademie 2019: Auf nach Ustroń!	                          Seite 44
Leserforum                                                                           Seite 45
Diesmal                                                                              Seite 48                      ISSN 0342-0671

Titel: Werbeagentur Zimmermann                                                                           Die E&W wird auf 100 Prozent chlorfrei
                                                                                                         gebleichtem Recyclingpapier gedruckt.

                                                                                                 Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
Ankommen in Deutschland - Erziehung & Wissenschaft 12/2018 - GEW
4 AUF EINEN BLICK

                Kooperationsverbot ade?                                                UNESCO fest. Und geflüchtete Minderjährige? Für diese, kriti-
                Der Bund soll Länder und Kommunen künftig bei Investitionen            siert die Kulturorganisation, gebe es oft – auch in Deutschland –
                in die Qualität und die Infrastruktur der Schulen finanziell unter-    spezielle Bildungsangebote. Damit würden jedoch Parallelsys­
                stützen dürfen. Darauf haben sich die Fraktionsspitzen von CDU/        teme geschaffen. Bildung müsse aber „inklusiv“ sein, Kitas
                CSU, SPD, FDP und Grünen verständigt. Im Klartext: Das Koope-          und Schulen seien „Orte der Integration“, betonten UNESCO-
                rationsverbot, das bisher Bundesausgaben für die Bildungsauf-          Vertreter während der Veröffentlichung des Reports in Berlin.
                gaben der Länder verhindert, soll stärker gelockert werden, als        In Deutschland besuchten im vergangenen Jahr 30 Prozent
                im Koalitionsvertrag von Union und SPD vereinbart. Für diese           der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, die jünger
                Öffnung muss das Grundgesetz geändert werden. Die Große                als 16 Jahre waren, und fast 85 Prozent, die älter waren, Son-
                Koalition musste sich mit den Oppositionsparteien einigen, weil        derklassen.
                für die Grundgesetzänderung im Bundestag ebenso wie im Bun-
                desrat eine Zweidrittelmehrheit nötig ist. Beide Abstimmungen
                standen bei Drucklegung der E&W noch aus. Nach einer positi-           Mehr Druck für „JA13“

                                                                                                                                                       Foto: Inge Kleemann
                ven Entscheidung von Bundestag und -rat ist die entscheidende          Mit bundesweiten Aktionen hat
                Hürde genommen, damit der geplante Digitalpakt zwischen Bund           die GEW ab Mitte November den
                und Ländern umgesetzt werden kann. Der Pakt sieht vor, dass            Druck auf Kultus- und Finanzmi-
                der Bund ab 2019 in einem Zeitraum von fünf Jahren fünf Milli-         nister erhöht, sich für gleiche Be-
                arden Euro für die Digitalisierung an Schulen bereitstellt. Strittig   zahlung aller vollausgebildeten Die Bremer GEW-Kolle-
                war zwischen Regierung und Opposition vor allem, wie weit das          Lehr­kräfte einzusetzen.             ginnen und -Kollegen
                Kooperationsverbot gelockert werden soll. Jetzt sollen dem Bund        In den Landesverbänden schwin­ zünden „eine letzte
                Investitionen in die kommunale Infrastruktur und die Qualität des      det mittlerweile die Geduld. Zum Laterne“ an – als Warn­
                Bildungswesens ermöglicht werden.                                      Beispiel in Bremen: Dort haben zeichen für den Senat.
                                                                                       Lehrkräfte mit A12-Besoldung er-
                                                                                       neut gefordert, nach A13 bezahlt
                Personalnot an Berufsschulen                                           zu werden (s. E&W 10/ und 11/2018) – und eine „letzte Laterne“
                Der Mangel an Berufsschullehrkräften ist größer als prog-              als Warnzeichen entzündet. Landesvorstandssprecherin Ina von
                nostiziert. Das geht aus der kürzlich veröffentlichten Studie          Boetticher appellierte an die Verantwortlichen: Wenn der Senat
                „Prognose der Schülerzahl und des Lehrkräftebedarfs an be-             nicht zügig handele, werde von Kolleginnen und Kollegen „der
                rufsbildenden Schulen in den Ländern bis 2030“ hervor, die             Wechsel in andere Bundesländer ernsthaft erwogen“.
                die Wissenschaftler Dieter Dohmen und Maren Thomsen im                 Mit einer symbolischen Aktion vor dem Landtag in Düsseldorf
                Auftrag der GEW erstellt haben. „2030 werden etwa 240.000              unter dem Motto „Mein Stück vom Kuchen“ hat auch die GEW
                Schülerinnen und Schüler mehr an beruflichen Schulen ler-              Nordrhein-Westfalen den Druck für bessere Bezahlung aller
                nen, als die Kultusministerkonferenz noch im Mai vorausbe-             vollausgebildeten Lehrkräfte erhöht. Es gebe „keine sachli-
                rechnet hatte“, sagte GEW-Vorstandsmitglied Ansgar Klinger.            chen Gründe, Pädagoginnen und Pädagogen an Grundschulen
                Mehr zum Thema in der Januar-Ausgabe der E&W.                          und Schulformen der Sek I schlechter zu bezahlen“ als etwa
                                                                                       an Gymnasien, sagte Landesvorsitzende Dorothea Schäfer.
                                                                                       Die Differenz im Einstiegsgehalt – nach GEW-Berechnungen
                Lehrkräfte gewinnen                                                    liegt diese zwischen A12 und A13 bei über 500 Euro – sei nicht
                Die GEW hat ein 10-Punkte-Programm vorgelegt, um den                   zu rechtfertigen.
                Lehrkräftemangel zu beheben. Die Gewerkschaft schlägt bei-
                spielsweise bessere Arbeitsbedingungen für Lehrerinnen und
                Lehrer vor. So sollen Arbeitszeit und Klassengrößen reduziert,           Beamtenstreikrecht: Kläger ziehen zum EGMR
                Ausgleichsstunden und Altersermäßigung angeboten werden.                 Das Streikrecht für Beamtinnen und Beamte wollen elf
                Multiprofessionelle Teams – etwa mit Psychologen, Sozial­pä­­da­         Klägerinnen und Kläger mit Rechtsschutz der GEW vor
                gogen oder herkunftssprachlichen Lehrkräften – und zu­sätz­liche         dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
                Verwaltungskräfte sollen Lehrerinnen und Lehrer entlasten und            (EGMR) erstreiten. Am 12. Juni hatte das Bundesverfas-
                zu Qualitätsverbesserungen beitragen. Damit der Beruf attrakti-          sungsgericht (BVerfG) die Klagen von vier Lehrerinnen
                ver wird, verlangt die GEW eine bessere Bezahlung aller vollaus-         und Lehrern zurückgewiesen (s. E&W 2/, 6/, 7-8/2018).
                gebildeten Lehrkräfte nach A13 (Beamte) bzw. E13 (Angestellte).          Damit wurde der Weg zum EGMR nach Straßburg frei. Die
                Zudem soll die Zahl der Plätze in den Lehramtsstudiengängen              GEW vertritt die auch im Völkerrecht verankerte Auffas-
                und im Vorbereitungsdienst deutlich erhöht werden.                       sung, dass es ein Menschenrecht gibt, Arbeitsbedingun-
                Weitere Infos unter: www.gew.de/10-punkte-lehrkraeftemangel              gen kollektiv auszuhandeln, was Streiks einschließt. Dem
                                                                                         BVerfG hält die Gewerkschaft vor, es versäumt zu haben,
                                                                                         das Grundgesetz europa- und menschenrechtsfreundlich
                UNESCO: gemeinsam lernen                                                 auszulegen. Das habe den Gesetzgeber daran gehindert,
                264 Millionen Kinder und Jugendliche haben weltweit keinen               deutsches und internationales Recht anzugleichen.
                Zugang zu Bildung, stellt der aktuelle Weltbildungsbericht der

   Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
Ankommen in Deutschland - Erziehung & Wissenschaft 12/2018 - GEW
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Ankommen in Deutschland - Erziehung & Wissenschaft 12/2018 - GEW
6 ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND

             Die Alhame
               // Seit drei Jahren lebt die syri-
               sche Familie – Mutter, Vater, drei
                                                     hat­ten Anette und Samantha sie am
                                                     Frankfurter Hauptbahnhof empfan-
                                                                                              45 Tagen per Bus, mit Schlauchboot,
                                                                                              Schiff, Taxi und zu Fuß über die Balkan-
               Kinder – in Deutschland. Ob ihre      gen – Manal, ihren Mann Loay und die     route nach Deutschland gekommen.
               Reise damit zu Ende ist, ist unge-    Kinder Obay, May und Alma. Über dem      Die 21.000 Euro für die Schlepper, zu-
               wiss. Ein Besuch. //                  Sofa hängt ein Bild mit Alpenpanorama.   sammengekratzt von Verwandten und
                                                     Vom Flohmarkt. Es bedeute, dass „wir     Freunden, zahlen sie bis heute zurück.
               Das Schild steht immer noch auf dem   jetzt hier ein neues Leben haben“, be-   Auf dem Fußmarsch zur österreichi-
               Wohnzimmerschrank: „Welcome to Bo­    tonen Manal und Loay. Mitte Septem-      schen Grenze stießen sie auf Marija, die
               ck­enheim, Family Alhameadi“. Damit   ber 2015 ist die syrische Familie nach   einer Wiener Freiwilligen-Organisation

  Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
Ankommen in Deutschland - Erziehung & Wissenschaft 12/2018 - GEW
ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND                     7

 Angekommen in Frankfurt am Main:                                        wir auch getan“, sagt Manal leise. Und      erinnert sie der Stadtteil an ihr Her-
 die syrische Familie Alhameadi:                                         ebenso leise: „Im Militärgefängnis in       kunftsland. „A very open place“, lobt
 Vater Loay und Mutter Manal                                             Budapest waren wir zwei Tage wie Vieh       Obay. „A lot of my friends are Turkish.“
 mit ihren Kindern May (links),                                          in einem Lager mit zirka 1.500 Men-         Die zehnjährige May liebt das Fahrrad-
 Alma (Mitte) und Obay (rechts).                                         schen eingepfercht mit zwei Toiletten.“     fahren am Main und ihren Turnverein.
 Beginn eines neuen Lebens.                                              Auch hier kaum eine Mahlzeit. Handys        Ihre Schwester, die neunjährige Alma,
                                                                         wurden einkassiert, Fingerabdrücke ab-      ist Mitglied im Höchster Schwimmclub.
                                                                         genommen.                                   Manal will trotzdem umziehen, weg aus
                                                                                                                     der unmittelbaren Nähe des S-Bahnhofs,
                                                                         Endlich wieder Mensch                       wo abends Haschisch angeboten werde.
                                                                         In Wien habe er sich zum ersten Mal         Wohin? Am liebsten nach Bockenheim,
                                                                         wieder als Mensch gefühlt, erzählt Loay.    antwortet die zierliche Frau mit strah-
                                                                         Essen stand bereit, Datteln und Nüsse.      lenden Augen. Sie hätten dort „viele
                                                                         Ein Zimmer zum Übernachten. Ein Bad.        nette Menschen“ kennengelernt, die sie
                                                                         Marija vermittelte auch den Kontakt zu      sehr unterstützten, und Freunde gewor-
                                                                         Anette in Frankfurt am Main, die die Fa-    den seien. Hilfe, gibt Manal zu, habe sie
                                                                         milie vorübergehend als Gäste in ihrer      weniger in den Moscheen als bei den Kir-
                                                                         Bockenheimer WG aufnahm. Nächste            chen gefunden. Weil es dort „Willkom-
                                                                         Station: Gießen, die hessische Außen-       menspartys“ gegeben habe, sagt May
                                                                         stelle des Bundesamtes für Migration        begeistert. Kinderfeste. Flohmärkte.
                                                                         und Flüchtlinge (BAMF). Antrag auf poli-    Das Jahr, das bis zur Erteilung des Auf-
                                                                         tisches Asyl. Ankunft in einem nordhes-     enthaltsrechts verging, haben die Al-
                                                                         sischen Aufnahmelager.                      hameadis gut genutzt. Bereits Ende
                                                                         Sechs Wochen verbrachte die Familie         2015 besuchten die Kinder Schulen und
                                                                         in der Notunterkunft Beberbeck, einem       Hort, lernten schnell Deutsch. Manal
                                                                         Stadtteil Hofgeismars, Landkreis Kas-       und Loay wollten nicht warten, bis sie
                                                                         sel, zusammen mit etwa 200 Geflüch-         an einem Integrationskurs teilnehmen
                                                                         teten. Ein ehemaliger Gutshof, abge-        konnten. Dank der Initiative „Teachers
                                                                         legen am Waldrand. Kein angenehmer          on the Road“, die Zugewanderten kos-
                                                                         Aufenthalt, dennoch: „We know, we           tenlos Deutschkenntnisse vermittelt,
                                                                         are safe“, sagt der 14-jährige Obay. Das    paukten sie Basiswissen. Notierten die
                                                                         Schlimmste sei das Warten gewesen.          Konjugationen auf einem Plakat und
                                                                         Darauf, dass es weitergeht, auf Unter-      hängten es sich zu Hause an die Wand.
                                          Foto: Alexander Paul Englert

                                                                         richt, auf die Chance, Deutsch zu ler-      Am 13. September 2016 kam der positi-
                                                                         nen. Trotz aller Widrigkeiten, sagt sei-    ve Asylbescheid, zunächst befristet auf
                                                                         ne Mutter, habe sie das Camp gemocht.       drei Jahre. Die Aussichten auf Verlänge-
                                                                         Sie hatten zu essen, eine Bleibe – und      rung sind günstig.

eadis
                                                                         etwas zu tun: Sie und ihr Mann über-        Manal und Loay mussten sich während
                                                                         setzten für andere Camp-Bewohner            dieser Zeit um vieles kümmern: Einschu-
                                                                         vom Arabischen ins Englische, bei Arzt-     lung der Kinder, Gespräche mit dem
                                                                         besuchen, im Krankenhaus. „Wir waren        städtischen Schulamt, mit Schulleitun-
                                                                         froh, helfen zu können“, erinnert sich      gen. Anmeldung bei Integrationskur-
                                                                         die 45-Jährige. „Gar nichts zu tun und      sen, die das Jobcenter finanziert. Wie-
                                                                         nicht zu wissen, was wird“ sei nicht        der viele Anträge. Alles Amtsdeutsch.
                                                                         leicht zu ertragen, fügt ihr gleichaltri-   Ohne Hilfe blicke da keiner durch, meint
                                                                         ger Mann hinzu.                             Loay. Zum Glück fand sich im Frankfur-
                                                                         Mit viel Glück gelang es der Familie,       ter Freundeskreis immer jemand, der
                                                                         wieder nach Frankfurt zu kommen.            sie auf Behördengängen begleitete,
 angehört. Ihr gelang es, die Familie nach                               Das BAMF quartierte sie in die Cordier-     übersetzte, ihre Lage erklärte. Einmal
 Wien zu bringen. In Sicherheit.                                         siedlung ein, zum Abriss vorgesehene        hätten sie sechs Stunden gebraucht,
 Ihre schlimmste Fluchterfahrung? Die                                    Sozialwohnungen im Gallus, dem alten        allein um ein Formular vom Jobcenter
 Gefängnisaufenthalte in der Türkei, in                                  Arbeiterviertel der Bankenstadt – und       auszufüllen. „So viel Bürokratie“, stöhnt
 Griechenland und Ungarn. In der griechi-                                temporäre Unterkunft für Geflüchtete.       Manal rückblickend. Wer als Zugewan-
 schen Haft hätten sie zwei Tage nichts zu                               Mit Hilfe von Freunden fanden sie eine      derter keinen Menschen habe, der ihn
 essen und zu trinken gehabt, berichtet                                  eigene Wohnung in Frankfurt-Höchst.         unterstütze, müsse zu einem Überset-
 Loay. „Ihr könnt ja Wasser aus der Toilet-                              Mit seinen orientalischen Läden und         zungsbüro, meint Loay. Teuer, und eine
 tenspülung trinken“, hieß es. „Das haben                                den unterschiedlichen Nationalitäten        zusätzliche Hürde.

