Herausforderungen evidenzbasierter Strafgesetzgebung
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14 KriPoZ 1 | 2020 Herausforderungen evidenzbasierter Strafgesetzgebung von Prof. Dr. Johannes Kaspar* Abstract ansieht, die allgemeiner formuliert ist und folgenderma- „Evidenzbasierte Kriminalpolitik“ verspricht der aktuelle ßen lautet (S. 133): Koalitionsvertrag; „kriminologische Evidenzen“ sollen „Wir treten für eine evidenzbasierte Kriminalpolitik ein. bei der Erarbeitung und Evaluation von Gesetzentwürfen Wir wollen, dass kriminologische Evidenzen sowohl bei berücksichtigt werden. Das klingt vielversprechend – und der Erarbeitung von Gesetzentwürfen als auch bei deren doch zeigen sich bei genauer Betrachtung gerade im Be- Evaluation berücksichtigt werden.“ reich der Strafgesetzgebung große (inhaltliche wie orga- nisatorische) Probleme, wenn das Postulat der „Evidenz- So weit so gut. Aber was heißt das genau – „evidenzba- basierung“ ernsthaft in die Tat umgesetzt werden soll. siert“? Ist das vielleicht doch nur ein schön klingendes Der folgende Beitrag geht diesen Problemen anhand ak- Modewort aus dem Werkzeugkasten politischer Begrün- tueller Gesetzentwürfe nach und versucht, Lösungswege dungskunst? Oder hat die Forderung nach „Evidenzbasie- aufzuzeigen. rung“ tatsächlich Substanz? Und gilt das wirklich auch für den Bereich der Kriminalpolitik, der ja im doppelten Sinn The current coalition agreement promises “evidence- neuralgisch ist: Wo es um Strafrecht als „schärfstes based crime policy”; “Criminological evidence” should Schwert“ des Staates geht, stehen gravierende Freiheits- be taken into account when drafting and evaluating pro- eingriffe im Raum, die nach Augenmaß und rationaler Be- posed legislation. That sounds promising. However, a gründung verlangen. Zugleich ist hier das Interesse der closer inspection reveals major problems (both in terms Allgemeinheit besonders groß, das Skandalisierungspo- of content and organizational), especially in the area of tenzial ebenso, und damit auch der politische Handlungs- criminal legislation, if the requirement of "evidence- druck. Kann der Begriff der „Evidenzbasierung“ sinnvoll based" will truly be put into practice. The following arti- zur Auflösung dieses Spannungsverhältnisses beitragen? cle investigates these problems with reference to current Hat eine darauf gestützte „Evaluation“ von Strafnormen proposed legislation and attempts to show solutions. kritisches Potenzial, das auch kriminalpolitisch wirksam werden kann? I. Aktueller Anlass II. Begriffsklärung „Evidenzbasierte Kriminalpolitik“ ist etwas, was sich die derzeitige Regierungskoalition ausdrücklich auf die Fah- Die Diskussion wird dadurch erschwert, dass der Begriff nen geschrieben hat. Im Koalitionsvertrag von 2018 liest der „Evidenz“ gerade im juristischen Kontext missver- sich das so (S. 132): ständlich ist,1 weil man ihn auch als (aus subjektiver „Wir betonen die Bedeutung der sozialwissenschaftlichen Sicht) „selbsterklärend“ oder als „ohne weiteren Begrün- und kriminologischen Sicherheitsforschung, u. a. die hohe dungsaufwand offensichtlich“ verstehen kann. Genau das Relevanz von Dunkelfeldstudien und anderer empirischer ist hier aber nicht gemeint – es geht vielmehr darum, dass Forschung z. B. zu Organisierter Kriminalität, und wollen Maßnahmen auf der Basis des aktuellen Stands der (ob- diese wissenschaftlichen Bereiche beim Bundeskriminal- jektiven) wissenschaftlichen Erkenntnis über tatsächliche amt und in der wissenschaftlichen Forschung durch Uni- Zusammenhänge getroffen werden. Dieses Begriffsver- versitäten und Dritte stärken.“ ständnis finden wir vor allem in der Medizin, wo seit den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts von „evi- Man kann kritisieren, dass der Fokus hier noch zu sehr auf dence-based medicine“ gesprochen wird.2 Aber auch in „Sicherheit“ als Gegenstand kriminologischer Forschung der Kriminalprävention wird im US-amerikanischen Be- gelegt wird. Auch bleibt offen, wie genau die Forschung reich schon seit einiger Zeit gefordert, evidenzbasiert vor- durch Universitäten und Dritte gestärkt werden soll. Den- zugehen, also die präventiven Wirkungen von Strafen noch findet sich hier ein bemerkenswert klares Bekenntnis oder alternativen Maßnahmen nicht einfach nur zu postu- zur Kriminologie und der auch politischen Relevanz ihrer lieren, sondern empirisch zu überprüfen.3 Ein Beispiel aus Forschungsergebnisse, das sich so in den vorherigen Ko- Deutschland ist das sog. Düsseldorfer Gutachten, das in alitionsverträgen soweit ersichtlich nicht findet. Das gilt Anlehnung an US-amerikanische Vorbilder verschiedene vor allem, wenn man sich die Passage gleich im Anschluss kriminalpräventive Maßnahmen im Rahmen einer Meta- Analyse untersucht hat.4 2 * Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozess- Nachweise bei Hamann, S. 3 f. 3 recht, Kriminologie und Sanktionenrecht an der Universität Augs- Siehe nur Sherman u.a., Evidence-based Crime prevention, 2002. 4 burg. Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, den der Verfasser Rössner u.a., Düsseldorfer Gutachten, 2002. Siehe dazu auch Coes- auf der Tagung des KriK im BMJV im November letzten Jahres ge- ter, in: Walsh/Pniewski/Kober/Armborst, Evidenzorientierte Krimi- halten hat. nalprävention in Deutschland, 2018, S. 37 ff. 1 Vgl. zum Folgenden Hamann, Evidenzbasierte Jurisprudenz, 2014, S. 2 f.
