Heft #4 - Werkhaus Münzviertel

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Heft #4 - Werkhaus Münzviertel
Heft #4
Heft #4 - Werkhaus Münzviertel
Olivier Nourisson: Afghaner-Box, Werkhaus 2016, Bild 47
Heft #4 - Werkhaus Münzviertel
Dokumentation
Werkhaus Münzviertel
09 / 2015 – 11 / 2016
Heft #4 - Werkhaus Münzviertel
Olivier Nourisson: Afghaner-Box, Werkhaus 2016, Bild 18
Heft #4 - Werkhaus Münzviertel
Ich schreibe Euch aus Marseille
und ich denke an Hamburg.

          Das Klima hier ist nicht das Gleiche,      einen achteckigen Tisch unter einem Berg von
aber die Bewohner*­innen sind ähnlich beschäf­       Kaffeekannen, Marmelade, Käse, warmen Bröt­
tigt mit dem öffentlichen Raum. Das Rat­haus         chen und Butter.
scheint machen zu lassen und zeigt sich ähnlich                Es gibt Städte mit geschlossenen Toren,
wie in anderen Städten nicht als Experte in dieser   die euch ausgrenzen und außen vor lassen, es gibt
Sache. Es ist eine Kultur der Bewohner*innen         Städte, wo man Zuflucht findet, sich schützen
erzeugt von den Bewohner*innen. Wir sind Teil        kann, Städte mit Fluchtnischen. Hamburg ist
eines permanenten Spektakels, dessen Rhyth­          eine von diesen Städten mit einer Vielfalt von
mus das Leben ist.                                   Orten, wo man sich zurückziehen kann von dem
          Zurück nach Hamburg: Falls man nicht       großen Wirrwarr der Stadt, Zufluchtsorte, die
mit dem Auto nach Hamburg kommt, muss man            alle singulär sind, das Werkhaus Münzviertel ist
durch den Hauptbahnhof hindurchgehen und             einer von diesen Orten – oder sollte man sagen
findet sich sodann in einer Kathedrale aus Metall    Heterotopien – diesen anderen Orte, in denen
wieder, in der eine Meute hin und her hastet, es     Sachen sich erfinden oder neu erfinden lassen.
gibt Reiche, weniger Reiche und Arme; am Aus­        Also ja, es gibt draußen und drinnen, draußen,
gang des Bahnhofs verschwinden die Reichen in        wo ein Wind bläst, der verrückt machen kann
Taxis, die weniger Reichen gehen zu Fuß oder         und drinnen, wo man Kräfte sammeln kann,
fahren Fahrrad und die anderen bleiben da. Rund      sprechen, essen und die List finden, mit der sich
um den Bahnhof wie ein großer Volkstanz, der         die Außenwelt ertragen lässt.
den Bahnhof umringt in einem großen mensch­                    Ich kenne mich nicht so gut in der Ge­
lichen Zirkel.                                       schichte von deutschen Sozialzentren aus, aber
          Ich bin weder reich, noch arm und ich      im Vergleich zu Frankreich sehe ich eine große
gehe zu Fuß, ich kreuze die Adenauer Allee, neh­     Handlungsfreiheit auf der Stadtteilebene mit
me einen kleinen Weg entlang des Museums für         echten Spezialisten im Feld, während es in Frank­
Kunst und Gewerbe, kreuze die Kurt-Schuma­           reich die Idee einer globalen Kulturpolitik auf
cher-Allee, schaue links auf eine Herde von Män­     der Ebene des Staates gibt, die sich misstrauisch
nern und Frauen, die auf die Öffnung der Türen       gegenüber den sozialen Akteuren im Feld zeigt,
eines Gebäudes aus Beton zu warten scheinen,         was ein großer Irrweg ist, denn diese sehr syn­
nehme die Repsoldstraße, steige hinunter durch       thetisierende Kulturpolitik, in großem Maßstab
einen Tunnel, über den eine Bahnlinie führt,         erdacht, kann in Stadtteilen, die reich an kultu­
gehe nach links auf die Repsoldstraße und dann       reller Komplexität sind, nicht funktionieren.
wieder links in die Rosenallee, es ist dort die
Nummer 11, wo sich das Werkhaus Münzviertel                    Außen/Innen: Die Atelierangebote für
sich befindet, hier kann man Kaffee trinken, re­     die Jugendlichen des Münzviertels fanden an
den, ein Verwaltungsproblem lösen, an Ateliers       zwei unterschiedlichen Perioden statt zwischen
teilnehmen oder nichts tun. Es gibt ein Verwal­      Mai und November 2016; es ging um eben dieses
tungsbüro, eine Holzwerkstatt, ein Tonstudio,        Innen und Außen, das Werkhaus und die Straße.
einen Raum mit einem Sofa und Computer, ei­          Das erste Atelier beschäftigte sich mit der Kon­
nen Raum voller Pflanzen unter künstlichem           struktion eines Panzers und Masken für eine Pa­
Licht und eine Küche – das Esszimmer – es ist        rade aus vorgefundenem Material. Als erstes sind
diese Küche, wo der Tag zu beginnen scheint, um      wir auf die Straße gelaufen, um diverse Mate­