                                                                                                                                     Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
Ankommen in Deutschland - Erziehung & Wissenschaft 12/2018 - GEW
8 ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND

               Es ist nicht einfach, sich zurechtzufin-                                      Ein Plakat mit

                                                             Fotos: Alexander Paul Englert
               den, aber die Alhameadis beißen sich                                          Konjugationen hing
               durch. Ihre Chance: Sie sind gut ausge-                                       an der Wand der ersten
               bildet. Und sehr rührig. Manal besucht                                        Frankfurter Wohnung
               die Teestuben der Kirchen, Treffpunkte                                        der Alhameadis.
               für Geflüchtete, trifft auf viel Hilfsbe-
               reitschaft – und hilft selbst, wo sie kann.
               Drei pensionierte Lehrerinnen lesen                                     bei einem Ölunternehmen in Katar ge-        scheinlich werde er doch Arzt oder
               und reden mit den Kindern nachmittags                                   arbeitet. Die Kinder gingen auf engli-      Ingenieur wie sein Vater. Die Gymnasi-
               noch zusätzlich deutsch. Unterricht al-                                 sche Schulen. Manal machte in einem         astin May spielt nach dem Nachmittags-
               lein, ob in Schule oder Integrationskurs,                               Fernstudium ihr IT-Diplom. Bis man die      kaffee Geige. Das Instrument ist ein Ge-
               reiche nicht aus, Kommunikation sei                                     Alhameadis 2013 aus Katar auswies,          schenk einer Freundin der Familie. Was
               wichtig, wissen die Eltern.                                             weil sie Syrer waren.                       sie mal werden will? „Schauspielerin“,
               Obay ging vier Monate in eine Eingliede-                                                                            sagt sie selbstbewusst. Alma zieht es
               rungsklasse einer Hauptschule. Sprach-                                  Für eine bessere Bildung                    eher in Richtung Pferde.
               förderung. Wechselte dann, weil er                                      In Syrien gab es keine Arbeit. Es war       Das große Thema, der große Druck:
               besser Englisch spricht, auf eine interna-                              Krieg, die Familie lebte nahe der liba­     unbefristete Arbeitsverhältnisse. Auf
               tionale Schule. Eigentlich zu teuer für die                             nesischen Grenze von Erspartem. Un-         keinen Fall wieder vom Jobcenter ab-
               Familie. Aber eine Freundin der Familie                                 terricht war nicht möglich. Die meisten     hängig sein. Loay bemüht sich darum,
               setzte sich dafür ein, dass Obay dort ei-                               Schulen lagen in Trümmern. Als Loay         dass die hessische Ingenieurskammer
               nen Platz und ein Stipendium erhält.                                    beinahe einem Selbstmordanschlag            sein Diplom akzeptiert. Manals Ba-
               May besucht jetzt die 5. Klasse eines                                   zum Opfer fiel, entschloss sie sich, das    chelor in Anglistik ist mittlerweile in
               Gymnasiums. Alma die 4. Klasse einer                                    Land zu verlassen. Ihr Ziel: Deutschland.   Deutschland anerkannt. Zurzeit arbei-
               Grundschule in Höchst. Alma ist stiller als                             Obay: „Wegen des Fußballs.“ Seine El-       tet sie bei einem Wohlfahrtsverband
               ihre Geschwister, verlässt das Zimmer,                                  tern: „Wegen des Bildungssystems, der       als Seminarassistentin. „Ein Mini-Job.“
               wenn die Eltern von der Flucht erzählen.                                Universitäten.“ Obay, der Deutsch gut       Zu Hause büffelt die ausgebildete In-
               Knapp ein Jahr lang war die Familie vom                                 versteht, aber lieber auf Englisch ant-     formatikerin am PC für ihre Fortbildung
               Jobcenter abhängig. Schwierig für sie.                                  wortet, hat „mixed feelings“, „gemisch-     als Software-Entwicklerin. Anfang 2019
               Die Eltern wollten selbst Geld verdie-                                  te Gefühle“, wenn er sich daran erin-       wollen Manal und Loay das C1-Zertifi-
               nen. Bei einem Stromnetzwerkanbieter                                    nert, wen er alles zurücklassen musste:     kat für Deutsch schaffen. Sie wollen
               in Darmstadt fand Loay eine Stelle als                                  Großeltern, Verwandte, Freunde, die er      eine gute Perspektive – hier. Dafür tun
               Verantwortlicher für Wartungsarbei-                                     nur noch per Skype sieht.                   sie viel.
               ten, befristet auf ein halbes Jahr. Ein                                 Wie wird es weitergehen? Obay träumt
               Anfang. Der schlanke Mann hat in Syri-                                  davon, Rapper zu werden, hat schon          Helga Haas-Rietschel,
               en Petrochemie studiert, als Ingenieur                                  Songtexte geschrieben. Aber wahr-           Redakteurin der „Erziehung & Wissenschaft“

                                                                                                                                                           Obay träumt davon,
                                                                                                                                                           Rapper zu werden.
                                                                                                                                                           Realistischer sei aber
                                                                                                                                                           Arzt oder Ingenieur.

                                      Mays Zukunftstraum:
                                      Schauspielerin. Ihre jüngere
                                      Schwester Alma zieht es
                                      eher in Richtung Pferde.

  Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
Ankommen in Deutschland - Erziehung & Wissenschaft 12/2018 - GEW
ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND                                                9