Kaspar – Herausforderungen evidenzbasierter Strafgesetzgebung KriPoZ 1 | 2020 15 III. Verfassungsrechtlicher Hintergrund (vielleicht auch ganz dringlichen) Entscheidungen, mit denen er auf akute Probleme reagiert, immer warten In diesem Sinne evidenzbasiert vorzugehen ist zunächst müsste, bis gesicherte Erkenntnisse vorliegen. Er darf mit ein ganz allgemeines Gebot der politischen Klugheit – wer anderen Worten auch auf rein prognostischer Basis han- sachgerechte Entscheidungen treffen und diese den Bür- deln. Aber er hat dann nach der Rechtsprechung des gern überzeugend vermitteln will, muss über möglichst BVerfG die Pflicht, seine Maßnahmen zu beobachten und umfassende und aktuelle Kenntnisse über den jeweiligen ggf. nachzubessern.8 Diese Beobachtungspflicht gebietet Regelungsgegenstand verfügen und diese der Entschei- auch, den Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis dung in nachvollziehbarer Weise zugrunde legen.5 Das im Blick zu behalten und zukünftigen Entscheidungen zu bezieht sich auf alle Bereiche politischen Handelns. Wenn Grunde zu legen. Ein Beispiel ist die Entscheidung des wir von „Kriminalpolitik“ sprechen, also von Maßnahmen BVerfG zur Verständigung im Strafverfahren, wo wesent- im Umgang mit Kriminalität, die u.a. auf die Verhinde- lich auf eine aktuelle empirische Studie Bezug genommen rung zukünftiger Straftaten ausgerichtet sind, kommt aber und dem Gesetzgeber zugleich aufgegeben wurde, die zu- noch ein weiteres hinzu. Denn dabei geht es um Zwangs- künftige Entwicklung der Praxis weiter zu verfolgen.9 maßnahmen und damit um Grundrechtseingriffe, vor al- lem und besonders offensichtlich im Bereich der straf- IV. Probleme der Umsetzung rechtlichen Sanktionen, die hier besonders in den Fokus gerückt werden sollen. Das Kriterium der „Evidenzbasierung“ verspricht Wis- senschaftlichkeit und Rationalität, was erklärt, warum es Damit gilt automatisch, dass der Staat aus verfassungs- beliebt und allseits konsensfähig erscheint. Und doch er- rechtlichen Gründen nur in verhältnismäßiger Weise vor- geben sich bei genauer Betrachtung erhebliche Probleme, gehen darf. Das wiederum setzt voraus, dass seine Maß- wenn man versucht, dieses Postulat gerade im Bereich der nahmen zur Erreichung eines legitimen Ziels geeignet, er- Kriminalpolitik ernsthaft umzusetzen. Man kann dabei in- forderlich und angemessen sind.6 Nun enthält die Frage haltliche Probleme, die aus den Besonderheiten des Ge- der „Angemessenheit“ einer Maßnahme offensichtlich ein genstandsbereichs des Strafrechts folgen, von organisato- Wertungselement – was aber nicht darüber hinwegtäu- rischen Problemen unterscheiden, die praktische Fragen schen darf, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im des Austauschs von Wissenschaft und Politik betreffen. Kern die Zweckrationalität staatlichen Handelns sichert, basierend auf der Abwehrfunktion der Grundrechte. Denn 1. Inhaltliche Probleme der Staat muss seinem Bürger vereinfacht ausgedrückt mit guten Gründen erklären können, warum er in dessen Frei- a) Formulierung des Schutzgutes und Schädlichkeitskon- heitsgrundrecht eingreift, was er damit erreichen will und trolle warum er das so und nicht anders tut, vor allem im Hin- blick auf potenziell mildere Mittel, die den verfolgten Bereits bei der (genuin kriminalpolitischen) Frage, welche Zweck möglicherweise genauso erfüllen würden. Hier Verhaltensweisen der Gesetzgeber unter Strafe stellt (und kommt dann offensichtlich auch die Anforderung ins auch stellen darf), ergeben sich Schwierigkeiten. Kurz ge- Spiel, wissenschaftliche Erkenntnisse oder eben „Eviden- sagt erleben wir bereits hier, bei der Suche nach legitimen zen“ zur Kenntnis zu nehmen und auch die tatsächlichen Schutzgütern von Strafnormen, eine Tendenz zur Norma- Wirkungen staatlicher Maßnahmen in Rechnung zu stel- tivierung, die zugleich eine Immunisierung gegenüber len.7 Die Empirie spielt hier also eine wichtige und ver- empirischer Überprüfung mit sich bringt. „Evidenzbasie- fassungsrechtlich abgesicherte Rolle. rung“ im oben beschriebenen objektiven Sinn läuft dann leer, die Entscheidung des Gesetzgebers wird zur reinen Auch der Gesetzgeber muss vor diesem Hintergrund em- Wertung, die man mit wissenschaftlicher Erkenntnis in ei- pirisches Wissen bei seiner Entscheidung heranziehen, er nem empirischen Sinn nicht in Frage stellen kann. muss den aktuellen Stand der Wissenschaft berücksichti- gen, mit anderen Worten: evidenzbasiert entscheiden. Es sollte eigentlich selbstverständlich sein, dass das straf- Diese Fakten geben einen Rahmen vor, innerhalb dessen rechtliche Verbot eines Verhaltens (auch aus den erwähn- ihm – zu Recht – ein großer Einschätzungsspielraum auch ten verfassungsrechtlichen Gründen) nur dann legitim ist, für Wertungen zugebilligt wird, die selbst nicht mit empi- wenn dieses Verhalten für hinreichend gewichtige Güter rischen Methoden überprüft und falsifiziert werden kön- und Interessen schädlich ist, ob man diese nun „Rechtsgü- nen. Aber er darf eben keine Wertungen treffen, die all- ter“ nennt oder nicht.10 Dabei enthält die Frage der „Ge- seits anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse ignorie- wichtigkeit“ eines Guts natürlich ein wertendes Element, ren. Das heißt nicht, dass der Gesetzgeber mit seinen das der Gesetzgeber ausfüllen muss und das man nicht 5 Vgl. Hamann, S. 1: „Wenn Recht nicht nur gerecht, sondern auch von politischen Entscheidungsträgern oft ins Feld geführte Zeit- sachgerecht sein will, kommt es nicht umhin, Sachlagen zu erfassen, druck ergibt sich also in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht aus also Erfahrungswissen zu berücksichtigen“ (Hervorhebungen im dem Verfassungsrecht. 9 Original). BVerfGE 133, 168 (194 ff. und 235 f). 6 10 Umfassend dazu Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechts- Auf diese Debatte kann hier nicht näher eingegangen werden, siehe schutz im Präventionsstrafrecht, 2014. dazu nur Engländer, ZStW 127 (2015), 616 und Kudlich, ZStW 127 7 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Hamann, S. 37 m.w.N. (2015), 635 sowie Roxin, GA 2013, 433. Die verfassungsrechtlichen 8 Dimensionen der Rechtsgutstheorie werden umfassend erörtert bei BVerfGE 25, 1 (12 f.); 49, 89 (130); 95, 267 (314 f.): Dort wird dem Gesetzgeber angesichts der Komplexität der Materie auch eine „an- Kaspar (Fn. 6), S. 205 ff. gemessene Frist zur Sammlung von Erfahrungen“ zugebilligt – der