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rialien zu suchen, die herumlagen, um sie ins         der sowohl als kleine Bühne diente als auch als
Werkhaus zu bringen; Holz überwog in unserer          Rampe für das Abschießen von Feuerwerken.
Sammlung von Materialien, aber es gab auch            Wir sind den ganzen Tag mit den Stadtteilbe­
Wahlplakate der verschiedenen politischen Par­        wohnern Parade gelaufen bis zur Dämmerung.
teien, verlassen auf den großen Boulevards nach                Das zweite Atelier fand von September
den letzten Regionalwahlen. Umgegeben von             bis November 2016 statt, ich wollte für dieses
den Gesichtern großer Männer und Frauen der           Atelier mit Jugendlichen eine archaische Foto­
Politik haben wir unsere Werkzeuge herausge­          technik erarbeiten. Wir haben uns an den Bau
holt und angefangen, große, winklige Formen           einer Straßen-Fotokamera gemacht, die wir Af­
mit der Stichsäge zu schneiden und dann mit           ghaner-Box genannt haben. Die Besonderheit
dem Akkuschrauber die verschiedenen Teile zu­         dieser Fotokamera ist, dass es drinnen ein En­
sammengefügt, um ein Volumen herzustellen,            wicklungslabor gibt, bestehend aus einer Ent­
das groß genug war, um sich darin einzufädeln         wicklerschale und einer Fixiererschale, die nach
und die obere Hälfte unserer Körper verschwin­        zwei Löchern ausgerichtet sind, in die man die
den zu lassen und uns dadurch in politische           Arme einfädeln kann, um das Fotopapier ge­
Monster zu verwandeln; wir haben undefinier­          schützt von Lichtstrahlung zu manipulieren und
bare Formen hergestellt, um uns hineinzuschie­        so zuerst das Papier vom Objektiv her belichten
ben und Formen, bei denen das Hohle wichtiger         zu können, um dann die Blende zu öffnen, die
ist als das Volle.                                    Lichtpause zu machen, die Blende schließen, das
           Diese Materialien kamen dann von der       Papier zu nehmen, es in Entwickler und dann in
Straße ins Werkhaus und werden auf die Straße         Fixierer zu tauchen, die Box zu öffnen und das
zurückkehren, begleitet von ihren Metamorpho­         Foto zu entdecken. Erste technische Proben fan­
sen und den Fragen, die wir heutzutage über die       den im Werkhaus statt und wir statteten unsere
Wichtigkeit der Subjektivität und des subjekti­       Afghaner-Box mit drei Fahrradrädern aus und
ven Raumes stellen; wir arbeiteten in einer ins­      gingen dann auf die Straße in das regnerische
tinktiven Art, kein Plan wurde vorher festgelegt;     und eisige Wetter des Hamburger Novembers.
wir waren nur in der Praxis da, ohne Deutsch zu       Wir fotografierten uns vor der Bibliothek, vor
sprechen, mit wenigen Worten in Englisch; un­         dem Museum der Fotografie, vor dem Spiegel­
ser Austausch bestand hauptsächlich aus der           gebäude und dem Hauptbahnhof.
Ma­nipu­lation von Materialien und Werkzeugen,                 Jenseits der Erinnerung behalten wir
in einem Tanz der Hände, den man für eine Spra­       diese kontrastreichen Schwarzweißfotografien
che von großer Komplexität halten könnte. Am          in einer Schublade im Büro des Werkhauses
16. Juli gingen wir für das Münzviertelfest auf die   Münzviertel.
Straße mit unseren Masken und einem Panzer,                                         Olivier Nourisson

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Olivier Nourisson: Parade der Umgestaltung, Straßenfest Münzviertel 2016

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Kurt Schwitters: Merzzeichnung, 1921 (Privatsammlung)

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Die Metamorphosen des
Olivier Nourisson