Hausbesuche und Lobanrufe
// Kinder und Jugendliche aus              kommt der Nationale Bildungsbericht**,     dungserfolg und Herkunft, bei der meist
zugewanderten Familien haben               der alle zwei Jahre auf Grundlage amtli-   sozioökonomische und migrationsbe­
noch immer nicht die gleichen              cher Statistiken und wissenschaftlicher    zo­gene Pro­blemlagen zusammenfallen.
Chancen wie Gleichaltrige ohne             Studien erstellt wird. Weiterhin bestehe   Trotz aller Anstrengungen sei es bisher
Migrationshintergrund. Bildungs-           ein enger Zusammenhang zwischen Bil-       nicht gelungen, Bildungsungleichheiten
erfolge erzielen Schulen, die ein
Sprachförderkonzept haben, im
Stadtteil verwurzelt sind und die                                                                              „Sprachförderung läuft
Eltern einbeziehen. //                                                                                         im Fachunterricht immer
                                                                                                               mit“, sagt Biologielehrer
Hussein* hebt das eiförmige Blatt em-                                                                          Ceyhan Cüce von der
por und betrachtet es eingehend. Dann                                                                          Gretel Bergmann Schule
fährt er mit dem Zeigefinger über den                                                                          in Hamburg.
Bildschirm seines Tablets und mustert
die Abbildungen auf der Webseite zur
Blattbestimmung. „Herr Cüce, ist das
eine Grauerle?“, wendet er sich an den
Klassenlehrer. „Bestimm doch zuerst
die Gattung“, antwortet Ceyhan Cüce
und deutet auf das Whiteboard. Dort
hat er die für das Projekt „Mein Herba-
rium“ wichtigen Begriffe wie Gattung,
Stängel oder Blattader mit den zugehö-
rigen Artikeln notiert.
„Sprachförderung läuft auch im Fach-
unterricht immer mit“, erläutert Cüce.
Viele Kinder führen Vokabelhefte, in
die sie neue Fachbegriffe und Verben
eintragen. In der 6. Klasse der Gretel
Berg­mann Schule im Hamburger Stadt-
teil Neuallermöhe haben drei von vier
Schülerinnen und Schülern einen Migra­
tionshintergrund. Ihre Eltern sind Spät-
aussiedler aus der ehemaligen Sowjet-
union oder Zuwanderer aus der Türkei
und Polen. Einige Kinder sind selbst im
Ausland geboren, haben aber schon eine
Hamburger Grundschule besucht oder
sind wie Hussein aus einem Krisengebiet
des Nahen Ostens geflüchtet und waren
zuvor in einer Vorbereitungsklasse. „Die
individuellen Lese- und Schreibkompe-
tenzen unterscheiden sich erheblich“,
beschreibt der Pädagoge die Heteroge-
nität seiner Klasse.
Für die meisten Schulen in westdeut-
schen und Berliner Ballungszentren ge­
hört die Integration von Schülerinnen
                                                                                                                                           Foto: Babette Brandenburg

und Schülern mit Migrationsgeschichte
längst zum Alltag. Dennoch erreichen
diese noch immer nicht dieselben Bil-
dungserfolge wie Gleichaltrige ohne Mi-
grationshintergrund. Zu diesem Schluss

                                                                                                     Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
Ankommen in Deutschland - Erziehung & Wissenschaft 12/2018 - GEW
10 ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND

                            entscheidend zu verringern. Im Gegen-                               den laut Sprachlernberaterin Angelika         sprachliche Hürden abzubauen, werden
                            teil: Der Bericht warnt, dass die Kluft                             Förster „gern angenommen“.                    seit vielen Jahren Dolmetscher zu Lern-
                            künftig größer wird.                                                Ohnehin biete der Ganztag mit seinem          entwicklungs- und Elterngesprächen hin­
                                                                                                breiten Kursangebot „neben einem              zugezogen. Kürzlich fand zum ersten Mal
                            Jedes Kind betrachten                                               deutschsprachigen Umfeld gute Mög-            ein Teil des Elternabends jahrgangsüber-
                            Dass die Heterogenität in den Klassen-                              lichkeiten, sich in die Schulgemeinschaft     greifend in sechs Sprachen statt.
                            zimmern durch Inklusion und Migration                               zu integrieren“, so Schulleiter Kruse. Hier   „Letztlich läuft hier alles über Bezie-
                            weiter zunimmt, beobachten auch die                                 sei Raum, sich mit „Dingen zu beschäfti-      hungsarbeit“, stellt Waldmann fest. Je-
                            Lehrkräfte der Gretel Bergmann Schule.                              gen, die sie können und mögen – von Ko-       doch würden „Hausbesuche, Lobanrufe
                            Sie setzen deshalb auf Stärkung der Res-                            chen über Musik bis Mannschaftssport“.        oder telefonische Erreichbarkeit kaum
                            ilienz ihrer mehr als 1.000 Schülerinnen                            Die Jugendlichen schlössen Freundschaf-       im Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte ab-
                            und Schüler. „Wir betrachten jedes Kind                             ten und „empfinden sich schnell als Teil      gebildet und deshalb meist zusätzlich
                            und schauen, was es kann und was es                                 der Schule“. Identifikation und soziales      geleistet“, kritisiert er. Schulleiter Kruse
                            braucht“, erklärt Schulleiter Karlheinz                             Wohlbefinden sind für Kruse eine wich-        bereitet eine weitere Entwicklung Kopf-
                            Kruse. Ausgehend von höchst unter-                                  tige Voraussetzung, um Lernfortschrit-        zerbrechen. Er beobachtet, dass die Zahl
                            schiedlichen Lernvoraussetzungen wer-                               te zu erzielen. In anderen Schulen wird       der Kinder aus belasteten Familien stei-
                            de es von multiprofessionellen Teams                                dies nicht so hoch bewertet: So kam die       ge und die Ganztagsschule „zunehmend
                            „nach seinen Möglichkeiten begleitet                                Organisation für wirtschaftliche Zusam-       die Probleme und Erziehungsaufgaben
                            und gefördert“. Im Zentrum steht die                                menarbeit und Entwicklung (OECD) in ei-       im Stadtteil“ übernehme. Deshalb hat
                            Sprachförderung als fester Teil des Re-                             ner Sonderauswertung der PISA-Ergeb­          er alle Institutionen und Organisatio-
                            gelunterrichts. Regelmäßig werden die                               nisse – im Oktober veröffentlicht (s. E&W     nen zu einer Bildungskonferenz einge-
                            Schreib- und Lesekompetenzen der                                    11/2018) – zu dem Ergebnis, dass Kinder       laden, um über ein Stützsystem für die
                            Kinder getestet; entsprechend ihres                                 und Jugendliche mit Migrationshinter-         Schule zu beraten – unabhängig von den
                            Bedarfs werden sie im Deutschen ge-                                 grund häufiger das Gefühl haben, in der       langjährigen engen Kooperationen mit
                            fördert – möglichst von Deutschlehr­                                Schule nicht dazuzugehören und über           Sportvereinen und Jugendeinrichtun-
                            kräf­ten ihrer Klasse. Schülerinnen und                             schulbezogene Ängste klagen.                  gen. Im Gegenzug öffne sich die Schule
                            Schüler der Vorbereitungsklassen erhal-                             Als Sohn türkischer Arbeitsmigranten          in den Stadtteil und werde „ein Ort der
                            ten in den zwei anschließenden Schul­­                              weiß Lehrer Cüce aus eigener Erfah-           Gemeinwesenarbeit“, so Kruse.
                            jahren zusätzlich Unterricht in Deutsch                             rung, welche Erwartungen auf den Kin-         Die Gretel Bergmann Schule zeigt, dass
                            als Zweitsprache (DaZ). Dieser findet als                           dern lasten. Häufig seien diese „hoff-        eine engagierte Schulgemeinschaft He­
                            Wahlpflichtkurs unter denselben Bedin-                              nungslos überzogen“.                          r­an­­wachsenden aus zugewanderten
                            gungen statt wie die zweiten Fremd-                                                                               Familien zu Bildungserfolgen verhelfen
                            sprachen Russisch, Spanisch oder Fran-                              Kontakt zu den Eltern                         kann. Fast jeder Zweite schließt die Schu-
                            zösisch. Wem das nicht reicht, der kann                             An der Gretel Bergmann Schule arbeiten        le mit dem Abitur ab – obwohl keiner
                            Förderkurse im Rahmen des Ganztags                                  16 Lehrkräfte mit Migrationsgeschich-         eine Gymnasialempfehlung hatte. Doch
                            belegen. Die freiwilligen Angebote wer-                             te. Diese, erzählt Cüce, hätten „durch        Schulen können die Integration nicht
                                                                                                Sprache, Aussehen, ähnliche Sozialisa-        allein stemmen – sie sind auf Unterstüt-
                                                                                                tion und Erfahrungen einen einfache-          zung durch die Politik angewiesen. „Wir
                                                                                                ren Zugang zu den Jugendlichen und            brauchen deutlich kleinere Lerngruppen
                                                                                                ihren Eltern“. Er selbst hat zu Beginn der    und mehr Zeit für zusätzliche, kommu-
                                                                                                5. Klasse seine Schülerinnen und Schü-        nikative Aufgaben“, fordert GEW-Schul-
                                                                                                ler zu Hause besucht und mit den Eltern       expertin Ilka Hoffmann. Als ebenso
                                                                                                am Wohnzimmertisch gesprochen. So             wichtig bewertet sie den Ausbau eines
                                                                                                habe sich ein guter Kontakt aufbauen          internen und externen Hilfesystems
                                                                                                können. Sein Kollege Ole Waldmann hat         durch Schulpsychologen, Jugendhilfe
DaZ-Unterricht,                                                                                 mit einer Arbeitsgruppe im Zuge der           und andere Fach- und Beratungsstellen:
6. Klasse, in der                                                                               Schulentwicklung ein Konzept für „Lob­        „Viele Schulen fühlen sich angesichts
Gretel Bergmann                                                                                 anrufe“ erarbeitet, die er selbst schon       der Mammutaufgabe Zuwanderung von
Schule. Mit spiele-                                                                             lange praktiziert. „Ich rufe nicht an, um     der Politik allein gelassen.“
rischen Methoden                                                                                über eine schlechte Note zu sprechen –
fördert das                                                                                     sondern über ein erfreuliches Ereignis“,      Michaela Ludwig,
Kollegium das                                                                                   berichtet der Pädagoge. Die Eltern fass-      freie Journalistin
                                                                    Foto: Babette Brandenburg