16 KriPoZ 1 | 2020 aufgrund von empirischen wissenschaftlichen Erkenntnis- entscheidend auf den durch Strafe bewirkten „Schuldaus- sen als „falsch“ qualifizieren kann. Anders ist dies bei der gleich“ an, anders formuliert: es geht um Vergeltung. Das Frage der Schädlichkeit des Verhaltens, die auf tatsächli- ist eine absolute Strafbegründung, die ausdrücklich nicht che Zusammenhänge Bezug nimmt und damit jedenfalls auf empirisch messbare Zusammenhänge oder Wirkungen auch von wissenschaftlichen Erkenntnissen abhängt. Um der Strafe abhebt – um Prävention soll es definitionsge- konkreter zu werden: Taucht eine neue chemische Sub- mäß ja gerade nicht gehen. Ohne dass ich das hier vertie- stanz auf, die möglicherweise völlig harmlos ist, deren fen kann, meine ich, dass gerade die Betonung der ent- Konsum möglicherweise aber auch schwere Gesundheits- scheidenden Rolle des angeblichen Strafzwecks des schäden und körperliche Abhängigkeiten verursacht, ist „Schuldausgleichs“ jede empirische Überprüfung hinfäl- bei der Frage eines strafrechtlichen Verbots des Besitzes lig macht und damit auch einer ernst zu nehmenden „Evi- und des Handeltreibens mit dieser Substanz offensichtlich denzbasierung“ im Bereich der strafrechtlichen Sanktio- der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis über nierung im Weg steht.17 ihre Wirkungen zu berücksichtigen. Ein Verbot ist jeden- falls dann nicht (mehr) legitim, wenn sich herausstellt, Man denke sich zur Veranschaulichung des Problems eine dass das Mittel entgegen den ursprünglichen Befürchtun- (fiktive) Begründung in einem Gesetz, das eine der derzeit gen keinerlei schädliche Wirkung für die Gesundheit der üblichen Strafschärfungen enthält: „Die bisher vorgese- Konsumenten nach sich zieht. hene Höchststrafe von fünf Jahren genügt nicht zur Ver- geltung bzw. zum Ausgleich der Schuld. Dafür sind zwin- Diese hier nur skizzierte „Schädlichkeitskontrolle“ in Be- gend bis zu 10 Jahre erforderlich“. Welche gegenläufigen zug auf die pönalisierte Verhaltensweise wird dann er- wissenschaftlichen Erkenntnisse sollte man dieser Be- schwert oder sogar unmöglich gemacht, wenn man vage hauptung entgegenstellen? Interessanterweise verlässt und zugleich abstrakte Rechtsgüter formuliert, die sich sich der Gesetzgeber selbst selten auf eine solche offen von tatsächlichen Wirkungszusammenhängen entfernen. absolute Strafbegründung. Er arbeitet vielmehr in der Re- Auch hierzu ein Beispiel: Wenn der Gesetzgeber Doping gel mit Hinweisen auf präventive Wirkungszusammen- bei Leistungssportlern u.a. mit dem Argument verbietet, hänge, allerdings oft etwas verklausuliert, so dass die For- dass dadurch die „Fairness“ des Sports verletzt würde11, mulierung einer zu überprüfenden Zielsetzung des Geset- wird ein stark wertausfüllungsbedürftiger Begriff zum zes, die dann Gegenstand einer wissenschaftlichen Evalu- Schutzgut einer Strafnorm gemacht, das man in fast allen ation sein könnte, schwerfällt. Lebensbereichen durch eine Vielzahl von Verhaltenswei- sen als „verletzt“ ansehen könnte. Auf tatsächliche Wir- Beliebt ist in diesem Zusammenhang die Redeweise vom kungszusammenhänge wird dabei nicht Bezug genom- unzureichenden „Schutz“ bestimmter Opfergruppen, der men, so dass auch eine evidenzbasierte Kontrolle schwer- verbessert werden müsse. Exemplarisch kann auf einen fällt.12 Gleiches gilt auch beispielsweise für die Verlet- Gesetzesentwurf des Saarlandes zur Reform von § 113 zung der „Integrität des Sports“, die bei der Einführung StGB aus dem Jahr 2015 verwiesen werden, in dem sich des Sportwettbetrugs ins Feld geführt wurde.13 Kritische folgende Passage findet: Potenz hat ein solch weites Verständnis vom legitimen „Die geltende Rechtslage bietet für Gewaltstraftaten ge- Schutzgut einer Strafnorm kaum. genüber Amtsträgerinnen und Amtsträgern der Polizei und der Justiz sowie Soldatinnen und Soldaten der Bun- b) Formulierung des Sanktionszwecks und Wirkungskon- deswehr, die dadurch, dass sie im Rahmen ihrer Dienst- trolle ausübung das Gewaltmonopol des Staates repräsentieren, in gesteigertem Ausmaß Gefahren für Leib und Leben aus- Das Problem der Normativierung und daraus folgender gesetzt sind, keinen ausreichenden Strafrechtsschutz.“18 Immunisierung gegenüber wissenschaftlicher Evidenz lässt sich auch zeigen, wenn man die vom Gesetzgeber Statt vom „Schutz“ ist bei neueren Gesetzesvorhaben oft implementierte Sanktionsdrohung und deren Zielsetzung auch – martialischer – von der „Bekämpfung“ die Rede. hinzunimmt.14 Man befindet sich dann im uralten und So heißt es etwa in der Begründung des Gesetzes zur Re- nach wie vor nicht befriedigend gelösten Streit über die form der §§ 73 ff. StGB, dass eine „nachhaltige Krimina- Strafzwecke.15 Folgt man der in der Rechtsprechung herr- litätsbekämpfung“ eine wirksame strafrechtliche Vermö- schenden schuldorientierten Vereinigungstheorie16, gensabschöpfung voraussetze.19 kommt es (bei aller ergänzender präventiver Rhetorik) 11 15 Vgl. nur Maas, NStZ 2015, 305 (307). Überblick bei Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 3 Rn. 2 ff; siehe auch 12 Denkbar wäre es, durch repräsentative Umfragen empirisch zu er- Kaspar, AT, 3. Aufl. (2019), §1 Rn. 8 ff. sowie Hörnle, Straftheo- mitteln, ob die Allgemeinheit von einem (strafwürdigen!) Fairness- rien, 2. Aufl. (2017). 16 verstoß ausgeht. Zu diesem Ansatz s. sogleich im Text. Vgl. nur Roxin, AT I, § 3 Rn. 33 ff. 13 17 BT-Drs. 18/8831, S. 10. S. dazu näher Kaspar (Fn. 6), S. 130 ff. 14 18 Nicht weiter vertieft wird hier die Ebene der konkreten Strafzumes- BR-Drs. 187/15, S. 3. 19 sung durch das Gericht. Auch insoweit stellen sich ganz ähnliche BT-Drs. 18/9515, S. 1 sowie ähnlich S. 45. Probleme wie sie im Text beschrieben werden: das Maß der „Schuld“ (vgl. § 46 Abs. 1 S. 1 StGB) lässt sich evidenzbasiert über- haupt nicht ermitteln, und bei den einer Evidenzbasierung prinzipi- ell zugänglichen präventiven Entscheidungselementen (etwa den spezialpräventiven Folgen der Bestrafung gem. § 46 Abs. 1 S. 2 StGB oder den Belangen der „Verteidigung der Rechtsordnung“) wird diese nicht ernsthaft eingefordert.