           Dass den Avantgarden regelmäßig ihr       verführte offenbar dazu, all die Nebenprodukte,
Scheitern attestiert wird, ist vermutlich ein Zei­   Fehler und Widerstände zu negieren, die der Ein­
chen für die nicht nachlassende Wirkung, die         satz der Massenmedien mit sich brachte. So mag
von ihren provokanten Erschütterungen des bis        es zunächst Erstaunen verursachen, wenn Gem­
dahin herrschenden Kunstverständnisses bis           ma Carroll feststellt: »Der erste Weltkrieg, der
heute ausgeht. Weniger euphemistisch formuliert      verantwortlich für die dramatisch beschleunigte
lässt sich konstatieren, dass die von den Avant­     Informationsübermittlung war, war ironischer­
garden aufgeworfenen Probleme und Fragen kei­        weise ebenfalls gekennzeichnet durch genauso
nesfalls gelöst sind und den Rekurs auf sie immer    viele Kommunikationsprobleme wie -lösungen.
wieder nötig machen. Dazu gehört die Kritik an       Generäle kämpften darum, Wege zu finden, mit
der Trennung und Hierarchisierung von Kopf-          der Front zu kommunizieren, während Telegra­
und Handarbeit und die Idee, Kunst als Arbeit        phen weltweit fehlgeleitet wurden, Kabel ge­
am Alltag zu verstehen. Auffassungen von Kunst       trennt und Sig­nale blockiert waren. Das legt
also, die vor allem vom Bauhaus und politisch        nahe, dass hier etwas in den Systemen verloren
noch radikaler vom russischen Konstruktivis­         ging; sie beschleunigten Kommunikation, aber
mus verfolgt wurden. Die Idee, der Kunst eine        machten sie nicht unbedingt besser.«4
soziale Funktion oder Absicht außerhalb der en­                Nach Carroll war es insbesondere die
gen Grenzen bürgerlicher Kunstbeschäftigung          deutsche Avantgarde, die, anstatt den technolo­
zuzusprechen, hatte die Erschließung eines           gischen Fortschritt zu adaptieren, sich den uner­
komplett neuen Arbeitsfeldes zur Folge.              forschten Lücken und Leerstellen, die er hervor­
           »Die sehr viel größeren Massen der An­    gebracht hatte, widmete. Bedeutung, Kommu­
teilnehmenden haben eine veränderte Art des          nikation und Verstehen einschließlich ihres
Anteils hervorgebracht«, schrieb Walter Benja­       Scheiterns wurden zu wichtigen Themen der
min in seinem berühmt gewordenen Aufsatz von         avancierten künstlerischen Praxis zwischen den
1935.1 Benjamin befasst sich darin mit den tief­     beiden Weltkriegen. Kurt Schwitters nehme hier
greifenden Veränderungen, die die neuen Ver­         eine besondere Stellung ein, da er sich von zwei
breitungsformen von Fotografie, Film und Rund­       Seiten mit den medialen Veränderungen der
funk für die Wahrnehmung bedeuteten, und             neuen Zeit befasste.
analysierte hiervon ausgehend die Folgen für die               Als Grafiker bediente er sich neuer tech­
Kunstrezeption. Fragment, Flüchtigkeit, Tempo        nischer Standards und entsprach der Ästhetik
und allgemeine Verfügbarkeit hätten eine quali­      der Modernität: Seine nüchterne, fast technische
tative Veränderung des Kunstwerks in Gestalt         Typografie und Gestaltung orientierten sich an
ganz neuer Funktionen mit sich gebracht, von         Prinzipien der Ökonomie und der Funktionalität
denen »die künstlerische [...] sich, als diejenige   und verraten Einblicke in die Psychotechniken,
abhebt, die man später als eine beiläufige erken­    die in Werbung und Marketing jetzt zunehmend
nen mag.«2                                           eingesetzt werden. Die Rückseite dieses Schaf­
           Die Verbreitung der neuen technischen     fens bilden Schwitters’ Collagen, Assemblagen
Möglichkeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts         und der ganze Arbeitskomplex MERZ. Auf den
hatten nicht nur politische, sondern auch künst­     Straßen sammelte Schwitters Material ein, wel­
lerische Allmachtsphantasien heraufbeschwo­          ches vom modernen Leben ausgesondert und
ren.3 Die Idee des idealen Menschen, der perfek­     übrig geblieben war. Müll, Reste von Werbepla­
ten Kommunikation, die Überhöhung der Tech­          katen, alte Zeitungen – materielle Überreste der
nik als reibungslose Vereinfachung von Abläufen      schnellen Verschleißzeit von Information.

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All diese scheinbar wertlosen Über­        nen stattfinden zu lassen – ein Fest der Absurdi­
bleibsel des modernen städtischen Lebens wer­        tät, das sein Vergnügen vor allem daher bezieht,
den ihm zum Material für Collagen, Bauten, As­       dass der Druck auf die anpassungsbereiten Kör­
semblagen, Gedichte. »Das Wort MERZ aber             per kurzfristig nachzulassen scheint.
stammte von ›ausmerzen‹ und war von Herrn                      Die gefundenen Holzpaneele und Reste
ComMERZienrat sehr sinnreich erfunden.«5             politischer Plakate waren wohl nur allzu willkom­
          Auch Olivier Nourisson nähert sich         men, um den Tanz der Zeichen im Werkhaus in
dem jeweiligen Ort seiner Arbeitseinsätze, in­       Gang zu setzen. Wie Olivier Nourisson in seinem
dem er die Gegenden nach Material abgrast. Zu­       Beitrag selbst schreibt, ist das Hohle dabei bevor­
sammen mit den Werkhäuslern erkundete er auf         zugtes Mittel der skulpturalen Arbeit. Durch die
diese Weise nicht nur die nähere Umgebung des        Verformung und z.T. zerstörerische Zurichtung
Münzviertels, sondern lernte ebenfalls die Bewe­     des Materials entstehen Lücken, Spalten, Hohl­
gungsradien und sozialen Tabuzonen seiner Be­        räume oder Hüllen, die bespielt werden können.
gleiter kennen. Begleiter, die aus einer bestimm­    Nicht geht es um die Aufführung verloren gegan­
ten Perspektive betrachtet ebenfalls als überflüs­   gener Sinnstiftung, wie es Schwitters unaufhör­
sig oder sozialer Ausschuss betrachtet werden        liche Arbeit am Unfertigen vorsah, bei der die
können – herausgefallen aus den sozialen Regel­      Kombinationsmöglichkeiten von wertmäßig un­
systemen, ohne den uns vertrauten Halt gestran­      unterscheidbaren Materialien erprobt wurden.
det, auf der Straße zurückgelassen. Wie sie fin­     Nach der Exploration der Sinnentleerung ver­
det sich die nicht auf Marktkonformität setzende     knüpft Olivier Nourisson das Gefundene mit
Kunst heute am Rande der Existenz wieder und         historischen Narrativen.
benötigt Zufluchtsorte.                                        Weil die in Vergessenheit geratenen Re­
          Ähnlich der Arbeitsweise von Schwit­       ferenzen ohne den biederen Ernst, mit dem die
ters greift Olivier Nourisson in seinen Arbeiten     Pflege des Kultur­erbes für gewöhnlich betrieben
auf Vorhandenes, Gefundenes, Weggeworfenes           wird, aufgerufen werden, können sie für kurze
zurück und betreibt so eine Art Ethnographie der     Zeit sogar ihren aktualisierten Sinn entfalten. So
auf Produktivität, Erneuerung und Konsum ge­         ruft der wohlgeformte Pferdekopf am Zug des
eichten Gesellschaft. Das gesammelte Mate­rial       Bühnenwagens die Erinnerung an Troja und die
durchläuft sodann einen Arbeitsprozess, bei dem      griechischen Mythologien wach und erinnert an
durch geschickte Manipulation eine Umkehr der        die subver­sive Kraft der Verwandlung und Mas­
ihnen innewohnenden Wertehierarchien und Be­         kerade jenseits von Unterhaltung und Spiel. For­
deutungsebenen erfolgt. So werden Altkleider         mal fallen mir Ähnlichkeiten zu den expressio­
bei »Fashion Garage« zur Inszenierung des Gro­       nistischen Tanzkunstfiguren von Walter Holdt
tesken genutzt, eine haute couture der Monster,      und Lavinia Schultz auf. Sie sind wenige hundert
bei der ausdrücklich kein Spiegel verwendet          Meter entfernt im Museum für Kunst und Ge­
werden darf, um die befreiende Verquerung von        werbe konserviert zu betrachten und wir hatten
Schönheitsidealen und Präsentationskonventio­        sie gemeinsam besucht.