Deutschlernen.                                                                                  ten Vertrauen; so sei es einfacher, Infor-
                                                                                                mationen über das Kind auszutauschen.
                                                                                                Auch auf Schulebene arbeite man an ei-        *Name geändert
                                                                                                nem intensiveren Kontakt zu den Eltern,       **Nationaler Bildungsbericht 2018:
                                                                                                bestätigt der aktive Gewerkschafter. Um       bit.ly/dipf-bildung-2018

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12 ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND

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                                                                                                           Frankfurter Ernst-Reuter-Gesamt-
                                                                                                           schule II, selbst Kind von Einwan­
                                                                                                           derern, hat viel Verständnis für die

                                                                                                                                                   Foto: Christoph Boeckheler
                                                                                                           Sprachprobleme seiner Schülerinnen
                                                                                                           und Schüler. Aber er redet auch
                                                                                                           Klartext: „Ihr wollt Deutsch lernen?
                                                                                                           Dann müsst ihr mehr dafür tun.“

                Mehr als nur Deutsch lernen
                 // Sollen neu zugewanderte                   ist selbst Kind von Einwanderern. Er hat     Wochen“, erzählt der 38-Jährige. Ein an-
                 Kinder in separaten Klassen                  Verständnis für die Sprachprobleme           deres Kind wurde in Frankfurt geboren,
                 oder im Regelunterricht Deutsch              seiner Schüler. Trotzdem redet er jetzt      lebte dann einige Jahre im Herkunfts-
                 lernen? Für beide Modelle gibt               Klartext: „Ihr wollt Deutsch lernen?         land der Eltern und kehrte schließlich
                 es gute Argumente. Die meisten               Dann müsst ihr mehr dafür tun.“              zurück nach Hessen.
                 Bundesländer verbinden beides                16 Kinder sitzen in Tartaros Intensivklas-
                 miteinander. //                              se, so nennt man in Hessen die Vorbe-        „Partielle Integration“
                                                              reitungsklassen für neu Zugewanderte.        Vor ein bis zwei Jahren saßen in Tartaros
                 Die Schülerinnen und Schüler der Inten-      Der Jüngste ist neun, der Älteste 15 Jah-    Klasse vor allem Flüchtlinge aus Kriegs-
                 sivklasse haben eine Woche lang auf ih-      re alt. „Das ist eine große Herausforde-     gebieten. Heute kommen die meisten
                 ren Lehrer verzichten müssen. Giuseppe       rung“, sagt Tartaro, der eine Zusatzaus-     Schülerinnen und Schüler aus Südost-
                 Tartaro, Pädagoge an der Ernst-Reuter-       bildung in „Deutsch als Zweitsprache“        europa oder Asien. „Es gibt weniger
                 Gesamtschule II in Frankfurt am Main,        (DaZ) hat. Damit meint er nicht nur die      Kinder, die durch die Flucht traumati-
                 war mit anderen Kindern auf Klassen-         Altersunterschiede, sondern auch das         siert sind“, sagt der Sport- und Italie-
                 fahrt. Jetzt, in der ersten Stunde nach      unterschiedliche Sprachniveau und die        nischlehrer. Seine Aufgabe ist dennoch
                 seiner Reise, gibt es viel zu besprechen,    innere Differenzierung im Unterricht.        nicht leichter geworden. „Mein Ziel ist,
                 auch Unangenehmes. Das letzte Diktat         „Ein Schüler aus Spanien hat gar keine       dass die Kinder sich in die deutsche Ge-
                 ist ziemlich schlecht ausgefallen. Tartaro   Deutschkenntnisse, er kam erst vor drei      sellschaft integrieren können. Es geht

