Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland - Pfade der Veränderung - Ergebnisse der Arbeit der Expertenkommission Arbeits- und ...

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Arbeits- und Lebensperspektiven
in Deutschland –
Pfade der Veränderung
Ergebnisse der Arbeit der Expertenkommission
Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland
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Vorwort                                                                       6

1. Präambel                                                                   8

2. Status quo: Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland               14
     2.1 Globale Megatrends als treibende Kräfte                            14
     2.2 Zentrale Herausforderungscluster                                   16
     2.3 Blick in die Zukunft                                                21

3. Zukunftsszenarien für das Jahr 2025                                       24
    3.1 Szenario A: Globaler Wettbewerb, lokale Eigenwelten                 24
    3.2 Alternativszenario B: Gelähmte Gesellschaft, schlechte Aussichten   29

4. Zentrale Pfade der Veränderung für die Arbeits- und Lebenswelt           34
     4.1 Für ein neues Verständnis von Arbeit                               35
     4.2 Für die konsequente Weiterentwicklung der solidarischen
          Gesellschaft                                                       46
     4.3 Für eine Entwicklung der Bildung zur Befähigung                    54
     4.4 Ausblick: Den Wandel als Chance begreifen                          58

5. Potenziale und Chancen                                                   62

Literatur                                                                    66

Mitglieder der Expertenkommission Arbeits- und Lebensperspektiven            70

Anhang                                                                       78

Impressum                                                                    82

                                                                                      5
Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland - Pfade der Veränderung - Ergebnisse der Arbeit der Expertenkommission Arbeits- und ...
Vorwort

Wenn man Menschen vor zehn Jahren gefragt hätte, wie sie sich
die Welt von heute vorstellen, was wären die Antworten gewe-
sen? Hätten sie sich die technologischen, wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Entwicklungen so ausgemalt? Noch schwieri-
ger gestalten sich wohl Antworten auf die Frage, wie wir in Zu-
kunft leben und arbeiten werden. Denn: Unsere Welt befindet
sich im Umbruch.

Wir befinden uns in einer neuen Zeitenwende. Daher können
wir zwar sagen, was in den vergangenen zehn Jahren gesche-
hen ist, aber nicht vorhersehen, was in zehn Monaten oder viel-
leicht zehn Wochen passieren wird. Immer öfter zeigt sich, dass
Zahlenreihen oder Erfahrungen der Vergangenheit nicht einfach
fortgeschrieben werden dürfen. Bei aller Unberechenbarkeit der      davon allein im Nahen Osten zehn Millionen Menschen auf der
Zukunft: Menschen brauchen einen Kompass, der ihnen in Zei-         Flucht sind? Kann eine Weltengemeinschaft dem wachsenden
ten des Wandels Orientierung und Halt geben kann.                   Druck von Terror standhalten?

Eine Feststellung besitzt dabei für zukünftige Ereignisse Gültig-   Gleichzeitig hält die Finanz- und Wirtschaftskrise die Welt und
keit: Es gibt nicht mehr nur die eine Lösung. Ob als Person oder    Europa weiterhin in Atem. Betrachten wir die Entwicklung auf
Organisation – man sollte auf viele Eventualitäten vorbereitet      den nationalen und globalen Arbeitsmärkten, so sind insbeson-
sein. Denn schon in den vergangenen zwei Jahren haben weitrei-      dere die Arbeitsplätze in den Unternehmen gravierenden techni-
chende Veränderungen die Gesellschaft geprägt. Auslöser sind        schen Veränderungen unterworfen. Studien besagen, dass ca. 50
neben der demographischen Entwicklung die Globalisierung            Prozent der Berufe in den nächsten zehn Jahren aufgrund neuer
und vor allen Dingen der technologische Wandel.                     technischer Lösungen wegfallen könnten. Werden aber genü-
                                                                    gend neue Berufe und Arbeitsplätze entstehen?
Wie reagiert die Politik darauf, dass man sich auch in Europa
Sorgen um den Frieden machen muss – angesichts der Brand-           Diese Fragen stehen nicht für sich allein. Sie gehören in einen
herde im Nahen Osten, in der Ukraine, auf dem Balkan und der        umfassenden Kontext, dessen bestimmendes Moment die Koope-
weltweit fast 450 Kriege und Bürgerkriege? Wie gefährdet sind       ration und das Verständnis zwischen den Menschen und Kultu-
der Zusammenhalt von Gesellschaften und die Solidarität unter       ren ist: Wie verändern Globalisierung, Demographie und Tech-
den Menschen, wenn 60 Millionen Menschen weltweit und               nologie die kulturelle Identität einer Gesellschaft? Unser Leben

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Vorwort

und unsere Arbeit als Teil unseres Lebens und als bestimmen-          Vor etwas mehr als zwei Jahren hat sich die Expertenkommis-
des Element einer modernen Gesellschaft werden sich verän-            sion „Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland“ zum ers-
dern. Flexibilität und Mobilität, Heterogenität und Komplexität       ten Mal in Berlin getroffen. Die Kommission hat sich mit vielen
dominieren unser Leben. Aber werden wir sie meistern kön-             Facetten dieser Veränderungen eingehend beschäftigt:
nen? Sind Deutschland und Europa darauf vorbereitet? Wie kön-
nen wir in unseren Gesellschaften den Zusammenhalt sowie ver-         • W
                                                                         elche Visionen auf der Basis belastbarer Szenarien lassen
lässliche Lebens- und Arbeitsperspektiven gestalten? Antworten          sich für die Zukunft unserer Gesellschaft entwickeln?
fallen schwer.
                                                                      • W
                                                                         ie flexibel darf unsere Arbeitswelt sein und welche Folgen
Kein Land, kein Unternehmen und kein Mensch kann diese He-              hat das für den Einzelnen und unsere Gesellschaft?
rausforderungen allein meistern. Daher braucht es internatio-
nale, nationale und lokale Gemeinschaften. Wir brauchen Lösun-        • W
                                                                         ie muss eine zukunftsfähige Führung in Unternehmen und
gen und Vorbilder, die den Menschen in diesen unsicheren Zeiten         Gesellschaft auf die Herausforderungen reagieren?
Orientierung und Halt sowie ihren Gefühlen und Werten eine Art
Heimat geben. Wir brauchen eine Perspektive für den Menschen,         • W
                                                                         elche Potenziale bergen Bildung und Teilhabe für die Zu-
die Zuversicht in seine Fähigkeiten und Talente vermittelt.             kunft von Menschen und Gesellschaften?

Jede Gesellschaft trägt Verantwortung gegenüber ihren Bür-            Die Expertenkommission hat das Bild einer Werte schaffenden
gern. Viele Menschen haben Zukunftsängste und leben in Unsi-          Gesellschaft entwickelt und beschrieben. Das stimmt zuversicht-
cherheit. Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sind gefordert,   lich. Es ist nun zu hoffen, dass die Empfehlungen und die Ar-
Verantwortung für existenzsichernde, humane Arbeitsplätze zu          beitsweise der Mitglieder, nämlich mit- und voneinander zu ler-
übernehmen, auf die Vielfalt von Lebensentwürfen zu reagieren         nen, Zustimmung für eine positive Gestaltung der Lebens- und
und die Potenziale des Ehrenamtes in der Zivilgesellschaft zu         Arbeitsperspektiven in unserem Land erfahren. Allen Beteiligten
stärken. Unternehmen sind gefordert, soziale Verantwortung zu         an der Arbeit der Kommission gilt mein ganz besonderer Dank.
übernehmen. Und gleichzeitig gilt es, den Menschen ihre Eigen-
verantwortung bei der Gestaltung der eigenen Lebensentwürfe           Liz Mohn
bewusst zu machen.                                                    Stellv. Vorsitzende des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung

                                                                                                                                    7
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1. Präambel

Unsere Zukunft nachhaltig zu gestalten, ist heute das übergeord-     sowie nach den gegenwärtigen Lebens- und Arbeitsperspektiven
nete gesellschaftspolitische Handlungsziel und eine Herausfor-       der Menschen gestellt.
derung sowohl auf globaler als auch auf lokaler Ebene. Regionale
Konflikte strahlen weltweit aus und hinterlassen auch in Europa      Doch längst hat sich unsere Gesellschaft in Individualgesell-
ihre Spuren; beispielhaft sei hier nur die bisher nicht gelöste      schaften zerteilt. Und im globalen Wettbewerb fordern Commu-
Problematik im Umgang mit den Flüchtlingsströmen genannt.            nities of Interest unsere nationale Solidargemeinschaft heraus.
                                                                     Je nach Standpunkt wird die Verantwortung für die Gestaltung
Die Gestaltungsräume sind vieldimensional und nicht zuletzt          einer lebenswerten Zukunft unterschiedlich adressiert: „Die Poli-
durch die Globalisierung komplexer geworden. Megatrends wie          tik muss die richtigen Entscheidungen treffen.“ „Jeder ist selbst-
der demographische Wandel, die Digitalisierung und soziale           verantwortlich für sein Glück.“ „Es geht nicht nur ums Geldver-
Ungleichheit verstärken den Handlungsdruck. Die moderne Ar-          dienen, Unternehmen müssen mehr Verantwortung zeigen.“
beitsgesellschaft befindet sich in einem kontinuierlichen Wand-
lungsprozess. Das Ende der Normalarbeitsverhältnisse, die            Unterschiedliche Wahrnehmungen, unterschiedliche Präferen-
Zunahme prekärer Lebenslagen, Flexibilisierung und Mobilisie-        zen und Werte, auch zwischen den Generationen: Es wird viel dis-
rung von Arbeit, kreative Ökonomie und Wissensgesellschaft           kutiert über sich wandelnde Lebensperspektiven und -wünsche.
sind einige der Zuschreibungen, die im öffentlichen Diskurs
über die Zukunft der Arbeit im Vordergrund stehen. Was früher        Welche Verantwortung tragen Unternehmen in diesem Prozess?
Kontinuität, Stabilität und Stolz auf die eigene Arbeit ausdrückte   Sie beeinflussen mit ihren Produkten und Dienstleistungen
und den Wert des Einzelnen in der Gesellschaft erst definierte –     sowie mit der Art und Weise, wie sie diese herstellen und erbrin-
der langfristig sichere und feste Vollzeitjob – scheint heute zum    gen, auf vielfältige Weise das Leben der Menschen in unserer
Auslaufmodell zu werden.                                             Gesellschaft und die Umwelt. Unternehmen tragen daher Verant-
                                                                     wortung für ihr Tun – nicht nur für die ökonomischen, sondern
Ausgelöst durch neue Technologien, neue Arbeits-, Produk-            auch für die sozialen und ökologischen Auswirkungen ihres
tions- und Kommunikationsprozesse verlieren viele Menschen           Handelns. Vor allem in ihrer Funktion als Arbeitgeber setzen
die Orientierung und hinterfragen die bisherigen gesellschaft-       sie wichtige Impulse für eine soziale und gerechte Gesellschaft.
lichen Werte. Immer wieder werden in den verschiedenen Dis-
kussionsforen Fragen nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft

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Präambel

Unternehmen agieren nicht losgelöst von der Gesellschaft – er-      Vor diesem Hintergrund hat die Bertelsmann Stiftung im Jahr
folgreiches Wirtschaften findet nicht im luftleeren Raum statt.     2012 die Expertenkommission „Arbeits- und Lebensperspekti-
Um langfristig erfolgreich zu sein, sind Unternehmen auf eine       ven in Deutschland“ ins Leben gerufen.
gute Infrastruktur, gute Bildungssysteme, soziale und politische
Stabilität angewiesen. Umgekehrt ist eine intakte Gesellschaft      Die Diskussionen und Arbeitspapiere dieser Kommission bilden die
auf erfolgreiche Unternehmen angewiesen: Sie schaffen Arbeits-      Grundlage für den vorliegenden Bericht. Mit ihm bietet die Bertels-
plätze, zahlen Steuern, bilden junge Menschen aus und engagie-      mann Stiftung allen Interessierten einen Diskussionsansatz für die
ren sich für das Gemeinwesen.                                       zukünftige Gestaltung unserer Arbeits- und Lebensbedingungen.

Wir sind daher der Ansicht, Unternehmen können und müssen           Zahlreiche Themen formen die Arbeits- und Lebensperspekti-
eine aktive Rolle übernehmen bei der Gestaltung einer nachhal-      ven in Deutschland. Die von uns beschriebenen „Pfade der Ver-
tigen gesellschaftlichen Entwicklung.                               änderung“ folgen prägenden Herausforderungen unserer Gesell-
                                                                    schaft: Wie entwickeln wir ein neues Verständnis von Arbeit?
Die individuellen Leistungsbeiträge von Unternehmen, wie etwa       Wie entwickeln wir die solidarische Gesellschaft weiter? Welche
nachhaltige Produktionsverfahren, anständige Arbeitsbedingun-       Bedeutung hat Bildung bei all dem?
gen oder Investitionen in das Gemeinwesen, können dabei wir-
kungsvoll durch gemeinsame Initiativen mit Politik, Zivilgesell-    Auf den folgenden Seiten erfahren Sie zunächst mehr über die
schaft und Wissenschaft ergänzt werden. Solche Kooperationen        Arbeitsweise der Kommission. Inhaltlich beginnen wir mit einer
bündeln die Ressourcen und Expertisen öffentlicher und privater     Beschreibung des Status quo der Arbeits- und Lebensperspekti-
Akteure auf regionaler, nationaler, europäischer oder transnatio-   ven. Im darauf folgenden Kapitel zeigen zwei Szenarien mögli-
naler Ebene. Sie richten ihr Handeln darauf aus, gemeinsam ge-      che Entwicklungen auf. Das Kapitel „Zentrale Pfade der Verände-
sellschaftliche Herausforderungen zu meistern.                      rung für die Arbeits- und Lebenswelt in Deutschland“ versucht,
                                                                    mögliche Wege einer „guten“ Entwicklung zu skizzieren. Wir
Alle gesellschaftlichen Akteure sind gefordert, zur Sicherung       haben mit dem Pfadbegriff ein Bild gewählt, das deutlich machen
der Trag- und Leistungsfähigkeit unserer ökonomischen, sozia-       soll: Es gibt nicht nur einen Weg. Und es sind immer mehrere,
len und ökologischen Systeme beizutragen – die Politik ebenso       die sich auf den Weg machen müssen, um Veränderungen zu er-
wie die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft.                       zielen und zu einem gemeinsamen Ziel zu kommen.