Olivier Nourisson: Fashion Garage, Herz As, Hamburg 2010

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Olivier Nourisson: Parade der Umgestaltung, Straßenfest Münzviertel 2016

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Olivier Nourisson: Parade der Umgestaltung, Straßenfest Münzviertel 2016

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Es ist vor allem die Maskerade, durch
die die Körper aus den ihnen zugeschriebenen
Räumen herausgerissen und an einen anderen
Ort versetzt werden. Michel Foucault umschrieb
diese Orte als imaginäre Räume, die mit der Welt
der Götter oder mit der Welt der anderen kom­
munizieren – jedenfalls handelt es sich um Räu­
me, in denen die Zuschreibungen von Normali­
sierung kurzzeitig außer Kraft gesetzt sind und
die Körper und Dinge in veränderten Verhältnis­
sen zueinander stehen.6
          Die Werkhäusler*innen sind aufgrund
von andauernder gesellschaftlicher Beschämung
höchst empfindlich bezüglich ihres Rechts auf
das eigene Bild und so bietet das Versteck hinter
den gezimmerten Masken ihnen den nötigen
Schutz, um in der gemeinsamen Parade der Um­
wandlung auf die Straße ziehen zu können.
Gleichzeitig erlaubt die Maske, eine andere Iden­
tität annehmen oder Rolle ausprobieren zu kön­
nen und sogar das Geschehen auf der Straße für
eine Zeit zu dominieren.

Lavinia Schultz und Walter Holdt:
Maskenfigur »Toboggan Frau«, um 1920

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Olivier Nourisson: Parade der Umgestaltung, Straßenfest Münzviertel 2016

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Dass Olivier Nourisson sich in seiner              Vor dem »Haus der Photographie« am
zweiten Etappe entschied, auf die alte Technik     Deich­torplatz werden Bilder im Dunkeln fixiert
der camera obscura zurückzugreifen, kann als       und erweisen sich im Hellen als merkwürdig
Reaktion auf die alltägliche Medienpraxis der      morbide Erzählungen aus einer vergangenen
Werkhäusler und Werkhäuslerinnen verstanden        Zeit. Die im Verborgenen stattfindende Ver­
werden. Vorzugsweise halten sie sich in den vor­   wandlung von Gesehenem in Bilder wird so als
programmierten Formaten sozialer Medien auf.       handgreiflicher Prozess erfahrbar. Ein Prozess,
Wieder geht es um einen Umwandlungsprozess,        der sich den übrig Gelassenen widmet und in
der dieses Mal mithilfe der optischen Technik      Sphären, wo Nichtachtung herrscht, unentdeck­
erzielt wurde. Mit der Leierkastenartigen Kons­    te Freiheiten entdeckt. Obwohl es in aller Öffent­
truktion auf Rädern ziehen seine Erbauer auf       lichkeit stattfindet, ist das Geschehen in diesem
Tour und fangen Bilder ein.                        verborgenen Raum nicht einsehbar. Chemika­
          Die Afghaner-Box (»kamera-e-faoree«)     lische Substanzen tun ein Übriges, um das Ima­
stammt vermutlich ursprünglich aus Pakistan        ginäre zu fixen. Immer wieder konfrontiert Nou­
oder Indien und wurde in den 1950er zu einer be­   risson mit dem Obskuren als Gegenüber einer
liebten Form der Bilderzeugung in den Straßen      durch Transparenz, Offenlegung und perma­
Kabuls. Ausgestattet mit einem Minimum an          nenter Kommunikation entzauberten Gesell­
Equipment ermöglichte die Box den Fotografen       schaft. Vielleicht gehört es zur Ermöglichung
dem Bedarf an Selbstbildern z.B. als Identitäts­   der imaginären Räume dazu, dass während des
nachweis billig und sofort nachzukommen. Die       gemeinsamen Arbeitsprozesses die Verständi­
Fotografen zogen durch die Städte und über         gung durch Sprache auf ein Minimum reduziert
Land und so wurden die »kamera-e-faoree«-          war. Der Überlebenskampf auf der Straße macht
Bil­der zu einer weitverbreiteten Form der Bild­   es vermutlich ohnehin nötig, sich auf ganz ande­
erzeugung in Afghanistan.7 Inzwischen werden       re Modi der Verständigung zu verlassen.
die Boxen meist nur noch als Werbeträger für
digitale Fotostudios verwendet.                                                               Rahel Puffert