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hier um sehr viel mehr als ‚nur‘ Deutsch     und Mitschüler. Doch nicht immer steht       aufgabe von Sprachförderung und In-
lernen.“                                     hinter einer solchen Einzelintegration       tegration allein gelassen. Sie wünschen
Maximal zwei Jahre können die Kinder         ein durchdachtes Konzept. Oft hat sie or-    sich mehr Unterstützung von Politik,
und Jugendlichen in der Intensivklasse       ganisatorische Gründe, weil es zu we­nige    Schulträgern und Wissenschaftlern. Sie
bleiben, bis sie in die Regelklasse wech-    Kinder für eine eigene Intensivklasse gibt   suchen nach valider Orientierung bei der
seln. Vielen gelingt das aber schon frü-     oder die nächste geeignete Schule zu         Entscheidung, wie sie Kinder am besten
her. Die Ernst-Reuter-Schule arbeitet        weit weg ist. Baden-Württemberg geht         fördern und mit welchen Instrumenten.
wie viele Schulen in Hessen mit einem        hier einen anderen Weg und beschult          Von Dewitz kennt das Problem. Die
teilintegrativen Modell, Tartaro nennt       Zugewanderte auch im Grundschulalter         bisherigen Verfahren zur Sprachstands­
es „partielle Integration“. Das heißt: Die   grundsätzlich in separaten Vorberei-         erhebung seien zu wenig auf die Ziel­­
Schüler bleiben zwar in der Intensivklas-    tungsklassen.                                gruppe der neu Angekommenen zu­
se, können aber in einzelnen Fächern in                                                   geschnitten, räumt die Expertin ein. „Es
die Regelklasse wechseln.                    Vorteil des „Sprachbads“                     geht ja nicht nur darum, wie gut ein Kind
Ein gutes Modell? Tartaro tut sich schwer    Sprachwissenschaftler sehen separie-         alphabetisiert ist. Es geht auch um all-
mit einem klaren Ja oder Nein. Eigentlich    rende Modelle ganz ohne Kontakt zu           gemeine schulische Vorerfahrung und
präferiert er die direkte Integration in     Regelklassen eher skeptisch. Sie gehen       Kenntnisse in bestimmten Fächern.“ Au-
die Regelklasse, anstatt Kinder in Extra-    davon aus, dass der tägliche Umgang          ßerdem sei es mit einer einmaligen Er-
klassen zu separieren. Er weiß aber auch,    mit deutschsprachigen Mitschülern viel       hebung zu Beginn nicht getan, sagt von
dass ein Einheitsmodell für alle nicht       bewirken kann – vorausgesetzt, die Kin-      Dewitz: „Wir brauchen eine fortlaufen-
wirkt, sondern die Zugewanderten indi-       der bekommen eine gute Begleitung.           de Dokumentation der Sprachentwick-
viduell zugeschnittene Lösungen brau-        Das Mercator-Institut für Sprachförde-       lung, die Lehrerinnen und Lehrer bei ih-
chen. Deshalb versucht seine Schule,         rung und Deutsch als Zweitsprache an         ren Entscheidungen unterstützen kann.“
möglichst flexibel zu reagieren.             der Universität Köln befasst sich seit       Tartaro, der Lehrer der Frankfurter In-
Wie Hessen setzen auch die meisten an-       Jahren mit verschiedenen Konzepten.          tensivklasse, will nicht so lange war-
deren Bundesländer weder ausschließ-         Im Frühjahr zogen die Experten bei ei-       ten, bis Forscher beziehungsweise der
lich auf separate Sprachförderung, noch      ner Tagung eine Zwischenbilanz. Das          Schulträger ihm solche Instrumente zur
auf ein hundertprozentig inklusives          Fazit des Institutsdirektors Michael         Verfügung stellen. Er arbeitet an einem
Modell, bei dem deutschsprachige und         Becker-­Mrotzek: „Es hilft nicht, Kinder     eigenen Kriterienkatalog für den Wech-
zugewanderte Kinder von Anfang an            lange in Extraklassen zu lassen. Besser      sel in die Regelklasse, an dem sich dann
gemeinsam lernen. Meistens findet sich       ist, sie zumindest teilweise in den Regel-   auch andere Kolleginnen und Kollegen
eine Mischung schulorganisatorischer         unterricht zu integrieren. Dann bekom-       orientieren können. Denn zu oft, so sei-
Modelle. Diese wiederum unterscheiden        men sie nämlich neuen Input durch ihre       ne Kritik, entscheide das „Bauchgefühl“
sich je nach Standort, Schulform und Al-     Mitschüler und den Fachunterricht.“ Ob       darüber, ob und wann ein Kind in die
ter der Kinder.                              der Wechsel in die Regelklasse gelingt,      Regelklasse wechselt. Für die Zukunft
Zwar gibt es Bundesländer – etwa             hängt nach Ansicht des Experten so-          hofft Tartaro auf Unterstützung durch
Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-West-         wohl vom jeweiligen Konzept der Schu-        Sprachwissenschaftler und andere Fach-
falen –, die prinzipiell auf eine direkte    le als auch von Personal-Ressourcen ab.      leute: „Wir brauchen weitere Testver-
Aufnahme neu zugewanderter Kinder            Seine Kollegin Nora von Dewitz sieht         fahren für jedes Kind – aber das können
in die Regelklassen setzen und dies mit      das ähnlich. Da sie weiß, wie unter-         wir Lehrer nicht zusätzlich leisten, das
zusätzlicher Sprachförderung beglei-         schiedlich Bundesländer, Schulträger         müssten wir den Experten überlassen.“
ten. Was aber nicht heißt, dass es dort      und Schulen selbst die Sprachförderung
überhaupt keine separate Beschulung          handhaben, fällt es ihr schwer, ein be-      Katja Irle,
gibt. Für die meisten Bundesländer gilt:     stimmtes Modell zu empfehlen. „Wel-          freie Journalistin
Je jünger Neuankömmlinge sind, desto         che Förderung die beste ist, hängt im-
eher lernen sie von Beginn an in der         mer von den Rahmenbedingungen vor
Regelklasse zusammen mit anderen.            Ort und vom jeweiligen Kind ab“, sagt        „Neuzugewanderte und Bildung. Eine
Bremen etwa arbeitet bei Grundschüle-        die Sprachwissenschaftlerin und nennt        interdisziplinäre Perspektive auf Über-
rinnen und -schülern mit einem teilinte-     ein Beispiel: „Wenn die Lehrkräfte einer     gänge im deutschen Bildungssystem“,
grativen Modell. Zugewanderte lernen         Regelklasse es nicht als ihre Aufgabe an-    hrsg. von Nora von Dewitz u. a.,
in sogenannten Vorkursen – in der Regel      sehen oder nicht dafür qualifiziert sind,    Beltz 2018
sechs Monate – Deutsch, nehmen aber          sprachsensibel zu unterrichten und auf       „Sprachliche Bildung und Zuwanderung:
gleichzeitig an Regelangeboten teil.         die Bedürfnisse neu Zugewanderter            eine Zwischenbilanz“, Mercator-Institut
In fast allen Ländern gibt es gerade im      einzugehen, kann die Beschulung in ei-       2018: bit.ly/mercator-sprachbildung
Primarbereich auch die direkte Integra-      ner separaten Klasse für einen begrenz-      Themenportal „Integration durch
tion einzelner Kinder in die Regelklasse.    ten Zeitraum sinnvoller sein.“               Bildung“ mit einem Überblick über
Häufig funktioniert die Methode des          Viele Lehrerinnen und Lehrer wiederum        einzelne Bundesländer, Friedrich-Ebert-
„Sprachbads“ durch Mitschülerinnen           fühlen sich mit der gewaltigen Doppel-       Stiftung: bit.ly/fes-bildung-integration