                                                                                                                                     9
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Präambel

Die Inhalte dieses Berichts bilden nicht die gemeinsame Mei-           sich auf die Themen „Flexibilisierung der Arbeitswelt“, „Sozi-
nung der Mitglieder der Kommission ab und sind auch nicht              ale Teilhabe“ sowie „Zukunftsfähige Führung in Organisationen
als das geschlossene Abbild der Arbeit der Kommission zu ver-          und Gesellschaft“ fest. Zum Ende der Kommissionarbeit wurden
stehen. Sie sind eine Synthese verschiedener Schritte und For-         die Kernergebnisse der Themenfokussierung wieder in den Re-
mate, mit denen wir gearbeitet haben und spiegeln daher nicht          ferenzrahmen der Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutsch-
zwangsläufig die Auffassung der beteiligten Personen und Ins-          land eingefügt.
titutionen wider.
                                                                       In der zweiten Phase der Arbeit der Expertenkommission (April
                                                                       2013 bis Mai 2014) standen die drei themenspezifischen Sitzun-
Zur Arbeitsweise der Expertenkommission                                gen im Mittelpunkt. Sie folgten dem jeweils gleichen strukturel-
                                                                       len Muster aus einem thematischen Input in Form eines zuvor
Der vorliegende Bericht fasst die zentralen Ergebnisse der Arbeit      verfassten Diskussionspapiers, das in der Sitzung diskutiert,
der Expertenkommission im Zeitraum von November 2012 bis               präzisiert und angereichert wurde. Danach erfolgte die Erstel-
Februar 2015 zusammen. Die Arbeit der Kommission unterteilte           lung eines Berichts an die Kommission auf Basis des Diskussi-
sich in drei Phasen (siehe auch Abbildung 1):                          onspapiers und der Sitzungsergebnisse. Für die beiden Sitzun-
                                                                       gen zu den Themen „Flexibilisierung der Arbeitswelt“ sowie
• Phase 1: Näherung an das Themenfeld und Strukturierung               „Zukunft der Führung“ übernahmen Mitglieder der Kommission
                                                                       die inhaltliche Vorbereitung.
• Phase 2: Thematische Fokussierung und Vertiefung
                                                                       Auf diese Weise entstanden die Berichte „Flexible Arbeitswel-
• P
   hase 3: Entwickeln von Zukunftsbildern und Identifizieren          ten“ (Eichhorst und Tobsch 2014) und „Zukunftsfähige Füh-
  von Handlungsfeldern                                                 rung“ (Gebhardt et al. 2015). Für die Themensitzung zur sozia-
                                                                       len Teilhabe liegt das bisher unveröffentlichte Diskussionspapier
Mit ihrer Aufgabe, die Arbeits- und Lebensperspektiven in              „Die Einbeziehung der Ausgeschlossenen“ (Bude 2013) vor. Alle
Deutschland zu analysieren, sah sich die Expertenkommission            Unterlagen sind diesem Bericht beigefügt oder stehen unter
einem Themenfeld geradezu maximaler Breite gegenüber. Zu               www.bertelsmann-stiftung.de/de/Arbeitswelt als Download zur
Beginn der Arbeit der Kommission standen somit die Näherung            Verfügung.
an das Thema und seine Strukturierung im Vordergrund. Dafür
wurde im ersten Schritt das Positionspapier „Gestaltungsräume          Für die Zusammenführung der in Phase 2 erarbeiteten Ergeb-
im Zeitalter der Komplexität (Patscha et al. 2013) erstellt, das als   nisse und die Einordnung in den größeren Themenkomplex der
Grundlage für die Diskussion des thematischen Rahmens wäh-             Arbeits- und Lebensperspektiven entschied sich die Kommis-
rend der konstituierenden Sitzung der Expertenkommission im            sion für die Durchführung eines Szenario-Prozesses. Unter Ein-
November 2012 diente. Die Kommission kam zu dem Schluss,               bindung aller Mitglieder der Kommission wurden mögliche Ent-
dass für die weitere Bearbeitung des Themenfelds eine Fokus-           wicklungsrichtungen der Einflussfaktoren für die Arbeits- und
sierung auf ausgewählte Themen unerlässlich war und legte              Lebensperspektiven diskutiert und darauf aufbauend alterna-

10
Präambel

Abbildung 1: Überblick der Arbeit der Expertenkommission

     Arbeitsweise und Ergebnisse der Expertenkommission | Sitzungen, Arbeitspapiere und Berichte

     Konstituierende Sitzung | November 2012                                  Positionspapier „Gestaltungsräume im Zeitalter
                                                                              der Komplexität“
     Themensitzungen
                                                                              Bericht an die Kommission „Flexible Arbeitswelten“
     1. Flexible Arbeitswelten | April 2013
                                                                              Diskussionspapier„Die Einbeziehung der Ausgeschlossenen“
     2. Soziale Teilhabe | Januar 2014
                                                                              Bericht an die Kommission „Zukunftsfähige Führung“
     3. Zukunftsfähige Führung | Mai 2014

     Sitzung zu den Szenarien | November 2014                                 Entwurfsfassung Szenarien

     Abschließende Sitzung | Februar 2015                                     Entwurfsfassung Abschlussbericht

     Abschlussbericht

Quelle: eigene Darstellung

tive Zukunftsbilder für die Arbeits- und Lebenswelt in Deutsch-         richt der Bertelsmann Stiftung. Die enthaltenen Aussagen stellen
land entwickelt. Zwei der entwickelten Szenarien sind Teil die-         nicht notwendigerweise die Meinung jedes einzelnen Mitglieds
ses Berichts (siehe Kapitel 3). Auf ihrer Sitzung im November           der Expertenkommission dar. Ergänzt werden die Inhalte die-
2014  identifizierte die Kommission auf Basis der Szenarien zen-        ses Berichts durch Kommentare der Mitglieder der Kommis-
trale Pfade der Veränderung unserer Arbeits- und Lebenspers-            sion und weiterer Experten, die die Arbeit der Kommission un-
pektiven, definierte kritische Handlungsfelder und reicherte sie        terstützt haben.
thematisch an – sie stellen das Kernstück dieses Berichts dar
(siehe Kapitel 4). Im Rahmen ihrer abschließenden Sitzung dis-          Die Arbeit der Kommission wurde inhaltlich und methodisch
kutierte die Expertenkommission eine Entwurfsfassung des vor-           durch Z_punkt The Foresight Company,  Beratungsunternehmen
liegenden Berichts und sprach inhaltliche Empfehlungen für die          für strategische Zukunftsfragen, begleitet.
weitere Ausarbeitung aus, die ein Redaktionsteam der Kommis-
sion im Nachgang der Sitzung weiter konkretisierte.

Dieser Abschlussbericht über die Arbeit der Expertenkommis-
sion Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland ist ein Be-

                                                                                                                                         11
Status quo: Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland

                                Rita Süssmuth

     Zukunftsfähige Führung: Die Gestaltung                        xen Systemen auf Mikro- und Makroebene, Führen im
     von Führungskompetenzen und -systemen                         Sinne verantwortlichen Denkens. Gerade auch die poli-
                                                                   tischen Entscheider wollen und können sich noch nicht
     Sechs Megatrends bestimmen unsere Arbeits- und Lebens-        dazu durchringen, altes Denken aufzugeben. Aber die
     perspektiven: Globalisierung, Digitalisierung, Demogra-       Zeit drängt, das unverzichtbar Notwendige aufgrund der
     phischer Wandel, Individualisierung, Soziale Disparitäten     von Menschen geschaffenen Bedingungen zu ermöglichen
     und Wandel der Geschlechterrollen. Auf den ersten Blick       und abzuverlangen.
     erscheinen sie wie übermächtige, den Einzelnen überfor-
     dernde Tatbestände mit Gestaltungsanforderungen, die in-      Lernen für alle ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit,
     dividuell wie kollektiv nicht zu leisten sind. Der Versuch,   jedoch erreichen wir einen zu hohen Anteil (25 bis
     die sich aus den Megatrends ergebenden Perspektiven           30 Prozent eines Altersjahrgangs) mit den derzeitigen
     in Form zweier eher offener Szenarien – mit sowohl po-        Maßnahmen noch nicht. Fachspezifisches Lernen, verbun-
     sitiven als auch negativen Auswirkungen – aufzuzeigen,        den mit hohen kognitiven Kompetenzen, erfährt einseitig
     konfrontiert mit der Frage, wer oder was Einfluss auf         positive Wertschätzung. Aber wo bleibt die Bildung, wo
     diese Megatrends nimmt und wie die Ziele und Wert-            der Umgang mit kognitiver Kompetenz in Verantwortung
     entscheidungen lauten.                                        für Mensch und Welt? Wie wird Bildung produktiv für
                                                                   menschliches Handeln genutzt? Wie und wo erfahren
     Die genannten Megatrends sind von Menschen geschaf-           Menschen, die bei aller Individualisierung, Eigenstärke
     fene und ermöglichte Veränderungen, die sowohl mit            und Eigenverantwortlichkeit immer wieder auf andere
     ihren Ziel- und Zweckbestimmungen als auch mit ihren          Menschen angewiesen sind, Beistand und Hilfe?
     unbeabsichtigten Nebenwirkungen in menschlicher Ver-
     antwortung verbleiben. Was für die Erfindung der nuklea-      Die aus der Forschung gewonnene Erkenntnis und das
     ren Energie bis hin zur Atombombe zutrifft, gilt auch hier.   daraus resultierende Wissen für praktisches Handeln in
                                                                   unserer Arbeits- und Lebenskultur bedürfen der breiten
     Diese Megatrends beinhalten neue Chancen und Heraus-          Vermittlung in verständlicher Form. Es kommt immer noch
     forderungen, Arbeitsentlastungen wie Arbeitsbelastungen,      primär auf den Menschen an – auf seine Lernchancen,
     Arbeitsverluste wie neue Arbeitsmöglichkeiten. Sie kon-       seine Lernmotivation und Lernbereitschaft, vor allem auf
     frontieren den Einzelnen und die Gesellschaft mit der dem     seine Bildung, seine Freiheit und Verantwortungsfähigkeit,
     Menschen eigenen Offenheit im Denken und Handeln,             sein ethisches Handeln in einer Welt voller Widersprüche.
     aber auch mit seinen Grenzen, seinen schöpferischen
     Fähigkeiten und der daraus wachsenden Verantwortung.          Aufwachsen und Leben in einer offenen multikultu-
                                                                   rellen Gesellschaft mit Erfahrungen aus unterschied-
     Soll es gelingen, mit den im Menschen angelegten Mög-         lichen Kulturen, Religionen, Lebenspraktiken und Zu-
     lichkeiten produktiv und verantwortlich umzugehen, dann       sammenhalt erfordern Nachdenken und lebenspraktische
     hat das grundlegende Veränderungen für menschliches           Entwürfe, um Vielfalt und Zusammenhalt im Alltag leben
     Lernen und Bildung zur Folge. Das betrifft Führung – ge-      zu können.
     meint sind Selbst- und Menschenführung in hochkomple-