                                                   1   Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
                                                       technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt / M. 1963,
                                                       S. 39
                                                   2   Ebda., S. 30
                                                   3   Insbesondere der italienische Futurismus wäre hier zu
                                                       nennen, der mit seiner Fortschrittgläubigkeit offenbar
                                                       auch Kriegsverherrlichung und Frauenverachtung ver-
                                                       band. Vgl. Futuristisches Manifest (1909)
                                                       www.kunstzitate.de/bildendekunst/manifeste/
                                                       futurismus.htm [4.11. 2017]
                                                   4   Gemma Carroll: The ruin und the ruined in the work
                                                       of Kurt Schwitters, in: Third Text, 25:6 London 2011,
                                                       S. 715 – 723, insbesond. S. 719 [Übers. Rahel Puffert]
                                                   5   Kurt Schwitters: Tran35. Dada ist eine Hypothese,
                                                       in: DER STURM, Jg. 15, Heft 1, März 1924, S. 29 – 31,
                                                       insbesond. S. 30 http://bluemountain.princeton.edu/
                                                       bluemtn/cgi-bin/bluemtn?a=d&d=bmtnabg192403-
                                                       01.2.16&e=-------en-20--1--txt-txIN-------# [31.10.2017]
                                                   6   Michel Foucault: Der utopische Körper (1966), in:
                                                       ders.: Die Heterotpien. Der utopische Körper. Zwei
                                                       Radiovorträge, Frankfurt / M. 2013
                                                   7   www.afghanboxcamera.com /abcp_about_bcp.htm
                                                       [31.10.2017]

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Olivier Nourisson: Afghaner-Box, Werkhaus 2016

                                                 17
Olivier Nourisson: Afghaner-Box (Film), Werkhaus 2016

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Olivier Nourisson: Afghaner-Box, Werkhaus 2016

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Olivier Nourisson: Afghaner-Box, Werkhaus 2016, Bild 17

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Olivier Nourisson:                                                          Dehors / Dedans: Les ateliers proposés aux jeunes du
Je vous écris de Marseille et je pense à Hamburg.                     Werkhaus Münzviertel ont eu lieu sur deux périodes dis­
                                                                      tinctes entre mai et novembre 2016; ils avaient à voir juste-
      Le climat n y est pas le même mais les habitants y occu-        ment avec l‘intérieur et l‘extérieur, le Werkhaus et la rue. Il
pent pareillement l‘espace public, la mairie semble laisser           s‘agissait pour le premier atelier de construire avec des
faire et ne s‘improvise pas spécialiste de la chose comme             matériaux de récupération des masques et un char pour
dans d‘autres villes, c‘est une culture des habitants fait par        une parade. Nous sommes donc dans les premiers temps
les habitants, nous assistons à un spectacle permanent                sortis dans la rue pour chercher des matériaux divers qui
rythmé par la vie.                                                    traînaient pour les ramener au Werkhaus; le bois était le
      Revenons à Hambourg, si nous ne rentrons pas en voi-            matériaux dominant de notre collecte mais aussi des pan-
ture dans Hambourg, nous sommes obligés de passer par                 cartes électorales des différents partis politiques qui avai-
la gare centrale, et là nous tombons au centre d‘une                  ent été abandonnées sur les grands boulevards après les
cathédrale de métal ou grouille une multitude de gens, il             dernières élections régionales, face à ces grands visages
y a là des riches, des moins riches et des pauvres; en sort-          d‘hommes et de femmes politiques, nous avons sorti nos
ant de la gare les riches s‘engouffrent dans un taxi, les             outils et commencé à tailler de grandes formes anguleuses
moins riches partent à pied ou en vélo et les autres restent          à la scie sauteuse puis assemblé à la visseuse les différents
là, là tout autour de la gare, comme une grandefarandole              morceaux pour arriver à faire des volumes assez grands
qui entoure d‘un grand anneau humain la gare centrale.                pour pouvoir s‘enfiler dedans et y faire disparaître la moitié
      Comme je ne suis pas riche, ni pauvre, je pars à pied,          haute de nos corps nous transformant en monstres poli-
je traverse la Adenauer allee, prends le petit chemin qui             tiques; nous avons fabriqué des formes inqualifiables pour
longe le Museum fur Kunst und Gewerde, traverse la                    pouvoir nous y glisser et où les creux sont plus importants
Kurt-Schumacher-Allee, regarde sur ma droite un attroupe-             que les pleins.
ment d‘hommes et de femmes qui semblent attendre l‘ou-                      Les matériaux sont passés de la rue au Werkhaus et
verture des portes d‘un bâtiment en béton, prends la                  retourneront dans la rue, accompagnés de leurs métamor-
Repsold strasse, descends dans un tunnel au dessus du-                phoses et des questions que nous nous posons sur l‘im-
quel passe la ligne de chemin de fer, tourne à gauche sur             portance de la subjectivité et de l‘espace subjectif au-
la Repsold strasse puis encore à gauche sur la Rosen allee,           jourd‘hui; nous avons travaillé de façon instinctive, aucun
c‘est là, au numéro 11 que se trouve le Werkhaus Münzvier-            plan n‘était établi à l‘avance, nous étions juste là, dans la
tel, ici on peut passer boire un café, manger, discuter, rég-         praxis, ne parlant pas allemand et ne parlant que quelques
ler un problème administratif, faire des ateliers ou ne rien          mots d‘anglais; nos échanges se résumaient à la manipula-
faire, il y a un bureau administratif, un atelier de bois, un         tion des matériaux et des outils dans une danse de mains
studio son, une salle avec un canapé et des ordinateurs,              qu‘on pouvait voir comme un langage d‘une grande com-
une pièce remplie de plantes sous éclairage artificiel et             plexité. Le 16 juillet, nous sommes sortis dans la rue pour
une cuisine – salle à manger, c‘est dans cette cuisine où             la Münzviertel Straßenfest avec nos masques et un char qui
semble commencer la journée, autour d‘une table octogo-               pouvait servir de petite scène et de rampe de lancement
nale remplie d‘une montagne de cafetières, de confitures,             pour des feux d‘artifice; nous avons paradé tout la journée
de fromages, de petits pains chauds et de beurre.                     avec les habitants du quartier jusqu‘à la nuit tombée.
      Il y a des villes aux portes fermées, qui vous excluent               Le deuxième atelier a eu lieu de septembre à novem-
et vous laissent dehors, et il y a des villes dans lesquelles         bre 2017, j‘ai voulu pour cet atelier travailler avec les jeunes
on peut se réfugier, se protéger, des villes avec des alcôves         sur une technique archaïque de la photographie. Nous
de refuge, Hambourg fait partie de ces villes, avec une               nous sommes donc lancés dans la construction d‘une
multitude de lieux où on peu venir se réfugier du grand               chambre photographique de rue appelée aussi Afghane
tourbillon de la ville, des lieux de refuge tout aussi singu-         Box; la spécificité de cette chambre photographique c‘est
liers les uns que les autres, le Werkhaus Münzviertel fait            qu‘à l‘intérieur, il y a un laboratoire de développement
partie de ces lieux ou plutôt de ces hétérotopies, ces aut-           composé d‘un bac avec le révélateur et un bac avec le
res lieux, à l‘intérieur desquels les choses peuvent s‘inven-         fixateur et deux manches reliés à des trous dans lesquels
ter ou se réinventer. Alors oui, il y a l‘extérieur et l‘intérieur,   on peut enfiler nos bras pour pouvoir manipuler le papier
l‘extérieur où souffle un vent qui peut rendre fou et l‘intéri-       photographique à l‘abri de la lumière et ainsi, dans un pre-
eur dans lequel on vient pour reprendre des forces, parler,           mier temps, exposer le papier devants l‘objectif, puis ou-
manger et trouver des astuces pour supporter le monde                 vrir l‘obturateur, faire la pause, fermer l‘obturateur, prend-
extérieur.                                                            re le papier, le plonger dans le révélateur puis le fixateur
      Je ne connais pas bien l‘histoire des centres sociaux           et ouvrir la boite pour découvrir la photo. Nous avons fait
allemands, mais en comparaison avec la France j‘y vois une            les premier essais techniques dans le Werkhaus et avons
plus grande liberté d‘action à l‘échelle d‘un quartier avec           muni notre Afghane Box de trois roues de vélo puis nous
de vrais spécialistes du terrain, alors qu‘en France il y plus        sommes sortis dans la rue sous le temps pluvieux et glacial
une idée d‘avoir une politique culturelle globale à l‘échelle         d‘un mois de novembre à Hambourg, nous nous sommes
du pays qui ne fait pas beaucoup confiance aux acteur so-             photographiés devant la bibliothèque, le musée de la pho-
ciaux sur le terrain, ce qui est une vrai aberration parce que        tographie, le Der Spiegel et la gare centrale.
cette politique culturelle très synthétisante, pensée à                     Au delà du souvenir, nous gardons ses photographies
grande échelle, ne peu pas fonctionner dans des quartiers             noir et blanc au fort contraste dans un tiroir du bureau du
riches d‘une grande complexité culturelle.                            Werkhaus Münzviertel.