                                                                                                               Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
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                     Durchgängige Förderung
                      // Wird die Bildungspolitik den vielfältigen Heraus-                 ve Sprachförderung auch in der Berufsbildung wären für alle
                      forderungen, die eine Migrationsgesellschaft an sie                  jungen Menschen wünschenswert – unabhängig von ihrer
                      stellt, gerecht? Prof. Kai Maaz, Sprecher der Autoren-               Herkunft. Es genügt nicht, wenn sich Auszubildende mit Mi-
                      gruppe des Nationalen Bildungsberichts, ist skep-                    grationshintergrund mühelos auf Deutsch ein Brötchen kau-
                      tisch – auch wenn er einiges in Bewegung sieht. //                   fen oder mit deutschen Alterskollegen für das Wochenende
                                                                                           verabreden können. Es braucht auch das Beherrschen der
                        E&W: Nicht erst seit 2015 ist klar, dass Migration „eine mul-      berufsspezifischen Fachsprache.
                        tidimensionale Herausforderung“ für das deutsche Bildungs-         E&W: Dazu gehört aber auch mehr pädagogisches Personal,
                        system ist, zugleich aber auch eine gewaltige Chance – wie         zudem mit Kompetenz in der Vermittlung der deutschen Spra-
                        Sie es unlängst wieder betonten. Sind Sie sicher, dass die Bil-    che. Also mehr Erzieherinnen und Erzieher, mehr Lehrerinnen
                        dungspolitik das inzwischen erkannt hat – und Konsequenzen         und Lehrer, mehr Schulsozialarbeit. Woher sollen diese Fach-
                        folgen?                                                            kräfte so schnell herkommen?
                        Kai Maaz: Schwierige Frage. Ich sage dazu weder Ja noch Nein.      Maaz: Wir haben unabhängig von den schon zuvor zugewan-
                        Vieles ist in Bewegung geraten. Viel bewusster wird das inzwi-     derten jungen Menschen und der aktuell großen Zahl der
                        schen vor allem im Kita-Bereich angegangen. Und allen ist da-      Schutz- und Asylsuchenden einen Mehrbedarf an Lehrkräf­­
                                                        bei klar, welche wichtige Rolle    ten ­– das „sonstige“ pädagogische Personal ist hierbei noch
                                                        die frühe Aneignung sprach-        gar nicht berücksichtigt. Das muss zum einen Auswirkungen
                                                        licher Kompetenzen für den         auf das Lehramtsstudium an den Hochschulen haben. Zugleich
                                                        späteren Bildungserfolg spielt.    brauchen wir kreative Ideen für das Gewinnen von pädagogi-
                                                        Mittlerweile werden auch ver-      schem Personal – auch jenseits der klassischen Ausbildungs-
                                                        schiedene Sprachprogramme          wege, bei gleichzeitiger Qualitätssicherung. Ohne Seitenein-
                                                        in den 16 Bundesländern eva-       steiger wird das nicht gehen. Wichtig ist deren Vorbereitung
                                                        luiert und kritisch hinterfragt.   auf den Einsatz und ihre begleitende Weiterqualifizierung.
                                                        Dabei ist eine neue Dynamik        Sinnvoll finde ich hier auch zivilgesellschaftliche Initiativen,
                                                        entstanden. Zum Beispiel           zum Beispiel von Stiftungen, die junge Menschen mit Migra-
                                                        weckt das Hamburger Modell*        tionshintergrund auf ihrem Weg in den pädagogischen Beruf
                                                        mit seinen frühen Sprachtests      unterstützen.
                                                        und anschließender Förderung       E&W: Sie haben unlängst gefordert, den Begriff der individu-
                                                        Hoffnungen. Allerdings fehlt       ellen Förderung zu „entzaubern“. Was meinen Sie damit?
                                                        hier noch eine bundesweite         Maaz: Ich finde individuelle Förderung sehr wichtig. In Dis-
                                                        Koordinierung der Aktivitäten.     kussionen wird der Ausdruck aber leider nur als Worthülse
                                                        E&W: Bildungserfolg und das        benutzt. Zum einen müssen wir die Lehrkräfte dazu auch in
                                                        Erlernen von Grundkompe-           die Lage versetzen, also ihnen Zeit geben, sich um den Lerner-
                                                        tenzen sind bei Migrantinnen       folg des jeweiligen Kindes individuell zu kümmern. Zum ande-
                                                        und Migranten ähnlich wie          ren darf man der Öffentlichkeit beziehungsweise den Eltern
                                                    Foto: Tom Baerwald für DIPF

                                                        bei jungen Deutschen extrem        nicht suggerieren, dass sich damit alle Probleme auf einmal
                                                        abhängig von ihrer sozialen        lösen ließen. Wir brauchen eine flächendeckende Umsetzung
                                                        Herkunft. Die Zahl der Schul-      eines individuell fördernden Unterrichts. Wichtig ist dabei,
                                                        abgängerinnen und Schulab-         zunächst Rückstände in den Basiskompetenzen zu kompen-
                                                        gänger ohne Hauptschulab-          sieren. Ziel muss es aber sein, alle Kinder auf mehr als nur das
Prof. Kai Maaz, Bildungsforscher beim Deutschen         schluss steigt nach Jahren des     Grundniveau zu bringen.
Institut für Internationale Pädagogische Forschung      Rückgangs wieder leicht an,
(DIPF), Sprecher der Autorengruppe des Nationa-         ebenso die Zahl junger Men-        Interview: Karl-Heinz Reith,
len Bildungsberichts von Bund und Ländern               schen, die im nicht unumstrit-     freier Journalist
                                                        tenen Übergangssystem zur
                                                        beruflichen Bildung landen.
                        Maaz: Für gelungene Integration gibt es keine Patentrezepte.       *Das Hamburger Modell bündelt Maßnahmen der Sprachför-
                        Klar ist aber, dass sprachliche Kompetenzen eine Grundvor-         derung sowohl für Kinder und Jugendliche mit Migrationshin-
                        aussetzung sind. Je älter Kinder und Jugendliche sind, desto       tergrund als auch für gleichaltrige deutschstämmige Mädchen
                        herausfordernder wird ihre Integration. Ein 18-Jähriger be-        und Jungen mit Schwierigkeiten in der Sprachentwicklung
                        nötigt eine andere Unterstützung als ein sechsjähriges Kind.       – von der Kita bis zur Berufsbildung. Die frühe Diagnostik ist
                        Eine frühe Diagnose, gefolgt von einer durchgängigen sprach-       systematisiert, eine höhere Verbindlichkeit und Berichtspflicht
                        lichen Förderung in allen Schulfächern sowie eine integrati-       von Schulen und Behörden vorgeschrieben.

       Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
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                                                                                         Comicreportagen
                                                                         fremden Land

                                                                                         über den Neuanfang in
                                                                                         einem fremden Land
                                                  den Neuanfang in einem

n

                                                                                                                 Alphabet des Ankommens
                                                                                                                 Comicreportagen über den Neuanfang
                           · Comicreportagen über

                                                                                                                 in einem fremden Land
                                                                                                                 Zwölf Reportagen von Journalistinnen und Journalisten und
    Alphabet des Ankommens

                                                                                                                 Zeichnerinnen und Zeichnern aus zehn verschiedenen Ländern
                                                                                                                 208 Seiten · Bestell-Nr. 3984 · 4,50 Euro
                                                                                                                 www.bpb.de/abc-ankommen
                                                                                                                 Weitere Informationen zum Projekt und Arbeitsblätter für
                                                                                                                 den Unterricht: www.bpb.de/alphabet-des-ankommens
                                                               Zeitbilder

                                                                                                                 Weitere Informationen und Unterrichtsmaterialien zum
                                                                                                                 Themenfeld Flucht und Migration unter: www.bpb.de/flucht
16 ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND

                                                                                                   Wer die Förderklasse des
                                                                                                   Gertrud-Bäumer-Berufs-
                                                                                                   kollegs (GBBK) in Duisburg
                                                                                                   erfolgreich durchlaufen
                                                                                                   hat, wechselt in den
                                                                                                   Regel­unterricht. Doch
                                                                                                   dann gibt es neue Hürden.
    Fotos: Bert Butzke