Kaspar – Herausforderungen evidenzbasierter Strafgesetzgebung KriPoZ 1 | 2020 17 Wenn nun aber mit einer den status quo verschärfenden auch für den teilweise bemühten Zweck gilt, eine „ange- Neuregelung mehr „Schutz“ bewirkt bzw. Kriminalität messene Ahndung“23 oder eine „schuldangemessene“ „bekämpft“ werden soll, setzt das doch an sich voraus, Sanktionierung24 zu ermöglichen. dass die härtere Sanktionierung tatsächlich zu weniger entsprechenden Straftaten führt – eine voraussetzungsrei- Eine ähnlich tautologisch bzw. zirkulär anmutende Be- che Annahme, die nach den Ergebnissen der Generalprä- gründung findet sich in einem aktuellen Gesetzentwurf ventionsforschung20 sehr skeptisch zu beurteilen ist. Ent- der Länder Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein- sprechende Vorher-Nachher-Untersuchungen sind metho- Westfalen und Saarland zur Strafbarkeit des sog. „Upskir- disch aufwändig, aber nicht unmöglich. Sie wären konse- tings“. Es geht dabei um das Erstellen heimlicher Bildauf- quent, wenn man die Legitimität der Neuregelung wirk- nahmen des an sich durch Kleidung geschützten Intimbe- lich von einem generalpräventiven Effekt abhängig ma- reichs anderer Personen, z.B. durch Fotografieren „unter chen würde. Dies würde dann auch der oben erwähnten den Rock“, das in einem neuen § 184k StGB erfasst wer- Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzge- den soll.25 Wenn es im Entwurf heißt, das Gesetz verfolge bers entsprechen. Dazu kommt es aber auch deshalb nicht, u.a. den Zweck, dass Täter in Zukunft für entsprechende weil der präventive, Straftaten reduzierende Effekt vom Verhalten auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen Gesetzgeber wie gesehen nicht klar formuliert wird und werden könnten,26 ist das eine erkennbar schwache Be- damit auch nicht zur Bedingung der Legitimität des Ge- gründung;27 denn der Umstand, dass ein bestimmtes Ver- setzes gemacht wird. Damit wird die im aktuellen Koali- halten für strafbar erklärt wird, ist das automatische Er- tionsentwurf erwähnte „Evaluation“ von Gesetzen anhand gebnis jeder Pönalisierung und ersetzt nicht die Formulie- „kriminologischer Evidenzen“ im Ergebnis jedenfalls bis- rung eines Zwecks, dessen Eintritt oder Nicht-Eintritt man lang nicht ernsthaft ins Auge gefasst. sinnvoll überprüfen könnte. Auch die weiteren im Ent- wurf aufgelisteten Zwecke der geplanten Strafbarkeit sind Das liegt auch daran, dass regelmäßig (wenn man wohl- teilweise problematisch. So soll durch die Einführung der wollend ist: der Logik der Vereinigungstheorien folgend) Strafbarkeit „das Unrecht derartiger Taten in das Be- noch ergänzende Regelungszwecke ins Spiel gebracht wusstsein der Bevölkerung gebracht“ werden.28 Das ist werden, die teilweise aber einer kritischen Überprüfung immerhin ein messbarer Effekt, der für sich genommen nicht standhalten. So heißt es im eben erwähnten Gesetz- aber wenig Gewicht hat, wenn man ihn nicht mit einem entwurf zur Reform von § 113 StGB weiter: damit verbundenen Präventionseffekt durch Verhaltens- „Diese Fallkonstellationen erfordern einer von den allge- änderung verbindet. Wenn die Sensibilisierung für das meinen Strafvorschriften in §§ 223 ff., 240 ff. StGB abge- Unrecht einer Tat aber nur die Vorstufe einer erhofften setzten eigenständigen strafrechtlichen Unrechtstypisie- straftatreduzierenden Wirkung ist, stiftet es eher Verwir- rung durch den Gesetzgeber, da die Amtsträgerinnen und rung, sie scheinbar gleichrangig neben den an dieser Stelle Amtsträger nicht als individuelle Person, sondern um ih- ebenfalls erwähnten präventiven Zielen des Opferschut- rer Funktion als Repräsentantin/Repräsentant des staatli- zes und der Abschreckung zu platzieren. chen Gewaltmonopols willen angegriffen werden.“21. Manchmal wird davon gesprochen, dass durch eine Re- Hier stellt sich die Frage, ob denn die „eigenständige straf- form des geltenden Rechts den Gerechtigkeitsvorstellun- rechtliche Unrechtstypisierung“, quasi als Selbstzweck gen der Bevölkerung Rechnung getragen werden soll.29 unabhängig vom zuvor formulierten präventiven Schutz- Letztere sind prinzipiell mit den Mitteln der empirischen gedanken, zur Legitimation der Norm beitragen soll. Das Sozialforschung erforschbar – aber es ist sehr umstritten, wäre problematisch, denn jede Strafnorm typisiert ihrem ob es straftheoretisch gerechtfertigt ist, das „Ob“ und das Wesen nach bestimmte als Unrecht qualifizierte Verhal- „Wie“ staatlichen Strafens an den Erwartungen und Vor- tensweisen. Unrechtstypisierung ist mit anderen Worten stellungen der Allgemeinheit auszurichten.30 Nach hier nur die Beschreibung des Inhalts der Strafnorm, der nicht vertretener Ansicht lässt sich das zumindest in Bezug auf zugleich der die Norm legitimierende Zweck sein kann.22 Strafbarkeitseinschränkungen und Strafmilderungen