12
Status quo: Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland

In Gesellschaften, die weder die Arbeits- noch die              Aber es geht darüber hinaus. Die Fähigkeit zu führen,
Lebensperspektiven festlegen oder verbindlich voraus-           Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, die
sagen können, wird es umso wichtiger, die Arbeits- und          Produktivität aller zu erhöhen, das ist zugleich eine ge-
Lebensfrage im Hinblick auf das Miteinander in der              samtgesellschaftliche Aufgabe. Ohne die Fähigkeit, sich
Familie und im Freundeskreis, im Betrieb und in der             weiterentwickeln zu wollen, ist es um die Arbeits- und
Öffentlichkeit erörtern zu können.                              Lebensperspektiven in Deutschland schlecht bestellt. Aber
                                                                es lohnt sich und ist unverzichtbar, diese Aufgaben anzu-
Der Umgang mit den digitalen Medien ist eine große              packen. An menschlichem Potenzial fehlt es nicht. Diese
Chance zur Erweiterung unserer Information und Kom-             Aufgabe wurde jedoch zu lange als nicht notwendig und
munikation. Aber diese Medien ersetzen nicht die persön-        überfordernd angesehen. Diese Zeit ist abgelaufen!
liche Kommunikation, den direkten Austausch zwischen
den Menschen.

Die veränderte Welt mit ein Leben lang andauernden
Lernchancen hat bisher noch nicht zu einer verbindlichen
Verankerung im Bildungssystem gefunden. Trotz veränder-
ter Anforderungen an eine selbstständige Lebensführung
im Alter, trotz zu gewinnender Lern- und Teilhabechancen
in allen Altersgruppen. Zudem fehlt es an nachzuholen-
der Grundbildung angesichts 7,5 Millionen sekundärer
Analphabeten.

Weiterbildung, Lernen ein Leben lang, das sind Chancen
und Notwendigkeiten, die keinen zeitlichen Aufschub mehr
vertragen. Sie müssen schnellstens konzeptionell, instituti-
onell und finanziell verankert werden. Bei der Umsetzung
dieser Forderung sind wir konzeptionell weiter vorange-
kommen als in den Finanzierungsnotwendigkeiten.

Die Studie der Bertelsmann Stiftung „Zukunftsfähige
Führung. Die Gestaltung von Führungskompetenzen und
Systemen“ ist zentraler Bestandteil der Arbeits- und
Lebensperspektiven. Sie zeigt die veränderten, sehr an-
spruchsvollen Anforderungen an Führung und Führen
auf. Das ist nicht nur ein Thema der Manager, sondern
aller Unternehmensangehörigen.

                                                                                                                            13
2. S tatus quo: Arbeits- und Lebensperspektiven in
    Deutschland

Was bestimmt die Arbeits- und Lebensperspektiven der Men-              Das alles ist aber nur eine oberflächliche Momentaufnahme und
schen in Deutschland? Wodurch bilden sie sich und was genau            reicht nicht aus, um die Arbeits- und Lebensperspektiven in
beeinflusst sie? Mit Blick auf die zentralen wirtschaftlichen In-      Deutschland hinreichend darzustellen – geschweige denn, mög-
dikatoren steht Deutschland derzeit recht gut da: Aus der globa-       liche Entwicklungen abzuschätzen. Wir müssen darauf schauen,
len Finanz- und Wirtschaftskrise ist die deutsche Wirtschaft re-       was diese Perspektiven beeinflusst und wodurch sich ihre Rah-
lativ stabil hervorgegangen. Auch während der Eurokrise konnte         menbedingungen ändern.
sie sich behaupten. Ihre Innovationskraft ist im internationalen
Bereich zwar nicht absolute Spitze, grundsätzlich aber gut (Cor-
nell University et al. 2014). Die Arbeitslosigkeit ist im langjähri-   2.1 G
                                                                            lobale Megatrends als treibende
gen Vergleich niedrig (Destatis 2015b).                                    Kräfte

Betrachten wir die gesellschaftliche Seite, zeigt sich ein weniger     Die Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland lassen sich
eindeutiges Bild. Zunächst einmal gehört Deutschland zu den            nicht losgelöst von den Entwicklungen im internationalen Um-
sichersten Ländern der Welt. Die Zahl der Gewaltverbrechen ist         feld betrachten. Als größte Nation der EU und als eine der Volks-
seit Jahren rückläufig (BMI 2014). Die soziale Absicherung in          wirtschaften mit den größten Exportvolumen ist Deutschland
Deutschland ist gut, erreicht allerdings keinen internationalen        politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich in hohem Maße
Spitzenplatz mehr (BMAS 2014, bpb 2014). Auch wirken die Kür-          international vernetzt. Trends und Umbrüche in anderen Län-
zungen im Rahmen der Agenda 2010 noch politisch und gesell-            dern beeinflussen auch die deutsche Arbeits- und Lebenswelt.
schaftlich nach. Der öffentliche Aufruhr um die Pegida-Demons-         Den größten Einfluss haben sogenannte Megatrends: stabile,
trationen in großen deutschen Städten offenbarte, dass in Teilen       langfristige Veränderungen, die es in jedem großen Bereich wie
der Bevölkerung eine diffuse Mischung aus politischer Unzu-            Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft gibt. Auf einige Me-
friedenheit und Zukunftsangst existiert. Das damit verbundene          gatrends (und deren Entwicklung) haben deutsche Institutio-
Protestpotenzial wird (möglicherweise auch längerfristig) in un-       nen nur wenig Einfluss. Diese Veränderungen sind starke Trei-
terschiedlichster Form in Politik und öffentlicher Debatte zum         ber und bestimmen entsprechend die Rahmenbedingungen in
Ausdruck gebracht werden.                                              Deutschland.

14
Status quo: Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland

Es gibt aber auch Megatrends, auf die deutsche Akteure unmit-           ted Reality, Sprach- und Gestensteuerung, GPS-Ortung oder
telbar Einfluss nehmen können – hier bestimmen sie also mit,            Haushaltsrobotik sind nur einige Beispiele dafür. Unter-
in welcher Form sich zum Beispiel ein Trend auf die heimische           schiedliche Technologien werden innerhalb eines Netzwer-
Industrie oder Wirtschaft auswirkt. Mit Blick auf ganz Europa           kes verbunden und formen intelligente Umgebungen: Ge-
gibt es zahlreiche Megatrends, die die wirtschaftliche und gesell-      wöhnliche Gegenstände werden auf einmal zu intelligenten
schaftliche Entwicklung beeinflussen (Z_punkt 2013). Für die            Objekten, die alltägliche Prozesse vereinfachen. Immer mehr
Analyse der Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland              Geräte erfassen und produzieren immer mehr Daten, sodass
spielen jedoch sechs Megatrends eine zentrale Rolle:                    die effiziente Auswertung großer Datenmengen wichtiger
                                                                        wird und neue Geschäftsmodelle ermöglicht. Digitalisierte
• G
   lobalisierung: In den letzten drei Jahrzehnten sind weltweit        Unternehmens- und Produktionsprozesse ermöglichen eine
  immer mehr Handelshindernisse verschwunden. Dadurch                   neue Stufe der Automatisierung. Auf individueller Ebene
  konnte sich die globale Wirtschaft in kürzester Zeit stark ver-       verändert sich das Konsum- und Kommunikationsverhalten
  netzen. Als Folge davon wurden und werden Produktionen                durch soziale Netzwerke und virtuelle Unterhaltungswelten
  zunehmend in Länder verlagert, in denen die Produktions-              (ibd.).
  kosten niedrig sind. Das führt zu einer weiteren wirtschaft-
  lichen Spezialisierung einzelner Volkswirtschaften. Getra-         • D
                                                                        emographischer Wandel: In den kommenden Jahrzehnten
  gen durch eine dynamisch wachsende Mittelklasse verlagern            wird die Weltbevölkerung zugleich wachsen und altern. Tat-
  sich die wirtschaftlichen Machtzentren. Die Wertschöpfungs-          sächlich aber erleben nur die Entwicklungs- und Schwellen-
  ketten werden immer fragmentierter und die globalen Kapi-            länder einen Bevölkerungsboom. Die Bevölkerung der Indus-
  talströme verändern sich (Z_punkt 2014).                             trienationen stagniert oder schrumpft sogar. Während diese
                                                                       Entwicklung in den meisten Ländern erst in einigen Jahren
• D
   igitalisierung: Die hohe Innovationsdynamik im Bereich             zu einer spürbaren Herausforderung wird, wirkt sie sich in
  der digitalen Kommunikations- und Informationstechnolo-              Deutschland schon heute merklich auf die Sozialsysteme und
  gien verändert Wirtschaft und Gesellschaft auf vielfältige           den Arbeitsmarkt aus. Zur Illustrierung der Situation: Nur Ja-
  Weise. Internet-Technologien durchdringen immer mehr Le-             pans Bevölkerung ist noch älter als die deutsche. Auch die
  bensbereiche. Neue Dienste und Computeranwendungen                   globalen Migrationsströme werden demographiebedingt wei-
  eröffnen unzählige Möglichkeiten: Telepräsenz, Augmen-               ter zunehmen (ibd.).