                         Jede Stunde 20 neue Begriffe
                         // Damit sie an berufsbildenden              um das Deutschlernen geht? Ganz ein-         Schneider berät Schulen im Regierungs-
                         Schulen nicht scheitern, brauchen            fach. Lehrerin Angela Ronge vermittelt       bezirk Düsseldorf, wie dieser Unterricht
                         junge Geflüchtete viel Unter-                darin auch Vokabeln wie „Bleistift“, „Por-   aussehen sollte.
                         stützung. Von sprachsensiblem                trät“ oder „Horizontlinie“. Zugleich üben    Darum kümmert sich auch Jan Boland
                         Fachunterricht profitieren auch              die jungen Einwanderer die Alltagsspra-      von der Landesweiten Koordinierungs-
                         alle anderen Schülerinnen und                che – untereinander. „Als Brücke zwi-        stelle (LaKI) in Dortmund, die die 54
                         Schüler. //                                  schen ihnen gibt es nur Deutsch“, sagt       Kommunalen Integrationszentren in
                                                                      die 29-jährige Lehrerin.                     Nordrhein-Westfalen (NRW) berät und
                         Mit ihrem Selbstporträt ist sie nicht        Wer die Förderklasse erfolgreich durch-      begleitet. Lehrkräfte sollten überlegen,
                         zufrieden. „Die Nase ist ein bisschen        laufen hat, wechselt in den Regelunter-      wo in Fachtexten sprachliche Hürden
                         dick“, findet Esranur aus der Türkei. Die    richt.                                       sind und verschachtelte Sätze oder
                         16-Jährige greift zum Radiergummi. Ihr                                                    komplizierte Formulierungen gestrichen
                         Mitschüler Osasere aus Nigeria übt der-      Hürden in Fachtexten                         werden könnten, sagt er. Außerdem
                         weil perspektivisches Zeichnen: dicke        Viele Schülerinnen und Schüler stehen        rät Boland, selbst Berufsschullehrer,
                         Blockbuchstaben, die das Wort Jesus          dann vor neuen Hürden: Jedes Fach,           Kollegien an berufsbildenden Schulen,
                         ergeben. „Ich bin ein Christ“, erklärt er.   ob duale Ausbildung, Berufsfach- oder        „sprachsensible“ Arbeitsblätter zu er-
                         Und was „Vogelperspektive“ bedeutet,         Fachoberschule, hat ein eigenes Voka-        stellen. Auch Vokabellisten seien nütz-
                         weiß Osasere inzwischen auch.                bular. „In Biologie werden pro Unter-        lich, betont der 37-Jährige: Davon pro-
                         Kunstunterricht in der „Internationalen      richtsstunde 20 neue Begriffe vermit-        fitierten nicht nur Zugewanderte. Denn
                         Förderklasse“ am Gertrud-Bäumer-Be-          telt“, erklärt Erik Schneider, Lehrer für    auch viele Jugendliche ohne Migra­
                         rufskolleg (GBBK) in Duisburg. An einem      Deutsch und Biologie am GBBK. „Wer           tionshintergrund verstünden Fachtexte
                         langen Tisch sitzen 14 Schülerinnen und      nur 2 Prozent davon nicht kennt, hat         nicht: „Sprachsensibler Unterricht tut
                         Schüler aus zugewanderten Familien,          Schwierigkeiten, einen Fachtext zu ver-      allen gut.“ Allerdings hätten viele Fach-
                         deren Deutsch für den Regelunterricht        stehen“, so der 52-Jährige. Erforderlich     lehrkräfte Vorbehalte, räumt Boland ein
                         nicht ausreicht. Warum Kunst, wenn es        sei „sprachsensibler Fachunterricht“.        – nach dem Motto: „Geh mir weg mit

       Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND                                  17

Sprache.“ Dann sei Überzeugungsarbeit                                                   sich zurückzuziehen: „Zum Lernen brau-
zu leisten. „Unterrichtsmaterial kann                                                   che ich Ruhe.“
mit wenigen Handgriffen sprachsensi-                                                    Welche Rahmenbedingungen sind nötig,
bel weiterentwickelt werden“, betont                                                    damit Zugewanderte eine berufliche Aus-
er. Es gehe auch um Haltungsfragen:                                                     bildung erfolgreich durchlaufen können?
„Bin ich bereit, meine Lehre so zu ge-                                                  Damit befasste sich auch die GEW bei ih-
stalten?“ Sprachsensibler Unterricht sei                                                rem Gewerkschaftstag 2017 in Freiburg
zwar an der Mehrzahl der berufsbilden-                                                  im Breisgau.** Von „zentraler Bedeu-
den Schulen in NRW ein Thema. Doch                                                      tung“ seien die berufsbildenden Schulen.
es brauche Zeit, „um dessen Vorteile                                                    Auch die Bildungsgewerkschaft macht
hervorzuheben“.                                                                         sich für eine „sprachsensible Gestaltung
                                                                                        der Abschlussprüfungen“ sowie entspre-
Ein Drittel in Ausbildung                                                               chende Fortbildungsangebote für Lehr-
Auf die „enorme Bedeutung kontinu-         Schülerin Esranur im Kunstunterricht der     kräfte stark. Zudem müsse die maximale
ierlicher Sprachförderung“ verweist        internationalen Förderklasse am GBBK.        Klassengröße in der Ausbildungsvorberei-
auch eine Studie, die das Bundesinstitut   Warum Kunst, wenn es ums Deutschler-         tung bei zwölf Schülerinnen und Schülern
für Berufsbildung (BIBB) und die Bun-      nen geht? Weil nicht nur Vokabeln wie        liegen, und es brauche viele Betriebsprak-
desagentur für Arbeit (BA) in Auftrag      „Bleistift“ gelernt werden, sondern auch     tika. Ebenfalls wichtig für den Bildungs-
gegeben haben.* BIBB und BA wollten        Alltagssprache geübt wird.                   erfolg: ein gesicherter Aufenthaltsstatus
2016 wissen: Was wurde aus jenen Ju­                                                    „bis zum Abschluss einer Berufsausbil-
gendlichen nichtdeutscher Staatsange-                                                   dung und anschließender mindestens
hörigkeit, die bei der BA als Bewerber     tionalen Förderklasse zugeteilt. „Dort       dreijähriger Berufsausübung“.
für eine duale, eine schulische Aus-       habe ich Umgangssprache gelernt“,
bildung oder eine Weiterbildung ge-        erzählt der 20-Jährige. 2017 absolvier-      Matthias Holland-Letz,
meldet waren? Ergebnis: Immerhin 31        te er ein Jahrespraktikum in einer Kli-      freier Journalist
Prozent der jungen Geflüchteten hatten     nik, drei Tage pro Woche. Dort stand
eine duale Ausbildung begonnen. Und        Mohammad vor neuen Sprachbarrie-
welche Faktoren führen dazu, dass der      ren. „Blutdruck, Blutzucker oder Pflas-      *Stephanie Matthes, Verena Eberhard
Einstieg in die berufliche Ausbildung      ter – davon hatte ich noch nie gehört.“      u. a.: „Junge Geflüchtete auf dem Weg
gelingt? Zu nennen sind laut BIBB und      Er war gezwungen, schnell zu lernen.         in Ausbildung. Ergebnisse der BA/BIBB-
BA „insbesondere praktische Erfahrun-      „Wenn ich zu den Patienten gehe, muss        Migrationsstudie 2016“, Bonn 2018.
gen im Betrieb“, etwa durch Praktika;      ich mit ihnen sprechen.“ Heute besucht       Download:
außerdem die „individuelle Betreuung       Mohammad die Abschlussklasse der             bit.ly/bibb-migrationsstudie2016
durch Mentoren bzw. Mentorinnen“.          Fachoberschule, Schwerpunkt Gesund-          **Beschluss 3.7 des 28. GEW-Gewerk-
Keine Rolle spielten hingegen berufliche   heit. Sein ehrgeiziges Ziel: „Ich will Me-   schaftstages: „Bildung in der Migrations-
Erfahrungen aus dem Herkunftsland.         dizin studieren.“                            gesellschaft – Forderungen zum Bereich
Und: Auch jene, die einen Ausbildungs-     Lehrer und Sprachexperte Schneider           berufliche Bildung und berufsbildende
platz gefunden hatten, äußerten „gro-      nennt weitere Faktoren, damit Ge-            Schulen“: www.gew.de/beschluss-3-7-pdf
ßen Unterstützungsbedarf“.                 flüchtete am Berufskolleg klarkommen.        Konzepte und Materialien von Josef
In Duisburg treffen wir Mohammad.          Wichtig sei, dass das häusliche Umfeld       Leisen, Professor für Didaktik der
2015 floh er von Syrien nach Deutsch-      stimmt. Wer in einer Sammelunterkunft        Physik, Uni Mainz (em.):
land, am GBBK wurde er der Interna-        leben muss, habe keine Möglichkeiten,        www.sprachsensiblerfachunterricht.de

                                                                                                           0800 - 8664422
                                                                                                                            Mehrfachgeneralagentur Finanzvermittlung
                                                                                                                            Andreas Wendholt
                                                                                                                            Prälat-Höing-Str. 19 · 46325 Borken-Weseke

                                                                                                          Erziehung und Wissenschaft | 12/2018
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