auf Eine „Wirkungskontrolle“ in Bezug auf diesen Zweck der Grundlage des Strafzwecks der verhältnismäßigen Ge- würde offensichtlich wenig Sinn ergeben, was übrigens neralprävention bejahen.31 Unabhängig davon sollte es 20 S. nur Kaspar (Fn. 6), S. 398 ff. zuletzt abgerufen am 21.1.2020) fasst sich die Bundesregierung be- 21 BR-Drs. 187/15, S. 5. züglich der Ziele der Gesetzesänderung knapp. Es wird lediglich an 22 S. dazu näher Kaspar (Fn. 6), S. 120 ff. und 138 ff. verschiedenen Stellen auf die Ausweitung des strafrechtlichen 23 So heißt es etwa im aktuell kursierenden Referenten-Entwurf des "Schutzes" verwiesen; auch hier stellt sich die oben im Text erör- Bundesjustizministeriums zur Bekämpfung (!) von Unternehmens- terte Frage, ob damit tatsächlich eine (messbare) Reduktion entspre- kriminalität auf S. 1 (und erneut auf S. 50), dass die Neuregelung chender Taten gemeint ist. 26 u.a. dem Ziel diene, eine „angemessene Ahndung“ von Verbands- BR-Drs. 443/19, S. 12. 27 straftaten zu ermöglichen. Vgl. auch Eisele/Straub, KriPoZ 2019, 367 (369). 24 28 Vgl. etwa BT-Drs. 18/11272, S. 1 und S. 14 (in Bezug auf die Aus- BR-Drs. 443/19, S. 12. 29 weitung des Anwendungsbereichs des Fahrverbots). Vgl. etwa BT-Drs. 18/9525, S. 45 und S. 65, wo im Zusammenhang 25 Mittlerweile wurde der Entwurf in den Bundestag eingebracht, siehe mit der Reform der §§ 73 ff. StGB vom „Vertrauen der Bevölkerung BT-Drs. 19/15825. Die Bundesregierung lehnte in ihrer Stellung- in die Gerechtigkeit und die Unverbrüchlichkeit der Rechtsord- nahme (siehe a.a.O., S. 25) zwar die Einführung eines neuen § 184k nung“ gesprochen wird. 30 StGB ab, spricht sich jedoch ebenfalls für eine Kriminalisierung des Vgl. zu dieser sehr kontroversen Frage die Beiträge in: Kaspar/Wal- sog. "Upskirtings" in Form einer Anpassung des § 201a StGB aus. ter (Hrsg.), Strafen im Namen des Volkes?, 2019. 31 In ihrem eigenen Gesetzentwurf vom 6.11.2019 (abrufbar unter Siehe dazu näher Kaspar, Verfassungsrechtliche Aspekte einer em- https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Doku- pirisch fundierten Theorie der Generalprävention, in: Kaspar/Wal- mente/RegE_Verbesserung_Persoenlichkeitsschutz.html?__blob=, ter, S. 61.
18 KriPoZ 1 | 2020 aber selbstverständlich sein, dass der Gesetzgeber gehal- die von uns befragten Jura-Studierenden mit einer Straf- ten ist, entsprechende Behauptungen über Vorstellungen milderung für Kronzeugen auch bei inkonnexen Sachver- der Allgemeinheit zumindest mit Quellenangaben zu be- halten ganz überwiegend kein Problem haben37, so dass legen, wenn er diese schon als Argument für Gesetzesän- nichts dafür spricht, dass die Bevölkerung insgesamt derungen verwendet. Nur so wird Transparenz hergestellt, durch eine solche Praxis geradezu „erschüttert“ wird. Ein nur so lässt sich aus wissenschaftlicher Sicht eine Kon- zentrales Argument, dass zur Einschränkung einer Straf- trolle der entsprechenden Befunde (sofern sie existieren milderungsnorm verwendet wurde, kann damit zwar nicht und publiziert sind) sicherstellen. als widerlegt, aber doch im Licht aktueller Forschungser- gebnisse als zweifelhaft gelten. Eine solche Entwicklung Ein Beispiel, wo dieses Postulat nicht beachtet wurde, ist sollte eigentlich Anlass sein, über die Korrektur einer Re- die Reform der 2009 eingeführten Kronzeugenregelung in gelung nachzudenken, ganz im Sinne der oben erwähnten § 46b StGB im Jahre 2013.32 Ursprünglich galt die Straf- Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht (ohne damit milderungsmöglichkeit für die im Gesetz sog. „Aufklä- die Verfassungswidrigkeit des status quo behaupten zu rungs- und Präventionshilfe“ auch bei inkonnexen Sach- wollen). verhalten. Der Kronzeuge konnte in seinem eigenen Straf- verfahren also auch dann mit Nachsicht rechnen, wenn er Man könnte die Beispiele beliebig vermehren, wofür hier Informationen zu Straftaten lieferte, die mit der ihm vor- der Platz fehlt. Abschließend soll nur noch auf den Be- geworfenen Tat in keinem Zusammenhang standen. Straf- reich des Jugendstrafrechts eingegangen werden. Auch theoretisch ließ sich dies nach hier vertretener Ansicht hier lässt sich die unklare Gemengelage von prinzipiell durchaus rechtfertigen.33 Anders sah dies der Gesetzge- empirisch überprüfbaren präventiven Zwecken (deren ber, der der Meinung war, dass die Strafmilderung bei in- Überprüfung aber nicht ernsthaft eingefordert wird) und konnexen Sachverhalten nicht in einem „vor allem für das gegen evidenzbasierte Kritik immunisierten abweichen- Opfer und die rechtstreue Bevölkerung“ nachvollziehba- den Zielsetzungen zeigen. Das ist besonders bemerkens- ren Einklang mit dem Schuldprinzip stehe.34 Vielmehr wert, da vor dem Hintergrund des in § 2 Abs. 1 JGG ver- könne die ursprüngliche Regelung das „Vertrauen der Be- ankerten Erziehungsgedankens eine