                                                                                                                                  23
Tintin Patrone: Gläserne Krachkiste, Münzviertel 2016

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Do it yourself

          »Do it yourself« (DIY) ist eine Phrase     meine Erfahrungen im Bereich experimenteller
aus dem Englischen und bedeutet übersetzt            Musik und der ihr inhärenten Aneignungsstrate­
»Mach es selbst«. Mit der Phrase werden grund­       gien, mit anderen, vor allem Kunst-Kontext frem­
sätzlich Tätigkeiten bezeichnet, die von Amateu­     den Menschen, zu teilen.
ren ohne professionelle Hilfe ausgeführt wer­                   Musik dient im kreativen Prozess als
den. Besonders häufig gebraucht wird der Slo­        Vehikel, sie öffnet die erste Tür und bildet die
gan im alltagskulturellen Kontext in Verbindung      weitere Basis der Kommunikation. Der im Werk­
mit handwerklichem »Selbermachen« wie Repa­          haus angebotene Workshop ermöglichte es den
rieren, Verbessern, Wiederverwenden oder Her­        Jugendlichen, über ein eigenes Musik- und Mu­
stellen. Die DIY-Bewegung entstand in den            sikinstrument-Konzept nachzudenken. In klei­
1950er Jahren in England und eroberte schnell        nen Sessions mit alternativen elektronischen
den Kontinent. In den späten 1970er und 1980er       Musikinstrumenten wurde versucht, den eige­
Jahren ist eine Anarcho-und Hardcore-Punk­           nen Begriff von Musik zu erweitern und Fragen
bewegung daraus entstanden, die sich damit vom       hinsichtlich eigener Entscheidungs- und Defini­
»No Future« abwandte. DIY heißt für seine An­        tionsmacht aufzuwerfen. Der Hauptteil der Ar­
hänger oft, den Glauben an sich selbst und die       beit stellte jedoch das Entwerfen und Umsetzen
eigene Kraft als Triebfeder für Veränderungen        eigener Instrumentideen dar, die handwerkliche
zu sehen. (Wikipedia)                                Fähigkeiten (Holzbearbeitung und Lötarbeiten)
          Ich bin eine Sound- und Performance­       sowie gestalterische Ideen mit aufnahmen und
künstlerin. Meine Arbeit wirft einen Blick auf       förderten (Gehäusedesign, Farbgestaltung etc.).
die Beziehung zwischen Sound / Geräusch und          Als Ergebnis des Ganzen stehen zwei Soundob­
Mensch und wie Musik und Sound ihre Gedan­           jekte, die durch ihre offene Gestaltung zum
ken beeinflussen können. Als musikalische Au­        Spielen, Experimentieren und Mitmachen einla­
todidaktin, die keiner konventionellen Musikaus­     den sollen.
bildung unterlag, ist es mir ein großes Bedürfnis,                                     Tintin Patrone