                                                                                                                                  15
Status quo: Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland

• I ndividualisierung: Individualisierung bezeichnet die Lösung   Für jeden der genannten Megatrends ließe sich eine (mehr oder
  des einzelnen Menschen aus traditionellen sozialen Bindun-       weniger lineare) Entwicklung in Richtung Zukunft beschreiben.
  gen. Es entstehen neue Freiräume, aber auch neue Abhän-          Veränderungen, die jedoch nur anhand einzelner Trends fort-
  gigkeiten. Individuelle Lebensentwürfe stellen sowohl die        geschrieben werden, berücksichtigen nicht, wie komplex ein-
  traditionellen Familienstrukturen als auch klassische Biogra-    zelne Faktoren tatsächlich wirken können (Bertelsmann Stiftung
  phieverläufe und konventionelle Rollenbilder infrage. Moderne    2012). Trends können sich zum Beispiel gegenseitig abschwä-
  Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichen         chen oder aber verstärken. Gleichzeitig wirkende Veränderungs-
  es zunehmend, leichten Zugang zu sozialen Netzwerken zu be-      prozesse führen zu Entwicklungen, die eine völlig unerwartete
  kommen und sich in Interessengruppen zu organisieren. Die        Richtung nehmen können. Für eine realistische Betrachtung
  Individualisierung erreicht eine neue Stufe (ibd.).              bzw. Prognose ist es somit wichtig, sich auch mögliche Wech-
                                                                   selwirkungen und Schnittstellen von Megatrends genauer an-
• S
   oziale Disparitäten: Die Schere zwischen Arm und Reich öff-    zuschauen.
  net sich weltweit immer stärker. In einem Großteil der Länder
  klaffen Einkommen und Vermögen der verschiedenen Bevöl-          Wir fassen diese integrierte Betrachtung unter dem Begriff He-
  kerungsschichten immer weiter auseinander. Soziale Frag-         rausforderungscluster zusammen. Durch sie lässt sich besser
  mentierung und die Gefahr, in prekäre Lebensverhältnisse ab-     abschätzen, wie verschiedene Trends die komplexen, vernetz-
  zurutschen, beschränken sich dabei längst nicht mehr nur auf     ten Prozesse in den Arbeits- und Lebenswelten in Deutschland
  gering qualifizierte Randgruppen. Die globale Mittelklasse –     beeinflussen.
  die vor allem durch den wirtschaftlichen Erfolg der Schwellen-
  länder wächst – spaltet sich in Gewinner und Verlierer. Auch
  wer zur vermeintlich abgesicherten Mittelklasse gehört, läuft    2.2 Zentrale Herausforderungscluster
  immer stärker Gefahr, in eine soziale Abwärtsspirale zu gera-
  ten. Die Angst vor dem sozialen Abstieg wächst (ibd.).           Global vernetztes Wirtschaften und der demographische Wandel
                                                                   sind die wohl bedeutsamsten Trends für Deutschlands Zukunft.
• W
   andel der Geschlechterrollen: Aufgrund demographischer,        Die wirtschaftliche Entwicklung war im vergangenen Jahrzehnt
  ökonomischer, politischer und kultureller Veränderungen          vor allem geprägt durch eine exportorientierte Wachstumsstra-
  wandeln sich auch die Geschlechterrollen. Die klassische Rol-    tegie deutscher Unternehmen, das Streben nach einer verbesser-
  lenverteilung zwischen Mann und Frau löst sich auf und ver-      ten Wettbewerbsfähigkeit und einer verstärkten europäischen
  liert zunehmend ihre Gültigkeit. Frauen nehmen im Erwerbs-       Integration. Auch in den kommenden Jahren wird die Globali-
  leben eine immer wichtigere Stellung ein, Männer widmen          sierung zentralen Einfluss auf die deutsche Wirtschaft nehmen.
  sich in stärkerem Maße der Kindererziehung. Die traditionel-
  len Geschlechterrollen weichen auf und es entstehen neue         Bereits seit den 1970er Jahren ist der demographische Wan-
  Familien- und Lebensformen. Damit verbunden ist die Forde-       del in Deutschland ein zentrales Thema. Bevölkerungsrückgang
  rung nach Arbeitszeitmodellen, durch die Beruf und Familie       und Überalterung sind heute deutlich zu spüren. Unsere Gesell-
  besser miteinander verbunden werden können (ibd.).               schaft muss sich jetzt damit auseinandersetzen, wie sie die Ein-

16
Status quo: Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland

kommensverteilung zwischen der jüngeren und der älteren Ge-        Stärkere Globalisierung und digitale Vernetzung machen die
neration regelt. Sie wird sich einer zunehmenden Zahl alter,       Entwicklung von Märkten und Marktumfeldern jedoch zuneh-
pflegebedürftiger Menschen annehmen und auch ihre Integra-         mend komplexer, unüberschaubarer und volatiler. Die Unbe-
tionsbereitschaft gegenüber Zuwanderern verbessern müssen.         ständigkeit ergibt sich durch Einflüsse aus gleich mehreren
Auf diese nämlich ist die deutsche Wirtschaft dringend angewie-    Richtungen: Wirtschaftliche Risiken, wie sie sich aus der perio-
sen, wenn nicht mehr ausreichend qualifizierte Fachkräfte aus      disch aufflammenden Euro-Krise, aus der wirtschaftlichen Ab-
der eigenen Bevölkerung zur Verfügung stehen.                      kühlung und aus Instabilitäten in China ergeben (Ma und Mc-
                                                                   Cauley 2014), sind nur ein Faktor. Schwankende Rohstoff- und
Führt man den Einfluss des demographischen Wandels und der         Energiepreise, anfällige Lieferketten sowie politische und mili-
Globalisierung zusammen und analysiert sie im Kontext der          tärische Konflikte kommen hinzu. Insbesondere die Risiken, die
anderen Megatrends, ergeben sich fünf zentrale Herausforde-        sich aus den Konflikten im Nahen Osten und in der Ukraine er-
rungscluster (siehe auch Patscha et al. 2013), auf die wir nach-   geben, könnten zu größeren Brüchen in der wirtschaftlichen Ent-
folgend detaillierter eingehen. Die ersten drei Cluster umfassen   wicklung führen.
Entwicklungen, die vonseiten deutscher Akteure kaum oder gar
nicht beeinflusst werden können. Hier lässt sich auf Entwick-      Die sinkende Berechenbarkeit der Märkte fordert die Unterneh-
lungen nur reagieren. Sie umfassen vor allem Veränderungen         mensführungen heraus. Unternehmen passen sich an, indem sie
im internationalen, ökonomischen, technologischen und demo-        ihre Reaktionsfähigkeit erhöhen. Das tun sie vor allem dadurch,
graphischen Bereich. Die verbleibenden zwei Herausforderungs-      dass sie Abläufe und Strukturen flexibilisieren (Bennett 2014).
cluster beinhalten dagegen gestaltbare Entwicklungen innerhalb     Mehr und mehr Unternehmen reagieren, indem sie auch ihre
der deutschen Arbeitswelt und Gesellschaft.                        Führungskultur und -systeme anpassen (Gebhardt et al. 2015).
                                                                   Eine solche Entwicklung verlangt natürlich, dass sich auch die
                                                                   Erwerbstätigen daran angleichen. Wirtschaftliche Unberechen-
2.2.1 V
       olatile Entwicklungen – Das Ende der                       barkeit hat somit eine Wirkung auf jeden Einzelnen: Die Planung
      Berechenbarkeitsillusion                                     des eigenen Lebens wird weniger berechenbar.