Evidenzbasierung völkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts“ beein- und Wirkungsorientierung bei den jugendstrafrechtlichen trächtigen35. Mit dieser Begründung wurde der Anwen- Sanktionen besonders nahe liegt. Aber auch hier zeigen dungsbereich der Norm, kaum vier Jahre nach ihrem In- sich schnell ganz ähnliche Probleme und Hürden, wie sie krafttreten, wieder reduziert. oben in Bezug auf das allgemeine Strafrecht beschrieben wurden. Es ist bemerkenswert, dass sich der Gesetzgeber hier we- niger zu einer eigenen Wertung bekennt, wonach durch Als Beispiel kann auf das Gesetz zur Erweiterung der ju- eine angeblich zu milde Bestrafung des Kronzeugen das gendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten vom Schuldprinzip verletzt sei (was im Sinne einer absoluten 4.9.2012 verwiesen werden.38 In der Begründung des Ge- Strafbegründung, die auf Schuldausgleich setzt, durchaus setzentwurfs bekennt sich der Gesetzgeber an sich mit er- konsequent wäre). Vielmehr beruft er sich maßgeblich auf freulicher Klarheit zu einer fortlaufenden Wirkungskon- die vermeintliche Einschätzung der Opfer von Straftaten trolle, gerade im Hinblick auf den angestrebten positiven sowie der Allgemeinheit, dass hier schuldunangemessen erzieherischen Effekt, der zu weniger Straftaten führen gestraft werde und ein damit verbundenes erschüttertes soll: Vertrauen der Bevölkerung. Die zuletzt genannten As- „Unabhängig von der Entwicklung der Jugendkriminali- pekte wären immerhin zumindest im Grundsatz empirisch tät insgesamt verlangt die damit verbundene Wirkungsori- überprüfbare tatsächliche Umstände – entsprechende For- entierung der jugendkriminalrechtlichen Reaktionen und schungsergebnisse gab es zum damaligen Zeitpunkt aller- Sanktionen und auch des Jugendstrafverfahrens eine be- dings nicht, so wie insgesamt damals noch kaum Erkennt- ständige Überprüfung auf kriminologischer und empiri- nisse über die Anwendungspraxis von § 46b StGB vorla- scher Grundlage, ob die gesetzlichen Regelungen im Hin- gen. Das hinderte den Gesetzgeber nicht, die Reform zu blick auf die genannte Zielsetzung (= Verhinderung von diesem frühen Zeitpunkt mit dieser Begründung (man Straftaten, J.K.) noch ausreichend und angemessen sind. muss eher sagen: Behauptung) durchzusetzen.36 Die An- Gleichzeitig ist eine beständige Beobachtung der Anwen- regung des Verfassers im Rahmen der Anhörung im dung der gesetzlichen Bestimmungen in der Praxis gebo- Rechtsausschuss des Bundestags, man möge doch abwar- ten“.39 ten, bis Forschungsergebnisse vorliegen und dann auf die- ser Grundlage (mit anderen Worten: evidenzbasiert) ent- Das klingt nach einem starken Bekenntnis zu evidenzba- scheiden, blieb leider ungehört. Mittlerweile zeigen die sierter Evaluation. Blickt man dann aber auf die konkreten vorliegenden empirischen Daten, dass die Norm in der vorgeschlagenen Maßnahmen und ihre Begründung, wird Praxis sehr maßvoll angewendet wird und dass zumindest man enttäuscht. So soll es beim in § 16a JGG neu einge- führten sog. „Warnschussarrest“, also der Koppelung von 32 33 S. zur Reform Christoph, Der Kronzeuge im Strafgesetzbuch, 2019, Vgl. Kaspar/Wengenroth, GA 2010, 453 ff. 34 S. 85 ff., Kaspar/Christoph, Die „Kronzeugenregelung“ in der BT-Drs. 17/9695, S. 6. 35 Rechtswirklichkeit – erste empirische Erkenntnisse aus einem For- BT-Drs. 17/9695, S. 7. 36 schungsprojekt zur Aufklärungs- und Präventionshilfe gem. § 46b Krit. daher Christoph, S. 90; Christoph, KritV 2014, 91 f. 37 StGB, in: Neubacher u.a., Krise – Kriminalität – Kriminologie, Vgl. Christoph, S. 479 ff. 38 2016, S. 487 ff.; Christoph, KritV 2014, 82 ff.; Peglau, NJW 2013, BGBl. I 2012, S. 1854; s. dazu Höffler/Kaspar, RdJB 2018, 449. 39 1910 ff. BT-Drs. 17/9389, S. 7.
Kaspar – Herausforderungen evidenzbasierter Strafgesetzgebung KriPoZ 1 | 2020 19 Jugendarrest und bedingter Jugendstrafe, darum gehen, ei- systemtheoretisch denkt, könnte behaupten, dass eine nen Impuls zur Verhaltensänderung zu setzen, aber zu- wechselseitige Beeinflussung ohnehin unmöglich sei, gleich darum, das Unrecht der Tat zu verdeutlichen.40 Da- weil beide Systeme nach ganz eigenständigen Regeln bei bleibt unklar, ob „Unrechtsverdeutlichung“ ein eigen- funktionieren. So pessimistisch muss man das nicht sehen, ständiger Zweck der Sanktionierung sein soll, unabhängig es gibt durchaus gelungene Beispiele, wo wissenschaftli- von einem damit tatsächlich erzielten positiven erzieheri- che Einflüsse auf politische Entscheidungen nachweisbar schen Effekt. Sollte dies der Fall sein, wird eine empiri- sind. sche Wirkungskontrolle obsolet, denn ob eine Sanktion in ausreichender Weise das „Unrecht verdeutlicht“ hat (oder Aber oft gelingt das eben nicht, und zwar auch aufgrund ob dies auch von einer milderen Sanktion erzielt worden der unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Voraus- wäre) lässt sich ebenso wenig messen und überprüfen wie setzungen, unter denen in beiden Bereichen gearbeitet die Frage, ob mit dieser Sanktion in ausreichender oder wird. Forschung braucht Zeit, der Politikbetrieb hat in der vielleicht sogar übermäßiger Weise „Schuld ausgegli- Regel keine. Anfragen zu bestimmten Themen, auch im chen“ wurde. Hinblick auf eine Tätigkeit als Sachverständiger, erfolgen nicht selten mit sehr wenig zeitlichem Vorlauf und sind Eine ausdrückliche Verabschiedung evidenzbasierter schon deshalb nicht immer leicht zu erfüllen. Zudem lie- Kontrolle findet sich dann bei der ebenfalls im genannten gen empirische wissenschaftliche Erkenntnisse oft noch Gesetz vorgenommenen Heraufsetzung der Höchststrafe nicht vor, wenn ein bestimmtes Thema gerade auf der po- für Mord mit besonders schwerer Schuld bei Heranwach- litischen Agenda steht – auf das Beispiel der Reform von senden von zehn auf fünfzehn Jahre Jugendstrafe gem. § 46b StGB wurde oben bereits hingewiesen. Immerhin § 105 Abs. 3 S. 2 JGG. Zur Begründung dieser Strafschär- hatte die letzte Regierung in ihrem Koalitionsvertrag so- fung wird ausgeführt: gar eine Evaluation der Regelung verankert, was dann „In Fällen besonders grausamer oder anderer besonders aber vermutlich auch mit Blick auf unsere damals noch schwerer Mordverbrechen von Heranwachsenden wurde laufende Augsburger Studie nicht weiterverfolgt wurde. dieses Höchstmaß wiederholt nicht nur von Teilen der Öf- Nun liegen deren Ergebnisse vor, aber die bisherigen fentlichkeit und der Kriminalpolitik, sondern vereinzelt Rückmeldungen aus Berlin klingen nicht so, als habe man auch in Verlautbarungen von Vorsitzenden erkennender weiterhin Interesse an evidenzbasierter Nachbesserung. Gerichte als unzureichend angesehen, um dem Ausmaß Das Thema ist offenbar „durch“. der Schuld gerecht zu werden“.41 Ganz ähnlich dürfte es bei § 16a JGG laufen. Die gesetz- Wir kennen diese Argumentation, bei der man sich ent- liche Einführung des oben bereits erwähnten „Warn- scheidend ohne jede Quellenangabe auf das angebliche schussarrests“ war – an sich vorbildlich – mit einem Eva- Rechtsgefühl namentlich nicht genannter Personen beruft, luations-Auftrag flankiert worden. Die darauf beruhende bereits von der oben beschriebenen Reform von § 46b bundesweite Studie43 wurde mittlerweile durchgeführt, StGB. Der Unterschied ist nur, dass der Gesetzgeber sich mit durchaus ambivalenten Ergebnissen – ob diese nun hier noch deutlicher zum zweckfreien Schuldausgleich aber Anlass zu Reformüberlegungen sein werden, ist un- bekennt, bei dem aus präventiver Sicht dysfunktionale Ef- gewiss. Das gleiche Schicksal könnte auch unsere Augs- fekte durch langjährigen Freiheitsentzug schlicht in Kauf burger Studie zum „Warnschussarrest“ erleiden, die vom genommen werden. Nichts anderes ist gemeint, wenn der Bayerischen Staatsministerium der Justiz gefördert wurde Gesetzgeber ausführt: und deren Ergebnisse mittlerweile vorliegen und bald pu- „Es geht dabei auch um eine ethische und gesellschaftli- bliziert werden.44 Auch dieses Thema scheint auf der kri- che Wertung, die der Gesetzgeber als Grundentscheidung minalpolitischen Agenda nicht ganz oben zu stehen, wo- zu treffen hat und hinter der gegebenenfalls kriminologi- rauf man als Forscher letztlich wenig bis gar keinen Ein- sche Bedenken zurücktreten müssen“.42 fluss hat. Von Evidenzbasierung im engen Sinn bleibt also jeden- V. Lösungsansätze falls in diesem Bereich der Schwerstdelinquenz auch im Jugendstrafrecht nichts übrig – wo keine messbare Wir- 1. Inhaltliche Probleme kung angestrebt wird, sondern nur nicht genauer definier- ten oder belegten „Wertungen“ gefolgt werden soll, gibt Wie könnten nun Lösungsansätze aussehen? Was die in- es wenig Ansatzpunkte für eine empirische Wirksamkeits- haltlichen Probleme angeht, sollte man sich nicht zu viel kontrolle. Hoffnung machen: Solange mit „Schuldausgleich“ ein empiriefreier Strafzweck allseits anerkannt ist und der Ge- 2. Organisatorische Probleme setzgeber darüber hinaus mit tautologischen Regelungs- zwecken wie „Unrechtsverdeutlichung“ oder „Ahndung“ Daneben existieren organisatorische Probleme, die den operiert, wird die im Koalitionsvertrag hervorgehobene Austausch von Wissenschaft und Politik erschweren. Wer 40 44 BT-Drs. 17/9389, S. 7. Erste Ergebnisse bei Kaspar/Schmidt, Der „Warnschussarrest“ gem. 41 BT-Drs. 17/9389, S. 8. § 16a JGG in Bayern, in: Boers/Schaerff, Kriminologische Welt in 42 BT-Drs. 17/9389, S. 8. Bewegung, 2018, S. 382 ff. Siehe demnächst Schmidt, Die Koppe- 43 Klatt u.a., Evaluation des neu eingeführten Jugendarrests neben zur lung von Jugendarrest und bedingter Jugendstrafe als sog. „Warn- Bewährung ausgesetzter Jugendstrafe (§ 16a JGG), 2016. schussarrest“ gem. § 16a JGG (im Erscheinen).