                                                                                                  25
Tintin Patrone: Soundtable, Münzviertel 2016

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Tintin Patrone: Krachkisten, Münzviertel 2016

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29
Tintin Patrone: Konzert mit Krachkisten, Münzviertel 2016

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Harmonien spielen hier keine Rolle

           Die Künstlerin Tintin Patrone war mir     alles Dilletantische und an die ungeschulten Mit­
durch das Krachkistenorchester bekannt. Diese        spieler*innen.
Kisten sind beides: Merkwürdig futuristische                   Mit Tintin Patrones Krachkistenbau
Kunstobjekte mit Anleihen bei De Stijl und me­       verließ die Arbeit am Sound im Werkhaus das
chanisch anwendbare Instrumente zum improvi­         Tonstudio, wo sie immer ein wenig versteckt ab­
sierten Zusammenspiel mit anderen. Das Prin­         läuft, um sich weniger konventionellen Klängen
zip ist einfach: Per Knopfdruck werden bei jeder     zu widmen. Selber Instrumente bauen, Musik
Kiste andere elektronische Sounds ausgelöst, die     und eben auch elektronische Musik als etwas
auf sehr basale Weise das Spiel mit Rhythmen,        Handwerkliches begreifen, war das Motto. Ana­
Dynamiken und Kettenreaktionen von musikali­         log eben. Der Bau der ersten gläsernen Krach­
schen Abfolgen provozieren. Die Spieler*innen        kiste, deren Design weitgehend von den Werk­
bieten dem Publikum dabei eine absurd-komi­          häusler*innen bestimmt wurde, gibt Einblick in
sche Ansicht. Hinter den Boxen versteckt wer­        die Technik. Das Instrument lässt sich tragen,
den sie zu Boxfüßler*innen, die Tonerzeugung         aber auch abstellen, bedienen oder einfach nur
bleibt geheim und die Aufführung entlastend          anschauen. Hernach ersann man ein ganz neues
unbeobachtet.                                        Projekt: Der Soundtable ist für bis zu vier Spie­
           Die gezimmerten Kisten, poppig be­        ler*innen gedacht, eine Art Gesellschaftsspiel
malt in den Grundfarben – Mondrian lässt grü­        mit Noise. Zum Einsatz kam er zum ersten Mal
ßen –, wirken fröhlicher als der noisige Sound,      beim Münzviertelstraßenfest. Die variablen
den sie hervorbringen. Der Sound steht im Kon­       Module sind nach Belieben einsetzbar, so dass
trast zu allem Regelhaften – Harmonien spielen       der Tisch auch als Gartenmöbel genutzt werden
hier keine Rolle. Krach machen, Töne produzie­       kann. Als ebenso beliebt erweisen sich die zwei
ren, Gas geben. Vielleicht auch über die Stränge     Schaukeln, die Tintin Patrone aus einer anderen
schlagen. Gemäß der Punk-Attitüde steht hier         Produktion mitbrachte und dem Werkhaus zur
die Virtuosität am Instrument hinter der Lust am     Verfügung stellte. Die Rahmen wurden neu ge­
gemeinsamen Musikmachen zurück.                      spritzt und die Schaukeln im Hinterhofgarten
           »We must replace the limited variety of   aufgestellt. Bunt stehen sie nun da und laden die
timbres of orchestral instruments by the infinite    Bewohner*innen des Viertels zum schaukelnden
variety of timbres of noises obtained through        Zeitvertreib ein.
special mechanisms.« Die in seinem Manifest                    Es ist die Einfachheit von Tintin Patro­
mit dem wunderbaren Titel »L’Arte die rumori«        nes Arbeitsweise, die überzeugt. Mit der nötigen
verlautbarte Maxime des italienischen Futuris­       Ernsthaftigkeit ruft sie zur Suche nach Formen
ten Luigi Russolo ist programmatisch für die Ar­     auf, bei der Spielzeuge zur Kunst werden – und
beitsweise von Tintin Patrone, ebenso wie seine      umgekehrt.
und ihre vorurteilslose Herangehensweise an                                              Rahel Puffert