Die Weltwirtschaftskrise 2009 und die seit Jahren andauernde
Euro-Krise markieren das Ende einer fast drei Jahrzehnte wäh-      2.2.2 F ortschreitende Technologierevolution –
renden Phase relativ stabiler wirtschaftlicher Entwicklungen in          Anfang eines epochalen Umbruchs
der westlichen Welt. Inflationsraten, Wirtschaftswachstum und
die Wechselkursentwicklungen der führenden Industrieländer         Die Geschichte der Industrialisierung ist zugleich die Geschichte
verzeichneten in dieser Phase nur wenige große Schwankun-          der Automatisierung menschlicher Arbeitskraft. Der Mensch
gen. Die makroökonomischen Politikentscheidungen der Re-           wird zunehmend durch Maschinen und Technologien ersetzt.
gierungen und Zentralbanken waren durch Verlässlichkeit und        Nach der Mechanisierung, der arbeitsteiligen Massenproduk-
Kontinuität gekennzeichnet (Coibion und Gorodnichenko 2011).       tion und dem Einzug von Elektrotechnik und Informationstech-
                                                                   nologie spielt auch das Internet in der Produktion eine immer

                                                                                                                                 17
Status quo: Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland

größere Rolle. Die Rede ist von der vierten industriellen Revolu-   ihrer Möglichkeiten, denn die Leistungsfähigkeit der Prozesso-
tion: „Industrie 4.0“ (Kagermann et al. 2011). Softwareintensive    ren dürfte auch in Zukunft weiter zunehmen (Rifkin 2004, Bryn-
Systeme werden in die Produktionsprozesse der Industrie einge-      jolfsson und McAfee 2014). Die Digitalisierung stellt schließlich
bettet. In der Fabrik der Zukunft kommunizieren Maschinen, La-      traditionelle Strukturen und Geschäftsmodelle grundsätzlich in-
gersysteme und Betriebsmittel untereinander, lösen selbststän-      frage; sie leitet einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
dig Aktionen aus und steuern sich gegenseitig.                      Umbruch ein.

Statt über eine zentrale Steuerung (der heutigen Produktionslo-     Neben Bits und Bytes werden aber auch Innovationen aus den
gik entsprechend) sind die einzelnen Produktionsschritte dezen-     Querschnittstechnologien bedeutender für die wirtschaftliche
tral organisiert. Durch die vertikale Vernetzung aller Produkti-    Entwicklung. Der Einfluss von Nano-, Bio-, Neuro- und Informa-
onssysteme mit den betriebswirtschaftlichen Schnittstellen im       tionswissenschaften nimmt stetig zu und erfordert eine weitere
Unternehmen lassen sich neue Optimierungspotenziale erzielen        Spezialisierung der Fachkräfte. Das erhöht den Anspruch an die
– sowohl in ökonomischer als auch in ökologischer Hinsicht. Die     Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems und die Lern-
horizontale Vernetzung von Unternehmenspartnern, die ihre           fähigkeit der Erwerbstätigen (Störmer et al. 2014). Berufliche
Kernkompetenzen bündeln, ermöglichen neue Wertschöpfungs-           Weiterbildung bzw. lebenslanges Lernen sind schon heute für
möglichkeiten und Geschäftsmodelle (Forschungsunion Wissen-         eine erfolgreiche individuelle Berufsbiographie unverzichtbar.
schaft-Wirtschaft 2013).                                            Auch die deutsche Wirtschaft wird durch die Technologierevolu-
                                                                    tion in ihrer Innovationsfähigkeit herausgefordert. Beim Transfer
Nicht nur in der Fertigung wird automatisiert, es trifft auch die   wissenschaftlicher Erkenntnisse hin zu marktfähigen Produkten
Büros. Wurden in der Vergangenheit vor allem mechanische            hinkt sie allerdings im internationalen Vergleich noch hinterher.
und einfache Bürotätigkeiten durch Maschinen ersetzt, wer-          Ein Zeichen dafür ist die niedrige Zahl an Unternehmensgrün-
den mit dem Übergang zur Wissensgesellschaft auch komple-           dern (Sternberg et al. 2014).
xere menschliche Tätigkeiten von neuen Technologien übernom-
men. Die enorme Leistungsfähigkeit von Computern ermöglicht         Sowohl Unternehmen als auch die Menschen müssen sich auf
die Automatisierung von Arbeiten, für die bisher eine langjäh-      die neuen technischen Möglichkeiten einstellen. Dass sich tradi-
rige, oft akademische Ausbildung notwendig war. Immer bessere       tionelle Strukturen auflösen und sich Arbeits- sowie Lebenswel-
Computeralgorithmen verarbeiten immer größere Datenmengen:          ten schneller wandeln, lässt sich nicht ändern. Wandel allerdings
„Big Data“. Entsprechend stark könnte die Wirkung besonders         kann gestaltet und bestmöglich genutzt werden.
auf die Mitte des Arbeitsmarkts sein, wenn diese neuen Tech-
nologien beginnen, Arbeitsplätze zu rationalisieren. Eine Stu-
die schätzt das Rationalisierungspotenzial in den USA innerhalb     2.2.3 B
                                                                           evölkerungsentwicklung – Die
der nächsten zwei Jahrzehnte auf knapp 50 Prozent der heute               unterschätzte Herausforderung
existierenden Jobs (Frey und Osborne 2013). Neu entstehende
Arbeitsplätze sind dabei allerdings nicht einkalkuliert. Die Al-    Die Deutschen werden immer weniger und älter. Ursache dafür
gorithmisierung der Wissensarbeit steht wohl erst am Anfang         sind dauerhaft niedrige Geburtenraten und eine höhere Lebens-

18
Status quo: Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland

erwartung. 2035 wird fast jeder zehnte Einwohner in Deutsch-         kräften, die demographisch bedingt nicht mehr zur Verfügung
land älter als 80 Jahre sein, 2010 waren es nur fünf Prozent der     stehen (Europäische Kommission 2013).
Bevölkerung (UN 2012). Mit Eintritt der Babyboomer-Genera-
tion in das Rentenalter rückt dieser Wandel noch stärker in den      Allerdings gibt es die Möglichkeit, vorhandene Arbeitskräfte-
Fokus. Er ist eine der zentralen Triebkräfte für die gesellschaft-   potenziale zu aktivieren. Zu diesen zählen unter anderem die
liche sowie wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands und be-         längere Erwerbstätigkeit älterer Menschen und eine höhere Er-
trifft alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens: sei es    werbsquote bei Frauen. Die wichtigste Quelle für Arbeitskräfte
bei der barrierefreien Umgestaltung von Wohnräumen bzw. der          liegt jedoch in der Zuwanderung. Die Integration der Migran-
städtischen Infrastruktur; sei es bei der Anpassung der Sozial-      ten wird derzeit in Deutschland regional noch äußerst unter-
versicherungen; sei es in Unternehmen, die vermehrt mit dem          schiedlich bewältigt. Die bestehenden Ansätze müssen weiter-
Fachkräftemangel zu kämpfen haben (insbesondere in ländli-           entwickelt werden, um auf die in den kommenden Jahrzehnten
chen Gebieten), oder sei es bei der Schaffung nachhaltig tragfä-     notwendige Zuwanderung vorbereitet zu sein. Dafür braucht es
higer Konzepte für die Pflege Älterer, die neben einem pflege-       jedoch Einsicht und Bereitschaft, an der es in Deutschland noch
rischen Mindeststandard auch ein gutes Maß an menschlicher           entschieden mangelt.
Zuwendung ermöglichen.

Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung lassen sich durch           2.2.4 V
                                                                            eränderung der Arbeitswelt – Zwischen
Zuwanderung abmildern (BMI 2011). Das zeigt die Entwicklung                Notwendigkeit und Wunsch
der vergangenen Jahre. Infolge der durch die Euro-Krise aus-
gelösten hohen Arbeitslosigkeit in Südeuropa sind die Wande-         Bereits bei den vorangegangenen Herausforderungsclustern ha-
rungsgewinne in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen –          ben wir erfahren, wodurch sich unsere Arbeitswelt wandelt. Ge-
nachdem sie im letzten Jahrzehnt teilweise sogar negativ waren       nannt wurden Globalisierung, der zunehmende internationale
(Destatis 2013). Im Jahr 2013 hatten schließlich 20,5 Prozent der    Wettbewerb sowie neue Möglichkeiten der Kommunikations-
Deutschen einen Migrationshintergrund.                               und Informationstechnologien. Darüber hinaus gibt es aber auch
                                                                     branchen- und betriebsbezogene Faktoren: Arbeitsverdichtung,
Eine Zuwanderung aus den europäischen Staaten allein wird            zeitliche und räumliche Entgrenzung der Arbeit sowie eine hö-
in Zukunft allerdings nicht mehr ausreichen, um freie Arbeits-       here Veränderungsgeschwindigkeit kennzeichnen die Entwick-
plätze zu besetzen. Viele EU-Länder stehen vor ähnlichen demo-       lung in zahlreichen Branchen (Eichhorst et al. 2013, Eichhorst
graphischen Herausforderungen wie Deutschland (Europäische           und Tobsch 2014). Weiter beschleunigt wird diese Entwicklung
Kommission 2011, Eurostat 2011). Anfang 2014 verzeichnete die        durch den Trend zur projektorientierten Arbeitsorganisation
Europäische Union 507 Mio. Einwohner (Eurostat 2014). Die Ent-       und den Wandel von starren Hierarchien zu flachen, partizipati-
wicklung der Erwerbstätigen (20- bis 64-Jährige) in der EU über-     onsorientierten Führungsstilen (Gebhardt et al. 2015). Eine fle-
schritt bereits 2012 mit 307 Mio. ihren Höhepunkt. Durch die         xiblere Arbeitsgestaltung wird dabei auch von den Erwerbstäti-
Überalterung der Gesellschaft sinkt ihre Zahl bis zum Jahr 2030      gen selbst vermehrt eingefordert.
um vier Prozent – das entspricht 13 Mio. potenziellen Arbeits-

                                                                                                                                  19
Status quo: Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland

Die Ansprüche an Arbeit verändern sich. Das betrifft vor allem       doch auch die Möglichkeit, dass dies nicht funktioniert und Kon-
die jüngere Generation, zeigt sich aber auch bei den Älteren.        flikte zunehmen. Diversity Management ist gefragt, aber kein
Immer mehr Erwerbstätige wünschen sich eine bessere Work-            einfaches Unterfangen. Erfolgreiches Diversity Management er-
Life-Balance. Darüber hinaus wird die Frage wichtiger, wie           fordert von den Beteiligten ein hohes Maß an sozialer Kompe-
sinnstiftend die eigene Tätigkeit ist (Störmer et al. 2014). Mehr    tenz (Charta der Vielfalt 2011).
Selbstbestimmung im Job geht mit wachsender Verantwortung
einher, was zum Teil auch unternehmerische Verantwortung be-
inhaltet. Viele Erwerbstätige schätzen die neu gewonnenen Frei-      2.2.5 S oziale Teilhabe – Den Weg in die
heiten. Doch Freiheit und Selbstbestimmung gehen häufig mit                Gesellschaft öffnen
einer höheren Arbeitsbelastung einher. Dort, wo Mitarbeitende
keine Flexibilisierung ihrer Arbeit wünschen, können Verant-         Hohe Einkommensungleichheit ist ein weit verbreitetes Phäno-
wortung und Arbeitspensum belastend und überfordernd wer-            men in Entwicklungsländern. In den letzten Jahrzehnten hat sie
den – bis hin zu ernsten gesundheitlichen Folgen. Ein Zeichen        jedoch auch in den Industrieländern zugenommen, und das zum
dafür sind zum Beispiel die in den vergangenen Jahren gestiege-      Teil sehr deutlich (ILO 2015). Auch in Deutschland ist die Un-
nen Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen wie Depres-         gleichverteilung der Einkommen seit Ende der 1980er Jahre ge-
sionen, Angststörungen usw. (TK 2014). Allerdings ist auch die       stiegen. Zwischenzeitlich ist allerdings eine leichte Trendumkehr
Sensibilität gegenüber Überlastungssituationen und deren Zu-         festzustellen (Grabka et al. 2012, Unger et al. 2013).
nahme gestiegen – und das sogar stärker als die eigentliche An-
zahl der psychischen Erkrankungen. Die deutliche Mehrheit der        Was aber sind die Hintergründe dafür, dass die Einkommen sich
Erwerbstätigen in Deutschland sieht sich ihren Arbeitsaufgaben       zunehmend ungleich verteilen? In Deutschland war der Über-
allerdings gewachsen (Eichhorst und Tobsch 2014).                    gang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft sowohl
                                                                     mit einem Anstieg geringfügiger Beschäftigungen verbunden
So wie unsere Gesellschaft werden auch die Belegschaften vie-        als auch mit einer Abnahme der sozialversicherungspflichtig
ler Unternehmen und Betriebe bunter. Das hat mit dem zuneh-          Beschäftigten (bpb 2013). Immer mehr Erwerbstätige mussten
menden Anteil von Migranten zu tun, aber auch damit, dass            ihr geringes Einkommen durch Sozialleistungen aufstocken, um
mehr Frauen am Arbeitsleben teilnehmen. Wo früher die Beleg-         ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Ein so genanntes
schaft eine relativ homogene Gruppe von Menschen war, wer-           Dienstleistungsproletariat war entstanden. Wer in diesem vom
den heute Abteilungen und Teams zunehmend heterogen organi-          Sozialstaat abhängig ist, erwartet in der Regel nicht mehr, aus
siert. Unterschiede zwischen Alt und Jung, Männern und Frauen        einem von fortwährendem Mangel geprägten Leben wieder he-
sowie verschiedenen akademischen und kulturellen Hintergrün-         rauszukommen.
den treten dadurch deutlicher zu Tage. Das ist zum einen positiv,
denn heterogene Teams können wahre Innovationsinkubatoren            Die Hoffnung auf sozialen Aufstieg ist gering, das Gefühl, von
sein. Funktionierende Vielfalt im Unternehmen fördert zudem          weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen zu
die Toleranz, ermöglicht Austausch, verbessert die Kooperations-     sein, dagegen groß (Bahl 2014, Staab 2014). Es ist auch nicht
fähigkeit und erweitert den individuellen Horizont. Es besteht je-   nur ein Gefühl, wie Studien belegen. Demnach scheint die Mög-