20 KriPoZ 1 | 2020 evidenzbasierte Evaluation von Strafgesetzen ein zahnlo- leuchtendes Beispiel für offensichtlich evidenzbasierte ser Tiger bleiben. Auch die oft mit „Schutz“ oder „Be- Kriminalpolitik ist dagegen die Einführung der Wieder- kämpfung“ umschriebenen tatsächlich eintretenden prä- gutmachungsnorm des § 46a StGB im Jahre 1994.46 Sie ventiven Wirkungen gesetzgeberischer Maßnahmen wer- wurde von mehreren wissenschaftlichen Vorarbeiten be- den in der Regel nicht klar und vor allem nicht als echte einflusst, vor allem dem DJT-Gutachten von Heinz Legitimationsbedingung formuliert. Daher würde auch Schöch,47 dem Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung48 eine Falsifikation der vom Gesetzgeber zugrunde gelegten sowie einer empirischen Studie von Sessar, der zeigen Wirkungsannahmen (die zugegebenermaßen aufgrund konnte, dass Strafmilderungen nach Wiedergutmachung methodischer Probleme nicht immer einfach zu erzielen bei der Bevölkerung auf Akzeptanz stoßen.49 sein wird) ein Gesetz in der Regel nicht zu Fall bringen. Um zu vermeiden, dass solche Beispiele eher glückliche Was die Redeweise von der „Evidenzbasierung“ immer- Ausnahmen bleiben, sollte man über Mittel und Wege ei- hin voranbringen könnte, wäre eine Sensibilisierung des ner verbesserten Kommunikation zwischen Politik und Gesetzgebers für den Anspruch, dass bei der Beschrei- Wissenschaft nachdenken. Ein bereits jetzt teilweise ge- bung von Zielsetzungen, die mit einer kriminalpolitischen nutztes Mittel könnten die Ankündigungen in Koalitions- Maßnahme verbunden werden, möglichst klare und empi- verträgen sein, die auf kommende Themen, vielleicht risch überprüfbare Formulierungen verwendet werden. auch auf anstehende und zu fördernde Forschungsprojekte Diese könnten dann die Grundlage einer (idealerweise mit hinweisen. öffentlichen Mitteln geförderten) unabhängigen wissen- schaftlichen Evaluation sein. Und dann muss man auch Auch das derzeit noch stark von persönlichen Bekannt- noch den Mut haben, gesetzgeberische Entscheidungen schaften und Netzwerken abhängige Sachverständigen- rückgängig zu machen, die auf (wie man dann aufgrund Gutachterwesen könnte besser organisiert werden. Viel- neuer Forschungsergebnisse weiß) zweifelhaften Annah- leicht ließe sich eine Art Anmeldemöglichkeit schaffen, men beruhten. mit der man sich als Wissenschaftler für bestimmte The- menbereiche als potenzieller Sachverständiger registrie- 2. Organisatorische Probleme ren lässt? Insgesamt wäre eine möglichst frühzeitige Ein- bindung von wissenschaftlichem Sachverstand in die Ge- Welche Verbesserungen sind in organisatorischer Hin- setzgebung wünschenswert. Man kann sich nicht des Ein- sicht denkbar? Zunächst sollte man anerkennen, dass die drucks erwehren, dass im Rahmen von offiziellen Anhö- Situation so schlecht nicht ist, gerade auch im Vergleich rungen zu bereits existierenden Gesetzentwürfen die zu anderen Ländern, wo der Einfluss der Wissenschaft auf wichtigsten Entscheidungen meist schon gefallen sind, so Gesetzgebung und Justizpraxis dem Vernehmen nach ge- dass zu diesem Zeitpunkt kaum mehr Einfluss genommen ringer ist. Immerhin: Der nationale Gesetzgeber nimmt werden kann. Ideal wäre also ein Austausch schon vor bei seiner Arbeit Bezug auf wissenschaftliche Ergebnisse oder während des Stadiums der Entwurfsfassung. und Diskussionen. Sachverständige werden ganz regelmä- ßig im Rahmen von Anhörungen eingebunden, wenn auch Bedenkenswert wäre es auch, erhöhte formale Anforde- spät. Es gibt wichtige Forschungsinstitutionen wie das rungen an Gesetzesentwürfe zu stellen. Es sollte zur MPI in Freiburg, das KFN in Hannover, die KrimZ in Selbstverständlichkeit werden, dass vom Gesetzgeber in Wiesbaden oder das Nationale Zentrum Kriminalpräven- der Begründung erwähnte und der Regelung zugrunde ge- tion in Bonn, die allesamt empirische Untersuchungen legte tatsächliche Annahmen (auch in Bezug auf die er- durchführen, teilweise auch im Auftrag staatlicher Behör- strebte Wirkung des jeweiligen Gesetzes) mit Quellenan- den. gaben versehen werden, um diese Annahmen besser nach- vollziehen und überprüfen zu können. Ein positives Beispiel des Zusammenwirkens von Politik und empirischer Wissenschaft sind die beiden Periodi- Auch sollte sich zukünftig jeder Gesetzentwurf standardi- schen Sicherheitsberichte, die sehr ausgewogen und wis- siert zur Frage verhalten, ob eine Evaluierung des Geset- senschaftlich fundiert über die Kriminalitätslage in zes (und wenn ja in welcher Hinsicht) geplant ist. Der Ge- Deutschland berichtet haben. Leider ist dieser Bericht seit setzentwurf zur Reform des Einziehungsrechts aus dem 2006 nicht mehr neu erschienen; im aktuellen Koalitions- Jahr 2016 enthielt unter VII. den Gliederungspunkt „Be- vertrag ist aber eine Neuauflage anvisiert, was uneinge- fristung und Evaluierung“, der aber ausdrücklich leer schränkt zu begrüßen ist. Auch Foren wie der Deutsche blieb.50 Der Nationale Normen-Kontroll-Rat hat genau Juristentag bewirken einen Austausch zwischen Wissen- diesen Umstand kritisiert: Damit bleibe „ein wichtiges In- schaft, Praxis und Politik – wenngleich die 2018 auf der strument der besseren Rechtsetzung ungenutzt“51. Das Grundlage eines Gutachtens des Verfassers45 diskutierte sollte in Zukunft häufiger beachtet werden, ganz im Sinne Thematik der Reform des Strafzumessungsrechts bislang wenig politische Aktivitäten hervorgebracht hat. Ein 45 47 Kaspar, Sentencing Guidelines vs. freies richterliches Ermessen – Schöch, Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den Brauchen wir ein neues Strafzumessungsrecht? Gutachten C für den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten C für 72. Deutschen Juristentag, 2018. den 59. Deutschen Juristentag, 1992. 46 48 Siehe zur Entstehungsgeschichte näher Kaspar, Wiedergutmachung Baumann u.a., Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung, 1992. 49 und Mediation im Strafrecht, 2004, S. 97 f. Sessar, Wiedergutmachen oder Strafen, 1992. 50 BT-Drs. 18/9525, S. 60. 51 BT-Drs. 18/9525, S. 111.
Kaspar – Herausforderungen evidenzbasierter Strafgesetzgebung KriPoZ 1 | 2020 21 der oben erwähnten Beobachtungs- und Nachbesserungs- Wissenschaft und Politik nachgedacht werden – der Kri- pflicht des Gesetzgebers.52 minalpolitische Kreis53, dem der Verfasser angehört, könnte sich insofern auch in der Zukunft als geeignete Generell sollte über Möglichkeiten der weiteren Versteti- Plattform erweisen. gung und ggf. auch Institutionalisierung des Dialogs von 52 Der kursierende Referenten-Entwurf zur Bekämpfung von Unter- nehmenskriminalität (Stand: August 2019) sieht auf S. 70 eine Eva- luation des Gesetzes nach fünf Jahren vor, was zu begrüßen ist. Al- lerdings soll dabei u.a. auch geprüft werden, ob das Gesetz eine „an- gemessene“ Sanktionierung von verbandsbezogenem Unrecht er- möglicht hat, was schwer operationalisierbar ist und damit auch mit empirischen Forschungsmethoden nicht sinnvoll „evaluiert“ werden kann. 53 Siehe dazu https://kriminalpolitischer-kreis.de.
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