                                                                                                   31
Münzgarten, 15. Straßenfest Münzviertel, 16. Juli 2016

32
Der Himmel, die Kunst, das Unfertige
und das Nachhaltige

          1460 Tage Werkhaus Münzviertel: 1095       Treffpunkt für die Quartierbewohner*innen«
Tage Modellprojekt, 365 Tage Verstetigung. Ob        sind die Räume des Werkhauses zur Identität
als Versuch oder im Bestand – das Werkhaus           stiftenden Herzkammer der gemeinwesenorien­
bleibt unfertig, selbstkritisch und experimentell.   tierten Aktivitäten der Stadtteilinitiative gewor­
Und doch: Das Werkhaus Münzviertel ist und           den. Gemeinsame Schnittstellen zwischen den
bleibt im Kontext sozial-eman­zipatorischer Ge­      Werkhäusler*innen und den Quartierbewoh­
staltung geerdet in seiner Verschränkung von         ner*innen sind neben dem gemeinsam bewirt­
Pädagogik, Kunst und Quartiersarbeit.                schafteten »Münzgarten« im Hinterhof des
          Die künstlerische Raumproduktion           Werkhauses die Fahrradselbsthilfe »Radküche
Werkhaus Münzviertel ist uns den Stadtteilak­        Münze« sowie die jährlichen Straßenfeste und
tivistinnen und Aktivisten des Münzviertels          abendlichen Musikveranstaltungen in der Aula.
nicht urplötzlich aus heiterem blauen Himmel                   Wurde das Werkhaus während der Mo­
herab auf die Füße gefallen. Sondern ist unser       dellphase von 2013 bis 2016 aus RISE-Mitteln
bildhaft gewordener Einspruch wider den eiskal­      finanziert, so wird dieses im Zuge der Versteti­
ten Skeletthänden rationaler Ordnung und tota­       gung seit November 2016 bis Dezember 2018
ler Verdinglichung von Mensch und Welt. Es ist       durch die »Freie und Hansestadt Hamburg, Be­
unser 15 Jahre fortwährendes Aufbegehren ge­         zirksamt Mitte« finanziert. Ab Januar 2019 steht
gen eine von »oben nach unten« diktierte Stadt­      die Weiterfinanzierung des Werkhauses wiede­
teilentwicklung, die sich wenig schert um das        rum auf dem Prüfstand und es droht die Gefahr,
gemeinwohlorientierte Alltagwissen der vor Ort       dass sich der Druck der Verallgemeinerung
Lebenden und stattdessen im Sinne einer »unter­      durch technokratische Kriterien sozialer Förde­
nehmerischen Stadt« neoliberale Glaubenssätze        rungsmaßnahmen zulasten des subjektiv ausge­
mit deren marktkonformen Konzepten hofiert           richteten Kunstcharakters vom Werkhaus Münz­
und bestärkt.                                        viertel weiter verstärkt.
          Im Mittelpunkt der Arbeit vom Werk­                  Gegen eine solche Verallgemeinerung
haus Münzviertel steht die Beförderung der je­       zielt das Einrichten vom »Münzviertel Archiv«
weiligen Werkhäuslerin oder des jeweiligen           im Rahmen von Kunst im öffentlichen Raum,
Werkhäuslers in ihrer oder seiner originären         Kulturbehörde Freie und Hansestadt Hamburg.
Einzigartigkeit im Rahmen eines demokratisch-        Denn das Archivieren von Doku-Materialen
partizipativen Gemeinwesens. Leitkriterium un­       über 15 Jahre Stadtteilarbeit (Entwürfe, Proto­
seres Gestaltens und Reflektierens von sozialen      kolle, Aufsätze, Presseartikel, Plakate, Fotos, His­
Verknüpfungen sind die subjektiven Behauptun­        torie u.a.) unterbricht in seiner räumlichen Ver­
gen der Kunst. Diese sind affirmativ, intuitiv und   ortung den Zeitenfluß von Vergangenheit, Ge­
selbstreflexiv. Wir benötigen die Kunst mit ih­      genwart und Zukunft und ermöglicht in der
rem schöpferischen Tun und ästhetischem Den­         eingefrorenen Zeit ohne das Tick-Tack der Se­
ken als Schutzpatronin der Subjektivität, denn in    kunden das kritische Reflektieren des Gewese­
dem Geheimnis der Subjektivität des Menschen         nen und eröffnet für das quartierbezogene Werk­
gründet sich die Sozialität des Menschen.            haus Münzviertel den dynamischen Blick ins
          Frei nach dem Motto »Am Tag Werk­          Zukünftige.
haus für die Werkhäusler*innen und am Abend                                           Günter Westphal

                                                                                                     33
Heft #4

Herausgeber*innen: Rahel Puffert + Günter Westphal
Konzept und Gestaltung: Leslie Strohmeyer
Fotos: Olivier Nourisson, Tintin Patrone, Rahel Puffert,
Günter Westphal
Bildbearbeitung: Eva Ravn
Schrift: DTL Haarlemmer + Avenir
Druck: Drucktechnik Altona
Auflage: 250

Das Projekt wird gefördert von:
Freie und Hansestadt Hamburg, Bezirksamt Mitte

Werkhaus Münzviertel – Zur Verschränkung von
Pädagogik, Kunst und Quartiersarbeit
Rosenallee 11, 2. Stock, 20097 Hamburg
Telefon 040 - 32 03 86 22, werkhaus@muenzviertel.de
Öffnungszeiten: Mo – Fr 8.30 – 15 Uhr

Werkhaus Münzviertel Team ( 2017 )
Doro Carl – künstlerische Zusammenarbeit
Tobias Filmar – sozialpädagogische Begleitung, Holzwerkstatt
Per Leonhardt – sozialpädagogische Begleitung, Fahrradwerkstatt
Fabian Nitschkowski – künstlerische Zusammenarbeit
Thomas Pinkenell – sozialpädagogische Begleitung
Christiane Schuller – Fachanleitung Grünwerkstatt
Gavin Weiß – Soundwerkstatt
Eva Zulauf – Medien, künstlerische Assistenz

Küchenkabinett ( 2017 )
Corinna Braun – passage gGmbH
Hans-Jürgen Haberlandt – Kunstlabor naher Gegenden e.V.
Rahel Puffert – Kunstlabor naher Gegenden e.V.
Günter Westphal – Kunstlabor naher Gegenden e.V.

Hamburg 2017

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Olivier Nourisson: Afghaner-Box, Werkhaus 2016, Bild 1
ISBN 978-3-9817713-2-9
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