20
Status quo: Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland

lichkeit zum sozialen Aufstieg in Deutschland abgenommen zu         2.3 Blick in die Zukunft
haben, während die Wahrscheinlichkeit eines sozialen Abstiegs
gestiegen ist (Vodafone Stiftung 2012). Auch der Aufstiegswille     Wirtschaft, Politik und die Menschen in Deutschland bewegen
scheint zu erlahmen (Bude 2013). Die weiterhin bestehende           sich jeden Tag im Spannungsfeld der Herausforderungen, die
Chancenungleichheit im Bildungssystem trägt ihren Teil dazu         wir gerade in den fünf Clustern dargestellt haben. Jede Gruppe,
bei. Bildungserfolg ist immer noch stark abhängig von der sozi-     jeder Einzelne ist in verschiedenem Maße und auf unterschied-
alen Herkunft (Bertelsmann Stiftung et al. 2014). Dies gilt vor     liche Weise von Veränderungen betroffen. Und natürlich gibt es
allem für Kinder mit Migrationshintergrund, bei denen die Bil-      auch große Unterschiede hinsichtlich der individuellen Gestal-
dungserfolge im Durchschnitt geringer sind – auch wenn sich         tungspotenziale. Dass wir die genannten Herausforderungen
die Situation zuletzt leicht verbessert hat (BMBF 2014).            meistern, ist uns zu wünschen. Doch können wir Veränderun-
                                                                    gen weder sicher vorhersagen noch ist deren positiver Verlauf
Ein weiteres gesellschaftliches Problem ist die zunehmende          selbstverständlich.
Armut im Alter. Die Zahl der über 65-Jährigen, die auf die staat-
liche Grundsicherung angewiesen sind, steigt (Destatis 2014).       Wie könnten die Arbeits- und Lebensperspektiven 2025 in
Das sinkende Sicherungsniveau der gesetzlichen Rentenversi-         Deutschland aussehen und in welchen Punkten unterscheiden
cherung wird dieses Problem in Zukunft noch erhöhen; so wie         sie sich von den heutigen? Oder konkreter gefragt: Wie werden
auch der Anstieg von Teilzeitbeschäftigten und die höhere Wahr-     sich unsere Werte und Lebensstile ändern? Wie passen sich
scheinlichkeit von Brüchen in der Erwerbsbiographie es tun wer-     Unternehmen an veränderte Strukturen und Prozesse an? Wie
den (Börsch-Supran 2013).                                           gehen sie mit ihrer Verantwortung als Akteure in der Gesell-
                                                                    schaft um? In welche Richtung entwickelt sich die Arbeitsorga-
Die soziale Spaltung verstärkt sich schließlich noch dadurch,       nisation? Wie wird die Politik auf die Veränderungen reagieren?
dass von erwirtschafteten Produktivitätsgewinnen nicht alle in      Werden die Menschen bestehende Wirtschafts- und Gesell-
gleichem Maße profitieren. Produktivitätsgewinne aus technolo-      schaftssysteme weiterhin akzeptieren? Die Liste der Fragen ließe
gischen Entwicklungen verhelfen zum Beispiel vor allem höher        sich noch um viele Punkte fortsetzen.
qualifizierten Erwerbstätigen zu mehr Einkommen (Brynjolfs-
son und McAfee 2014). Auch global wird die zunehmende Ein-          Versucht man die Entwicklung von Arbeits- und Lebensbedin-
kommens- und Vermögensungleichheit zu einer Herausforde-            gungen in Deutschland weiter in die Zukunft zu denken, öffnen
rung (Oxfam 2015). Und natürlich ist Deutschland nicht losgelöst    sich viele mögliche Entwicklungspfade. In der Summe bilden
von steigender Armut und sozialer Ungerechtigkeit in anderen        diese Pfade einen „Möglichkeitsraum“ der zukünftigen Arbeits-
Ländern. Menschen ungeachtet ihrer sozialen Herkunft einen          und Lebenswelt. Um die Grenzen des Möglichkeitsraums abzu-
sozialen Aufstieg zu ermöglichen, wird zur zentralen Herausfor-     stecken, hat die Expertenkommission zwei Zukunftsszenarien
derung moderner Gesellschaften (Bude 2010). Wie wir diese Auf-      für die Arbeits- und Lebenswelt im Deutschland des Jahres 2025
gabe politisch und gesellschaftlich angehen, wird die Entwick-      entwickelt, die wir im folgenden Kapitel betrachten werden.
lung der Lebensperspektiven in Deutschland stark beeinflussen.

                                                                                                                                 21
Status quo: Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland

                               Heinz Bude

                               Die Einbeziehung der              In der Regel kommen Benachteiligungen durch die so-
                               Ausgeschlossenen                  ziale Herkunft und den regionalen Standort, durch das
                                                                 Geschlecht und eine Zuwanderungsgeschichte zusammen.
     1. Ein rein soziologischer, aber völlig unabhängig vom      Das zeigt, dass wir es mit einer Verteilung in Kategorien
     Intelligenzquotienten ziemlich treffender Index für die     der Disparität zu tun haben, die nicht so einfach in ein
     Ermessung des Bildungserfolges eines Heranwachsenden        eingängiges vertikales Schema gebracht werden können.
     ergibt sich aus der Zusammenziehung dreier Informa-         Ein junger Mann biodeutscher Herkunft aus der Lausitz
     tionen: der Anzahl der Bücher im Elternhaus, der            mit dem Abschluss einer polytechnischen Oberschule muss
     Länge des täglichen Fernsehkonsums und der Höhe des         sich wohl zu einer übrig gebliebenen Restpopulation zäh-
     Taschengeldes. Für Kinder also, die aus einem Elternhaus    len, während ein Gleichaltriger aus Ingolstadt aus einer
     mit wenigen Büchern stammen, die täglich mehr als drei      türkischstämmigen Familie mit Hauptschulabschuss zum
     Stunden Fernsehen gucken und die, sagen wir, mehr           begehrten Facharbeiternachwuchs gehört. Ein Ingenieur
     als zehn Euro Taschengeld in der Woche bekommen, ist        Mitte 50 mit einem polnisch klingenden Namen aus
     es sehr unwahrscheinlich, dass sie das Abitur schaffen.     Wuppertal kann nach der Erfahrung mit prekären Be-
     Heranwachsende, denen es trotzdem gelingt, sind dann        schäftigungsverhältnissen in den 1990er Jahren der Auf-
     theoretisch von besonderem Interesse. Dieses Beispiel       fassung sein, dass seine Stimme sowieso nicht mehr
     ist für die Frage der sozialen Teilhabe deshalb so spre-    zählt, während ein ebenso alter angelernter Arbeiter aus
     chend, weil es verdeutlicht, dass Art und Umfang sozialer   Wolfsburg mit italienischer Zuwanderungsgeschichte als
     Teilhabe nicht auf die Frage von Einkommensarmut redu-      Mitglied der IG-Metall eine mächtige Organisation im
     ziert werden können.                                        Rücken weiß. Es gibt alleinerziehende Mütter mit Halb-
                                                                 tagsjobs bei Lebensmitteldiscountern und solche mit einer
     2. Soziale Teilhabe ist ein komplexes Konstrukt mit ob-     gut gehenden gynäkologischen Praxis in nichtehelicher
     jektiven und subjektiven Komponenten. Leicht objekti-       Lebensgemeinschaft: Die eine wandelt auf einem schma-
     vierbar ist die Höhe des Einkommens, schwerer schon die     len sozialen Pfad, die andere ist sozial arriviert.
     Zugänglichkeit zu öffentlichen Gütern und noch schwie-
     riger das Ausmaß an effektiver, das heißt Leistungsmoti-    4. Für die Exklusionsforschung bietet sich daher der
     vationen schaffender und Talentselektion ermöglichen-       Weg der Lebenslaufforschung an. Karrieren ins sozi-
     der Bildung; die subjektiven, aber durchaus objekti-        ale Aus weisen in der Regel vier konstitutive Elemente
     vierbaren Komponenten lassen sich im Konstrukt des          auf: Probleme bei der beruflichen Tätigkeit, wobei nicht
     Exklusionsempfindens zusammenziehen. Dazu gehören           die Entlassung, sondern oftmals die Degradierung in-
     Elemente wie der Modus des eigenen „locus of control“,      nerhalb einer Betriebshierarchie den Ausschlag gibt;
     die Überzeugung, ob für einen ein Ort im gesellschaftli-    die Belastung der familiären oder partnerschaftlichen
     chen Ganzen vorgesehen ist, das Vertrauen in die Unter-     Beziehung durch Phasen von unerreichbarer Nieder-
     stützung durch Verwandte, Freunde und Bekannte, das         geschlagenheit oder eruptiver Gewalttätigkeit; das Auf-
     Vertrauen in die Institutionen, die einem Recht verschaf-   fälligwerden innerhalb institutioneller Kontexte mit
     fen und Unterstützung gewähren, sowie das Vertrauen in      entsprechenden Aktenvermerken; und vor allem die
     die eigene Handlungsmächtigkeit.                            Schließung einer Exklusionskarriere durch die körper-
                                                                 liche Abhängigkeit von Alltagsdrogen. Dabei ist noch
     3. Daraus ergibt sich, dass die Gruppen der Ausge-          unklar, wann es zu einer Serie kumulativer Spill-over-
     schlossenen aufgrund theoretischer Überlegungen und         Effekte kommt und wann kompensatorische Schleifen
     zugänglicher Daten nicht so einfach zu rubrizieren sind.    etwa zwischen zermürbenden Arbeitserfahrungen und

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